Interview mit Beate Krais

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Interview mit Beate Krais
Berlin, 19. August 2005
KASSETTE 1:
VOGEL: Ich möchte eigentlich zuerst gerne wissen, wie war die soziale Lage im Elternhaus.
D.h. wo haben sie überhaupt gewohnt, wie waren die zeithistorischen Umstände, sie sind ja
1944 hierher, und Berufe der Eltern, auch Wohnverhältnisse oder Zusammensetzung der
Familie damals, mit wem haben sie eigentlich gelebt. Meinetwegen auch Einflüsse der
Großeltern, damals lebte man ja häufig zusammen.
KRAIS: Ich fang einfach an, wenn es zu ausführlich wird, das sehen wir ja. Ich bin 1944 in
Leipzig geboren. Im Januar. Und im Mai 1944 habe ich Leipzig verlassen, nicht auf eigenen
Füßen natürlich. Meine Eltern waren auch erst 1939 nach L gezogen, also keiner kam daher.
Und die haben 1939 geheiratet, da hatte mein Vater seine erste Stelle, der war Apotheker und
hatte als Pharmavertreter nach dem Examen seine erste Stelle gekriegt.
VOGEL: War es schwer, Stellen zu bekommen?
KRAIS: Ja, meine Mutter hatte die höhere Handelsschule besucht und war Kauffrau. Mein
Vater hatte Urlaub und hat darauf insistiert, dass meine Mutter wegmüsse aus Leipzig. Er
sagte die Russen kommen und der Krieg geht verloren und das wird ja alles bombardiert.
Meine Mutter hat damals, also ich kenne das ja nur aus Erzählungen, sie hat immer gesagt, die
fliegen alle nach Berlin, die Bomber, das kennen wir doch. Aber ist dann also 1944 weg und
zwar zu den Eltern meines Vaters in die Nähe von Nürnberg. Und da wollte sie eigentlich
nicht hin, also zur Schwiegermutter, blieb dann aber da und hat dann da auch das Kriegsende
erlebt und kurz nach, ich weiß nicht genau, nach dem Krieg , recht früh, also mein Vater
kehrte zum Glück zurück und die Firma, die ihn als Pharmavertreter beschäftigt hatte, die hat
ihn wieder ausfindig gemacht. Das ist ein interessantes historisches Detail, die Leute standen
alle noch auf den Lohnlisten der Unternehmen, bei denen sie beschäftigt waren. Das fand ich
sehr interessant. Die haben im Krieg also, als alles dann irgendwie wieder … (unverständlich)
war…
VOGEL: Er war im Westen dann?
KRAIS: Er war im Westen, da haben sie ihn ausfindig gemacht. Das war Boehringer
Ingelheim, also eine bekannte Pharmafirma. Und haben ihn gefragt, also haben ihn erst nach
Ingelheim geholt und haben ihn dann gefragt, sie wollten in Biberach eine Tochterfirma
aufmachen, das ist in Oberschwaben. Und die haben offenbar damals schon gedacht, also das
ist eine sehr ländliche Gegend gewesen, ist es nicht mehr, [also] gewesen, keine Probleme mit
Arbeitskräften. Sie sind dann also aufs Land gegangen und haben eine Firma aufgemacht und
ich bin dann wahrscheinlich ab 1946/47, so genau weiß ich das jetzt gar nicht, sind meine
Eltern also da hin gezogen. Da bin ich aufgewachsen, habe auch Abitur gemacht. Und 1948
ist mein Bruder geboren, wir waren dann zu zweit. Ja, da bin ich zur Schule gegangen und
wollte aber dann als Jugendliche immer weg. Ich habe mich so als Intellektuelle gefühlt, und
fand das in der Kleinstadt alles sehr eng und spießig und ich weiß nicht was, wollte also weg.
Ich wollte gleich Soziologie studieren, wollte nach Berlin an die FU. Das ging aber nicht, die
haben mich nicht genommen im ersten Anlauf, so dass ich in Tübingen angefangen habe zu
studieren.
VOGEL: Wann war das jetzt ungefähr, Abitur und…
KRAIS: 1962.
VOGEL: Oh ja, das war also noch vor all diesen Unruhen oder vor der sozialen Bewegung
und…
KRAIS: Ja. Und weil sie eben nach den sozialen Verhältnissen fragten, mein Vater hat weiter
bei dieser Firma, Thomae [Anm.: das ist der Name der damaligen Tochterfirma von
Boehringer Ingelheim] gearbeitet und war dann da leitender Angestellter und, also nicht
leitender Angestellter im rechtlichen Sinne, da er auch lange Zeit im Betriebsrat war und erst
später leitender Angestellter in diesem rechtlichen Sinne wurde, dass er da also nicht mehr für
den Betriebsrat kandidierte… also hat da irgendwas gemacht. Und meine Mutter hatte nach
der ??? [unverständlich] ein kleines Wollgeschäft aufgemacht in Biberach, was sie sehr lange
dann auch hatte. Es waren beide berufstätig. Ich war das, was man damals ein Schlüsselkind
nannte, also mein Bruder auch, was nur zum Teil stimmte, weil wir immer jemanden, also ’ne
…
VOGEL: Sie hatten ja die Großeltern, oder?.
KRAIS: Nein, die lebten nicht in Biberach.
VOGEL: Ach ja, die waren ja gar nicht da.
KRAIS: Die waren in Schwabach, die waren irgendwo anders.
VOGEL: Und wohin gingen sie, wenn die Mutter dann nicht da war?
KRAIS: Nach Hause.
VOGEL: Ja klar, es kommt ja auch darauf an, in welchem Alter man zum Schlüsselkind wird.
KRAIS: Das war auch überhaupt kein Problem. Ich habe auch damals schon, wenn ich
mitleidig oder so angesprochen wurde, „Ach Du Arme und Deine Mutter…“ und so, da habe
ich immer gesagt, das ist Unsinn, schon als Kind. Meine Mutter ist immer für mich da. Das
war auch so. Ich habe das also damals schon als Kind schon gewissermaßen bekämpft diese
Einstellung, berufstätige Männer und Mütter, die sich um die Kinder kümmerten. Wir haben
zusammen zu Mittag gegessen, die ganze Familie. Meine Mutter ist morgens um was weiß ich
aufgestanden, halb sechs, und hat gekocht. Und dann kamen wir alle zusammen nach Hause.
VOGEL: Auch ihr Vater kam?
KRAIS: Ja, das war sowieso üblich…
VOGEL: …in so einem kleinen Ort…
KRAIS: …das war auch lange in den Großstädten üblich, obwohl die werden nicht nach
Hause gekommen sein, aber die hatten eine lange Mittagspause. Also es war üblich, die Läden
haben zugemacht und die in Berlin hatten auch alle Mittagspause, die Leute gingen nach
Hause zum Mittagessen.
VOGEL: Und dann waren sie immer zusammen.
KRAIS: Dann haben wir zu Mittag gegessen und wir hatten auch jemanden im Haushalt, eine
Haushaltshilfe hatten meine Eltern und wir haben keine Probleme gehabt.
VOGEL: Das glaube ich ihnen. Ich meine, ein kleines Kind kann nicht alleine sein, aber als
Schulkind.
KRAIS: Das ist überhaupt kein Problem.
VOGEL: Das ging also sehr gut. Und wie kam es, dass sie so dazu kamen, sich als
Intellektuelle aufzufassen. Ist das ein Einfluss des Vaters vielleicht, dass sie so… ich meine,
man muss ja irgendwo inspiriert werden vielleicht.
KRAIS: Ich glaube nicht mal. Mein Vater hatte zwar Bücher, hat gelesen und meine Mutter
hat eigentlich erst sehr spät gelesen, sie war schon über 50, als sie die Literatur entdeckt hat.
Aber mein Vater immer, aber eigentlich auch nicht wirklich in dem Sinne, dass er
Intellektueller war oder sich so verstanden hatte. Aber in der Schule, wir haben so Zirkel
gehabt, in denen man halt diskutiert hat und geredet hat. Wir fanden damals Paris toll und
Sartre und Sozialismus und so was alles.
VOGEL: War das eine Mädchenschule?
KRAIS: Nein, gemischt. Es gab an diesem Ort ein Gymnasium, das hieß das WilandGymnasium, weil Christoph Martin Wiland in Biberach geboren war, er lebt dort eine ganze
Weile, er war also der größte Sohn der Stadt, deswegen hieß das Gymnasium nach ihm. Es
war ein altes, seit sechzehnhundert und ein paar Zerquetschte und das war ein JungenGymnasium, wo die Mädchen zugelassen waren, die den Latein-Zug genommen haben. Und
ansonsten gab es ein Progymnasium nur für Mädchen, das aber nur bis zur zehnten Klasse
ging. Und die Mädchen, die das Abitur machen wollten, die mussten dann die letzten drei
Klassen überwechseln an das Wieland-Gymnasium.
VOGEL: Aber sie waren da gleich.
KRAIS: Ich war von Anfang an da, ich habe Latein gemacht und war von Anfang an da.
VOGEL: Und wie kam es, zur Soziologie zu kommen?
KRAIS: Ich wollte Journalistin werden. Ich war ein politisch interessiertes Mädchen und habe
dann auch früh gesehen, also in kleinen Verhältnissen im Ort, dass z.B. alle Bauunternehmer
im Stadtrat sitzen um sich die öffentlichen Bauaufträge untereinander aufzuteilen. Und solche
Sachen. Das war mir relativ früh klar, und ich habe dann gedacht, ‚Nun wirst du Journalistin,
dann kannst du die Menschen aufklären’. Das war mein Beweggrund, so eine
Gerechtigkeitsvorstellung, also das war relativ einfach.
VOGEL: Und dann haben sie in Tübingen angefangen…
KRAIS: Dann habe ich in Tübingen angefangen, bei, da gab es nur einen Professor,
Dahrendorf. Ich habe in Tübingen angefangen, weil mein damaliger Freund, späterer
Ehemann und Vater meines Sohnes, der war in seinen letzten Medizinsemestern. Und der
konnte nicht mehr woanders hin, der war da schon am Lernen für seine Prüfung und konnte
also nicht mehr wechseln, und dann habe ich mir gesagt, ‚Gut, dann fang ich eben in
Tübingen an’ und wechsele von Tübingen aus, versuch ich noch mal nach Berlin, und habe
auch nach zwei Semestern gewechselt.
VOGEL: Und wie hatten sie ihren Mann kennen gelernt, wenn der soviel älter war?
KRAIS: In der Schule. Er war ein paar Klassen über mir, aber in so einem kleinen Ort kennt
man sich. Das ist gar kein Problem.
VOGEL: Aber sie wollten dann trotz dieser Bindung doch nach Berlin gehen.
KRAIS: Ja, ja. Wir haben dann auch gesagt, dass er dann eben nachkommt, wenn er fertig ist,
und versucht, da eine Stelle zu finden. Das war dann auch so.
VOGEL: Wie lange haben sie denn in Tübingen studiert?
KRAIS: Zwei Semester.
VOGEL: Aber dennoch Dahrendorf, das ist ja nun auch nicht das…
KRAIS: Ja, der hat mich auch sehr beeindruckt, aber ich weiß jetzt nicht mehr ob das im
ersten oder im zweiten Semester war, wahrscheinlich im ersten, da hatte der ein
Forschungssemester und war gar nicht da, und da war nur eine Assistentin da. Ich fand D also
sehr eindrucksvoll und – ich finde ihn heute nicht mehr eindrucksvoll – aber ich finde das,
was er damals machte auch von heute aus noch eindrucksvoll. Ich fand ihn sehr überzeugend
und auch irgendwie mitreißend. Es war insofern eine gute Wahl, obwohl mir das viel zu
wenig war, was es an Soziologie gab, einen Professor und ein paar Assistenten. Ich wollte
weg. Ich wollte nicht aus einem Kaff in ein anderes Kaff, von Biberach nach Tübingen,
sondern in die große Stadt. Im zweiten Anlauf haben die mich dann hier genommen, die
hatten an der FU damals schon den Numerus Clausus, also ich glaube für alle Fächer.
VOGEL: Wann war das dann?
KRAIS: Ich glaube 1963/64, vielleicht 65. Ich war unmittelbar nach dem Abitur für ein paar
Monate als Au Pair-Mädchen in Paris und im Anschluss daran für zwei Monate als Au PairMädchen in Rom, im September/Oktober, also kurz bevor das Wintersemester losging.
VOGEL: Haben sie also ein halbes Jahr zwischen Frühling/Abitur und dem Studium…
KRAIS: Ja, ich hätte im Sommer anfangen können, aber ich wollte weg.
VOGEL: Und haben sie da in Paris dann die Grundlage für ihr gutes Französisch und ihre
Beziehung zum Französischen gelegt?
KRAIS: Nein, das war schon viel früher. Biberach war französische Besatzungszone und die
Nachbarn in der Strasse, in der wir wohnten, als ich noch nicht in der Schule war, waren
Franzosen. Bis zu einem bestimmten Haus war alles französisch und von da ab noch drei
Häuser weiter waren da noch Deutsche. Im ersten Haus wohnten wir dann also, und die
Nachbarn hatten Mädchen in meinem Alter und wir haben immer zusammen gespielt. Ich
habe auch meine ersten französischen Wörter da gelernt, ich konnte also offenbar sehr gut
„Bon jour Madame“ und „Au revoir Madame“ sagen und ich wurde immer vorgeführt, wenn
die Madame Gäste hatte. Dann durfte ich kommen, die fanden das alle so ulkig, weil ich habe
einen Knicks gemacht, zum Guten Tag-Sagen, und ich habe dann Guten Tag gesagt, „Bon
jour Madame“ und geknickst, das fanden die so komisch, dann wurde ich wie so ein kleinesa
aufgezogenes Äffchen, musste ich das immer vormachen. Aber das hat mir auch gefallen.
VOGEL: Das motiviert ja, da weiterzumachen.
KRAIS: Und die haben sich später erinnert, als sie wieder in Frankreich waren, da war ich so
etwa 12, 13, und die hatten immer das Problem, dass sie ihre Töchter weg organisieren
mussten. Es war ein bisschen kompliziert, von uns aus gesehen eine eigenartige
Familienverhältnisse. Die Mädchen waren das ganze Jahr über im Internat und in den langen
Sommerferien mussten die Eltern die dann irgendwie weg organisieren und haben das dann
über Austausch versucht. Und dann habe ich immer mit der Mittleren, die mir vom Alter auch
am Nächsten war, dann haben wir einen Austausch gemacht. Die kam also im Juli zu uns und
Madame hat ihr Kinder dann eingesammelt Ende Juli, Anfang August und uns alle
mitgenommen, erst nach Genf, der Mann war in einer internationalen Behörde beschäftigt,
und von Genf aus, da wurde dann Wäsche gewaschen, die Kinder zum Zahnarzt geschickt,
weiß nicht was noch alles. Dann ging es weiter, schätzungsweise über die frz. Grenze,
vielleicht noch 100 Kilometer oder so in einen kleinen Ort im frz. Jura. Und da war ich dann
eigentlich vom Alter 12, 13 ab bis kurz vorm Abitur jeden Sommer.
VOGEL: Da haben sie ja viel wirklich in der Sprache gelebt…
KRAIS: Die sprachen alle sehr gut deutsch, weil die Mutter Deutsch-Schweizerin war. Aber
wir haben also Französcih geredet und das ging dann auch ganz gut. Ich habe Franz gelernt,
also Sprechen, bevor wir das in der Schule hatten und ich glaube auch, dass der Unterricht im
Französischen schlecht war. Jedenfalls kann ich zwar sehr gut frz. Sprechen und schreiben,
aber ich bin im Französischen sehr viel stärker darauf angewiesen, dass die Umgebung
französisch spricht, damit ich wieder reinkomme in die Sprache. Englisch kann ich auch ohne
diese Unterstützung meiner Meinung nach besser sprechen und schreiben.
VOGEL: Ich denke mal, sie haben im Französischen auch andere Ansprüche an sich, latent.
Im Englischen reicht es ihnen, wenn das was sie inhaltlich sagen wollen, rüberkommt und sie
verstehen, was die anderen sagen, während sie beim Französischen vielleicht doch noch mehr
wollen.
KRAIS: Das kann sein, aber ich meine, meine englische Basis ist stabiler, von der Schule aus
natürlich. Da habe ich ein bisschen mehr Grundlage, Struktur, Vokabular, Grammatik, usw.,
während ich im Französischen sehr viel mehr auf mein Sprachgefühl angewiesen war. Da
habe ich kein gutes Gerüst. Aber ich kann beides gut.
VOGEL: Dann muss der Unterricht aber schlecht gewesen sein.
KRAIS: Der war sicher schlecht.
VOGEL: Denn ich meine, man kann gerade im Französischen durch die Grammatik ein ganz
gutes Gerüst haben.
KRAIS: Ja, Französisch ist relativ einfach. Französisch ist meiner Meinung nach einfacher als
Englisch und irgendwie besser geregelt, es hat vom Lateinischen her eine Sprachwurzel, und
das Englische hat zwei. Das ist eigentlich schwieriger und man muss sehr viel wissen und
kann es nicht irgendwie herleiten.
VOGEL: Gut, dann hatten sie also ihre Au Pair-Aufenthalte nach dem Abitur und dann haben
sie wie gesagt in Tübingen angefangen und dann sind sie nach Berlin gegangen, 1963
ungefähr. Und haben sie von dort wesentliche Einflüsse, Eindrücke? Wie war Berlin?
Nachdem sie da ja so gerne hinwollten.
KRAIS: Ich kannte Berlin nicht, es hat damals auch keine Klassenfahrt gegeben, ich hatte
immer begeisterte Berichte gehört und ich kam nach Berlin und fand es furchtbar. Und zwar
fand ich es furchtbar, weil ich fand, dass es mindestens zehn Jahre hinter der westdeutschen
Entwicklung zurück war.
VOGEL: In wiefern?
KRAIS: Ökonomisch und was so das Leben in der Stadt und alles anging. Es waren sehr
viele, in den Zentren, z.B. am Kurfürstendamm, noch Kriegsruinen. Und ein Gebäude, was
am Ku-Damm aufgebaut ist und steht da schon ewig, das war im Bau 1970 oder so, wir waren
da auf einer Party und hatten zuviel Kartoffelsalat und bekamen den dann von dem Gastgeber
mitgegeben und haben den dann über den Bauzaun geschmissen. Darum erinnere ich mich
noch so daran, dass damals alles und überall im Bau war. [Anm.: Die Stelle mit dem
Kartoffensalat ist nicht wortwörtlich transkribiert, da nicht wichtig für den Inhalt.] Die
Gebäude hatten ganz lange auch noch diese Schusslöcher, die standen zwar auch und waren
perfekt bewohnt aber überhaupt nicht hergerichtet und hatten diese Einschusslöcher und alles
Mögliche. Es gab auch noch Frauen, die ein sehr merkwürdiges Outfit hatten, also rasierte
Augenbrauen, mit einem Strich nachgezogen, übermalte Lippen, die Pelzmäntel mit hohen
Schultern trugen und Frisuren, die man von den Fotos der 40ern kannte. Das war alles hier
noch übrig geblieben. Damals gab es überhaupt nicht das, was es heute hier sehr stark gibt, so
ein Kneipenleben, was für junge Leute und so. Die FU war in Dahlem, da gab es sowieso
nichts. Da gab es weit und breit irgendwo mal einen „Wienerwald“. Es war also z.B. schwer,
sich zu treffen, man hat das dann doch gemacht, aber das waren dann oft so merkwürdige
Bierkaschemmen und ich war von Süddeutschland her natürlich was ganz anderes gewöhnt.
Wirtschaften, wo man nett hingeht, wo man sitzt, wo man was zu Essen kriegt, was zu
Trinken kriegt, dass man auch sozial gemischt ist. Das ist mir sehr aufgefallen und ich fand
das also hier ziemlich furchtbar.
VOGEL: Und die Uni? Gab es irgendwelche Universitätslehrer, die sie beeindruckt haben,
oder Kommilitonen?
KRAIS: Die Uni hat mir gut gefallen. Ich habe eine bisschen Mühe gehabt am Anfang, mich
dort einzufinden. Das ist ja auch heute noch ein Charakteristikum für die Großstadtuni, dass
eben sehr viele Leute, die hier schon zur Schule gegangen sind, im Klassenverband bzw. mit
Freunden an die Uni wechseln. In Tübingen war das anders, da kamen keine Gruppen hin,
sondern lauter Einzelne, die dann irgendwie offener waren für neue Bekanntschaften. Das
fand ich hier ein bisschen schwierig, es ging dann aber auch, das hat aber eine Weile gedauert,
mehrere Semester.
VOGEL: Und Universitätslehrer… oder haben sie Arbeitsgemeinschaften wenigstens
gefunden, mit denen sie lernen konnten?
KRAIS: Ja, es gab damals an der FU ein ausgebautes Tutoren-Programm, was gerade das Ziel
hatte, die jungen Leute miteinander in Beziehung zu bringen usw., und ich habe mich da in
eine zufällig zusammengewürfelte Tutorengruppe begeben, das war ein wissenschaftlicher
Mitarbeiter von irgendjemandem, Alf Winzel (?), den Namen weiß ich noch, der ist
Politikwissenschaftler und später irgendwo in Bayern an der Universität Professor geworden.
Der war mein Tutor, und ich war in der Tutorengruppe, in der war auch der Jan Masgus (?),
der später dann zur RAF überlief und da mitgemacht hat. Der Jan… war in Westberlin zur
Schule gegangen, die Eltern wohnten aber in Ostberlin und 1961 beim Mauerbau ist der im
Westen geblieben. Der ist dann da geblieben. Der war ein bischen schwierig, war damals mit
mir in der Tutorengruppe, war ein sehr netter, stiller Junge, so ein bisschen ein einsamer Typ,
hatte ich das Gefühl. Also damit fing das an und später dann, als ich so in im sechsten
Semester etwa war, lief das ganz gut. Ich hatte eine wirkliche Freundin, und wir haben
zusammen gearbeitet und gemacht und so.
VOGEL: Gab es Universitätslehrer, die für sie beeindruckend waren oder eigentlich nicht so?
KRAIS: Es gab einen, das war eine Frau. Renate Meininger. [Anm.: Nachname leider nicht
verständlich]
VOGEL: Die war für mich auch beeindruckend.
KRAIS: Ansonsten waren mir die Universitätsprofessoren ziemlich wurscht, ich fand die
nicht besonders interessant.
VOGEL: Klages (?) war doch damals da?
KRAIS: Klages war da, von Friedeburg war da, der ist mir noch in Erinnerung, der war
glaube ich nur kurz hier, der ging dann auch gleich wieder, aber der blieb mir in Erinnerung.
Von Friedeburg ist ja ein sehr lebhafter, ist er ja bis heute, und der hat auch sehr lebhafte
Lehrveranstaltungen gemacht, der hat einmal eine Vorlesung gemacht über, ich glaube,
Militärsoziologie, das habe ich mir auch dann eine Weile angehört. Ich erinnere mich an eine
Anekdote, die er geschildert hat um klarzumachen, die Abneigung der besseren deutschen
Gesellschaft gegenüber, also der Weimarer Republik gegenüber den Sozis und so. Als er
erzählte, sie waren an der Ostsee am Strand und da baute man Sandburgen, fragen sie mich
nicht, was das ist, ich war da nie. Und hat dann die Fahne gehisst, und dann sagte er ‚Dann
haben wir natürlich immer verächtlich auf die, die die Schwarz-Rot-Gold-Fahne hatten,
geguckt’ und die hieß für Herrn von Friedeburg, Sohn eines späteren Admirals, hieß die
Flagge „Mostrich“. Das habe ich mir gemerkt, sonst weiß ich nichts mehr von der Vorlesung,
aber diese lebhafte und sehr pointierte Auseinandersetzung hat mir ganz gut gefallen und
deswegen blieb mir Herr von Friedeburg in Erinnerung. Ansonsten Renate ??? als eine sehr
kluge Soziologin und auch eine sehr gute Lehrerin. Die hat ihren Unterricht sehr systematisch
gemacht, also das fand ich sehr schön. Sie hat mich sehr beeindruckt. Und sie war hübsch.
VOGEL: Ja, und gut angezogen.
KRAIS: Gut angezogen, also eine hübsche, zierliche Frau. Hatte was auf dem Kasten, also
das hat mir gut gefallen.
VOGEL: Und dann sind sie ja doch irgendwie zum Examen gekommen, bei wem haben sie
denn Examen gemacht?
KRAIS: Ich habe dann in den letzten Semestern, ich glaube ab sechstes oder siebtes, ich weiß
es nicht mehr, kam Goldschmidt, der war Honorarprofessor oder fragen sie mich nicht was, an
die FU. Der war eigentlich an einer evangelischen Fachhochschule, aber Direktor des Max
Planck-Instituts für Bildungsforschung am Max Planck-Institut, die hatten ja einzelne
Abteilungen. Und der hat dann, das war dann die Zeit so 1967/68, in der auch die
Bildubngspolitik sehr viel diskutiert wurde, und er hat Lehrveranstaltungen zur
Bildungspolitik gemacht. Erst hatte er was über die Universität und dann über den Abzug…
[Unterbrechung durch Telefon]
VOGEL: Sie hatten von Goldschmidt gesprochen.
KRAIS: Ja, Goldschmidt hat also diese Lehrveranstaltung zur Bildung gemacht. Das ging
über mehrere Semester und in diesem Rahmen habe ich auch meine Diplomarbeit
geschrieben. Und das Interessante war an den Lehrveranstaltungen, Goldschmidt hatte seine
Doktoranden und wissenschaftlichen Mitarbeiter mitgebracht, Goldschmidt wäre sonst eher
ein Langweiler gewesen. Aber er war ein aufrechter Mann, und hat diese jungen Leute
mitgebracht und das war ganz toll.
VOGEL: Und wer war das?
KRAIS: … Sommerkorn.
VOGEL: Ach, die hat ja wohl großen Eindruck auf sie gemacht.
KRAIS: Ja, Ingrid Sommerkorn, Ulrich Teichler (?), Kurt Lausitz (?), noch mehr... Die tobten
dort alle rum. Dieter Golln (?), und die haben eigentlich diese Lehrveranstaltung geschmissen.
Die haben Untergruppen gemacht und was weiß ich noch alles. Das war wirklich sehr schön,
da haben wir intensiv gearbeitet und auch intensiv zusammengearbeitet. Das Seminar hieß
„Sozialisation und kompensatorische Erziehung“ und die jungen Leute brachten natürlich
auch die neueste Literatur aus Amerika und sonst woher. Das war ganz toll. Und wir haben
dann auch aus den ganzen Seminararbeiten und dem Ganzen, was wir diskutiert haben, im
Sommer völlig überarbeitet, später in der kleineren Gruppe wurde ein Buch draus gemacht,
das wurde im Max P-Institut gedruckt und gebunden, war also nicht verlegt, aber das gab es
dann so als „graue Literatur“. Und das wurde dann in Maßen raubkopiert. Das gehörte zu
einem der größten Bucherfolge, bloß dass nur die Raubkopierer was davon hatten, also
finanziell. Es hat nie einen Verlag dafür gegeben.
VOGEL: Und wie hieß das Ganze?
KRAIS: Das hieß „Sozialisation und kompensatorische Erziehung“, und es gab, ich weiß gar
nicht ob wir da als Redaktionsgruppe mit drauf standen, mit drei, vier oder auch fünf Namen,
und wahrscheinlich stand da nur „Autorenkollektiv“.
VOGEL: Wunderbar. Das war natürlich ein Erfolg für sie.
KRAIS: Das war sehr schön, und die Arbeit darin war auch sehr schön, da habe ich dann
natürlich auch Schreiben gelernt. Dabei fällt mir ein, dass es noch einen Hochschullehrer gab,
der mich schwer beeindruckt hat, aber nicht in der Soziologie, sondern ich hatte als NF
Psychologie, und da war, Hans Hörmann hieß er glaube ich…
VOGEL: Ja, der war mal in Göttingen und ist dann nach Berlin gegangen. Den habe ich auch
mal gehört.
KRAIS: Den fand ich unglaublich gut, der hat mich sehr beeindruckt. Sehr engagiert, sehr
klug und der war ja schwer behindert körperlich, der hatte irgendwie einen Arm, den er nicht
benutzen konnte, und es war irgendwie der ganze Körper schief und sonst was. Aber das hat
man völlig vergessen, während er gesprochen hat, und das war ganz irrelevant.
VOGEL: Aber ich kann mich ehrlich gesagt an Inhalte nicht erinnern. Ich weiß noch, dass er
mich sehr beeindruckt hat. Wie ist es bei ihnen mit Inhalten? Wissen sie das noch oder ist es
einfach sein Engagement.
KRAIS: Ich weiß nicht, ob ich das durcheinander bringe, aber er hat glaube ich eine VL über
allgemeine Psychologie gemacht, und hat da was über Psychologie der Sprache gemacht. Das
hat mich sehr interessiert und das hat mir sehr gefallen. Ich nehme an, dass es das ist, ich habe
aber von ihm auch das Buch, deswegen kann das sein, dass ich das zusammenschmeiße. Aber
das war das jedenfalls. Und an wen ich mich auch noch sehr positiv erinnere, war eben noch
ein Psychologe, nämlich Holzkamp. Der war auch gut, der war auch als Person eindrucksvoll,
engagiert, auch den Studierenden zugewandt. Es gab auch Leute, die haben irgendwie so vor
sich hin geblubbert und das war bei ihm eben nicht. Das hat mir gut gefallen.
VOGEL: Ja das war sozusagen… Haben sie eigentlich damals im Studium abgesehen von den
jungen Leuten um Goldschmidt rum, Freundschaften, die auch mit dem Fach
zusammenhängen gewonnen, die auch später weiter getragen sind, so ein Netzwerk oder ging
es soweit eigentlich nicht in der Zeit, war das erst später.
KRAIS: Naja doch, Sabine Gensior zum Beispiel, mit der ich befreundet war und bin, wir
sehen uns zwar selten, aber das ist eine ganz alte Freundschaft. Und im gewissen Sinne waren
einige Leute, also auch aus dem Studium, und dieser Endphase des Studiums, wir haben dann
eine Diplomarbeitsgruppe gebildet, in der wir mit 10, 12 Leuten mit Diplomarbeiten zu ganz
unterschiedlichen Themen, und auch bei ganz unterschiedlichen Leuten, und das waren dann
sehr stark Leute, die Marx gelesen hatten, und das gemacht haben und da ging es dann um
Marx und Bildung, dazu sage ich gleich noch was, weil das mein erster Einstieg in die
Thematik „Frauen und Geschlechterforschung“ war. Und da sind einige Leute, also ich bin ja
später nach dem Examen an der FU als wissenschaftliche Mitarbeiterin gewesen, und eben
mit Leuten, die eben zum Teil auch bei dieser Diplomarbeitsgeschichte dabei waren,
zusammen war. Ganzmann, da war Bischof, den darf man nicht vergessen, das sind eben auch
politische Zeiten gewesen, und einige von denen haben nie die Chance auf eine Professur
gehabt aus politischen Gründen. Das war aber eigentlich dann nicht ein Netzwerk für das, was
ich später gemacht habe.
VOGEL: Und die Diplomarbeit?
KRAIS: Ich habe also bei Goldschmidt die Diplomarbeit geschrieben und ein Thema gewählt,
das kann ich dann ja später nachgucken, da ging es sinngemäß um Mädchenbildung oder
berufsorientierte Qualifizierung, diese Alternative für Mädchen. Und da habe ich die
Diplomarbeit geschrieben, die hat Ingrid Sommerkorn betreut, das war mein erster Einstieg in
diese Thematik. Ich habe das dann aber auch für mich als abgeschlossen betrachtet, also das
war dann für mich erledigt.
VOGEL: Da waren ja andere Fragen sozialer Ungleichheit viel weniger/wichtiger (?)
[unverständlich]
KRAIS: Ich war dann auch theoretisch interessiert, habe selber im Marx gelesen, mich damit
intensiv auseinander gesetzt, und wollte eigentlich gerne dann weitergearbeitet in dem
Bereich Marx. Theorie, Klassenstrukturen und so was, habe dann aber keine Stelle gekriegt,
sondern habe eine Stellung gekriegt für Bildung, wo ich auch eigentlich dachte, Bildung will
ich jetzt nicht mehr machen, aber da habe ich dann halt eine Stelle gekriegt.
VOGEL: Bei welchem…
KRAIS: Am Institut, das waren ja Zeiten, in denen die Professoren sich sehr stark in den
Hintergrund stellten, das muss man wirklich so sagen, und ich wurde eingestellt ganz am
Anfang , das hieß Tutorin, also mit Abschluss. Da gab es Berlin noch die PH und da wollte
ich irgendwie eine marx. orientierte Bildungssoziologie machen, am Institut für Soziologie
und an der PH. Da hatten…, auf unterer Ebene studentische Aktivitäten und
Mittelbauaktivitäten, hatte es da solche Kontrakte gegeben, dass man sich gegenseitig da
unterstützt und dass wir da was machen für die PH. Das war mein erster Job nach dem
Diplom. Und dann blieb ich in der Bildung und habe dann aber versucht gewissermaßen von
der Sozialisation und so was wie kleine Kinder und Schule wegzukommen, indem ich gesagt
habe ich interessiere mich für berufliche Bildung und Qualifizierungsprobleme, Fragen auf
der Ebene. Also Fragen von Bildung und Beruf. Das war das wo ich ein bisschen wegkam
von Bildung, Erziehung, Mutter-Kind-Verhältnisse. Da hatte ich das Gefühl ‚Habe ich
gemacht und weiß ich was’ aber ich finde es woanders spannender.
VOGEL: Und wie entstand dann der Plan zu Promovieren? Das hatten sie ja sicher nicht
gleich, oder?
KRAIS: Nein, das war nur so, dass alle gesagt haben, das muss du machen, wenn du dabei
bleiben willst. Und irgendwie habe ich immer alles andere wichtiger genommen und hatte
keine Zeit dafür. Wir haben uns dann zum Beispiel einen Grundkurs ausgedacht, ich weiß
nicht mehr genau, Sozialisation, Bildung, irgendwas und ich weiß nicht was wir noch alles
gemacht haben. Die Lehre, der Umgang, das war im Vordergrund und auch administrative,
hochschulpolitischen Sachen, das war einfach sehr wichtig. Und dann rückte die Zeit näher, in
der meine Zeit um war, die fünf Jahre, und da wurde ich von einem guten Freund, der am
Max Planck-Institut gearbeitet hat, aufmerksam gemacht, der sagte, bei Edding (?) wird eine
Stelle frei, willst du dich da nicht bewerben. Und das habe ich dann gemacht mit dem Ziel,
diese politische Überprüfung zu umgehen, weil die haben das nicht gemacht damals. Jetzt
nicht dass ich irgendwelche unanständigen Aktivitäten hinter mir hätte, aber ich war
immerhin mehrfach auf Listen der … [unverständlich] oder „Rote Zelle Soziologie“ hießen
wir erst, und dann hießen wir „ADS“ (?), „Arbeitsgemeinschaft von Demokraten und
Sozialisten“, das waren dann Listen zusammen mit Leuten aus der ehemaligen SED. Ich war
Gewerkschaftsmitglied und es wurde immer gesagt, für alle solche Sachen gibt es…
[unverständlich] Listen für Wahlen. (?) [unverständlich] Und die Ironie der Geschichte will
es, dass zwei Etagen unter uns ein Herr wohnt der damals unter anderem mich auf schwarze
Listen gesetzt hat und das über die ganze Republik verteilt hat, nämlich Ernst Nolte, der
Historiker. … [uv] der war ja Mitgründer (?) der Notgemeinschaft der Freien Universität, ein
wirklich rechter Hardliner, der sehr viel kaputt gemacht, viele Existenzen zerstört hat mit
diesen Aktivitäten. Und der wohnt unter uns wir sind also freundliche Nachbarn.
VOGEL: Man darf es nie ausschließen.
KRAIS: Man darf es nie ausschließen und man überlegt natürlich auch, ‚Was machst du’ und
sagt sich, ‚Gut, wir sind zivilisierte Menschen, was soll’s’.
VOGEL: Und jetzt lebt er ja auch von nichts mehr, er lebt sein Leben und sie eben ihrs.
KRAIS: Der ist aber immer noch recht aktiv, der Herr.
VOGEL: Das ist ja furchtbar, dann muss man versuchen, ihn über Dritte irgendwie zu
behindern.
KRAIS: Jedenfalls habe ich damals gedacht, Max Planck-Institut für Bildungsforschung, und
Forschung wollte ich sowieso, das hat mir gut gefallen, das war eine Perspektive und das war
… [Vorname?] Jägermann, der da gearbeitet hat, und Christel Hopf, die ich eigentlich über
ihn kennen gelernt habe, die waren befreundet obwohl am Institut für Soziologie der Wulf
Hopf war, also den kannte ich dann natürlich auch. Ich kannte die Christel auch vom Studium
her, aber wir waren nicht näher befreundet, das kam danach erst. Da kam ich also über Knut
Jägermann (?) in diesen Kontext Max Planck-Institut, die Leute die da waren. Und dann kam
ich ans Max Planck-Institut bei Herrn Edding für ein befristetes Projekt, der wollte am Ende
seines akademischen Lebens ein Buch schreiben, ein Lehrbuch über Bildungssoziologie. Mit
ein paar von seinen jungen Männern zusammen und da hatten die sich gedacht, da brauchen
wir jemanden der die Ablage macht, das Protokoll schreibt und die Sachen zusammenträgt
usw. und da haben sie mich genommen. Das habe ich dann gemacht und ich habe natürlich
nicht bloß die Ablage gemacht, und habe dann nebenbei die Dissertation geschrieben. Und die
war sozusagen mein Scherpunkt noch aus dem Institut für Soziologie an der FU und die hieß
dann „Qualifikation und technischer Fortschritt“. Und da habe ich zusammen mit Sabine
Gensior, wir mussten beide unsere Diss. Schreiben und haben uns ausgedacht, wen suchen
wir uns jetzt als Gutachter, und wir haben uns überlegt, wir würden gerne bei Burkhardt Lutz
(?) schreiben, weil wir den gut fanden und der das gemacht hat, aber der war ja nicht hier.
Und da gab es am Institut für Soziologie den Theo Pöker (?), und wir wussten, dass er mit
dem Lutz irgendwie befreundet war, da haben wir den Pöker (?) gefragt, ob er das machen
würde, dann zusammen mit dem Lutz als Zweitgutachter, und wir haben auch den Lutz
gefragt und die haben sich da beide übereingestimmt. Dann haben wir das gemacht, ich muss
aber zugeben, ich bin immer ins Schleudern geraten, ich gerade heute noch ins Schleudern,
wenn man mich fragt ‚Wer war ihr Doktorvater?’, weil Sabine und ich in dem Sinne keinen
Doktorvater hatten, sondern wir haben die Doktorarbeit geschrieben und haben uns überlegt,
wer das Gutachten dazu schreiben kann. Es hat gar keine Bindung oder irgendwas gegeben.
VOGEL: Die Qualitätskontrolle haben sie also eher gegenseitig übernommen.
KRAIS: Ja, genau. Wir hatten auch, weil wir in diesem Thema beide gearbeitet haben, haben
wir zwei institutionelle Kontakte geknüpft, damals als halbe Stelle am Institut für Soziologie
kleine „Mittelbauermädchen“, wir haben uns die Literatur angeguckt, wir haben geguckt wie
läuft das eigentlich, wen finden wir gut und wofür interessieren wir uns und wir wollten dann
die Leute, die wir gut fanden, auch mal kennen lernen. Wir haben Burkhardt Lutz angerufen
und wollten ihn besuchen, das Institut besichtigen und sehen was er macht, usw. Und wir
haben das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung kontaktiert, und haben mit dem
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung auch eine institutionelle Verbindung zur FU
hergestellt, das hieß dann nämlich Kontaktseminar, dass die nämlich … [unverständlich durch
Gesprächsüberlappung von Vogel und Krais].
VOGEL: Schön, da hatte man noch Freiheiten.
KRAIS: Ja …[unverständlich durch Gesprächsüberlappung von Vogel und Krais], und das
haben sie gemacht und es ging.
VOGEL: Wunderbar. Und dann haben sie wahrscheinlich auf diese Weise relativ schnell ihre
Dissertationen zurecht…
KRAIS: Naja, ich war dann 1977 fertig, wenn man sich das so anguckt, hat das schon
ziemlich lange gedauert…
VOGEL: Wann haben sie Diplom gemacht?
KRAIS: 1970.
VOGEL: Ja da hatten sie fünf Jahre noch am Institut für Soziologie und dann ist es eigentlich
dann doch…
KRAIS: Ja, es ging dann wahrscheinlich schon relativ schnell. Wir sind damals zu Burkhardt
Lutz gefahren, und hatten zwei Aufsätze glaube ich publiziert, in der „Sozialen Welt“ und in
den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, in denen wir praktisch diese ganzen
Gebiete durchgearbeitet hatten und solche Überblicksartikel hatten, und daraufhin war Lutz
dann auch sehr freundlich und erfreut. Burkhardt Lutz hat immer gesagt, ‚Sie haben uns
überhaupt erst in die soziologische Diskussion gebracht. Uns hat ja vorher keiner zitiert.’, was
stimmt. Da gab es eine Konkurrenz zwischen Lutz auf der einen Seite, und dem SOFI und
Frankfurt auf der anderen Seite.
VOGEL: Aber SOFI war doch viel neuer.
KRAIS: Es gab da ein Zitierkartell. Die SOFI hat ja nie was von Lutz zitiert.
VOGEL: Der war doch schon so verdient.
KRAIS: Ja, aber außerhalb der Uni, und nicht angebunden an die Uni. Ich weiß bis heute
nicht ob meine Promotion wirklich allen rechtlichen Vorschriften standhält. Lutz hatte eine
Honorarprofessur an der Münchener Uni, aber er hat die auch nicht richtig wahrgenommen.
Und die Honorarprofessur gilt nur für den Ort, an dem man ist und man muss sie glaube ich
regelmäßig machen. Formal war Pölker der erste und Lutz der zweite [Gutachter].
VOGEL: ... eine fachliche Koriphäe mit schwacher institutioneller Anbindung.
KRAIS: Genau. Lutz war außerhalb der akademischen Zirkel stark verbunden mit den
Gewerkschaften, aber auch nicht zu sehr, und hat dann über Drittmittel oder mit Ministerien,
Bildungsministerium oder auch Arbeitsministerium seine Aufträge gehabt. Ich weiß noch, wie
wir bei ihm waren und da saßen, und wir haben immer viel geredet mit ihm. Er war immer
sehr freundlich und offen, war auch ein sehr umgänglicher Mann, und da waren wir also ganz
verblüfft und haben das auch zur Sprache gebracht: ‚Dass sie also selber schreiben und da
rumhocken, und haben Sachen am Hals, das hätten wir nicht gedacht. Wir hätten eher
gedacht, sie sind so was wie ein Frühstücksdirektor, der das Geld ranschafft und sonst was.’
Ich weiß nicht, ob er pikiert war, oder ob er einfach dacht, die wissen es nicht besser usw..
Wir waren ja auch schwer beeindruckt von ihm, aber wir haben gedacht, das ist ein
berühmter, großer Mann, der schreibt nicht mehr selber. Als er dann erzählte, dass das Geld
ausgeht und er muss ackern und machen, das fanden wie schon sehr beeindruckend.
VOGEL: Nun hatten sie ihre Dissertation und waren weiterhin am Max Planck-Institut für
Bildungsforschung und wie lange lief die Stelle?
KRAIS: Das kann ich ihnen gar nicht so genau sagen, ich hatte so viele verschiedene
Verträge. Ich habe ja auch mal einen Prozess geführt, und für diesen Prozess musste ich
meine Erwerbsbiographie mal aufschreiben, und ich glaube ich hatte da 1970 dreizehn
verschiedene Verträge, aber zwei Arbeitgeber.
VOGEL: Also das erste war die Uni, das Institut für Soziologie und das zweite war das Max
Planck-Institut... Ich frage im Grunde nach der Habilitationsperspektive.
KRAIS: Da wollte ich eigentlich bleiben, ich fand das klasse. Ich fand Forschung wunderbar,
das Institut hatte auch ein sehr gutes Diskussionsklima, und ich dachte, ‚Machst du doch
jetzt!’ Das änderte sich, als die Führung ausgewechselt wurde. Ich habe mehrere Stellen
gehabt bis Anfang der 1980er Jahre, Edding war dann in Pension gegangen, dieses Projekt
war auch gescheitert, das mit dem Lehrbuch, da sich die Herrschaften zerstritten hatten, hat
mit mir weniger zu tun. Dann haben aber andere Kollegen, die bereits bei meiner Einstellung
im Betriebsrat Widerspruch eingelegt haben, gegen diese Befristung..., die haben dann auch
gefragt, ob ich nicht zu ihnen kommen will, in ihr Projekt. Das waren damals, da war Kreisler
noch da, und Kreisler ging gerade weg nach Kassel, und das waren also Teichler, Hartung,
Mutmann (?) und die beiden Übriggebliebenen haben mich gefragt, ob ich nicht zu ihnen
kommen will, da war ja die Teichler-Stelle frei. Und das habe ich dann gemacht. Und dann
haben wir da zusammen weitergearbeitet, und 1982 oder so lief das dann endgültig aus, und
da habe ich dann gesagt, ‚Jetzt gehe ich vor Gericht und klage.’ Ich bin eine der wenigen
Menschen, die gegen diese zwei Vertragsgeschichten geklagt haben und ich habe auch Recht
gekriegt.
VOGEL: Dass sie so lange da waren, und längst einen Anspruch gehabt haben...
KRAIS: Und da spielte auch der damalige Widerspruch des Betriebsrats eine Rolle, weil der
Anwalt dann so argumentiert hat, mit Hilfe der Leute am Institut, dass es durchaus üblich ist
und ganz normal ist, dass die Leute, wenn ein Projekt zu ende ist, ein anderes machen. Also
dass man möglicherweise schon für ein Projekt eingestellt wird, aber dass das Unfug ist, weil
faktisch dann die Leute eben was anderes machen. Es stimmte. So dass also keine
Begründung für einen Zeitvertrag vorhanden ist. Na gut, dann bin ich also da geblieben, da
war aber schon der Umbruch, da war also Becker dann als erster weg, und Balthis (?)
gekommen, ein Soziologie, als Direktor des Instituts. Das Institut wurde auch wieder
umstrukturiert, Karl Ulrich Meyer kam auf die Goldschmidt-Stelle, ja gut also da war ein
Wechsel, und da setzte dann die Amerikanisierung ein, und andere Vorstellungen von
Kontrolle. Becker hatte damals nicht so unmittelbar kontrolliert, muss man sagen, Becker
hatte seine Konkurrenten auf der Direktorenebene entmachtet. Und als Meyer Direktor des
Instituts wurde, gabs da nur Projekte, keine Abteilungen mehr, und hat dann da
rumgefuhrwerkt, und das wurde dann rückgängig gemacht. Es wurden also wieder
Abteilungen eingeführt, und Meyer wurde dann mein Vorgesetzter. Meyer hatte einen
denkbar unglücklichen Einstand. Als er kam und alle zusammen gerufen hatte, da hat er
gesagt, also so wie das bisher gemacht haben, so geht das nicht weiter. Und das kann er
natürlich nicht...
VOGEL: Nein, nicht mit vorhandenen eingearbeiteten Leuten.
KRAIS: Nein. Und vor allen Dingen kann er einen ja nicht umleiten. Das, was man machen
kann ist, dass man verbietet, etwas Bestimmtes zu tun, aber er kann ja nicht einen dazu
bringen... Und er ist ein sehr unangenehmer, kontrollwütiger, misstrauischer Mann und da war
klar, ‚Da musst du weg.’
VOGEL: Das war jetzt vor ihrer Habilitation?
KRAIS: Ja, genau. Da dachte ich, ich muss mich jetzt habilitieren, aber irgendwie wurde das
nie alles so recht, und dann wurde ich Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre auch
aktiver, also auch außerhalb des Instituts. Und dann tat sich plötzlich ein Schaf (?) auf. Da
sprachen mich auch einer Sektionstagung (?) Eva Brumlop und Rudi Schmiede an, ob ich
nicht eine Vertretung in Darmstadt übernehmen möchte. Das war die Stelle von Annelies (?)
Meyer (?), die Ministerin worden war.
VOGEL: Aber sie waren noch nicht habilitiert?
KRAIS: Nein. Ich war noch nicht habilitiert. Sie fragten mich, ob ich das nicht machen
würde. Und dann habe ich gedacht, ‚Das musst du jetzt machen.’, habe das aber nicht mit
einer Arbeit gemacht sondern kumulativ.
VOGEL: Sie hatten genügend Aufsätze?
KRAIS: Also publiziert hatte ich genug, das war nicht das Problem. Ich wollte im Riehmen
(?) schreiben, aber das habe ich nicht gemacht, und da wurde es plötzlich so, dass eine
Professur in Reichweite war und da habe ich das kumulativ gemacht. Das ging in Berlin, habe
die Vertretung in Darmstadt gemacht, habe dann die Vertretung gemacht in Göttingen und
dann wurde die Stelle in Darmstadt ausgeschrieben. Dann habe ich mich beworben, dann zog
sich das eine Weile hin, usw. Und das war glaube ich Anfang der 1990er, 1991 habe ich die
Vertretung gemacht, im Wintersemester 1991/1992, im SS 1992 war ich in Göttingen,
jedenfalls wurde ich dann 1995 nach Darmstadt berufen.
VOGEL: Da war doch aber Eva Brumlop schon da?
KRAIS: Nein, die kam nach mir. Eva Brumlop war in Frankfurt noch am Institut für
Sozialforschung. 1995 hat das also nach vielem Hin und Her geklappt.
VOGEL: Jetzt muss ich mal dem privaten Strang fragen? Sie haben ja irgendwann auch ihren
Mann geheiratet, in welcher Phase war das denn?
KRAIS: Das war früh, da habe ich noch studiert.
VOGEL: Vor dem Examen?
KRAIS: Ja, wir haben 1967 geheiratet, weil mein Mann, der Arzt war und ist, nun in Berlin
gearbeitet hat, tatsächlich einberufen wurde zur Bundeswehr. Der hatte also seine ganze
Arztausbildung [hinter sich] und war Arzt im Praktikum, ich weiß nicht mehr, wie das damals
hieß, da gab es auch so was, er hatte die Approbation und mit der Approbation bekam er den
Einberufungsbefehl zur Sanität, er war ja Arzt. Und dann gerieten wir irgendwie in Panik, ich
weiß auch nicht mehr warum, das ist nicht mehr so wirklich nachvollziehbar und haben dann
geheiratet, hier in Berlin.
KRAIS: Um zu verhindern, dass er einberufen wurde?
N: Nein, er wurde einberufen. Aber damit ich ihn wenigstens besuchen kann. Wir hatten so
merkwürdige Vorstellungen
VOGEL: Vielleicht war das so, dass sie, wenn sie nicht Ehefrau waren, ihn nicht sehen
durften.
KRAIS: Oder dass es schwieriger wäre. 1967 und in Berlin war das ja alles kein Problem.
Und er wurde dann nach München einberufen, war da drei Monate, und es war wohl auch so
gedacht, dass er immer drei Monate, weil die hatten damals überhaupt keine Ärzte. Und den
Sanitätsdienst zu verweigern, ist glaube ich sehr schwer, jedenfalls stand das außerhalb der
Diskussion. Und das hat er dann also auch gemacht, und dann haben sie ihn auch Wochen
später in Ruhe gelassen. Und wir lebten dann also ganz lange zusammen, und 1983 ist dann
mein Sohn geboren.
VOGEL: Wollten sie das?
KASSETTE 2
KRAIS: Ich wollte seitdem ich studiert habe, also seit Beginn meines Studiums, keine Kinder
haben, weil ich immer dachte, das geht nicht. Ich hatte eine sehr starke Vorstellung von mir
selber als berufstätige Frau, auf eigenen Füßen, ich habe immer gesagt, ich werde mich doch
nicht von einem Mann aushalten lassen, so wie ich eben auch die Ehe verstand. Deswegen
kam das nicht in Frage. Und ich hatte auf der anderen Seite auch eine sehr starke Vorstellung
von Mütterlichkeit, also wie man sich seinen Kindern gegenüber verhält und für sie da ist,
weil ich das von meiner Mutter und meinem Vater so kannte. Und da dachte ich immer,
‚Nein, das kommt nicht in Frage.’. Ich fühle mich nicht als Mutter, ich will nicht immer „Ei
Die Dei“ und sonst was machen, das geht nicht. Da war ich also sehr, sehr abgeneigt, ich hatte
eine große Abwehr dagegen. Abwehr gegen diesen ganzen Mutterkram, und
Schwangerschaftszeug und das hat mich alles nicht interessiert. Die Psychologen würden das
vielleicht eine phobische Abwehr nennen.
VOGEL: Aber selbstverständlich vor dem Hintergrund dessen, was sie ebenn für ein
Mutterbild hatten.
KRAIS: Ja.
VOGEL: Das war also vor dem Examen, das sie geheiratet haben, und Promotion haben sie
auch noch ohne Kind gemacht?
KRAIS: Ja, und ich fand das auch sehr schön, den Zustand, und ich hatte auch großes
Vergnügen daran, mich spontan entscheiden zu können. Zu den schönsten Phasen meines
Lebens gehört meine Diplomarbeitsphase, wo ich den Tag über intensiv an meiner
Diplomarbeit saß und gearbeitet habe, und dann am Abend, wenn schönes Wetter war, dann
hat man herumtelefoniert ob man nicht noch schwimmen geht in der Havel. Also diese
spontanen Geschichten, spontan zu entscheiden, man geht noch weg, ins Kino, man macht
dies, man macht das. Das fand ich wunderbar. Ich habe auch nie ein Kind vermisst und hatte
dann mal sehr früh mit Anfang 30 einen Brustkrebsverdacht. Ich habe mir wohl überlegt, wie
ich dann, falls sich der Verdacht bestätigt, am unkompliziertesten und am schnellsten zu Tode
komme, ohne dieses ganze Zeugs durchleiden zu müssen. Also das war wirklich ein ganz
tiefes, schwarzes Loch.
VOGEL: Das war vor der Promotion oder nach der Promotion?
KRAIS: Nach der Promotion. Ich glaube das war ungefähr 1979, und danach habe ich
irgendwie gedacht, ein Kind ist auch mehr Leben. Und was macht man denn so als
Wissenschaftlerin, man schreibt und schreibt, und letzten Endes... ist auch für den Papierkorb.
Und da habe ich zum ersten Mal gedacht, oder ein Verständnis dafür gehabt, dass jemand ein
Kind haben will. Ich hatte kein Bedürfnis nach einem Kind, aber die Phobie, diese Schwelle
war weg. Und dann mit 35, da dachte ich, eigentlich wäre es vielleicht auch ganz nett, ein
Kind zu haben, aber es stand nicht an. Wir hatten das auch abgeschrieben. Mein Mann, der
eigentlich früher immer gerne Kinder gehabt hätte, der hatte das dann auch abgeschrieben, die
Sache war eigentlich erledigt. Das Kind war ein Unfall. Ich hatte dann eine Art
Scheinschwangerschaft, ich weiß gar nicht mehr genau warum, jedenfalls wurde bei mir eine
Kyritage durchgeführt, und ich bin unmittelbar daran, als ich noch keinerlei
Verhütungsmaßnahmen hatte, schwanger geworden.
V: Und wie alt waren sie?
K: Da war ich 38.
V: Waren sie habilitiert?
K: Nein. Mein Sohn ist 1983 geboren, vor der Habilitation. Ich habe entweder 1991 oder 1992
habilitiert. Es war erst nicht klar, dass ich schwanger war. Ich bin zum Arzt gegangen, weil
ich Blutungen hatte und war sehr besorgt wegen dieser Kyritage, dass da vielleicht
irgendetwas nicht in Ordnung wäre. Und der guckte das an und es gab damals schon frühe
Formen von Ultraschall und sagte mir, dass ich schwanger bin. Ich habe aber drei Embryonen
gehabt, das eine ist abgegangen, daher kamen die Blutungen, das zweite war nicht mehr
lebendig und sollte auch noch abgehen, und das dritte das pulsierte, das sah man also
offensichtlich im Ultraschall. Der Arzt sagte, dass man so was seit dem Ultraschall wisse, es
also damals häufiger war, als man früher dachte, dass frühe Blutungen häufig solche
Mehrlinge sind. Ich ging die Treppe runter, der hatte seine Praxis damals im ersten Stock, und
freute mich. Und ich dachte mir, ‚Wenn du dich freust, dass du schwanger bist, dann behältst
du das Kind.’ Dann bin ich nach Hause gekommen und habe zu meinem Mann gesagt, dass
ich schwanger bin. Da war er völlig außer sich. Er sagte, ‚Was? Jetzt, wo ich keine Zeit
habe?’ Der hatte damals glaube ich gerade bei Schering in der Forschung angefangen und war
sehr eingespannt und hätte keine Zeit gehabt. Er hätte vorher zwar auch keine Zeit gehabt,
aber war ganz durcheinander, es passte ihm überhaupt nicht. Er war fünf Jahre älter als ich,
ich war 39 als das Kind geboren, er war da schon 45 oder 44. Ich hatte inzwischen auch ein
völlig anderes Verhältnis zur Mütterlichkeit und zu mir selber, wie ich das wohl hinkriegen
würde, und habe schon als ich schwanger war überlegt, wo ich jemanden herkriege, der das
kleine Kind betreut. Und 10 Jahre früher wäre ich so nicht an die Sache herangegangen, da
habe ich ganz andere Vorstellungen gehabt, wie ich das machen muss. Da hat übrigens die
Welle von anti-autoritärer Erziehung in dieselbe Kerbe gehauen, dass die Frauen nur in
Funktion des Kindes gesehen wird, und man praktisch alles machen muss für das Kind, damit
das anti-autoritär und glücklich aufwächst. Und mich hat dann irgendwie sehr beeindruckt,
noch später, das war auch eine wissenschaftliche Einsicht, dass Kinder und Eltern immer
Konflikte haben. Und dass Konflikt ein sehr weiter Begriff ist und das nicht heißen muss, dass
man sich gegenseitig fertig macht, sondern dass es praktisch strukturell angelegt Konflikte
sind, die zum Großwerden dazu gehören. Die Abgrenzungen, sich auseinandersetzen, die
eigenen Interessen sehen, erkennen, entwickeln und vertreten, zurückstecken und diese
ganzen Geschichten. Es gibt kein Paradies auf Erden, sondern das ist eine Sache, wo man
immer Probleme haben wird und auch immer was falsch machen wird. Das macht nichts, das
ist so. Das habe ich intellektuell viele Jahre vorher verstanden und war dann auch viel offener
gegenüber einer eigenen Mutterschaft, weil ich es anders gesehen habe. Mein Mann hat viel
Geld verdient, und wir konnten uns das auch leisten, jemanden einzustellen. Dann habe ich
eben jemanden während der Schwangerschaft gesucht und gefunden, so über
Mundpropaganda. Meine damalige Sekretärin im Max Planck-Institut die sagte, ‚Ich weiß da
eine.’ Die machte nämlich damals was mit Exil-Chilenen, und die hatte eine Exil-Chilenin an
der Hand, und die beiden kamen dann mal, sie war sehr schüchtern und konnte auch nicht gut
deutsch – Lisa (?). Hatte selber zwei Kinder, mein Alter übrigens, also keine junge Frau. Und
die saß dann da auf dem Sofa und die einzige Frage war, die sie gestellt hat, ‚Kann ich mit
dem Kind auch spanisch reden.’ Und da habe ich gesagt ‚Ja, wieso nicht.’ Das war ja
überhaupt kein Problem, ich spreche ja deutsch. Das war außerdem kein Problem, das Kind
war noch im Bauch, war noch gar nicht geboren, und ich habe gesagt, was mir wichtig ist, ist,
dass sie freundlich zu dem Kind ist, sich um das Kind kümmert, es holt wenn es weint, usw.
Also dieses alles „Es ist gut, was uns hart macht.“ oder so und Kinder schreien lassen, das
mag ich nicht und das kommt nicht in Frage. Dann war alles klar, das ist ja nicht überall so
verbreitet wie bei uns, diese Hart-Mach-Vorstellungen, und so lief das dann gut. Und mein
Sohn hat diese Kinderfrau gehabt, bis er ungefähr 12 Jahre alt war, dann reduziert, als er in
der Schule war, kam sie dann nachmittags, und irgendwann in den Sommerferien hat er
gesagt, jetzt braucht er sie nicht mehr. Das war wirklich sehr schön, das lief sehr gut.
V: Ja, dann konnten sie auch in Ruhe habilitieren und sich bewerben, und eben auch die Stelle
in Darmstadt annehmen.
K: Ja.
V: Ja, und was haben sie aus dieser Stelle nun gemacht für sich aus dieser Position? Ich
meine, wie sehen sie ihre Position in der Soziologie dann, oder in der Bildungssoziologie? Es
kommen also zwei Fragen. Einmal: Wie in der Soziologie und wie in der Frauen- und
Geschlechterforschung, wie kommt das?
K: Also meine Position in der Soziologie, das weiß ich jetzt nicht, das muss ich vielleicht erst
noch mal aufschieben und erst noch mal sagen, wie ich überhaupt wieder zur Frauen- und
Geschlechterforschung gekommen bin. Ich habe lange Zeit, da war ich noch an der FU, das
muss so 1973/1974 gewesen sein, da war Carol Hagemann-White meine Kollegin, und Carol
fing dann an mit „Unterdrückung der Frau“ usw. Sabine und ich guckten uns immer an und
fragten uns, ‚Was hat die eigentlich? Wo sind wir denn unterdrückt und so ein Quatsch.’ Wir
haben immer gesagt, das ist doch Unfug, das kann nicht sein. Klassenprobleme ja, aber
Frauen... nein. Also es war weg und ich habe dann, sehr spät, ich kann das nicht mehr genau
lokalisieren, was ich noch lokalisieren kann ist, dass ich Anfang der 1990er Jahre auf eine
Tagung gegangen bin, die Angelika Wetterer veranstaltet hat: „Profession und Geschlecht.“.
Das muss sogar später gewesen sein, ich weiß nicht mehr genau, wann das war.
V: Hing das mit Bourdieu zusammen?
KRAIS: Nein, das hing auch nicht damit zusammen. Also jedenfalls wurde ich wieder
sensibler für die Thematik, und da liefen dann zwei Dinge parallel. Das eine war, dass die
Max-Planck-Gesellschaft ein Problem hatte, weil sie zu wenig Frauen haben, und am Ende
der 80er Jahre wurden die Forschungsinstitute außerhalb der Hochschulen auch vom Bund
und von der Bund und Länder-Kommission erstmals dazu angehalten, auch Statistiken zu
machen. Da wurde nach Männlein und Weiblein getrennt, das Personal sortiert und das
aufgeführt. Und da standen eben die Knaben besser, und politisch kamen sie da unter Druck.
Da war ich aber schon am Weggehen, da hatte die Max Planck-Gesellschaft beschlossen, eine
Untersuchung zu machen über die Frauen da. Und das hat der Baldis (?), der war damals
glaube ich Vize-Präsident der Max Planck-Gesellschaft, und eben im Institut, wo ich war,
Direktor, der hat dann mich und die Jutta Almendinger gebeten, diese Studie zu machen. Und
wir haben das gemacht und ich war am Weggehen, und die Jutta war auch am Weggehen,
oder war schon gerade weg, dass wir einerseits der Max Planck-Gesellschaft verbunden
waren, weil dort gewesen oder gerade im Absprung, andererseits aber extern waren für die
Untersuchung. Dafür habe ich mich wieder mit der Thematik auch wissenschaftlich
beschäftigt, gleichzeitig war ich auf dieser Tagung, das was aber nicht die erste, sondern das
muss die zweite gewesen sein...
VOGEL: Ja, die hat ja mehrere gemacht.
KRAIS: Das muss 1996 gewesen sein, und auf dieser Tagung hat die Angelika Wetterer eben
gesagt, ‚Und, im Übrigen, die DFG signalisiert, dass sie ein Interesse hätte, da wieder einen
Schwerpunkt einzurichten.’ So spät war das. Da war ich gerade frei und unabhängig
geworden, als Professorin, Und ich kannte auch die ganzen Frauenforscherinnen nicht. Ich
war wirklich außerhalb dieses Zirkels, und habe dann damals gesagt, ich bin dabei, ich könnte
so was jetzt machen. Ich hatte das Gefühl, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, ich
muss nicht jedes Jahr meine Veröffentlichungen nachweisen und wenn ich mal ein Jahr lang
nichts geschrieben habe, interessiert das niemanden. Ich kann das alles machen. Und dann
haben sich mehrere Frauen gemeldet, und ich kannte keine von denen. Das war Regine
Gildemeister, Edith Auwärter-Kirsch. Angelika sagte, sie kann nicht federführend dabei sein,
weil sie ihre Habilitation solange macht. Ich glaube, wir vier waren das. Ich kannte weder war
Regine Gildemeister noch Edith Auwärter –Kirsch, noch Angelika Wetterer, aber wir haben
gesagt, wir probieren das zusammen, und wir müssen noch ein bisschen aufstocken. Wir
haben dann die Sache arrangiert und alles erweitert, und haben diesen Schwerpunkt ins Leben
gerufen. Und wie ich dieses erzähle, ist mir eingefallen, dass doch Bourdieu eine Rolle
spielte.
VOGEL: Ab wann spielte Bourdieu für sie eigentlich eine Rolle, schon am Max PlanckInstitut?
KRAIS: Ja.
VOGEL: Nach der Dissertation?
KRAIS: Ja, das lief parallel. Und zwar habe ich ihn erst als Person kennen gelernt, weil ich im
wissenschaftlichen Beirat des Max Planck-Instituts war, das wird 1976 gewesen sein, weil ich
im Herbst 1975 dahin gegangen bin. War er auch da im Beirat, und da wurde jemand gesucht,
der gut Französisch kann und ihm zur Seite sitzt und ab und zu was übersetzt. Er konnte
einigermaßen Deutsch, ich weiß nicht, wie gut, er konnte auch Deutsch lesen, immerhin hat er
Heidecker gelesen und eine Studie zu Heidecker veröffentlicht. Da habe ich ihn kennen
gelernt, da saß ich also neben ihm und habe mit ihm geflüstert, ihm übersetzt und ihm auf die
Sprünge geholfen. Er hat dann auch einen Vortrag geholfen, und während er diesen Vortrag
hielt, ging die Tür auf und rein kam Helmut Becker mit dem Bürgermeister von Jerusalem,
machte die Tür auf, ‚Nur kurz stören, nur Guten Tag sagen.’ Stellte vor, Bürgermeister von
Jerusalem, alles wichtige Männer, sprach, ging wieder raus. Als die Tür zu war, Bourdieu
lachte und sagte, ‚Sehen sie, das ist ein Herrschaftshabitus.’. Das war der Einstieg.
VOGEL: Das kann ich verstehen.
KRAIS: Bourdieu war eine sehr angenehme Person, witziger Mann, freundlich, neugierig und
sehr den Leuten zugewandt. Das war meine erste Berührung mit ihm. Und da spielte mein
ehemaliger Kollege Jens Mahlmann (?) eine Rolle, der jetzt in Münster ist. Jens Mahlmann
(?) sagte immer zu mir, ‚Du musst Bourdieu lesen!’, da findest du das, was du suchst. Ich war
damals an einem Punkt, ich hatte ja viel Bildungsökonomie gemacht mit Edding, und dann
diese Sachen Studium und Beruf, Arbeitsmarkt und das alles. Ich habe immer gesagt, das ist
alles schön und gut, aber das ist keine Soziologie. Und ich weiß, dass ich Soziologie machen
will, das Strukturelle. Ich hatte auch Spaß an dieser Ökonomie und habe mich gut
eingearbeitet, aber ich habe gesagt, das ist eigentlich nicht das, was mein Ding ist, wo ich sehr
gut werden würde oder sehr gut sein kann. Weil es Sachen gibt, die mir fern bleiben. Also
zum Beispiel ...-Theorie (???) [unverständlich], ich verstehe schon, was die machen, aber ich
verstehe nicht, wie man auf so eine Idee kommt, so zu denken. Und mir fehlt jetzt irgendwie
was Soziologisches. Und Jens sagte immer, ‚du musst Bourdieu lesen, da findest du die
Verbindung.’ Und dann haben wir beschlossen, das ging eben damals noch und das war das
Schöne am Max Planck-Institut, wir richteten eine Arbeitsgruppe ein, zu fünft, und eignen uns
Bourdieu an und haben ihn übersetzt. Jeder von uns hat einen Aufsatz übersetzt. Da hatten wir
diese Arbeitsgruppe, darüber habe ich das dann gelesen, das war in den 1970ern, daraus ist
ein Buch geworden „Titel und Stelle“, mit verschiedenen Aufsätzen, und ich habe dann
immer wieder Kontakt zu Bourdieu gehabt, vieles gelesen, und er hat 1989 oder 1988 war
das, da kriegte ich eine Einladung zur Bourdieu-Tagung nach Chicago. Da hat Bourdieu
gesagt, der war da auch, ich soll doch was machen über Geschlechterverhältnisse, und das
habe ich dann gemacht, also es war eigentlich eine Anregung von ihm, weil er hatte dazu
gerade was geschrieben, und er wollte das aber nicht weiter vertreten und sagte, ich solle doch
was dazu machen. Und dann habe ich mir das angeguckt, er hat mir auch einen Literaturtipp
gegeben, den ich sehr hilfreich fand, er hatte mir mehrere Sachen gesagt und das fand ich
dann ganz toll, das war Mary O’Brien „The Politics of Reproduction“. Das habe ich dann
zusammengebracht, es in Chicago vorgetragen und dann auf Deutsch veröffentlicht, auf
Deutsch ist es 1993 erschienen, das war also praktisch mein Einstieg wieder in die Thematik
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