Die dynamische Körperhaltung eines psychoanalytischen Prozesses

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Die dynamische Körperhaltung eines psychoanalytischen
Prozesses (Teil 2)1
Michael Heller
Zusammenfassung: Die dynamische Körperhaltung ist ein Modell und ein
Kodiersystem, das es den Forschern ermöglicht, Dimensionen von
Körperhaltung jeder wie auch immer gearteten Interaktion zu untersuchen. In
der hier vorgelegten Arbeit werde ich zeigen, wie dieses Modell angewandt
werden kann, um komplexe Verhältnisse in einer psychotherapeutischen
Interaktion zu analysieren, und damit einige damit verbundene Probleme zu
klären. Ich werde die von Beatrice Beebe publizierte psychoanalytische
Fallgeschichte der Patientin Dolores verwenden, um an einem konkreten
Beispiel zu zeigen, dass die dynamische Körperhaltung besonders dann hilfreich
ist, wenn analysiert wird wie das Setting und individuelle Besonderheiten
reguliert werden.
Schlüsselwörter: Autoregulation; Haltung; Interaktion; Kontingenz; Missbrauch;
Psychoanalyse
Abstract: Postural dynamics is a model and a coding system that allows
researchers to scan the postural dimensions of any interaction. In this paper I
will show how this model can be used to scan complex dimensions in a
psychotherapeutic interaction, and to clarify some of the issues involved. I shall
use Beatrice Beebe's published psychoanalytical case study of Dolores as a
concrete example to show that postural dynamics is particularly useful when it
analyzes how a setting and individual particularities are regulated.
Key words: autoregulation; posture; interaction; contingence; abuse;
psychoanalysis
4.
Grundhaltungsthemen
Wir haben vier Kategorien der Körperhaltung unterschieden
(Oberflächenhaltung, Verbindungshaltung, Grundhaltung, Verschiebehaltung).
Man kann also vermuten, dass ein bestimmtes Ereignis auf jede Kategorie
unterschiedliche Auswirkungen haben wird. Vorhin habe ich die verschiedenen
Möglichkeiten dargelegt, wie das „Thema Gesicht“ mit der Kategorie
Verschiebung zusammenhängt. Obwohl Judith Edwards (2004a) die
dynamischen Körperhaltung nicht anwendet, bringt sie ganz spontan bestimmte
Aspekte des Gesichtes mit dem in Verbindung, was ich als Grundhaltung
bezeichne.
Der erste Teil dieses Beitrags wurde veröffentlicht in „Psychoanalyse und Körper“ Nr. 13, 2008, Heft II, S.
77−94.
1
Am Anfang wurde die Therapie im Sitzen durchgeführt. Beebe entschied sich
bewusst für diese Anordnung, um damit der 40.-jährigen Patientin Dolores eine
neue Erfahrung der Spiegelung anzubieten (Winnicott, 1971, S. 130), die
manchmal schwierig und schmerzhaft war. Die Affektabstimmung und die
allmähliche Hochschaukelung der Affekte (Stern S. 198), die Dolores dabei
erlebte, fehlten meistens.
Dies ist ein gutes Beispiel, woran sich zeigt, wie die Grundhaltung sich selbst in
Abhängigkeit zur Oberflächenhaltung organisiert. Edwards vermutet, dass die
bewusst gewählte Sitzanordnung mit bestimmen therapeutischen Zielen in
Zusammenhang steht. Hierzu möchte ich folgende Bemerkung anbringen: Nur
manchmal erfolgt eine solche Abstimmung ausdrücklich und ist vollends
durchdacht. Sogar in diesen Fällen sind die Auswirkungen einer solchen
Strategie häufig zu vielgestaltig und zu komplex, um sie alle bewusst handhaben
zu können. Die Entscheidung für eine Grundhaltung ist häufig teilweise
mitverursacht durch Rituale, Gewohntheiten, unbewusste Signale und
improvisiertes Wissen (Bateson, 1994). Ganz selten steht dahinter eine bewusst
gewählte Strategie.
Weil die Verschiebungsthematik als solches nicht im Vordergrund stand, lässt
sich Dolores’ erstes Behandlungsjahr mit Beebe durch Sorge um die
Grundhaltung charakterisieren. Aus Sicht der dynamischen Körperhaltung kann
gesagt werden, dass Beebe intuitiv verstand, dass sie Schwierigkeiten haben
würde, Dolores zu erreichen, bis diese Thematik korrekt angegangen werden
konnte:
„Während der ersten sechs Stunden zu Beginn der Therapie erzählte sie mir
zögernd und von intensiven Gefühlen begleitet ihre Lebensgeschichte… Im
Anschluss daran begann Dolores damit, mit ihrem Körper von mir abgewendet
da zu sitzen, ohne mich dabei anzusehen. Sie sprach kaum noch. Es schien, dass
sie aus dem Kontakt ging und disszoiierte. Mehrmals fiel mir auf, dass sie sich
mir zuwandte, ohne mich dabei anzusehen, um sich anschließend wieder von
mir abzuwenden. So machte ich ihr den Vorschlag, anstatt weiter zu sprechen,
zu versuchen, darauf zu achten, in welchen Momenten sie ihren Körper mir
zuzuwenden konnte und wann sie sich abwenden würde. Dolores entwickelte in
den darauf folgenden Monaten eine Metapher. Sie würde sagen, „ich bin in
deiner Richtung“ oder „ich falle aus deiner Richtung“. Dolores Gabe, auf diese
poetische Art zu antworten, war sehr berührend und half uns dabei, ein Gefühl
für Bindung beizubehalten. Aber es war weiterhin schwierig mit ihr, einen
Kontakt auf einer eher üblicheren verbalen Weise zu etablieren, und sie führte
das wortlose Dissoziieren während längeren Sitzungsabschnitten fort.
Schließlich versuchte ich meinen Stuhl in einen eher „biologischen“
Gesichtsabstand zu rücken, sodass die beiden Stühle in einem rechten Winkel
zueinander standen, mit einem kleinen Tisch dazwischen. Dieser Abstand
näherte sich in etwa dem an, was bei einer Interaktion zwischen Erwachsenen
üblich ist. Dieser Abstand ist zwar näher als es bei einer gewöhnlichen
Psychotherapie üblich ist, aber nicht so nahe, wie zwischen Mutter und Kind.
Diese Anordnung erleichterte nun den Kontakt zu Dolores. Sie schien meine
Anwesenheit besser wahrzunehmen, und die Phasen anhaltender Dissoziation
wurden weniger häufig und weniger lang. Wir haben diese Anordnung
beibehalten. Wie hat es sich auf mich ausgewirkt, dass ich Dolores´ Gesicht oder
ihren Ausdruck „mitbekam“? Ich erlebte ihren verschlossener Gesichtsausdruck
und ihre Stummheit eher als Angst, denn als Zurückhaltung. Ich fühlte mich
geduldig, so wie ich es von den Kindern bei meiner Forschungstätigkeit her
kenne. Meine einzige Intention war, emotional bei ihr zu bleiben. Ich versuchte
zu empfinden, was sie fühlte und das mitzuverfolgen, was sie mir sagte. Dolores
erzählte mir manchmal, wie wichtig ich für sie sei. Ich bin mir sicher, dass,
wenn es ihr nicht wiederholt gelungen wäre, mir diese Bezeugungen entgegen
zu bringen, es für mich viel schwieriger gewesen wäre, und die Therapie hätte
möglicherweise einen anderen Verlauf genommen. Ihre eigene großherzige und
liebenswerte Art mir gegenüber wirkte als maßgeblicher Katalysator in der
Therapie“ (Beebe, 2004a).
Bei diesem Zitat fällt es leicht, die durchdringende Wirkung der ungelösten
Themen zu erfühlen, die mit der Grundhaltung zusammenhängen (in solchen
Fällen spreche ich von „Grundhaltungsthemen“) und wie diese es
verunmöglichen, sich komplexeren Themen zuzuwenden, wie Autoregulation,
Konzentration auf interaktive Prozesse und spezifische Affekte, oder innere
Repräsentanzen. Beebes Wissen über nonverbale Kommunikation stellt einen
Rahmen zur Verfügung, in dem schweigsames Aushandeln stattfinden kann, das
sich mittels der Regulation der Grundhaltung ausdrückt. Sie war in der Lage, auf
einen Körperhaltungsdialog einzugehen und ihn zu integrieren. Damit half sie
der Patientin, eine innige Art des Zusammenseins mit ihr als Therapeutin zu
erkunden. Aus der Sichtweise der dynamischen Körperhaltung war dies ein
wichtiger Schritt. Ich glaube nicht, dass es jemandem gelingen wird, sich mit der
Feinabstimmung im Kontaktverhalten zu beschäftigen, bevor nicht zuerst eine
zumindest vorübergehend annehmbare Übereinkunft erzielt wurde, wie mit
Verschiebungs- und Grundhaltungsthemen umzugehen ist.
Nach dem ersten Behandlungsjahr zog Dolores in eine andere Stadt, um dort zu
abreiten. In dem Maße, als diese Ortsverschiebung sich als Thema in den
Vordergrund drängte, kam die Regulation des Grundhaltungssystems zuerst
einmal in Unordnung. Unter der Regulation des Grundhaltungssystems verstehe
ich die intra- und interpersonellen Mechanismen, die eine Beteiligung an der
Grundhaltungsaktivität ermöglichen. Beebes Kommentar zu diesen Stunden:
„Obwohl Dolores Worte auf dem Videoband oft kaum verständlich sind, ist
doch der Rhythmus ihrer Worte zu erkennen. Gewöhnlich wiederhole ich das,
was ich höre, weil ich mich anstrenge, ihre Worte zu verstehen. Obwohl mir
Teile meines nonverbalen Verhaltens bewusst waren, war das meiste doch
außerhalb meines Bewusstseins. Zum Beispiel fühlte ich in dem von mir zuerst
beschriebenen Abschnitt körperlich „ruhig“. Nachdem ich aber das Videoband
ausgewertet hatte, wurde mir erst bewusst, wie vollständig ruhig ich geworden
war, um mich dadurch auf ihren Angstpegel einzustellen. Ich bin mir auch
bewusst, dass ich meinen Aktivitätspegel verlangsame und vermindere, wenn
ich mit Kindern interagiere. Bei Dolores tat ich dasselbe, aber auf eine sogar
noch dramatischere Art und Weise“ (Beebe, 2004a).
In dieser Phase vermied es Dolores, den Kopf und die Augen auf ihre
Therapeutin zu richten, währenddessen Beebe (2004a) „fortwährend auf sie
ausgerichtet war und sie anblickte.“ Dies war wohl die beste Art von
Grundhaltung mit dieser Patientin. Für die Zukunft könnte folgender Hinweis
hilfreich sein, den Nikolaas und Elisabeth Tinbergen geben, wenn sie einen
etwas abgestufteren nonverbalen Dialog empfehlen. Bei der Behandlung
autistischer Kindern weisen sie darauf hin, dass für diese ein direkter
Augenkontakt „zu heftig“ ist.
Falls die Therapeutin es vermeidet, das Kind anzublicken, wird das Kind in das
Gesicht der Therapeutin blicken und sich ihr schlussendlich sogar annähern.
Wird die Therapeutin jedoch das Kind darin unterstützten, sich anzunähern, in
dem sie einen sanften freundlichen Augenkontakt anbietet, wird sich das Kind
abwenden.
„Was wir immer wieder tun, wenn wir bei einer Familie zu Besuch sind, oder,
wenn uns eine Familie mit kleinen Kindern besucht, ist, dass wir, nachdem wir
sie kurz mit einem freundlichen Blick angesehen haben, die Kinder völlig
ignorieren. Gleichzeitig lösen unsere ersten Gespräche bei den Eltern
freundliche Antworten aus. Aus den Augenwinkeln heraus lässt sich dabei das
Verhalten der Kinder bestens beobachten. So können wir ein überraschend
hohes Mass an Verhaltensweisen erkennen, mit denen sich das Kind uns mitteilt.
Üblicherweise wird ein solches Kind zuerst damit beginnen, den Fremden
aufmerksam zu beobachten und ihn zunehmend zu erkunden“ (N. u. E.
Tiinbergen, 1972a).
Diese Beobachtungen lassen sich kontrovers diskutieren (Heller 1987). Ich
möchte nicht behaupten, dass Beebe’s Vorgehen falsch war. Weil es die
Aufgabe einer Studie ist, andere anzuregen, möchte ich darauf hinweisen, dass
bereits einiges zu diesen Themen und deren Behandlung veröffentlicht wurde.
5. Verbindungshaltung
Beebe hielt fest, dass die Art, wie sie und Dolores sich in den gemeinsamen
Sitzungen autoregulierten, sich während der zehn beschriebenen Analysejahre
änderte. Diese Veränderung entwickelte sich allmählich. Gemäß Beebe (2004a)
war „Dolores im ersten Behandlungsjahr mit der Selbstregulation beschäftigt:
zurückgezogen, verstummt, den Blick vermeidend, so regulierte sie den
Schrecken und das Abgestorbensein.“ Sie sendete nonverbale Mitteilungen an
ihre Therapeutin, aber es war für sie schwierig, die Signale, die von der
Therapeutin her stammten, zu integrieren. Nach dem neunten Behandlungsjahr
musste Dolores nicht mehr viel Anstrengung für die Autoregulation aufwenden,
da sie sich zunehmend getröstet fühlte. Schlussendlich gelang es ihr, mit ihr
derart zu interagieren, dass eine Analyse im traditionellen Sinne möglich wurde.
Sie konnte sich nun auf die inneren Repräsentanzen und die Integration alter
Erfahrungen konzentrieren.
Aus meiner Perspektive ist dazu zu sagen, dass Dolores sich während des ersten
Therapiejahres wohl darum bemühte, sich selbst zu regulieren, aber ihre
Autoregulation war nicht wirksam. Meinem Modell entsprechend verbindet
Autoregulation die Grundhaltung mit der Oberflächehaltung, was im neunten
Behandlungsjahr beobachtbar werden konnte. Diese Verbindungskategorie
fehlte zu Beginn. Erst wenn Selbstberührung möglich wird, können der eigene
Körper und die Gefühle während einer Interaktion spürbar werden. Nachdem die
Themen von Grundhaltung und Verschiebung in der Therapie deutlich
hervorgetreten waren, konnten Dolores und Beebe sich systematisch den
Themen der Autoregulation zuwenden. So konnte Beebe in der Mitte des
zweiten Behandlungsjahres beobachten, dass es Raum für eine offene
Autoregulation gab:
„ Mit jedem Satz veränderte ich ganz leicht die Art, wie meine eigene Hand
mein Gesicht tröstet. Dabei fiel mir meine eigene Anstrengung auf, wie ich
meine intensiven Gefühle, die ich gegenüber Dolores empfand, regulierte. Die
Füße von Dolores sind in diesem Moment auf dem Videoband sichtbar und ihre
Zehen wackeln, dann reiben sie sich gegeneinander und trösten sich selber.“
Mit dem Voranschreiten der Therapie wurde die Autoregulation eine
zunehmend sichtbare Dimension des therapeutischen Dialogs.
„Dolores unternahm eine konzentrierte Anstrengung, um mir mehr über ihre
frühere Geschichte zu erzählen. Es war für Dolores äußerst schwierig, etwas
Konkretes zu erzählen. Wir hatten wohl eine ganze Stunde damit zugebracht, bis
es ihr gelang, ein einziges Bruchstück Information zu geben. In diesem Moment,
als sie gerade im Begriffe war, über ein Detail zu sprechen, wurde sie aufgeregt,
ihr Körper spannte sich an, und schließlich hörte sie auf zu atmen, als versuchte
sie, alles in sich zurückzuhalten. Sie setzte lange mit dem Atem aus, war nicht
fähig, damit aufzuhören, bis sie schließlich in Panik geriet. Ich versuchte sie
darin zu unterstützen, sich mit meiner Atmung zu synchronisieren. Ich stieß
weiche, rhythmische Klänge während meines Ein- und Ausatmens aus. Dolores
nannte es das „Atemlied“. Gemeinsam gelang es uns, das Einsetzen einer
Episode von Atemanhalten vorauszusagen, und wir stimmten uns allmählich in
das Atemlied ein, noch bevor sie äußerst aufgeregt wurde. Im Verlaufe der
nächsten zwei Jahren nahm die Atemsymptomatik schrittweise ab.“
„Ein anderer dramatischer Ausdruck ihrer Schwierigkeit, Näheres über ihre
frühe Lebensgeschichte mitzuteilen, war, dass sie ganz unerwartet in einen
Tiefschlaf fiel, nachdem sie mir etwas besonders Schmerzhaftes mitgeteilt hatte.
Dieser Schlaf dauerte dann bis zum Ende der Stunde an, und es gelang mir nicht,
sie zu wecken. Dabei sass ich neben ihrem Kopf, und während sie schlief
erzählte ich ihr, was sich gerade zugetragen hat und warum ich dachte, weshalb
sie eingeschlafen sei. Darauf blieb ich bei ihr, während sie schlief. Hin und
wieder sagte ich ihr sanft, dass ich bei ihr bliebe, während sie weiter schlafe.
Gegen Ende der Stunde gelang es ihr aufzuwachen und mir zuzuhören, als ich
wiederum erzählte, was ich dachte, was sich zugetragen habe. Allmählich kam
sie wieder in die Lage, sich neu zu organisieren. Ich bin mit ihr im Zimmer
herumgegangen, bis ich spürte, dass sie wieder bei vollem Bewusstsein war und
weggehen konnte.“
Für mich war dieses und noch anderes Verhalten Teil eines Filterungsprozesses
von Kontingenz. Ich werde nun im Detail diesen Begriff erörtern. Für Dolores
war es zuerst schmerzhaft, sich mit all den Reizen zurecht zu finden, die von den
sie umgebenden Menschen an sie herangetragen wurden. Sie musste diese Reize
filtern. Telefonieren war ideal, weil dabei die Körper-zu-Körper-Interaktion
keine Rolle spielte. Beebe konnte nicht sehen, wie Dolores Körper auf das
reagierte, was sie sagte, und Dolores musste nicht auf jedes Signal reagieren, das
von Beebe ausgesandt wurde. Damit bietet sich eine gute Möglichkeit, den
Begriff der Kontingenz einzuführen, wie er oft in der Säuglingsforschung
verwendet wird. Gergely und Watson (1999, S. 101) definieren die
„’Wahrnehmung von Kontingenz’ als die Fähigkeit eines Individuums,
empfindsam gegenüber dem Vorhandensein von Zusammenhängen zu reagieren,
die sich zwischen seinem Verhalten und den Ereignissen in der Umgebung
ereignen.“ Beebe und ihre Mitarbeiter zeigen, dass Kinder in der Beziehung zu
anderen verschiedene Formen von Kontingenz sehr schätzen, wie es sich z. B.
beim Vorgang des „matching“, dem Übereinstimmen, ergibt. Kontingenz meint
das Erleben einer kausalen Beziehung zwischen dem, was man selber tut und
dem, was andere tun. Beebe (2004b) versteht wie Gergely und Watson unter
dem Begriff Kontingenz eine bidirektionale, interaktive Regulation.
Als Dolores wusste, dass Beebe Videoaufnahmen benutzte, bat sie später um
Videobänder, auf denen bloß das Gesicht von Beebe zu sehen war. Sie wollte
keine Aufnahme, worauf der ganze Körper oder eine Interaktion zu sehen war.
Dolores wollte nur das Gesicht der Therapeutin. Als sie zu Hause war, sah sie
sich diese Filme an. Wir wissen von diesen videographierten Stunden, dass sie
darin nicht besonders reaktionsbereit war. War sie aber zu Hause, so vermute
ich, konnte sie sich die Zeit nehmen und Antworten auf alle Äußerungen von
Beebe finden. Dolores unterlag dort nicht dem Druck, vor Ort improvisieren zu
müssen, in jedem Moment, auf jeden im Therapieraum vorhanden Reiz eine
Antwort finden zu müssen. Bei sich zu Hause konnte sie eine Sequenz mehrmals
ansehen. Sie konnte sie auf sich einwirken lassen und hatte dabei die Muße, die
jeweiligen Gefühle zuzulassen. Meine Hypothese ist, dass der Missbrauch eine
Art von Hyperkontingenz darstellt. Das Kind muss umgehend so reagieren, wie
die Bedürfnisse des missbrauchenden Erwachsenen es gerade verlangen.
Die Verwendung von Beebes Filmen in der Therapie verdeutlicht, wie ein
einziges Ereignis verschiedene Auswirkungen auf jede Kategorie der
dynamischen Körperhaltung hat. Der Hauptgrund, weswegen die Filme von
Beebes Gesicht in das therapeutische Ritual eingeführt worden waren, bestand
darin, einige Auswirkung der Verschiebung zu klären. Dieses Verfahren
verminderte den Schmerz von Dolores während der Wochen, als sie ihre
Therapeutin nicht sehen konnte und bestätigte wahrscheinlich Beebe, dass die
therapeutische Beziehung weitergeführt werden konnte. Dies mag eine
Erklärung für die Verwendung des Films sein, erklärt aber nicht das Bedürfnis
von Dolores, nur Beebes Gesicht sehen zu wollen. Zur Erklärung dieses zweiten
Punktes, nämlich ihres Bedürfnis a) den Kontakt aufrecht zu erhalten und b) es
auf eine gefilterte Art zu tun, kann ein elegantes Erklärungsmodell
herangezogen werden. Der folgende von Beebe (2004a) veröffentlichte Dialog
kann dem Leser helfen, die Stimmung aufleben zu lassen, die in dem gefilmten
Dialoge herrschte:
Beebe (2004a): „Die Art, wie Dolores die Betrachtung der Videobänder
benutzte, um den Prozess der Internalisierung zu fördern, soll im Folgenden
gezeigt werden: die Darstellung meines Gesichtes und ihres Gesichtes nach
zweieinhalb Jahren Therapie.“
Die hier folgenden Aufzeichnungen sind während einer Telefonstunde gemacht
worden.
Als Dolores alleine war, schaute sie sich Videobänder an, die nach eineinhalb
Jahren Therapie aufgezeichnet wurden. Ich habe diese Stunde oben beschrieben:
Dolores: Ich habe Ihr Gesicht gesehen, als Sie mich ansahen. Ich sah, wie anders
es aussieht, wenn ich mit Ihnen bin.
BB: Sie haben es sich auf dem Video angeschaut?
Dolores: Ja
BB: Was habe Sie gesehen?
Dolores: Ich sah, wie Sie mich anschauten. Ich habe es nicht gesehen, als ich mit
Ihnen, in Ihrer Gegenwart, war, aber später, als ich das Video anschaute und ich
Sie sah, da fühlte ich mich viel realer.
BB: Erstaunlich.
Dolores: Ja. In der Art, wie wenn ich mit meinen Gefühlen alleine bin,
manchmal aber auch nicht. Aber als ich meine Gefühle auf Ihrem Gesicht sah,
da fühlte ich mehr, da fühlte ich meine Gefühle. Das fühlte sich vertraut an.
Aber ich fühle sie nicht immer, wenn ich alleine bin.
BB: Das ist sehr interessant. „Sie (die Gefühle) zu fühlen“, was bedeutet das
eigentlich?
Dolores: Wenn ich alleine mit ihnen bin, dann fühle ich mich verwirrter. Wenn
ich sie auf Ihrem Gesicht sehe, kann ich sie besser erkennen. Wenn ich sie fühle
und ganz alleine bin, dann geben sie keinen Sinn – das ist der Grund, warum sie
sich so schlecht anfühlen. Niemand ist da, ihnen einen Sinn zu geben.
BB: Können wir ihnen die gleiche Bedeutung geben, wenn wir miteinander am
Telefon reden. Jetzt, ohne die Gesichter?
Dolores: Ich muss sie sehen, oder ich muss sie fühlen. Ich habe das Bild von
Ihnen, wie Sie mich ansehen, und ich mag das. Sie wenden Ihre Augen nie von
meinem Gesicht ab. Aber jetzt, am Telefon, Ihre Stimme schwebt zum Ohr,
schwebt weg. Ich will, dass Ihre Augen mich anschauen.“
Beatrice Beebes Kommentar dazu: „ Die Sitzung zeigt, wie Dolores die
Videobänder als Zusatz zum Internalisierungsprozess anschaut…
Internalisierung kann als die Erwartung eines interaktiven Prozesses verstanden
werden, bei dem die innere Organisation durch gegenseitige Abstimmung und
gemeinsame bidirektionale Muster entsteht, die zusammen den Austausch
regulieren. (...) Die Betrachtung der Videobänder gab ihr die Gelegenheit,
wirklich zu sehen und mehr Information meinem Gesicht entnehmen zu können.
Dabei muss daran erinnert werden, dass die Videoaufnahmen auf ihre Anregung
zurückgehen. Meine Untersuchungen des Austausches von Gesichtsmimik
zwischen Kindern und Müttern haben mich überzeugt, dass sie meine Gefühle
für sie auf meinem Gesicht sehen musste, so wie sie meine Gefühle, die durch
meine Stimme vermittelt wurde, hören musste. Das Videoband gab uns ein
wirkungsvolles Mittel in die Hand, dies zu erleben. Zu diesem Zeitpunkt der
Behandlung hatte sie mich noch immer nicht angeschaut, und wir hatten immer
noch nicht vollständig die Dynamik dieses Verhaltens verstanden.“
Das Schlafen in der Therapie kann vielleicht als Möglichkeit aufgefasst werden,
Kontingenz zu testen. Es mag dazu dienen, das Aufwachen in einer Welt, die
aus bewussten und unbewussten Kontingenzen besteht, auf angenehme Art ohne
Spaltung zu erleben. Als sie aufwachte und dann wusste, dass die Sitzung nur
noch wenige Minuten dauern würde, konnte sie die gerade stattfindende
Interaktion wertschätzen. Sie konnte hier einen Eindruck davon bekommen, wie
es ist, an einem Strukturierungsprozess der laufenden Dinge teilzuhaben. Sie
fühlte sich wohl genug und konnte sich in die Lage versetzten, Ereignisse
herauszufiltern, sich Zeit zu nehmen und sich selbst zu regulieren.
6. Die Oberflächenhaltung
6.1. Fehlender Zugang zu Informationen im Hinblick auf die
Oberflächenhaltung
Zu Beginn traf ich mich mit Beatrice Beebe, die an meinen Kommentaren zur
Gesichtsmimik in der Interaktion mit Dolores interessiert war.2 Da die
Oberflächenhaltung Bewegungen der Feinmotorik miteinbezieht, ist es
schwierig, sich dazu auf Grund schriftlicher Angaben zu äußern.
Die Oberflächenhaltung ist die Kategorie, mit der sich bisher die
wissenschaftlichen Untersuchungen zur nonverbalen Kommunikation am
ausführlichsten beschäftigt hatten. Hingegen sind die darunter liegenden
Dimensionen dieser Haltung seit den 1970-iger Jahren eher vernachlässigt
worden. Deswegen werde ich mich auf diese darunter liegende Dimension der
dynamischen Körperhaltung in der Therapie von Dolores mit Beebe
konzentrieren. Ich glaube, dass diese Dimension aufschlussreiche Hinweise zum
therapeutischen Prozess geben kann.
6.2 Eine erstarrte Oberflächenhaltung
Es gibt einen Aspekt der Oberflächenhaltung, der sich aus Beebe’s
Fallgeschichte abhebt: eine Erstarrung, ein Gefrorensein, eine Dämpfung oder
eine Blockade einiger Oberflächenhaltungsfunktionen. Ich habe diesen Punkt
unter 2.1.5. eingeführt: Die Koordination der Körperhaltungskategorien. Im
ersten Jahr zeigt sich diese wie folgt:
„Ich benutzte jede erdenkliche Vorgehensweise, sie zu erreichen: Rhythmus und
Intonation unserer Stimmen, unserer Atemrhythmen, unsere Kopf- und
Körperausrichtung, meinen gleich bleibenden Blick, die Drosselung meiner
Körperaktivitäten, meine mimischen Antworten. Trotz meiner Aufmerksamkeit
auf mein nonverbales Verhalten fand das meiste ausserhalb meines
Bewusstseins statt. Erst nach der detaillierten Auswertung der auf Video
2
Die Gesichtsmimik hatte ich im Rahmen psychotherapeutischer Interaktionen mit Hilfe des FACS nach Ekman
und Friesen bereits in früheren Arbeiten analysiert (Heller & Haynal 1997b).
aufgezeichneten Interaktionen, (...) und während dem ich diese Abhandlung
schreibe, wird mir das Ausmaß nonverbalen Verhaltens von Dolores bewusst“
(Beebe, 2004).
Wir haben festgehalten, dass Dolores anstelle eines beweglichen
Augenkontaktes dazu neigt, an Beebe vorbeizusehen, währenddessen Beebe die
Tendenz zeigt, die Patientin ununterbrochen anzusehen. Das Ausmaß dieser
Polarisierung ist aufschlussreich, weil damit eine bestimme Unstimmigkeit
zwischen Therapeutin und Patientin zu erwarten ist. Ich möchte nun auf
folgenden Punkt hinweisen. In unserer Studie über faziales Verhalten und
Gesichtsmimik in Interviews mit einem Arzt und mit suizidalen Patienten
(Heller et al., 2001) haben wir zwischen a) einem momentanen Repertoire und
b) einer subtilen Betonung momentaner Unterschiede differenziert.
Das erwartete Verhalten eines Therapeuten zeichnet sich dadurch aus, dass sie
oder er in 90% bis 50% der Zeit in die Richtung des Patienten schaut,
währenddessen bei Patienten in Krisen ein Spektrum von 0% bis 100%
festzustellen ist. Zu gewissen Zeiten verminderte sich die übliche Varianz des
Therapeuten in Abhängigkeit vom Ausmaß des Risikos eines Patienten, einen
erneuten Suizidversuch zu unternehmen. Es zeigte sich, dass dieser geringe
Unterschied einen hohen Voraussagewert in Bezug auf ein erhöhtes Risiko
hatte. Im ersten Therapiejahr könnte sich im interaktiven Muster von Beebe und
Dolores etwas Ähnliches gezeigt haben. Es kann erwartet werden, dass eine
Therapeutin häufiger die Patientin anschaut, als eine krisenhafte Patientin ihre
Therapeutin anschaut. Aber es könnte sein, dass die Polarisierung bei beiden
besonders ausgeprägt ist. Man müsste sich die Videobänber genauer ansehen,
um beurteilen zu können, in welchem prozentualen Verhältnis a) Dolores
Blickverhalten zu Beebe’s Blickverhalten und b) Beebe’s Blickverhalten zu
Dolores’ Blickverhalten steht. Falls die beiden gefunden Werte
außergewöhnlich hoch im Bezug auf die Augenausrichtung wären, so läge ein
Beispiel von Erstarrung der Blickbeweglichkeit vor, und somit wäre ein Hinweis
dafür gefunden, dass ein Verlust der Dynamik der momentanen
Blickinteraktivität vorläge (Duncan & Fiske 1977).
Das Erstarren der Oberflächenhaltung ist bereits von Beebe (2004a) in der ersten
Behandlungswoche beschrieben worden:
BB: „Es scheint, Sie fühlen, dass Ihr Gesicht aufgehört hat, sich zu bewegen und
Ihre Augen aufgehört haben zu sehen.“
Wir haben bereits festgestellt, dass Beebes Körperhaltung „ruhig“ war, was aber
nicht bedeutet, dass ihre Feinmotorik gehemmt war. Einerseits erscheint Dolores
Funktion der Oberflächenhaltung manchmal statisch, so wie es die anderen
Haltungskategorien sind. Damit spreche ich das an, was ich als Erstarrung
bezeichnet habe. Im zweiten Jahr beobachtet Beebe (2004a) bei sich eine
ziemlich starre Oberflächenhaltung, sogar dann, wenn sie sich Dolores
zuwendet:
„Mein Köper ist völlig ruhig. Ich bin darum bemüht, keine plötzlichen
Bewegungen zu machen. Im Gegensatz zu meinem gewohnten Stil des hohen
Energiepegels habe ich meine Erregung auf ein sehr tiefes Niveau herabgesenkt.
Ich neige mich mit einem gewollten, direkten, anhaltenden Blick nach vorne. Ich
bin um eine sehr vorsichtige und zarte Aufmerksamkeit auf Dolores bemüht. Ich
höre auf jedes Wort und strenge mich an, zu verstehen, was sie mir sagt. Es
scheint so, dass es für mich nichts anders als sie auf der Welt gibt. Dolores
schaut mich nicht an“ (Beebe 2004).
Etwas später in derselben Sitzung beobachtet Beebe das gleiche Verhalten an
sich.
„Als ich mich noch intensiver konzentrierte, bewegte sich mein Kinn aufwärts
und mein Körper wird völlig unbeweglich. Damit zeige ich Dolores womöglich,
wie aufmerksam ich darauf achte, was sie sagt und fühlt“ (Beebe 2004).
In einer solchen Position gehören Gesicht und Hand zur Grundhaltung. Neun
Jahre später findet die Oberflächenhaltung zu ihrer eigentlichen Aufgabe:
„Das Gesicht von Dolores ist anders geworden. Es trägt weiche und zögerliche
Züge, ihre Gefühle werden auf dem Gesicht sichtbar. Langsam stellt sie einen
Augenkontakt her, sie kann zeitweise einen festen Blick halten. Es gelingt ihr
gewöhnlich im Verlaufe der Sitzung sich mit einem Lächeln zu öffnen. Zu
Beginn jeder Sitzung stellt sich immer noch die Frage, wie lange es dauern wird,
bis sie ihre Sonnenbrille ablegt. Wenn sie diese aufsetzt, fühle ich mich sehr
ausgeschlossen. Legt sie sie länger nicht ab, zeigt sie mir damit, dass sie sich
weit weg fühlt. Gewöhnlich legt sie die Brille bald ab. Aber es wird wohl noch
mehr Zeit verstreichen, bis sie in der Lage ist, mich ununterbrochen und
anhaltend anzuschauen“ (Beebe, 2004).
Analysiert man den therapeutischen Prozess, wie ihn Beebe beschreibt, unter
dem Aspekt der dynamischen Körperhaltung, so bekommt man ein Gefühl
dafür, wie schwierig der Prozess der Rekonstruktion ist. An der zuletzt
beschriebenen Sequenz können wir erkennen, wie Dolores langsam aus ihrem
Muscheldasein heraustritt und damit beginnt, eine intersubjektive Interaktion
anzunehmen. Sie geht das so an, dass sie einen Kontakt herstellt, worin sie mit
ihrem „innigsten Selbst“ offen und ausdrücklich versucht, in einen Dialog mit
einem anderen „innigsten Selbst“ zu treten. Das letzte Zitat zeigt, wie
zerbrechlich Dolores immer noch ist, aber es weist auch darauf hin, welch
weiten Weg sie auf recht unverwüstliche Art zurückgelegt hat. Die
Fallgeschichte als Ganzes gesehen ist in dem Sinne bemerkenswert, als Beebe
eine detaillierte Beschreibung und ein vertieftes Verständnis dieses
Rekonstruktionsprozesses gibt. Dieser Prozess bringt ein bereites Spektrum
unterschiedlicher Bereiche von Dolores in Gang, die sie als individuellen
Organismus zeigt, der aus körperlicher und geistiger Erfahrung besteht. Er zeigt
uns, wie es ihr gelingt, ihr Bedürfnis nach Interaktion und die Fähigkeit zur
Interaktion mit anderen anzunehmen.
7. Schlussfolgerungen
7.1. Nonverbale Kommunikation und Psychoanalyse
Mit dieser Arbeit möchte ich verschiedene Ziele verfolgen. Als erstes zeigt sich,
wie hilfreich ein System, das nonverbales Verhalten analysiert, zur Betrachtung
psychoanalytischer Sitzungen sein kann, ohne dabei die Überzeugungen einer
bestimmten psychoanalytische Richtung in Frage stellen zu wollen. In dem
vorliegenden Fall hoffe ich, neue konkrete Beispiele gegeben zu haben, auf
welche Weise körperliche Dimensionen an einem psychoanalytischen Prozess
teilhaben. Ich hoffe damit auch, dass ein Modell, das für Studien der
nonverbalen Kommunikation geschaffen wurde, als Hilfe genutzt werden kann,
um das oft unglaublich reiche Material aus dem psychotherapeutischen Prozess
zu strukturieren. Die Erkenntnisse, die aus der Anwendung eines
Kodierverfahrens eines psychotherapeutischen Prozesses resultieren, sind
begrenzt Der Grund hierfür ist, dass nur ein Teil des vorhandenen Materials in
die Auswertung einbezogen werden kann. Diese Begrenzung ermöglicht es aber,
den Schwerpunkt auf bestimmte Ereignisse zu legen, auf die sich die
Therapeutin nur schwerlich konzentrieren kann. Damit werden sie greifbar und
eindeutig.
André Haynal (1991) ist ein anderer Experte im Gebrauch der nonverbalen
Kommunikation für die Psychoanalyse. Er beschrieb auf elegante Art den
parallelen Prozess, der sich zeigt, wenn psychotherapeutische Sitzungen filmisch
aufgezeichnet werden. Seiner Meinung nach erfasst der Kliniker einerseits
Ereignisse mittels der Übertragungsdynamik, die kein Kodierverfahren erfassen
kann, und andererseits ermöglichen Untersuchungen über das Verhalten des
Körpers wichtige Ereignisse aufzuspüren, die der Aufmerksamkeit des
Therapeuten nicht zugänglich sind. Ich hoffe (Heller 1992), dass bereits
vorhandene Methoden weiter entwickelt werden können, so dass
Psychotherapeuten und Wissenschaftler zusammen arbeiten können. Damit wird
in Anlehnung an André Haynal’s Vision die Psychotherapie noch wirksamer.
Mein Standpunkt besagt, dass es auf Seiten des Beobachters eine Reihe
angeborener und erworbener Fähigkeiten gibt, an die keine wissenschaftliche
Methode heranreicht. Diese Auffassung wurde durch Gregory Bateson’s
Bemerkungen über seine Analyse von Birdwhistell ermöglicht, die eine
bestimmte Abfolge verschiedener Oberflächenhaltungen kommentierten. Diese
ereignete sich, als sich Bateson während einer Therapiesitzung eine Zigarette
anzündete (Birdwhistell, 1970; Winkin, 1981).
7.2 Beatrice Beebe und die dynamische Körperhaltung
Obwohl Beatrice Beebe, als sie mit Dolores arbeitete, mein Konzept der
dynamischen Körperhaltung nicht kannte, ist sie mit meiner Auffassung, was ich
als das Wesentliche ihrer Arbeit sehe, einverstanden.
„Heller versteht meine grundsätzliche Botschaft und hat sie weiter ausgeführt:
Dolores hatte nicht bloß „ihre Ideen zu restrukturieren“, sie hatte nicht nur ihre
Repräsentanzen, ihre Fantasien oder die Beziehung zu mir zu ändern. Sie musste
ihr ganzes körperliches kommunikatives Verhalten rekonstruieren. Sie musste
eine enorme innere Kreativität und Mut aufbringen, um dies zu erreichen“
(Beebe 2004b).
Sie stimmt in den Kanon jener KollegInnen ein, die, wie bereits oben zitiert,
einen Bedarf an der Integration von Methoden zur Erforschung der nonverbaler
Kommunikation mit der Psychoanalyse reklamieren. Beebe schreibt:
„Heller hebt die Wichtigkeit des impliziten, nichtbewussten, außerhalb der
Aufmerksamkeit liegenden Vorganges hervor: Der größte Teil des Lebens und
der bewussten Erfahrung wird durch nichtbewusste Prozesse gesteuert“ (Beebe,
2004b).
Ich hoffe, dass andere Bespiele dieser Arbeit nachfolgen werden. Sie mögen die
Zusammenarbeit zwischen der Psychotherapie und anderer Disziplinen ergänzen
und sich gegenseitig unterstützen.
8. Dynamische Körperhaltung und Beatrice Beebe
Manche Patienten kommen mit den psychotherapeutischen Rahmenbedingungen
gut zurecht, und die Interaktion mit ihrem Therapeuten fällt ihnen leicht. Trifft
dies zu, so ist das dynamische Körperhaltungs-Kodiersystem nur in
Ausnahmefällen sinnvoll (Braatøy 1954). Bei solchen Fällen ist viel eher den
Methoden der Vorzug zu geben, die den Schwerpunkt auf die Analyse der
Oberflächenhaltung legen. Diese bedient sich breit gefächerter Methoden, wie
die Zeitabfolge-Auswertung des Bewegungsverhaltens (Bernese System for
Time Series Notation of Movement Behavior BTSN), der Analyse der
Gesichtsmimik und der stimmlichen Intonation. Die meisten Methoden legen
dabei den Schwerpunkt auf den Inhalt des Gesprochenen. Viele Wissenschaftler
aus verschiedenen Richtungen haben Arbeiten publiziert, wie sich solche
Methoden miteinander kombinieren lassen (Bucci, Tronick, Stern, Ekman u.
Rosenberg, Heller, Beebe etc.).
Einige Patienten können sich nicht leicht auf das psychoanalytische Setting
einlassen. Bei diesen Patienten ist eine andere Art von Psychotherapie
notwendig, die den Fokus auf Schwierigkeiten richtet, wie sie in Therapien mit
Kindern, narzisstischen und Borderlinestrukturen sowie psychotischen Patienten
vorkommen. Bei einigen Fällen zwanghafter, phobischer und hysterischer
Patienten muss ein ähnliches Vorgehen gewählt werden. Diese Thematik steht
ebenfalls beim Vorhandensein wichtiger sozialer und kultureller Unterschiede
zwischen Therapeut und Patient im Vordergrund (Hall, 1966). Die Methode der
dynamischen Körperhaltung ist häufig nützlich, wenn komplexe Verhältnisse
untersucht und strukturiert werden müssen, die auf das Setting und auf
individuelle Besonderheiten Einfluss nehmen. Sie ist nicht die einzig mögliche,
aber eine grundlegende Methode. Mit der Methode der dynamischen
Körperhaltung bietet sich also eine Art Checkliste an, Schwierigkeiten
einordnen zu können, um sie dann mit anderen Konzepten zu verbinden.
Meine methodische Konzeption verlangt ein eher rigides Vorgehen. Wann
immer möglich, sollte man sich zuerst mit Themen der Verschiebung, dann der
Reihe nach mit der Grundhaltung, mit der Autoregulation und schließlich mit
der Oberflächenhaltung beschäftigen. Dies ist eine mögliche Vorgehensweise. In
Unkenntnis dieses Vorgehens konnte sich Beatrice Beebe auch nicht danach
richten. Aber auch ich halte nicht immer an diesen Vorgaben fest. Ich möchte
meine konzeptionellen Vorstellungen einem Patienten nicht aufzuzwingen,
sondern nutze das von ihr oder ihm angebotene Material. Ich habe aber mehrere
innere Checklisten zur Hand, eine davon ist die Methode der dynamischen
Körperhaltung. Ich konnte feststellen, dass sich die Bedeutung dieser Checkliste
spontan bei Beebe’s Fallgeschichte zeigte. Die Regulierungsprozesse, die ich
mit jeder Kategorie der Körperhaltung in Verbindung bringe, entfalten sich nicht
in der von meiner Methode vorgesehenen Reihenfolge.
Beebe’s therapeutischem Entscheidungsprozess aber folgte in etwa mein
vorgeschlagenes Vorgehen. Einerseits sieht meine Konzeption die Auflösung
der Grundhaltung vor, andererseits muss das Problem gelöst werden, wie die
beiden Kategorien von Grund- und Verbindungshaltung sich aufeinander
abstimmen. Während des gesamten therapeutischen Prozesses ist es deshalb
notwendig, immer wieder auf die Grundhaltung zurückzukommen, so wie die
Oberflächenhaltung bereits vom ersten telefonischen Kontakt an bereits
vorhanden war. In der vorliegenden Fallstudie Beebe’s zeigt sich, dass gerade
nur einmal die Verschiebungsthematik angegangen wurde. Dagegen gelang ihr
aber, sich mit den Grundhaltungs- und den Autoregulationsthemen
wirkungsvoller zu befassen. Erst als diese grundlegenden
Kommunikationsthemen zu einem lebendigen Rhythmus fanden, wurde eine
tiefgehende Analyse möglich.
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Mayr
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