LMU München Institut für Romanische Philologie Sommersemester 2009 Hauptseminar „Tempus – Modus – Aspekt“ Dozentin: PD Dr. Barbara Schäfer-Prieß Referentinnen: Henrike Kahl, Lucia Schmidt Datum: 23.06.2009 Der Konjunktiv im Französischen 1. Abgrenzung: Der Konjunktiv im Deutschen Im Deutschen werden der Konjunktiv I und II zur Kennzeichnung der indirekten Rede verwendet, im Gegensatz zum Französischen, wo der Indikativ in der indirekten Rede dominiert. (1) Er sagte, er habe kein Interesse an dieser Tätigkeit. Konjunktiv I (2) Sie sagten, sie hätten kein Interesse an dieser Tätigkeit. Konjunktiv II (3) Il a dit qu’il n’était pas intéressé par ce métier. (4) Ils ont dit qu’ils n’étaient pas intéressés par ce métier. imparfait Der Konjunktiv II (bzw. die würde-Periphrase) kann im Deutschen auch Irrealität oder Potentialität ausdrücken: Konditionalgefüge: (5) Wenn sie die Stelle angenommen hätte, würde sie mehr verdienen. (vs. Frz. : conditionnel im Hauptsatz) Irrealer Wunschsatz: (6) Hätte sie die Stelle doch nur angenommen! Außerdem wird der Konjunktiv II als Höflichkeitsform, z.B. zur Abschwächung einer Aufforderung, verwendet: (7) Würden Sie bitte hereinkommen? (vs. Frz.: conditionnel) 2. Der lateinische Konjunktiv (Präsens, Imperfekt, Perfekt, Plusquamperfekt) Der lateinische Konjunktiv ist aus dem indogermanischen Optativ (Ausdruck eines Wunsches) und dem indogermanischen Konjunktiv hervorgegangen und hat trotz der einheitlichen Form verschiedene Funktionen übernommen. Im Hauptsatz: - Wünschen, Wollen, Sollen : Optativus - Überlegen : Deliberativus - Zweifeln : Dubitativus - Möglichkeit, deren Verwirklichung unsicher ist : Potentialis - Aufforderung : je nach Person : Hortativ ( 1.Pl.), Jussiv (3.), Prohibitiv (2.) 1 Im Nebensatz: - Relativsätze, die eine fremde Meinung zum Ausdruck bringen oder einen finalen, konsekutiven, kausalen oder konzessiven Nebensinn haben - Indirekte Fragesätze - Konjunktionalsätze : final, konsekutiv, kausal, komparativ, konditional (Potentialis + Irrealis, Konjunktiv sowohl im Haupt- als auch im Nebensatz), temporal (normalerweise Indikativ, beim Ausdruck einer fremden Meinung oder zusätzlichem adverbialen Nebensinn Konjunktiv) 3. Definitionsversuche des subjonctif im Französischen "Der subjonctif kann nicht ohne weiteres mit dem deutschen Konjunktiv gleichgesetzt werden. Er ist vor allem der Modus der Willensäußerung und der persönlichen Stellungnahme, in der ein subjektives Empfinden zum Ausdruck gebracht wird. Der subjonctif steht außerdem nach bestimmten Konjunktionen." (Bescherelle 1997: § 157) "Der Indikativ und der subjonctif dienen im Französischen dazu, in einer Aussage ein Geschehen, Faktum, Urteil, usw. von der spezifischen Einschätzung oder Bewertungsperspektive des Sprechers her zu beleuchten, das heißt, die Haltung des Sprechers zu dem in der Aussage genannten Geschehen, usw. auszudrücken. Die Anwendung des Indikativs oder des subjonctifs wird zum Indikator darüber, ob, oder bis zu welchem Grade, die Satzaussage […] für den Sprecher Gültigkeit besitzt oder auch welche subjektive Bewertung und welche Empfindungen der Sprecher gegenüber der Aussage zum Ausdruck bringen will. Der Sprecher kann eine Aussage als wahr, als Tatsache, oder als hypothetisch, als wünschenswert, als notwendig, als zweifelhaft, als erlaubt, als verboten darstellen." (DW, § 202) Der Indikativ wird im Französischen verwendet, um eine Aussage als wahr, als sicher, als faktisch gegeben, als tatsächlich zu charakterisieren. Der subjonctif wird im Französischen verwendet, um die subjektive Einschätzung der Aussage durch den Sprecher und seine persönliche Einstellung zu dieser in Form von Wunsch, Willensäußerung, Möglichkeit, Unwahrscheinlichkeit, Zweifel, Affekt, persönlicher Empfindung, usw. zu signalisieren. (DW, § 202) Die umstrittene Theorie des „psychologischen Subjekts“ besagt, dass der Nebensatz, der im subjonctif steht, tendenziell Informationen enthält, die beim Hörer als bekannt vorausgesetzt und nur noch beurteilt werden. (8) Je regrette qu’elle soit revenue. (Ich bedauere, dass sie zurückgekommen ist.) Die Tatsache, dass sie zurückgekommen ist, kann als bekannt vorausgesetzt werden (Thema → subjonctif), während das Bedauern die neue Information darstellt (Rhema). vs. (9) Je crois qu’elle est revenue. (Ich glaube, dass sie zurückgekommen ist.) Hier erscheint das Zurückkommen als neue Information (Rhema → Indikativ). Kritik: Es lassen sich viele Gegenbeispiele finden, wo die Satzperspektive nicht der Modussetzung entsprechen würde: (10) Tu vois bien qu’elle est revenue. (Du siehst ja, dass sie zurückgekommen ist.) Hier steht im Nebensatz der Indikativ, obwohl es sich um eine bekannte Information handelt. (11) Je crains qu’ils soient en train de voler ta voiture. (Ich befürchte, dass sie die gerade dein Auto klauen.) 2 Hier steht der subjonctif im Nebensatz, obwohl er die neue, wesentliche Information enthält. Außerdem lässt sich diese Theorie auf die meisten Adverbialsätze mit subjonctifauslösenden Konjunktionen wie z.B. jusqu’à ce que ('bis') nicht anwenden. 4. Die Formen des subjonctif am Beispiel des französischen Verbs regarder = ‚sehen’ je tu il/elle nous vous ils/elles subjonctif présent subjonctif passé subjonctif imparfait subjonctif plusque-parfait regarde regardes regarde regardions regardiez regardent aie regardé aies regardé ait regardé ayons regardé ayiez regardé aient regardé regardasse regardasses regardât regardassions regardassiez regardassent eusse regardé eusses regardé eût regardé eussions regardé eussiez regardé eussent regardé Im modernen Französisch werden sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache vorwiegend die Formen des subjonctif présent und des subjonctif passé verwendet. Der subjonctif imparfait und das plus-que-parfait des subjonctif kommen nur in der gehobenen Schriftsprache vor, meist in der dritten Person. (Bescherelle 1997: § 157) 5. Der Gebrauch des subjonctif 5.1. Der subjonctif in unabhängigen Sätzen Der subjonctif wird häufig im Nebensatz (proposition subordonnée complétive, relative oder circonstancielle) verwendet; in unabhängigen Sätzen ist er weitaus weniger frequent. Im Gegensatz zum Indikativ ist er also eher ein mode de la dépendance. 5.1.1. Wünsche und Befehle (12) Que le ciel vous protège! (Möge der Himmel euch beschützen!) (13) Vive la France! (Es lebe Frankreich!) Am Satzanfang meist mit que eingeleitet (um den Unterschied zum Indikativ bei morphologisch gleichen Formen zu markieren) Durch den subjonctif ergibt sich die Möglichkeit, einen Wunsch/Befehl in den Personen auszudrücken, die durch den Imperativ nicht abgedeckt sind (14) Qu’il vienne! (Er soll herkommen.) 3 5.1.2. Hypothesen didaktischer Diskurs (15) Soit un triangle équilatéral ABC … (Man stelle sich ein gleichseitiges Dreieck ABC vor…) konditionaler Zusammenhang (9) Qu’il se fasse attendre encore un quart d’heure, et je m’en vais. (Wenn er noch eine Viertelstunde auf sich warten lässt, gehe ich.) 5.1.3. Ausrufe der Entrüstung (16) Moi, que je fasse une chose pareille! (Dass ich so etwas machen würde…) 5.1.4. Polemische Zustimmung (17) Je ne sache pas qu’il ait présenté une thèse brillante. (Ich wüsste nicht, dass er eine brillante Doktorarbeit präsentiert hätte.) Da der subjonctif in unabhängigen Sätzen nur sehr selten auftritt, gibt es Thesen, die behaupten, er sei gar kein richtiger Modus, sondern markiere eher die Unterordnung in einem Satzgefüge: „The semantic value of the subjunctive as more than a marker of subordination must be seriously questioned […] The subjunctive is best described as a syntactic struture whose function is less based on semantic factors than it is based on social or stylistic factors.“ (O’Connor-Di-Vito in Lepetit 2001: 1181) 5.2. Der subjonctif in Nebensätzen Wird der subjonctif in einem Nebensatz verwendet, so wird er durch ein bestimmtes Element im dazugehörigen Hauptsatz ausgelöst. 5.2.1. Im Kompletivsatz (18) Je veux qu’il vienne. (Ich will, dass er kommt.) (19) Je crains qu’il vienne. (Ich fürchte, dass er kommt.) (20) Je doute qu’il vienne. (Ich bezweifele, dass er kommt.) Der Gebrauch des subjonctif im Kompletivsatz hängt von mehreren Faktoren ab: Formal: die Stellung des Nebensatzes: ist die subordonnée complétive vorangestellt, steht das in ihr enthaltene Verb in der Regel im subjonctif, da sonst von den drei Indikatoren für Unterordnung (que, Nachstellung und subjonctif) nur que als Unterordnungssignal übrig bliebe. (21) Que Charles soit aimable, Emma le pense. (Emma glaubt, dass Charles liebenswert ist.) 4 Semantisch: die Modalität Modalität: Man unterscheidet in der Regel vier verschiedene Modalitäten: 1. Modalité volitive: Ausdruck eines Wunsches/Befehls (18) 2. Modalité subjective: Ausdruck subjektiven Empfindens (19) 3. Modalité dubitative : Ausdruck von Zweifel/Unsicherheit (20) können bzw. müssen z.T. sogar mit dem subjonctif stehen 4. Modalité intellectuelle: rational-intellektuelle Aussage über ein Geschehen/Faktum/Urteil (22) Je comprends que deux et deux font quatre. (Ich weiß/verstehe, dass zwei plus zwei vier ergibt.) steht nicht mit dem subjonctif Formal bei der modalité subjective: die Anschlusskonstruktion: construction contactuelle (→ subjonctif obligatorisch) vs. construction locutionnelle (→ subjonctif fakultativ) (23) Je m’étonne qu’il soit venu. (Ich bin erstaunt, dass er gekommen ist.) constrcution contactuelle: subjonctif obligatorisch (24) Je suis étonné de ce qu’il soit/est venu. (Ich bin erstaunt, dass er gekommen ist.) constrcution locutionnelle: subjonctif fakultativ Bei der modalité volitive ist der subjonctif allerdings unabhängig von der Konstruktion immer obligatorisch. 5.2.2. In adverbialen Nebensätzen In adverbialen Nebensätzen gibt es keine Auswahlmöglichkeit zwischen Indikativ und subjonctif; nach bestimmten Konjunktionen ist der subjonctif obligatorisch. Temporal: i.d.R. mit Indikativ (25) Il part avant que le soleil se soit levé. (Er geht, bevor die Sonne aufgeht.) drückt eine noch nicht realisierte Aktion aus subjonctif ABER: (26) Il partira après que le soleil se sera levé. (Er wird gehen, nachdem die Sonne aufgegangen sein wird.) drückt eine bereits realisierte Aktion aus Indikativ Konsekutiv : i.d.R. mit Indikativ (27) Elle est trop compétente pour qu’on puisse la remplacer. (Sie ist zu kompetent als dass man sie ersetzen könnte.) Final : immer mit subjonctif (28) Orphée chante pour que /afin que le soleil paraisse. (Orpheus singt, damit die Sonne erscheint.) 5 Konzessiv: immer mit subjonctif (29) Annie Hall reste à Los Angeles, bien qu’Alvy lui ait demandé de rentrer à New-York. (Annie Hall bleibt in LA, obwohl Alvy sie gebeten hat, nach New-York zurückzukommen.) Modal: i.d.R. mit Indikativ (30) Elle nous a prévenus sans qu’on le lui ait demandé. (Sie hat uns gewarnt, ohne dass wir sie darum gebeten hätten.) 5.2.3. In Relativsätzen Der subjonctif steht im Relativsatz unter folgenden Voraussetzungen: Im Relativsatz wird ein Wunsch, eine Annahme oder ein angestrebtes Ziel ausgedrückt (31) Je cherche une maison qui puisse me servir d’atelier. (Ich suche ein Haus, das mir als Künstleratelier dienen kann.) Es geht nicht um das tatsächliche, sondern um das hypothetische Vorhandensein dieses Hauses; steht die tatsächliche Existenz im Vordergrund, wird im Relativsatz der Indikativ gesetzt: (32) J’aimerais bien voir la maison que vous voulez louer. (Ich würde mir gern das Haus ansehen, das Sie vermieten wollen.) Im Relativsatz wird eine Unwahrscheinlichkeit oder ein zweifelhafter bzw. hypothetischer Sachverhalt ausgedrückt: (33) Je ne trouve pas de spécialiste qui puisse me guérir. (Ich finde keinen Facharzt, der mich heilen könnte.) Auch hier gilt wieder: steht nicht der hypothetische sondern der konkrete Sachverhalt im Vordergrund, wird der Indikativ gesetzt: (34) Je ne trouve plus le nom du spécialiste qui m’a aidé. (Ich finde den Namen des Facharztes nicht mehr, der mir geholfen hat.) Nach Superlativen oder superlativischen Ausdrücken: (35) C’est le plus beau voyage que j’aie jamais fait. (Das ist die schönste Reise, die ich je gemacht habe.) Nach superlativischen Ausdrücken dient der subjonctif zur Nuancierung; er schwächt die kategorisch wirkende Aussage des Sprechers ab und gibt ihr die Färbung einer subjektiven, relativierbaren Äußerung. Der subjonctif ist fakultativ bei Relativsatzattributen zu einer NP, die ihrerseits als Ergänzung zu Adjektiven fungiert, die eine Willensäußerung, eine Erwartung, eine Befürchtung, eine Notwendigkeit, eine Bewertung oder eine Möglichkeit ausdrücken, z.B. capable ('fähig'), digne ('würdig'), nécessaire ('notwendig'), indispensable ('unverzichtbar'). (36) Elle est capable d’un crime qui a/ait pour seul objet de la rendre célèbre. (Sie ist zu einem Verbrechen fähig, das zum einzigen Ziel hat, sie berühmt zu machen) 6 5.3. Subjonctif und Indikativ im Vergleich: Beispiele (37) Je comprends que deux et deux font quatre. (Ich verstehe/weiß, das zwei plus zwei vier ergibt.) Intellektuelles Verstehen modalité intellectuelle: Indikativ (38) Je comprends qu’elle soit mécontente. (Ich verstehe, dass sie unglücklich ist.) Emotionales Verstehen modalité subjective: subjonctif (39) Dites-lui que je suis malade. (Sagen Sie ihm, dass ich krank bin.) Der Nebensatz enthält eine Tatsache modalité intellectuelle: Indikativ (40) Dites-lui que qu’il revienne demain. (Sagen Sie ihm, dass er morgen wiederkommen soll.) Der Nebensatz enthält eine Aufforderung modalité volitive: subjonctif (41) Il est possible que Jean revienne. (Es ist möglich, dass Jean zurück kommt.) Unsicherheit modalité dubitative: subjonctif (31) Il est probable que Jean reviendra. (Es ist wahrscheinlich, dass Jean zurück kommen wird.) Sicherheit Indikativ (42) Je crois qu’il viendra. (Ich glaube, dass er kommen wird.) Sicherheit modalité intellectuelle: Indikativ (43) Je ne crois pas qu’il se soit trompé. Unsicherheit modalité dubitative: subjonctif (44) Je me souviens qu’il l’a dit. (Ich erinnere mich daran, dass er das gesagt hat.) Sicherheit Indikativ (45) Je ne me souviens pas qu’il l’ait dit. (Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er das gesagt hat.) Unsicherheit modalité dubitative: subjonctif Bibliographie - Dethloff, Uwe, Horst Wagner (2002) : Die französische Grammatik, Tübingen: A. Francke Verlag. - Dudenredaktion (72006): Die Grammatik, Mannheim usw.: Dudenverlag. - Gamillscheg, Ernst (1957): Historische französische Syntax, Tübingen: Niemeyer. - Hahn, Olaf (1997): Bescherelle – L’Art de conjuger, Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg. - Hunnius, Klaus (1976) : Der Modusgebrauch nach den Verben der Gemütsbewegung im Französischen, Heidelberg : Carl Winter Verlag. - Kolschöwsky, Dieter (2008) : TIRO Curriculum breve Latinum, Hamburg : Helmut Buske Verlag. - Lalaire, Louis (1998) : La variation modale dans les subordonnées à temps fini du français moderne, - Berlin usw. : Peter Lang. - Lepetit, Daniel (2001): „Subjonctif: descriptions et manuels.“ in : The French Review 74 : 6, 11761192. - Müller-Lancé, Johannes (2006) : Latein für Romanisten. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen : Narr. - Nordahl, Helge (1969) : Les systèmes du subjonctif correlatif, Bergen / Oslo : Universitetsforlaget. - Riegel, Martin u. a. (51994) : Grammaire méthodique du français, Paris : Presse universitaire de France. 7