Repetitorium im Öffentlichen Recht Große Fälle Prof. Dr. Roland Rixecker Gliederungsvorschlag und Skizzen zu einer Lösung „Freie, geheime und gleiche Wahlen“ (GF 004) (Stand 10/2015) Probleme des Falles: ● Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Wahlprüfungsbeschwerde ● Rechtmäßigkeit einer innerparteilichen Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten zu einer staatlichen Wahl ● Publikation von Wahlprognosen ● Unzulässigkeit der Wahlwerbung ● Zulässigkeit von Sperrklauseln A. Zulässigkeit der Wahlprüfungsbeschwerden des S und der F-Partei I. Eröffnung des Verfassungsrechtsweges Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 5, Art. 41 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 3 BVerfGG ist das Bundesverfassungsgericht zuständig für Wahlprüfungsbeschwerden gegen Entscheidungen des Bundestages, die die Gültigkeit einer Wahl betreffen. II. Ordnungsgemäßes Vorverfahren Nach Art. 41 Abs. 1 GG, § 48 BVerfGG, § 1 Abs. 1 WahlPrüfG ist die Wahlprüfungsbeschwerde nur zulässig, wenn ein Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundestag stattgefunden hat. Das ist der Fall. III. Beschwerdeberechtigung Gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG ist jeder Wahlberechtigte, dessen Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist, beschwerdeberechtigt. Beschwerdeberechtigt sind auch Fraktionen. Die Voraussetzungen sind gegeben. IV. Beschwerdegegenstand Das Wahlprüfungsverfahren dient in erster Linie der Feststellung, ob es sich um eine gültige Wahl handelt. Beschwerdegegenstand ist daher die Gültigkeit der fraglichen Bundestagswahl. Allerdings richtet sich der verfassungsgerichtliche Prüfungsumfang nach dem Einspruch, den der Beschwerdeführer beim Bundestag erhoben hat. Insoweit ist ein Beschwerdeführer mit Einwendungen ausgeschlossen, die er, soweit ihm ein Vorverfahren oblag, in diesem Wahlprüfungsverfahren nicht vorgebracht hat. Mit seiner nunmehr vorgetragenen Einwendung (Twittermeldung) wird er also nicht gehört, wohl aber die F-Partei. 1 V. Beschwerdebefugnis Wenn ein Wahlberechtigter Wahlprüfungsbeschwerde erhebt genügt es, dass sein Einspruch vom Bundestag zurückgewiesen worden ist. Es geht also allein um eine formelle Beschwer. Auf die Verletzung eigener subjektiver Rechte, etwa seines Wahlrechts, kommt es nicht an. Denn es handelt sich um ein objektives Interesse, das im Wahlprüfungsverfahren zu verteidigen ist. VI. Klarstellungsinteresse Ein Klarstellungsinteresse entfällt, wenn bereits eine neue Legislaturperiode angebrochen ist. Dann komm es nämlich auf die ordnungsgemäße Mandatsverteilung für die vergangene Legislaturperiode nicht mehr an. Die Legislaturperiode dauert aber noch an. Anderes kann gelten, wenn es um die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen geht. VII. Beschwerdefrist Für die Wahlprüfungsbeschwerde gilt eine 2-Monatsfrist, die mit der Beschlussfassung des Bundestages beginnt. VIII. Beschwerdeform Die Wahlprüfungsbeschwerde ist schriftlich einzulegen und innerhalb der gegebenen Frist zu begründen (§§ 48 Abs. 1, 2. Halbsatz, 23 Abs. 1 BVerfG). Danach ist die Wahlprüfungsbeschwerde des S zulässig. B. Begründetheit der Wahlprüfungsbeschwerden Die Wahlprüfungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschluss des Deutschen Bundestages über die Gültigkeit der Wahl formell oder materiell gegen die Verfassung oder gegen einfachgesetzliche wahlrechtliche Vorschriften verstößt und sich der festgestellte Fehler auf die Mandatsverteilung ausgewirkt haben kann. I. Formelle Rechtmäßigkeit des Beschlusses Grundsätzlich wird der Beschluss des Deutschen Bundestages auch in formeller Hinsicht auf Mängel im Wahlprüfungsverfahren überprüft. Allerdings können solche Mängel im Verfahren des Deutschen Bundestages nur dann beachtlich sein, wenn sie wesentlich sind und dessen Entscheidung die Grundlage entziehen. Die Mitwirkung befangener Abgeordneter an der Beschlussfassung über den Einspruch stellt zwar einen Verfahrensfehler dar. Er ist indessen nicht so wesentlich, dass er die Zurückverweisung zur Fortsetzung der Prüfung des Einspruchs rechtfertigen könnte. (Die Gültigkeit der Wahl selbst stellt er ohnehin nicht in Frage.) 2 II. Materielle Rechtmäßigkeit des Beschlusses 1. Innerparteiliche Kandidatenaufstellung Zu den wesentlichen Wahlvorschriften, deren Nichtbeachtung die Anfechtung einer Bundestagswahl tragen können, gehören die in Art. 38 GG normierten Grundsätze. Sie entfalten Wirkung auch für die politischen Parteien. Verletzt die innerparteiliche Kandidatenaufstellung für eine staatliche Wahl die Grundsätze der Allgemeinheit oder der Unmittelbarkeit der Wahl, der Freiheit der Wahl, der Gleichheit der Wahl, der Geheimheit der Wahl, der Öffentlichkeit der Wahl, so ist sie rechtswidrig. Vollzieht sich das parteiinterne Wahlbewerberauswahlverfahren nicht nach den demokratischen Mindestregeln, so wird damit die demokratische Legitimationswirkung staatlicher Wahlen schlechthin in Frag gestellt. Die Bearbeitung sollte zunächst die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG darstellen. Danach verlangt der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, dass das Wahlrecht allen Bürgern zusteht, der Grundsatz der Unmittelbarkeit, dass sich die Bestimmung der Abgeordneten unmittelbar aus der Entscheidung des Wählers ergeben muss und keine zwischengeschalteten Instanzen zwischen Wähler und Wahlergebnis stehen. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl verlangt, dass die Entscheidungsfreiheit des Wählers frei von äußerem Druck oder Zwang bleibt. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet eine Zählwertgleichheit und eine Erfolgswertgleichheit, der Grundsatz der Geheimheit der Wahl, dass der Inhalt der Wahlentscheidung ausschließlich dem Wähler bekannt ist und der Gesetzgeber verpflichtet ist, die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz dieses Wahlrechtsgrundsatzes zu treffen und der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl (der sich ableitet aus dem Demokratie-, Republik- und Rechtsstaatsprinzip) verlangt, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl – soweit nicht andere Wahlrechtsgrundsätze dem entgegenstehen – die unverfälschte Nachvollziehbarkeit der Erfassung von Stimmen und die Ermittlung des Wahlergebnisses – nachvollziehbar sind. Allerdings muss bei der Übertragung dieser Grundsätze auf das Verfahren der parteiinternen Kandidatenaufstellung bedacht werden, dass die Organe einer politischen Partei keine staatlichen Wahlorgane sind und zugleich ihr Verfahren ein Akt der innerparteilichen Autonomie (geschützt von Art. 21 GG) ist, den es zu wahren gilt. Verstöße allein gegen das Satzungsrecht der Parteien sind danach wahlrechtlich ohne Belang. Lediglich die Unterschreitung elementarer Standards des innerparteilichen Kandidatenaufstellungsverfahrens würde es rechtfertigen, einen sich auf das staatliche Wahlverfahren auswirkenden Wahlfehler anzunehmen. Das ist nur dann der Fall, wenn eine politische Partei rechtlich gebotene, mögliche, und ihr zumutbar organisatorische Maßnahmen unterlassen hat, um Wahlrechtsverstöße zu verhindern. [Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat in seinem Urteil vom 29.9.2011 – Lv 4/11 – zum Maßstab einer sich auf die staatliche Wahl auswirkenden Fehlerhaftigkeit der innerparteilichen Kandidatenaufstellung die Frage gemacht, ob es sich um einzelne 3 Versehen handelt (keine Auswirkung) oder ob Art und Maß der Fehler Ausdruck einer systematischen Desorganisation oder gar der Manipulation der innerparteilichen Kandidatenaufstellung ist (Auswirkung).] 2. Unzulässigkeit der Wahlwerbung Die Bearbeitung sollte deutlich machen, dass die Partei ergreifende Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung das Gebot der Neutralität des Staates im Wahlkampf und den Grundsatz der Chancengleichheit bei Wahlen verletzt. Zur Ungültigkeit der Wahlen führt das allerdings nur, wenn sich eine solche „Wahlwerbung“ mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Mandatsverteilung auswirkt. Das ist angesichts von Art und Umständen der im Streit stehenden Öffentlichkeitsarbeit nicht der Fall. 3. Publikation von Wählerbefragungen Die Publikation von Wählerbefragungen begründet keinen Wahlfehler. Zwar verbietet das Gesetz die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit. Die Bearbeitung muss erkennen, dass es sich um Wahlbeeinflussung durch Privatpersonen handelt. Sie sind grundsätzlich zulässig, soweit sie nicht Zwangswirkung entfalten. Ein Verstoß gegen das Veröffentlichungsverbot durch Private kann daher ausnahmsweise einen Wahlfehler begründen, wenn hierdurch in schwerwiegender Art und Weise auf den Wählerwillen eingewirkt worden ist und die staatlichen Organe dies in Verfolgung ihrer Schutzpflicht nicht unterbunden haben. Davon kann nicht ausgegangen werden. 4. Unzulässigkeit einer Sperrklausel Die Bearbeitung muss erkennen, dass Wahlrechtsgleichheit bedeutet, dass die Stimmen aller Wahlbürger ungeachtet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede gleich zu gewichten sind, also jeder Stimme der gleiche Zählwert zukommt und in den Grenzen des Wahlsystems grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert. Sperrklauseln bewirken eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen. Dem Gesetzgeber kommt bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen zugute. Es ist allerdings seine Sache, die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen. Eine Verletzung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit ist nur festzustellen, wenn die differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, wenn sie zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet ist oder wenn das Maß des zur Erreichung des Zieles erforderlichen überschritten wird. Die Bearbeitung sollte darstellen, dass für Wahlen zur gesetzgebenden Körperschaften im Rahmen einer Verhältniswahl ein Verzicht auf Sperrklauseln dazu führen können, dass im Parlament viele kleine Gruppen vertreten sind und die Bildung einer stabilen Mehrheit erschwert oder verhindert wird. Das könnte die Gefahr einer Funktionsunfähigkeit der gesetzgebenden Körperschaften, insbesondere die Unfähigkeit, eine politisch aktionsfähige Regierung zu bilden, zur Folge haben. Daher spricht alles dafür, eine Zulässigkeit dieser Einschränkung anzunehmen. 4 Nichts anderes ergibt sich aus dem europäischen Recht. Nach Art. 3 des Zusatzprotokolls der EMRK ist das Recht auf freie und geheime Wahlen unter Bedingungen, die die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten, garantiert. Nach der Rechtsprechung des EGMR gilt insoweit, dass die Gewährleistung der freien Äußerung der Meinung des Volkes zwar nicht ausschließt, dass die Staaten – denen ein weiter Ermessensspielraum zukommt – Einzelheiten des Wahlrechts regeln. Wahlgesetze müssen die Integrität und Wirksamkeit des Wahlverfahrens gewährleisten und sicherstellen, dass der Wille des Volkes festgestellt wird. Ein Mindestanteil von Stimmen für die Vertretung im Parlament darf vorgesehen werden, damit ausreichend repräsentative Mehrheiten gefördert und eine übermäßige Splitterung von Parteien vermieden wird. Nach der EMRK ist nicht vorgesehen, dass alle Stimmen das gleiche Gewicht für das Ergebnis oder alle Kandidaten die gleichen Chancen haben müssen. Vor diesem Hintergrund hat der EGMR Sperrklauseln bisher anerkannt. 5