Wie weit darf Essen reisen? TA_Das Magazin v. 21. 05. 2011

Werbung
Wie weit darf Essen reisen?
Beim Essen stehen alle Zeichen auf lokal. Doch die Distanz zwischen Herkunft
und Kochtopf sagt wenig aus über die Nachhaltigkeit eines Produkts.
Von Guido Mingels
Bild Florian Kalotay
Einmal kaufte ich für ein Gelage in meiner Studenten-WG gedankenlos eine Lammkeule aus Neuseeland. Frühe Neunziger, lange her. Als das schöne
Fleisch nach Stunden des Kochens endlich auf dem
Tisch stand, setzte in der Runde eine ausführliche
Diskussion über seine Herkunft ein. Schon verrückt
eigentlich, ein Schaf aus Neuseeland zu essen. Wie
viele tausend Kilometer das Tier wohl unterwegs
gewesen sei bis hierher. Ob jemand eine Vorstellung
davon habe, welche Schadstoffmengen Flugzeug
oder Schiff produziert hätten beim Transport. Einer
der Gäste, sehr grün im Herz, weigerte sich sanft,
aber bestimmt, von dem weit gereisten Hammel zu
essen. Es wurde ein verspannter Abend.
Das waren nur Vorzeichen einer späteren gesellschaftlichen Bewegung, deren Höhepunkt noch nicht
erreicht ist. Heute stehen beim Essen alle Zeichen
auf lokal. Zurück zu den Wurzeln, zum Regionalen,
zur Eigenproduktion. Wer Wert auf ein reines kulinarisches Gewissen legt, kauft, so oft es geht, auf
dem Biomarkt ein, drückt der Bäuerin aus der Region das Bargeld in die schmutzige Hand für die Birnen, die sie selbergepflückt hat. Beim Sonntagsausflug in die Provinz gehören die Schilder am Strassenrand — «FRISCHE HÄRD-ÖPFEL», «HIER EIER» —, die
auf die zahllosen Bauernhofläden hinweisen, längst
zum Landschaftsbild. Die Lebensmittelwerbung
macht sich die neue Sehnsucht nach Selbstversorgung seit geraumer Zeit als Verkaufsargument
zunutze. Kaum ein Produkt kommt mehr aus ohne
den Hinweis auf die einheimische Herkunft oder
wenigstens die Illusion davon. Das Migros-Huhn läuft
persönlich vom Hof in die Stadtfiliale und legt seine
Eier direkt in den Karton. Die CoopVerkaufsbroschüre «Verde» stellt einen pittoresken
Kleinbauern und Schafzüchter aus dem Gürbetal vor,
auf den Fotos sieht man die Kinder der Familie, wie
sie auf der Wiese mit den Bio-Lämmern spielen; der
Text besingt dann die pikanten Schafswürste, zu
denen die Tiere werden. In den USA hat die «Local
Food»-Bewegung bereits eine Art neuen Gattungsbegriff geprägt für die Anhänger ihrer Philosophie:
«Locavores» nennen sich die «Lokal-Fresser», in
Anlehnung an den biologischen Begriff der Karnivoren, der fleischfressenden Tiere.
Lokal einzukaufen ist nicht mehr bloss ein schönes
Zusatzvergnügen, es ist ein moralischer Öko-Imperativ geworden, ähnlich dem Gebot zum Recycling
oder zum Fahren eines Hybrid-Autos. Währungseinheit dieser kulinarischen Correctness sind die «Food
Miles», Essens-Kilometer, also die Distanz, die ein
Produkt zurücklegt zwischen Herkunft und Teller.
Der kritische Konsument zählt heute beim Shopping
innerlich seine Food Miles wie Kalorien. Was den
vermeintlichen Öko-Radius oder die Landesgrenzen
überschreitet, kommt nicht in die Tüte. In verschiedenen Ländern gibt es Bestrebungen von Umweltschutzorganisationen, dass die zurückgelegten Food
Miles auf jedem Produkt angegeben werden müssen.
Die Gleichung der Lokalversorger geht so: je mehr
Food Miles, desto mehr CO2-Ausstoss, desto verwerflicher die Ware. Aber: Food Miles sind ein
schlechter Gradmesser für Nachhaltigkeit.
Schadstoffbilanz
Denn die Schadstoffbilanz eines Lebensmittels entsteht mitnichten nur bei dessen Transport zwischen
den Ländern A und B. Will man realistisch einschätzen, wie gut oder schlecht das Lamm aus Neuseeland oder die Bohnen aus Kenia für die Umwelt sind,
muss man unbedingt auch berücksichtigen, wie es
um den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen
bestellt ist, die bei der Produktion dieser Güter im
Herkunftsland entstehen. Andererseits dürfen auch
jene Food Miles in der Rechnung nicht fehlen, die
im importierenden Land selbst zurückgelegt werden: die Lastwagenfahrten zur Feinverteilung der
Güter, die Einkaufstouren durch die Endverbraucher
von zu Hause zum Laden und zurück. Eine Studie
der englischen Umweltbehörde DEFRA (Department
for Environment, Food and Rural Affairs) führte zu
einem überraschenden Ergebnis: Volle 82 Prozent
der Wegstrecke, die von allen in Grossbritannien
konsumierten Lebensmitteln gesamthaft zurückgelegt wird, waren im Land selber angefallen, nicht
beim internationalen Transport. Dabei waren die
Shoppingtrips der Konsumenten verantwortlich für
48 Prozent dieser Food-Meilen, inländische Lastwagenfahrten zur Distribution für 31 Prozent. Millionen
kurzer Fahrten mit winzigen Mengen im Kofferraum
führen eben zu einer grösseren Kilometerzahl als
die vergleichsweise wenigen langen Fahrten mit
riesigen Mengen durch die hocheffizienten Containerschiffe auf den Weltmeeren. Auf die ökologisch
besonders bedenkliche Luftfracht entfielen sogar
weniger als 1 Prozent aller Food Miles. Betrachtet
man zudem den Lebensmitteltransport im Rahmen
der gesamten Umweltbilanz Englands, so ist er für
nur 1,8 Prozent des totalen CO2-Ausstosses verantwortlich.
«Global-Fresser»
Ergebnisse wie dieses kann man zum Beispiel nachlesen bei einem Mann, der sich anschickt, zum prominenten Feindbild aller Locavores zu werden. Das
Wortspiel weiterführend, bezeichnet sich der kanadische Umweltgeograf Pierre Desrochers von der
Universität Toronto selbst als «Globavore», «GlobalFresser», und sein neustes, für Herbst 2011 ange-
2
kündigtes Buch trägt den Untertitel «Eine Hymne
auf das 10 000-Meilen-Menü». Desrochers hält den
Trend zu einheimischen Zutaten für eine «romantische Verklärung» und einen «Marketing-Gag», der
«die Konsumenten davon abhält, sich mit den wirklich wichtigen Fragen einer nachhaltigen globalen
Landwirtschaft zu beschäftigen». Entscheidend sind
laut Desrochers nicht die Transportwege, sondern
die Anbaubedingungen, also die simple Frage: Wo
kann welches Lebensmittel am effizientesten und
umweltverträglichsten produziert werden? Nach
diesem Prinzip hat sich die Landwirtschaft, so Desrochers, in den letzten paar Hundert Jahren von der
lokalen Subsistenzwirtschaft wegbewegt zu einem
globalen Wettbewerb, «und jetzt wollen FoodAktivisten zurückkehren zu Methoden, denen schon
unsere Grossväter abgeschworen haben». Er zitiert
eine amerikanische Untersuchung, wonach nur 4
Prozent aller in den USA durch den Lebensmittelsektor verschuldeten CO2-Emissionen auf Langstreckentransporte zurückgehen, 83 Prozent aber auf
das Produktionsstadium dieser Güter.
Zum Beispiel Äpfel
Die bereits erwähnte DEFRA-Erhebung verglich beispielsweise die CO2-Bilanz einheimischer Tomaten
mit aus Spanien importierten Artgenossen. 2,4 Kilo
CO2 pro Tonne waren für die im Treibhaus gezogenen britischen Tomaten nötig, nur 0,6 Kilo pro Tonne für die an der spanischen Sonne gereiften —
Transport inbegriffen. Besonders stark ins Gewicht
fällt in der Statistik oft die lokale Lagerung und
Kühlung von einheimischen Produkten. So ergab
eine andere Studie, dass der Energieaufwand für die
Lagerung britischer Äpfel pro Tonne höher ist als
jener für den Export einer Tonne Äpfel aus Neuseeland. Weil die neuseeländische Erntezeit zeitlich
zusammenfällt mit dem englischen Winter, wenn
einheimische Äpfel bereits Monate im Lagerhaus
verbrachten, ist es in der Wintersaison ökologischer,
die Früchte aus Neuseeland zu kaufen. Eine andere
Untersuchung verglich Schnittblumen aus Holland
und Kenia für den englischen Markt: Die kenianischen Rosen, unter idealen klimatischen Bedingungen angebaut, aber per Luftfracht aus Afrika nach
London transportiert, haben eine sechsmal bessere
CO2-Bilanz als die holländischen, in Gewächshäusern produzierten Pflanzen.
Warum eigentlich, fragt Pierre Desrochers an anderer Stelle, stört sich niemand an den vielen Tausend
Kilometern, die andere Güter wie Computer oder
Kleider zurücklegen? Warum zählt niemand T-Shirtoder Laptop-Meilen? Während nämlich Laptops vor
allem in der Ersten Welt produziert werden, trifft
der Konsumentenentscheid gegen importiertes Gemüse oder Früchte oft Entwicklungsländer. In Ländern wie etwa Burundi, Ghana, Malawi, Nicaragua
und Panama, die ihre Spezialitäten mit einem
Bruchteil des Energie-bedarfs produzieren, der in
der westlichen Welt dazu nötig ist, machen Lebensmittel mehr als 75 Prozent der gesamten Exportwirtschaft aus. Der westliche Trend zur Stigmatisierung weitgereister Lebensmittel ist insofern
nicht nur ökologisch sinnlos, sondern auch ökonomisch ungerecht.
Es gibt gute Gründe, lokale Esswaren einzukaufen,
aber sie sind nicht ökologischer Natur: Die Sachen
schmecken oft besser und frischer, das Einkaufserlebnis ist angenehm, und der soziale Zusammenhalt
wird gestärkt. Wer gar einen eigenen Gemüsegarten
bewirtschaftet oder sich ein paar Hühner hält, kann
daraus viel Zufriedenheit schöpfen. Und natürlich
steht es Ernährungsextremisten frei, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Biomarkt zu fahren, alle
Pasta selber anzufertigen, niemals Reis zu essen und
ausschliesslich saisongerechte Frischprodukte zu
konsumieren, die möglichst von Betrieben stammen,
die keine landwirtschaftlichen Subventionen bekommen, um den Markt nicht zu verfälschen. Das ist
aber nicht nur ziemlich genussfeindlich,sondern
auch zeitaufwendig und kostspielig. Und selbst
wenn es ein paar Leute in der Ersten Welt schaffen,
nach solchen oder ähnlichen Grundsätzen zu leben,
so kann man von der Local-Food-Bewegung doch
nichts lernen, was die realen Probleme des globalen
Ernährungssystems lösen helfen würde. Historisch
gesehen, war Selbstversorgung immer gleichbedeutend mit Armut.
Noch mal zum Lammbraten aus Neuseeland: Für die
Schweiz fehlen leider Zahlen, aber die englischen
Werte geben einen guten Anhaltspunkt. Ein neuseeländisches Schaf, sagt die Statistik, verursacht auf
seinem Weg nach London vier Mal weniger CO2 als
eines aus Wales. •
Herunterladen