Vorlesung: Antik versus modern - Deutsche Literatur vom Humanismus bis zur Romantik / Kemper, Herbstsemester 2008 Literatur und Philosophie: Aufklärung Kemper / Begriffsbestimmung Die Bezeichnung Aufklärung verweist auf ein Bild: Licht ins Dunkel bringen, Zustände aufhellen. Licht meint hier Vernunft und wissenschaftliche Erkenntnis durch den Menschen, Dunkelheit bezeichnet Unvernunft, kritiklosen Glauben, Aberglauben. Nach dem Verständnis der Aufklärung hat Gott als Schöpfer seinem Geschöpf, dem Menschen, ausdrücklich Verstand gegeben, um die Natur und seine eigenen Lebensbedingungen systematisch verstehen zu können. Die Weisheit Gottes hat die Welt geordnet, der Verstand des Menschen vermag diese Ordnung erkennen. Wissenschaftliche Betrachtung soll als wegweisendes Erkenntnisprinzip vor allen anderen gelten. Daraus entwickelt sich weiterhin der Anspruch, jederzeit an allem Gegebenen Kritik üben zu können. Grundlage der Aufklärung ist eine auf Vernunft gestützte Philosophie. Deren Rationalismus beherrscht alle Wissenschaften – und auch die Literatur – bis in die Phase der Hochaufklärung hinein, u. a. die Prinzipien der Vernunft (Begründbarkeit, Widerspruchsfreiheit und andere Grundsätze der Logik) schaffen eine allgemeine Verständigungsbasis darüber, wie die Welt in der menschlichen Vorstellung erklärt werden kann. Das Motto lautet ›Klarheit und Deutlichkeit‹ in allen Begriffen und in der Sprachverwendung. Dies ermöglicht es, Aussagen jederzeit kritisch prüfen zu können. Zu den Zielen von Aufklärung gehört neben der theoretischen Erkenntnis die praktische Verbesserung menschlicher Lebensumstände. Im 18. Jahrhundert gehören vier wichtige Ziele zum Programm der Modernisierung: • wissenschaftliche Erforschung von Natur und Mensch • Verbreitung von Bildung • Erzeugung von politischem Bewußtsein • technische Ausgestaltung der Lebenswelt. Daß eine derartige Grundlegung funktioniert, daß überall für den Menschen ›Nutzen‹ zu erwarten ist, steht für die Aufklärer außer Frage: es handelt sich um eine optimistische Auffassung, deren Leitvorstellung Fortschritt ist. Aufklärung wird von Selbstreflexion begleitet. Diese dient der Kontrolle des eigenen Vorgehens und kommentiert das Programm Aufklärung, um sicherzustellen, daß der Weg der Vernunft nicht verlassen wird. Die Selbstbeobachtung der Epoche ist vielfältig dokumentiert. Im Nachdenken über das eigene Zeitalter wurde 1783 in der weit verbreiteten Zeitschrift Berlinische Monatsschrift die berühmte Frage gestellt: Was ist Aufklärung? Neben vielen Antworten bekannter Zeitgenossen beeindruckt vor allem die Erläuterung des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). Sie gilt bis heute als die überzeugendste Begriffsbestimmung von Aufklärung, die zugleich allen Personen, die sie lesen oder hören, den unmißverständlichen Auftrag gibt, sich dem Projekt Aufklärung zum eigenen Vorteil und zum Wohle der Menschheit anzuschließen. Aufklärung – so Kants berühmte Definition – sei der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Daraus erfolgt die anwendungsorientierte Aufforderung: ›Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‹ Damit faßt Kant zusammen, was schon andere – Lessing beispielsweise – mit der Bezeichnung ›Selbstdenker‹ gemeint hatten. Moses Mendelssohn reflektierte aus geringfügig anderer Perspektive in der gleichen Zeitschrift die Bedingungen der Aufklärung. Grenzen der Aufklärung Gegen Ende des Jahrhunderts weicht der Optimismus mehr und mehr dem Bewußtsein von Krisen. Es kristallisieren sich einige gewichtige Kritikpunkte gegenüber dem Glauben an die bloße Vernunft heraus, die teilweise schon seit etwa 1750 diskutiert wurden: • Vernunft unterdrückt unter Umständen andere wichtige Fähigkeiten: Fühlen und Handeln• Wissenschaft entdeckt mehr Probleme, als sie schließlich lösen kann• das zunehmende Wissen erstickt viele gute Ideen in Büchergelehrsamkeit• je mehr Selbstdenker sich an den öffentlichen Debatten beteiligen, desto schwerer ist ein befriedigender Kompromiß zu finden. Diese korrigierende Kritik begleitet die Forderungen der Aufklärer von Beginn an bis in die heutige Zeit. Mit dem Programm ›Aufklärung‹ ist der Hinweis auf ihre Probleme also unauflösbar verbunden. Aus: Epochen der deutschen Literatur: Aufklärung und Empfindsamkeit. Reclam, CD-ROM