Schräge Bahn in den Populismus

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SCHRÄGE BAHN IN DEN POPULISMUS
IN DEUTSCHLAND WIRD SEIT 1972 DIE REPRÄSENTATIVE DEMOKRATIE DEMONTIERT
Als das konstruktive Mißtrauensvotum 1972 gegen Willy Brandt gescheitert war und Rainer
Barzel nicht Bundeskanzler wurde, war das für viele ein Sieg der Demokratie gegen den
Autoritarismus. 2005 nun zeigt sich, daß es in Wirklichkeit eine Niederlage der
repräsentativen Demokratie und ein Sieg des Populismus, gepaart mit Bestechung, war.
Mittlerweile wissen wir, daß – wäre nicht geschmiert worden – Willy Brandt wohl verloren
hätte. Die nachfolgenden Wahlen hatten dennoch gezeigt, daß die Mehrheit der Deutschen
damals weiterhin Willy Brandts Ostpolitik der Versöhnung wollte. Der dann doch erfolgte
Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler offenbarte schließlich, daß dieser dem Amte nicht
mehr gerecht werden konnte. Und die Union hatte zu den Ostverträgen letztlich nicht „Nein“,
sondern „So nicht“ gesagt. Das von Brandt und Scheel angefangene Werk der neuen
Ostpolitik hätte mithin auch unter anderen parteipolitischen Vorzeichen vollendet werden
können.
So aber wurde der Republik ein Schaden zugefügt, an dem sie nun wohl zeitlebens wird
tragen müssen: die Verletzung des Verfassungsprinzips der Repräsentativität. Die Väter und
die neuerdings auch immer erwähnten Mütter des Grundgesetztes hatten den Bundestag zum
Inhaber der Macht für jeweils volle Legislaturperioden bestimmt. Danach – nicht früher sollte das Volk neu entscheiden. Aber der Bundeskanzler und mit ihm die Regierung sollten
vom Parlament gewählt und kontrolliert, notfalls abgewählt werden. Das Parlament hingegen
sollte keine Möglichkeit haben, sich aus der Verantwortung zu schleichen und vorzeitige
Wahlen anzuberaumen: Es sollte für eine Periode die volle politische Verantwortung
übernehmen – als Souverän auf Zeit gewissermaßen.
1972 hatte es im Deutschen Bundestag einen Wechsel von einer sozial-liberalen hin zu einer
christlich-liberalen Mehrheit gegeben. Nur ihrem Gewissen verantwortliche Abgeordnete
hatten das Lager gewechselt. Das war ihr Recht, auch wenn viele ihr Handeln mißbillgten.
Nur durch fragwürdiges Einwirken von außen sind die daraus fließenden politischen Folgen
verhindert worden. Das konstruktive Misstrauensvotum war in seinem Ausgang politisch
unehrlich. Barzel kam nicht ran, und Brandt wurde über eine verlorene Vertrauensfrage und
Neuwahlen im Amte bestätigt – wenn auch nur formal. Denn Rücktritt folgte auf dem Fuße.
So umgeht man die repräsentative Demokratie. Nach der Zeit des massenpopulistischen
Nationalsozialismus wollten die Verfassungsgeber diese institutionalisieren - in der
Einschätzung, daß Abgeordnete und unter deren Kontrolle Minister mitsamt Kanzler als
verantwortliche Herrscher auf Zeit abgewogenere Entscheidungen treffen können als das
stimmungsschwankende und manipulierbare „Volk“. 1972 setzte man sich erstmals darüber
hinweg.
Das Beispiel machte Schule. 1982 wurde der Bundeskanzler Schmidt im Parlament durch den
Bundeskanzler Kohl ersetzt. Das war legal nach den Buchstaben der Verfassung und hätte
auch legitim sein sollen nach dem Verständnis der Handelnden: Eine neue hatte die alte
Koalition abgelöst. In der Öffentlichkeit jedoch wurde daraus eine Moralfrage gemacht; es
war von „Verrat“ die Rede. Helmut Kohl ließ sich von diesem Populismus so anstecken, daß
auch er – wie einst Willy Brandt – eine Vertrauensfrage mit dem Ziel der Niederlage stellte,
um zu Neuwahlen zu kommen. Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht spielten mit.
Kohl bekam im neuen Bundestag die Mehrheit und fühlte sich erst nun fest verankert im
wichtigsten politischen Amt Deutschlands. Daß dabei 1983 auch die Grünen in den Bundestag
einzogen, war ein kleiner Treppenwitz der Geschichte.
Als Gerhard Schröder seine Partei schließlich fast zertrümmert und auch noch die Hochburg
Nordrhein-Westfalen verloren hatte, erinnerte er sich an die schlechten Beispiele seiner
Vorgänger Brandt und Kohl und führte im Bundestag absichtlich eine Niederlage herbei, um
Neuwahlen zu erreichen. Und wie seine Vorgänger im Amte spielte auch Bundespräsident
Horst Köhler mit. Als weiterer kleiner Treppenwitz ist nun der wahrscheinliche Einzug der
Linkspartei in den Bundestag zu verzeichnen.
Schröder hatte ein Mandat bis 2006. Er warf aber vorher die Brocken hin, inszenierte seine
Kapitulation als Angriff. Das tat er auf Kosten
1. der Verfassung ,
2. der Freiheit der Abgeordneten und
3. der innerparteilichen Demokratie:
1. Der repräsentative Charakter des Grundgesetzes hätte als volkspädagogische
Richtlinie Sinn haben können:
Einem Volk, das die Nazis an die Macht hatte kommen lassen und dessen Millionen NSDAPMitglieder sich 1945 über Nacht in nichts aufgelöst haben;
einem Volk, das zur Zeit des „Wirtschaftswunders“ aus lauter passablen Demokraten
bestanden hatte und
einem Volk schließlich, das seit 1990 – seitdem es wirtschaftlich nicht mehr so gut geht –
überwiegend aus stimmungsfälligen Nörglern und Besserwissern besteht,
diesem Volk hätte die praktizierte Politik vorleben können, daß Demokratie Herrschaft auf
Zeit ist – ohne Herrschaft einiger Repräsentanten also nicht auskommt. Wer sich überwiegend
oder ausschließlich als gewählter Repräsentant verantwortlich mit Politik befassen muß,
kommt zu konsistenteren Entscheidungen als der sprichwörtliche Stammtischpolitiker – in
guten wie in schlechten Zeiten. So hätte 1972 Brandt eben Barzel weichen, so hätte der
parlamentarische Kanzlerwechsel 1982 akzeptiert werden, und so hätte Gerhard Schröder mit
seiner rot-grünen Truppe eben weiterregieren müssen. Handelnden und Zuschauern wäre dann
klar geworden: Das politische Geschäft ist ernst, das Volk ist erst nach vier Jahren zum
Schiedsrichter bestellt und nicht jedenfalls früher, wenn den Politikern die Sache zu
ungemütlich wird.
2. Die Abgeordneten sollen dem ganzen Volke verpflichtet und ihrem Gewissen
unterworfen sein. 1972 hat man – Verfassung hin, Verfassung her – mindestens einem von
ihnen das Gewissen abgekauft. 1982 wurden diejenigen als „Verräter“ diffamiert, die den
Kanzlerwechsel bewirkten. 2005 schwärzte der Bundeskanzler solche Abgeordnete beim
Bundespräsidenten an, die es gewagt hatten, über zukünftige Entscheidungen anders zu
argumentieren als er selber. Ja, selbst jene, die vielleicht einmal anders denken oder handeln
könnten, fanden Erwähnung.
3.Schließlich die innerparteiliche Demokratie: Was sollen eigentlich noch politische
Parteien, wenn sie nicht die Politik ihrer Vorstände und Repräsentanten diskutieren dürfen?
Es ist das Ende und nicht eine Stärkung der Parteiendemokratie, wenn ein Regierungschef mit
dem Hinweis auf eine unbotmäßige Partei das Parlament auflösen kann.
Obwohl das Grundgesetz – die Verfassung – anderes vorsah, entwickelt sich die
Bundesrepublik nicht repräsentativ, sondern populistisch. Drei Bundeskanzler vor allem
tragen dafür die Verantwortung. Niemand weiß, wie weit die Rutschbahn Richtung
Populismus in der Republik noch gehen wird. Es ist gefährlich: Die Stimmungen im
Wahlvolk werden immer flüchtiger und daß ein begnadeter Populist zum verbrecherischen
Politiker mutieren kann, wurde in Deutschland ab 1933 bewiesen.
Nun hat auch das Bundesverfassungsgericht auf der Rutschbahn keine Barrieren zu errichtet.
Es bleibt nur die Hoffnung, daß ein kommender Bundestag weniger parteilich-kurzfristig und
mehr verfassungspolitisch verantwortlich als der derzeitige entscheidet, wenn wieder `mal ein
Kanzler – oder eine Kanzlerin – ein unechtes Mißtrauensvotum konstruieren will.
JÜRGEN DITTBERNER
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