IPO_2007_Siegertexte - Bildungsserver Berlin

Werbung
Fachverband Philosophie e.V.
Landesverband Berlin
mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung
Landes- und Bundeswettbewerb
im Rahmen der Internationalen Philosophie-Olympiade
Philosophischer Essay
2007
Essays der Berliner Landessieger
Annalena Müller: Wessen kann ich mir gewiss sein?
Anne-Katrin Petzold: Wessen kann ich mir gewiss sein?
Sophia Noack: Das Gute durchsetzen oder ein guter
Mensch sein?
Sophie de Beukelaer: Das Gute durchsetzen oder
ein guter Mensch sein? (außer Konkurrenz)
Die TeilnehmerInnen am Berliner Landeswettbewerb
Bergmann, Susanne (Carl-von-Ossietzky-Gymnasium
Beukelaer, Sophie de (Franz. Gymnasium)
Bubel, Nele Elisa (Ev. Gymnasium zum Grauen Kloster)
Bunk, Oliver (Sartre-Oberschule)
Feind, Gina Maria (Sartre-Oberschule)
Hickmann, Josephine (Manfred-von-Ardenne-Schule)
Hitzke, Christina (Max-Reinhardt-Gymnasium)
Hogrebem, Mara (Droste-Hülshoff-Schule)
König, Benjamin (Schiller-Gymnasium, Potsdam)
Meier, Benjamin (Jean-Paul-Sartre-Gymnasium)
Müller, Annalena (Droste-Hülshoff-Schule)
Noack, Sophia (Droste-Hülshoff-Schule)
Nöhring, Jessica (Droste-Hülshoff-Schule)
Petzold, Anne (Max-Reinhard-Gymnasium)
Sachs, Constanze (Paulsen-Gymnasium)
Schmidt, Fanny (Hannah-Arendt-Gymnasium)
Siegel, Juliane (Gauß-Gymnasium)
Töpper, Daniel (Max-ReinhardtGymnasium)
Wiegand, Lisanne (PaulsenGymnasium)
Jury:
Prof. Dr. Thomas Schmidt (Humboldt-Unversität
zu Berlin), Vorsitzender
(rechts bei der Preisverleihung am 11.4.08)
Tanja Kunz (Landesvorsitzende des Fachverbandes Philosophie)
Manfred Zimmermann (Senatsverwaltung für
Bildung, Wissenschaft und Forschung)
Wolf Eike Gellinek (Droste-Hülshoff-Oberschule)
2
Informationen zum Landes- und Bundeswettbewerb Philosophischer Essay
Im Jahr 2005 fand zum 7. Mal ein Landeswettbewerb Philosophischer Essay in NordrheinWestfalen statt (mit ca. 800 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern), und erstmals auch
ein Bundeswettbewerb (mit ca. 80 Essays).
In Jahr 2007 werden beide Wettbewerbe zum zweiten Mal zusammengelegt und es gibt zum
zweiten Mal auch einen Landeswettbewerb in Berlin.
Unter den Landessiegern der einzelnen Bundesländer werden die TeilnehmerInnen der Philosophischen Winterakademie ausgewählt, auf der u.a. die Teilnehmer der Internationalen Philosophie-Olympiade bestimmt werden.
Wie in den vergangenen Jahren sollten die Lehrkräfte, die ihren gesamten Kurs Essays
schreiben lassen, nur die zwei, allenfalls drei besten Essays einsenden, um die Jury zu entlasten. Sollten auch unter den nicht eingesandten Essays welche als hervorragend eingeschätzt werden, so sollten die Lehrkräfte dem Fachverband Philosophie Vorname, Name,
Schule, Jahrgangsstufe, betreuende Lehrkraft, Thema nennen; dann bekommen diese Teilnehmer, genau wie alle anderen, bis etwa Mitte Februar eine Urkunde zugesandt, die die
Teilnahme bestätigt. Nicht zuletzt wegen der Ausweitung des Wettbewerbs sollen die Urkunden allerdings auf die wirklich überdurchschnittlichen Leistungen beschränkt bleiben.
Die Auswertung der eingegangenen Essays wird von der Senatsverwaltung für Bildung,
Wissenschaft und Forschung und dem Landesverband Berlin des Fachverbandes Philosophie
vorgenommen. Aus den 3 Landessiegern aller teilnehmenden Bundesländer werden 25 TeilnehmerInnen für die Philosophische Winterakademie in Münster ausgewählt, die dort vom
12. bis 15. Februar 2008 stattfindet und die von der Bezirksregierung Münster in Kooperation
mit der Akademie Franz-Hitze-Haus, der „Josef-Pieper-Stiftung“, der „Stiftung WestfalenInitiative für Eigenverantwortung und Gemeinwohl“ und der Universität Münster durchgeführt
wird.
Auf der Winterakademie werden erneut Essays geschrieben (auf Englisch oder Französisch),
und es werden philosophische Vorträge gehört und diskutiert.
20 Lehrkräfte werden gemeinsam die beiden Schülerinnen bzw. Schüler auswählen, die im
Mai 2007 als Vertreter Deutschlands zur XV. Internationalen Philosophie-Olympiade nach
Brasow (Rumänien) reisen dürfen; außerdem werden die beiden zum Aufnahmeverfahren der
Studienstiftung des deutschen Volkes eingeladen.
Teilnahmeberechtigt sind alle Schülerinnen und Schüler, die im laufenden Schulhalbjahr
einen Philosophie-Kurs in der Sekundarstufe II besuchen. (Das gilt auch für diejenigen, die
schon im Vorjahr an dem Wettbewerb beteiligt waren.)
Aufgabe: Die Interessierten bekommen von ihrer Fachlehrerin bzw. ihrem Fachlehrer die
folgenden drei Zitate und eine Frage zur Auswahl:
I.
Ich komme gut damit zurecht, dass ich vergänglich bin und das, was ich
schreibe, auch: total vergänglich. Meine Kinder werden einmal weg sein
und ihre Enkelkinder auch, mein Hund wird tot sein und die Kinder des
Hundes auch. Das macht mir nichts, so gehört es sich ja auch. Aber was
mir wirklich Angst macht, ist, dass in Millionen von Jahren die Sonne die
Erde schlucken wird. Sie ist so einzigartig! Wozu das alles, wenn die Erde untergehen wird? Die Literatur, die Musik, alle Gebäude, alles weg.
Diese Vorstellung macht mir in der Tat große Bange.
(Irene Dische, Schriftstellerin, in: Chrismon, Heft 3/2006, S. 29)
II.
Trotzdem jede Minute daran erinnert, dass wir im Kriege und im Feindesland sind, bin ich immer noch der Ansicht, dass die dritte Kantische
Antinomie wichtiger ist, als dieser ganze Weltkrieg, und dass Krieg zur
Philosophie sich verhält wie Sinnlichkeit zur Vernunft.
(„Aus dem Feldpost-Brief eines kriegsfreiwilligen Kanoniers und Studenten der Philosophie“ (Hellmuth Falkenberg) an seinen Philosophieprofessor H. Rickert 1914. Der
Brief erschien 1915 in „Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“;
Abdruck in SZ, 12./13.Juli 2003.)
3
III.
Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden
– das ist zweierlei, es schließt sich gegenseitig aus. - Die meisten wollen
gute Menschen sein.
(Max Frisch, Tagebuch 1946-1949. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1950)
IV.
Wessen kann ich mir gewiss sein?
Zu einer der vier Vorlagen ist ein Essay zu schreiben.
Der Essay soll in einer Arbeitszeit von vier Zeitstunden verfasst werden. Er kann auch als
Hausarbeit von einer auf die folgende Philosophiestunde gegeben werden.
Es sollte vermieden werden, dass die Schülerinnen und Schüler Facharbeiten abgeben; daher
gilt eine Umfangsbeschränkung: Der Essay darf maximal vier Seiten umfassen. (Dabei gehen
wir von der Schriftart Times New Roman in Größe 12 aus, drei Zentimeter Rand, einzeilig
geschrieben.)
Die Essays sollten am besten mit einer Heftklammer versehen sein, nicht in Klarsichtfolie oder gar noch aufwändiger eingereicht werden.
Es gilt weiterhin der Beschluss, die kreativen Formen des Essayschreibens (manche Schüler
verfassten früher z. B. Theaterszenen oder Textcollagen) nicht zuzulassen. Zwar haben solche Formen eine wertvolle Bedeutung im Unterricht, doch können sie in einem Wettbewerb
schwerlich in eine Rangfolge mit analytischen Essays gebracht werden.
Zur Frage, ob Lehrkräfte inhaltliche, methodische oder redaktionelle Hilfestellung leisten dürfen:
Jede allgemeine Beratung ist erwünscht: Wie erschließe ich ein Thema? Wie kann man einen
Essay aufbauen? Aber konkrete (auf eine Wettbewerbsaufgabe bezogene) inhaltliche und
sprachliche Verbesserungsvorschläge müssen aus Fairnessgründen unterbleiben. (Bei einem
Probeessay zu einem ganz anderen Thema wäre die detaillierte Beratung natürlich nützlich.)
Der Essay kann als Vorübung für eine mögliche Teilnahme an der Winterakademie und der
Internationalen Philosophie-Olympiade auch in Englisch oder Französisch verfasst werden.
Die Benutzung eines Wörterbuchs (auch zweisprachig) ist erlaubt. (Erfahrungsgemäß bereitet
es den Schülerinnen und Schülern weniger Mühe als erwartet, ihren Aufsatz in einer Fremdsprache zu schreiben. Gegenüber sprachlichen Fehlern ist die Jury großzügig.)
Der ausgedruckte Text soll als Brief bis 6. Dezember eingesandt werden.
Im Kopf sollten der Name der Verfasserin bzw. des Verfassers, die Jahrgangsstufe, der Name
der zuständigen Lehrkraft, die Schul- und Privatadresse (möglichst mit e-mail bzw. Telefon)
angegeben werden; so können die Teilnehmer der Winterakademie schneller verständigt
werden.
Die Essays sollen zum einen in ausgedruckter Form und möglichst auch als Datei an die Landesvorsitzende des Fachverbandes Philosophie, Tanja Kunz, Strassmannstr. 21, 10249 Berlin, e-mail [email protected] werden.
Kriterien der Bewertung sind: Konzentration (Fokussierung) auf das Thema, Kohärenz
(innere Stimmigkeit) der Arbeit, argumentative Überzeugungskraft, Philosophie-Kenntnisse
(aber nicht isolierte Wissenswiedergabe) und Originalität.
Alle Teilnehmer sollten sich eine Kopie ihres Essays machen, da die eingereichten Arbeiten
nicht zurückgesandt werden.
Wir gehen davon aus, dass wir, wenn nichts anderes auf dem Essay vermerkt ist, eingereichte Essays veröffentlichen dürfen, insbesondere im Internet, wo Sie unter der genannten Adresse eine Reihe von beispielhaften Arbeiten einsehen können.
Zur Internationalen Philosophie-Olympiade
Es gibt in verschiedenen Fächern (Mathematik, Physik, Russisch, Latein) seit Jahren fest
etablierte Wettbewerbe für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II.
1989 rief die Philosophische Fakultät der Universität Sofia eine Philosophie-Olympiade als
nationalen Wettbewerb ins Leben. Seit 1993 ist der Wettbewerb international; es beteiligen
sich bisher neben den Bulgaren Vertreter aus Rumänien, der Türkei, Polen, Ungarn, der Ukraine, Slowenien, Litauen, den USA, Argentinien, Uruguay, Chile, Paraguay, Kolumbien, Venezuela, Italien, Bangladesh, Zimbabwe, Finnland, Japan, Südkorea, Russland, Estland, Nor-
4
wegen, Israel, Österreich, Schweiz, Griechenland und eine deutsche Delegation mit jeweils
zwei Schülerinnen oder Schülern. Das veranstaltende Land kann zehn Teilnehmer melden.
Die Reisekosten tragen die Teilnehmer (oder deren Sponsoren), die Aufenthaltskosten trägt
der jeweilige Veranstalter.
Die Internationale Philosophie-Olympiade lässt die Teilnehmer erfahren, wie sehr die Völker
der teilnehmenden Länder, weit über die Grenzen der EU hinaus, durch die gemeinsame Kultur verbunden sind.
Alle Teilnehmer der internationalen Olympiade müssen ihren Essay in einer Fremdsprache
verfassen.
Fragen zur Form des Essays:
-
Was ist überhaupt ein Essay?
Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Aufsatz und einer Facharbeit ist ein Essay kürzer und formal freier. Er kann durchaus subjektiv sein und (Denk-) Anstoß erregen.
-
Welche Ansprüche werden an einen philosophischen Essay gestellt?
Das Wichtigste an Ihrer Arbeit ist, dass Sie mit klaren Begriffen eine klare These zum
vorgegebenen Zitat aufstellen. Von dieser These sollten Sie die Leser Ihres Essays v. a. mit Argumenten - überzeugen. - Mit Beispielen können Sie für Anschaulichkeit
sorgen.
Alternativpositionen sollten Sie gleichfalls eindeutig bestimmen; Sie dürfen sie aber
dann auch polemisch angreifen.
Wenn Sie die Positionen von Philosophen wiedergeben, dann sollen sich diese Gedanken in Ihren Argumentationsgang einfügen; eine funktionslose Ausbreitung von Wissen mindert den Wert des Essays.
-
Muss ich mich genau an das Thema des vorgegebenen Zitats halten?
Ja. Aber Sie können die Fragestellung einengen oder akzentuieren; erläutern Sie das
bitte in der Einleitung. Vermeiden Sie es, Wissen auszubreiten, das sich nicht auf das
Thema bezieht.
Für weitere Auskünfte stehen zur Verfügung:
Tanja Kunz (Landesvorsitzende des Fachverbandes Philosophie e.V.),
Tel. 26 30 09 55, e-mail: [email protected]
Manfred Zimmermann (Fachreferent für Philosophie, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Tel. 9026 6069,
e-mail: [email protected]
Dr. Bernd Rolf (Bundesvorsitzender des Fachverbandes Philosophie e.V.), Tel. 02832-7392,
e-mail: [email protected].
5
Annalena Müller: Wessen kann ich mir gewiss sein?
„Wer stellt sich solche Fragen? Was ich weiß, das
weiß ich eben und damit ist es gut!“. So würden
wohl viele Menschen auf diese Frage reagieren
und ein Philosoph würde ihnen antworten: „Ich!
So, wie schon Platon und Kant über das Erlangen
von Erkenntnis philosophierten, so werde auch
ich es ihnen gleich tun.“.
Ich kann alles wissen, wenn ich meinen Verstand benutze!
Diese These gilt es nun zu unterstützen bzw.
zu widerlegen. Die Tatsache, dass die Sinne unabhängig vom Verstand, allein durch die bloße
Wahrnehmung, zur Erkenntnis führen, dass das
Abbild eines Objekts, welches in mir „drin“ ist,
wahr ist und einfach vorhanden ist (Naiver Realismus), beschreibt keine Tatsache, sondern eine
kindliche naive Position gegenüber dem Erkenntnisbegriff. Denn woher soll ich wissen, dass
es ein Auto ist, was ich höre und sehe, wenn etwas brummt, sich bewegt und metallisch aussieht? Anhand dieser Wahrnehmungen könnte es
jedes Fahrzeug sein, doch ohne jegliches Vorwissen, jegliche Erfahrung und Zuordnung in mir
selbst, kann ich nicht einmal erkennen bzw. wissen, dass es ein Fahrzeug ist. Dies ist auch der
Grund dafür, dass Kinder, die noch eine relativ
naive Weltanschauung besitzen, so viele Fragen
stellen: „Was ist das?“, „Warum ist das so?“ etc., damit zeigt sich deutlich, dass wir
eben nicht von vorneherein wissen können, wie ein bestimmtes Objekt beschaffen
ist, da dieser Begriff nicht in uns „abgespeichert“ ist. Schließlich wird ein Kind nicht
geboren und besitzt nicht mit einem Tag schon für jedes Objekt, jeden Gegenstand,
eine Idee (Platon - Ideenlehre) in sich. Doch ist diese idealistische Erkenntnisauffassung schon fortschrittlicher zu betrachten als die rein naive Auffassung, da die
Abbilder aller Objekte nicht einfach in uns „drin“ sind, sondern Ideen, d.h. immaterielle, ewige und unveränderliche geistige Strukturen. Somit ermöglicht die Idee
des Schönen z. B. die Erkenntnis darüber, was das Schöne in sich trägt, also was
schön ist. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass jedes Lebewesen das gleiche Gesicht schön findet, sondern dass alle Objekte die Idee des Schönen in sich tragen,
sobald jemand diese schön findet. Das schöne Gesicht wäre demnach den Dingen
zuzuordnen, da es veränderbar, individuell und vergänglich ist, durch die Sinne
wahrgenommen wird, es kann werden und ist somit nicht. Eine Idee hingegen, z. B.
das Schöne, ist nicht veränderbar, für jeden Menschen gleich und nur durch den
Verstand erkennbar. Damit ein Pferd und eine Maus trotz ihrer unterschiedlichen
Gestalt als ein Tier erkannt werden können, muss es eine Idee, einen Grundbegriff
des Tiers geben (Platonische 1deenlehre). Der Verstand spielt schon jetzt eine
wichtige Rolle, doch woher kommen diese Ideen? Wer hat festgelegt, dass es die
Idee des Guten, Bösen, Schönen etc. gibt?
Der Verstand spielt tatsächlich eine sehr wichtige, große Rolle, doch ein Mensch
wird nicht mit einem Grundwissen von Ideen geboren und außerdem müssen ja bestimmte Kriterien erfüllt werden, nach denen ein Objekt geordnet werden kann.
Doch kann erst zugeordnet werden, wenn eine bestimmte Erfahrung im Bezug zu
bestimmten Objekten besteht. Diese Erfahrung kann durch Wiederholungen eines
bestimmten Ereignisses oder einer gewissen Tiefe eines Ereignisses entstehen. Bei-
6
spiel: Da Kinder noch nicht so viele Erfahrungen gemacht haben können wie ein
Erwachsener, ist auch der Wissensstand niedriger. Das bedeutet, dass ein Mensch,
der Zeit seines Lebens Erfahrungen mit Ampeln gemacht hat, weiß, dass eine rote
Ampel die Warnung gibt, nicht über die Straße zu laufen, da noch Autos fahren, die
wiederum Grün haben, was bedeutet, sie können fahren. Ein Kind muss dies jedoch
erst lernen, indem es erfährt, was die unterschiedlichen Farben bedeuten. Doch
braucht der Prozess hin zur Erkenntnis einige Wiederholungen, damit sich Urteile
bilden können. Das Kind muss erst abwägen, was die Farben einer Ampel bedeuten.
Über diesen Prozess denken viele gar nicht nach, sondern nehmen an, sie wüssten
solche Dinge einfach, sobald man es ihnen sagt. Allerdings kann Erfahrung auch
durch die gewisse Tiefe eines Ereignisses bestehen, durch ein Erlebnis. An einem
Beispiel: Würde das Kind, welches die Bedeutung der Farben einer Ampel noch
nicht verinnerlicht hat, obwohl man dies dem Kind einmalig erzählt hat, nun ohne
Bedenken über eine rote Ampel laufen und ein Auto würde es anfahren, dann wäre
das mit Sicherheit ein „Erlebnis“ für das Kind. Diese Erlebnis bildet aufgrund seiner
Tiefe (z. B. Krankenhausaufenthalt des Kindes) die Erfahrung, somit das Wissen
über bestimmte Dinge (Zweck einer Ampel). Dadurch, dass etwas wiederholt oder
in dessen Tiefe zur Erfahrung und letztendlich zur Erkenntnis führt, beruht darauf,
dass sich durch die Erfahrung Urteile über verschiedene Ereignisse bilden, die durch
die Sinne wahrgenommen werden und anschließend vom Verstand reflektiert werden und mit schon vorhandenen Ereignissen bzw. den dadurch gebildeten Kategorien vergleicht (Empirismus). Diese Ansicht würde zwar bedeuten, dass der Mensch
mittels seines Verstandes im Inneren Kategorien bildet, die durch unbewusst ablaufende Erfahrungen entstanden sind und denen jedes neue Ereignis zugeordnet werden kann, dass demnach geprüft wird, ob Sachen ähnlich sind in Bezug auf vorherige Ereignisse oder nicht, dass er jedoch apriorische Erfahrungen ausschließt. Natürlich kann Erkenntnis durch die Vereinigung von Sinnen und Verstand gebildet werden, dennoch muss dies nicht zweifelsohne auf Erfahrung beruhen, somit können
Erkenntnisse auch der Erfahrung voraus gehen - apriorische Erfahrungen.
Apriorische Erfahrungen bilden also aus logischen Grundkenntnissen geschlossene
Erkenntnisse. Einzig und allein die logische Denkweise unter Benutzung des Verstandes reicht aus, um die These aufstellen zu können, dass alles, was durch Logik
erklärbar ist, auch wirkliches Wissen hervorruft, denn wenn es keine Gegenthese
dazu gibt, weil nun einmal alles logisch nachweisbar ist, ist Wissen vorhanden. Ich
kann mir also bestimmter Dinge deswegen gewiss sein, wenn ich bestimmte
Grundkenntnisse der Mathematik verinnerlicht habe und nun logische Schlussfolgerungen mit Hilfe meines Verstandes ziehe. Es reicht also nicht aus, z. B. verschiedene Gebäude gesehen zu haben, sie somit erfahren zu haben, sondern es muss
sich apriorisch eine Raumvorstellung gebildet haben, die in jedem Fall bei allen
Menschen gleich vertreten ist, mathematischen Ursprungs ist und nicht etwa bei
jedem Menschen, durch Erfahrungen, anders vorherrschen kann. Anders ist dies
wie gesagt im Bezug auf die Erkenntnis, die durch Erfahrungen entsteht, diese kann
für jeden Menschen unterschiedlich sein, da diese Erfahrungen von dem Menschen
selbst gemacht werden und nicht genau so ablaufen wie bei einem anderen Menschen. Die Wissenschaft erzeugt also Wissen durch Logik, da allerdings dieser Logik
nichts entgegensteht, sie sich nur ständig weiterentwickelt, so wie die Erkenntnis
auch. Außerdem ist sie nicht wie die Erfahrung durch Handlungen geprägt, sondern
eben nur durch die Logik und kann somit weiter vermittelt werden. Ich kann mir
also keiner Dinge gewiss sein, die auf Erfahrung anderer Menschen beruhen, da
mein Verstand dieses Ereignis nicht zuordnen könnte. Ich kann mir demnach nur
der Dinge gewiss sein, durch die mein Verstand Urteile bildet und somit Kategorien
bzw. Ordnungsprinzipien entstehen lässt.
Nun kann ich mir allerdings auch dessen gewiss sein, dass die Seele unsterblich
ist (Kant - „Kritik der reinen Vernunft“), obwohl ich dies nicht wissenschaftlich belegen kann und es auch nicht allgemeingültig ist, wie die Mathematik, weil sie für alle
7
Menschen nachvollziehbar ist. Die Seele ist kein Objekt, kein Raum, sondern eine
Vorstellung des Menschen. Kinder versuchen sich oft Gott bildlich vorzustellen und
malen einen großen bärtigen Mann auf einer Wolke, auch wenn sie diesen nie gesehen haben. Ebenso wenig können wir beweisen, dass die Seele unsterblich ist, aber
durch eine Konstruktion in der inneren Vorstellungswelt wird die Seele unsterblich,
unser Verstand argumentiert mit Logik. Warum sollte die Seele sterben, wenn doch
der Mensch biologisch gesehen dann tot ist, wenn das Herz nicht mehr schlägt? Da
niemand beweisen kann, dass dann auch die Seele eines Menschen stirbt und es
logisch ist, dass diese nicht stirbt, da die Seele nichts Körperliches bzw. Biologisches ist, sie also nicht aufhört zu funktionieren, kann man sagen die Seele ist unsterblich. Solche weit über die Erfahrungen hinausgehenden Urteile, die nicht durch
die Wissenschaft erklärbar sind, jedoch trotzdem logisch erscheinen, müssen nicht
allgemeingültig sein. Nur weil mir mein Verstand sagt, dass der Urknall nicht allein
ausreicht, um Leben auf der Erde entstehen zu lassen, weil ich deswegen glaube,
es habe jemanden gegeben, der sie erschuf, heißt das nicht, dass alle Menschen
diese Vorstellung teilen. Dass da noch etwas anderes außer dem Urknall sein muss,
das ist klar und logisch, die Gründe dafür jedoch wurzeln in jeder Vorstellung unterschiedlich und sind somit subjektiv zu sehen. Die bildliche Vorstellung von etwas ist
demnach auch apriorisch, da keine Anschauung möglich ist, wie z. B. bei der Seele.
Ich kann mir diese zwar bildlich vorstellen, jedoch nicht erfahren und trotzdem
bringt mich die Vorstellungskraft zu der Erkenntnis, was eine Seele ist. Anhand logischer Schlussfolgerungen kann man ausschließen, dass die Seele ein Gegenstand
ist, somit muss sie etwas Höheres sein, eine Vorstellung.
Viele Vorstellungen bilden sich auch durch den Glauben, durch die Religion. Im
Bezug darauf ist es allerdings schwer zu sagen, ob sie durch Geistliche beeinflusst
wurde oder ob der Gläubige sich selbst eine bildliche Vorstellung von gewissen Dingen gemacht hat. In frühen Zeiten, als die Wissenschaft noch so gut wie gar nicht
fortgeschritten war, hat man versucht, sich alle Dinge durch die Religion zu erklären und stützte sich auf die These: Gott weiß, was wahr ist, und er wird es mir zeigen. Somit wird Gott als derjenige gesehen, der die Erkenntnis über Alles besitzt,
ein religiöser Mensch besitzt demzufolge diese Erkenntnis auch, wenn er nach den
Prinzipien lebt, die Gott vorgibt. Außerdem könne ein religiöser Mensch nicht durch
den Verstand, sondern durch den Geist zur Erkenntnis kommen. Nicht der sinnlichen Wahrnehmung wegen können wir uns der Dinge gewiss sein, sondern wegen
der Prüfungen des Geistes auf dem Grund der Dinge, welcher von Gott festgelegt
wurde. Geist und Verstand sind sich recht ähnlich, nur dass sich die Religion auf
den Geist, der von Gott geschaffen wurde, bezieht, der Verstand hingegen für alle
Menschen durch Logik charakterisiert wird. Ein Geistlicher würde nicht behaupten,
seine Erkenntnis entstehe durch den Gebrauch des Verstandes, der Logik wegen,
sondern er würde das Erlangen von Wissen Gott zuschreiben, welcher ihm die Erkenntnisse über die Welt mitzuteilen begann, als er ihm das Leben schenkte. Alle
Erkenntnis erlangt ein religiöser Mensch durch die von Gott eingeborenen Ideen in
das Bewusstsein.
Demnach könnte man auch behaupten, dass ich mir all dessen gewiss sein kann,
was ich bewusst tue. Ich weiß, dass ich Fahrrad fahre, da ich es bewusst tue. Ich
wüsste hingegen nicht, dass ich jemanden mit Worten verletzte, wenn dies unterbewusst abläuft, ich gar nicht die Absicht habe dies zu tun, und bemerke dies erst,
sobald mich jemand darauf hinweist. Denn dann erst „schalte ich meinen Verstand
ein“ und denke darüber nach, reflektiere diese Szene. Erst dann weiß ich wirklich,
dass ich verletzt habe. Ich kann mir demnach aller Dinge bewusst sein, doch benötige ich hierfür meinen Verstand. Dieser bildet die wichtige Grundlage zur Erkenntnis.
Nun stellt sich mir die Frage, ob ich mir der Gefühle gewiss sein kann? Gefühle
gehen ja schließlich nicht aus dem Verständnis hervor. Kann ich z. B. die Liebe, in
welcher Form auch immer, mit dem Verstand erfassen? Woher weiß ich, ob ich lie-
8
be? Dies ist wohl der einzige Punkt, an dem der Verstand sich fast „ausschaltet“.
Liebe sollte ein Gefühl bleiben, sobald sich der Verstand „einschaltet“, wird viel zu
viel gefragt, nicht gefühlt: Warum hat er mich hintergangen, wir lieben uns doch,
oder? Was soll ich denn jetzt machen, ich weiß nicht, wen ich mehr liebe?! Ist das
wahre Liebe oder nur eine einmalige Sache? Meint er es ernst mit mir? Ist unsere
Liebe zur Gewohnheit geworden? Im Bezug auf Gefühle wird einem der bloße Verstand nicht wirklich weiterhelfen, wenn man sich nicht im Klaren darüber ist, was
dieses Gefühl bedeutet, schließlich sind Gefühle nicht logisch, sie können höchstens
verdrängt werden oder sie werden zur Einbildung. Nehmen wir an, ein Paar trennt
sich nach zwei Wochen, da beide gemerkt haben, dass keine Liebe mehr vorhanden
ist bzw. sich gar nicht erst ausgebildet hat. Wissen oder fühlen sie das? Sie haben
es doch anscheinend beide erkannt, dennoch gefühlt. Daraus resultiert, dass Liebe
gefühlt wird oder nicht und sich daraus die Erkenntnis bildet, was Liebe ist. Aber ist
Liebe nicht immer anders? Es bildet sich also nicht eine allgemeine Definition von
Liebe aus, sondern nur für diese eine Person. Der nächste Partner, welcher dann
wohl möglich die große Liebe ist, wird vielleicht als eine weitere Erfahrung mit dem
vorherigen Partner (auch Erfahrung) verglichen, jedoch wird dadurch nur deutlich,
dass bei dem jetzigen Partner Liebe vorhanden ist im Gegensatz zum vorherigen.
Der Gefühle kann man sich demnach nicht wirklich gewiss sein, allerdings bilden
auch Gefühle durch verschiedene Erfahrungen Kategorien aus und der Verstand
versucht dann zuzuordnen. Das ist ein wohl unlösbares Problem, dass sich viele,
eigentlich fast alle Menschen, nicht nur auf das Gefühl konzentrieren können und
immer den Verstand „einschalten“. Optimal wäre es wohl, Verstand und Gefühl
gleichzusetzen, um zu erkennen, wann z. B. Liebe zulässig sein soll, wann nicht.
Dieses Zusammenspiel von Gefühlen und Verstand ist sehr kompliziert, deswegen
wird wohl niemals ein optimales Verhältnis zustande kommen. Festzustellen ist allerdings nach diesem kleinen Exkurs, dass der Verstand selbst in der Gefühlswelt
nicht fehlen darf.
Es stellt sich nun noch einmal die Frage: Wessen kann ich mir gewiss sein? im
Bezug auf die These: Ich kann alles wissen, wenn ich meinen Verstand benutze! Im
Verlaufe dieses Essays ist deutlich geworden, dass sich die These bestätigt hat, da
man nicht allein durch sinnliche Wahrnehmung wissen kann. Der Verstand kann
sowohl unabhängig von Erfahrungen (a priori) sowie auch abhängig von Erfahrungen (a posteriori) zur Erkenntnis führen, Erfahrungen sind jedoch nicht allgemein
gültig, die Logik, z. B. durch die Mathematik, hingegen schon. All dieser Dinge kann
ich mir gewiss sein, indem ich den Verstand benutze. Selbst Gefühle sind vom Verstand abhängig und rufen somit eine gewisse Erkenntnis hervor. Bezieht man sich
jedoch auf die Religion, ist der starke Glaube und die Beziehung zu Gott der Weg
zur Erkenntnis. Jedoch ist es auch möglich gläubig zu sein und trotzdem Erkenntnis
aus dem Verstand zu gewinnen. Die einzige Bedingung dafür, sich aller Dinge gewiss sein zu können, ist somit die Verwendung des Verstandes, welcher in verschiedenen Situationen zur Erkenntnis führt.
Im Anschluss würde sich wohl die Frage stellen: Wessen MUSS ich mir gewiss
sein?, doch dies bleibt als Anstoß für ein weiteres philosophisches Essay offen stehen.
Ich versichere, dass ich die Arbeit selbstständig verfasst habe und keine anderen
als die angegebenen Quellen benutzt habe und alle Entlehnungen als solche gekennzeichnet habe.
Da im Original aus Versehen Korrekturzeichen angebracht wurden, senden wir eine Kopie ein. Im Original befindet sich die Unterschrift von Frau Müller.
9
Anne-Katrin Petzold: Wessen kann ich mir gewiss sein?
Über etwas Gewissheit zu erlangen, bedeutet nichts anderes, als etwas auf der
höchsten Stufe für wahr zu halten und einen Sachverhalt für gegeben anzuerkennen. Im Alltag spricht man häufig davon, dass man Gewissheit über ein bestimmtes
Thema bekommen muss, bevor die Unterhaltung fortgesetzt werden kann. Doch ist
diese Gewissheit wirklich so leicht zu erlangen? Und hat man es dann endlich geschafft, sie zu erreichen, weshalb kann ich mir dann gewiss sein, dass es so
stimmt, wie ich es denke? Gibt es eigentlich irgendetwas, wessen ich mir definitiv
gewiss sein kann?
Meiner Ansicht nach gibt es nur wenige Dinge, über die man unangefochten sagen
kann, dass sie nicht änderbar und dementsprechend so hinzunehmen sind, wie sie
bestehen. Den Anfang meiner Erläuterungen macht hier das Ende, denn es ist eins
der Dinge, die gewiss sind. Mit dem Ende können vielerlei Dinge gemeint sein, vom
Ende eines Buches oder Films, einer Schulstunde, das Ende einer Freundschaft oder
einfach nur das absolute Ende, der Tod. Zusammengefasst kann man „Ende“ als
„Aufhören, zu existieren“ bezeichnen. Der griechische Naturphilosoph Demokrit
würde mir in dieser Angelegenheit widersprechen, denn er war der Meinung, dass
alles aus kleinen Bausteinen zusammengesetzt wäre 1. Hört etwas auf, in seiner
derzeitigen Form zu existieren, so löst es sich in seine Teile und setzt sich mit anderen zu etwas Neuem zusammen. Somit wäre es nach Demokrit durchaus denkbar, dass die Blume, die wir auf unserem Tisch zu stehen haben, zu Teilen früher
als Känguru existierte. Eine Verdeutlichung dessen, was Demokrit gemeint haben
könnte, wäre unser Staub, der sich bekanntlich aus winzigsten Kleinteilen zusammensetzt. So kam es vor, dass eine Staubprobe in Skandinavien Sand aus der Afrikanischen Wüste beinhaltete, er ist also um Kilometer gewandert, um so etwas anderem, nämlich Staub, zu werden.
Kann man aber von einem Ende im Sinne des Nicht-Existierens sprechen, wenn
die Teile in etwas anderem weiterleben? Es existiert immerhin weiter, nur nicht
mehr in seiner ursprünglichen Form, wobei es ungewiss ist, welche Form seine erste war. Man kann sich also gewiss sein, dass man die ursprüngliche Form eines Gegenstandes oder Lebewesens nie in Erfahrung bringen wird. Aber man kann über
seine eigene Existenz nachdenken.
Existenz:
Existieren wir wirklich oder sind wir nur die Ausgeburt einer blühenden Fantasie?
Sind wir die Schöpfer oder die Geschöpfe? Ist die Welt um uns herum wirklich so,
wie wir sie als Individuum wahrnehmen? All das sind weitere Ungewissheiten.
Nehmen wir einmal an, wir wären Figuren in einem Roman. Wären wir uns dessen
bewusst? Oder fühlen wir, dass wir nur ein Produkt der Vorstellungskraft eines anderen sind? Aber woher wissen wir als Mensch, dass wir nicht doch eben diese Figuren sein könnten, gelenkt von einer höheren Instanz. Diese höhere Instanz könnte
man als Gott oder Fantasie eines Autors darstellen. Ein gutes Beispiel hierfür wäre
der Roman „Sofies Welt“ von Jostein Gaarder, in dem die Protagonistin Sofie
Amundsen nach einem speziellen Philosophieunterricht erfährt, dass sie gar nicht
als Lebewesen existiert, sondern nur eine simple Romanfigur ist. Und so, wie Sofie
die Philosophie als Schlüssel zur Erkenntnis der Nichtexistenz genutzt hat, haben
auch schon diverse Denker versucht, eben diese zu erläutern. Für sie war es die
Vernunft, die uns angeblich vorgab, dass es einen Gott geben müsse, da wir eine
Vorstellung eines vollkommenen Wesens haben. Kant hingegen war der Ansicht,
dass weder Vernunft noch Erfahrung dazu beitragen, dass es einen Gott gibt. Sartre
wiederum meinte, dass „die Essenz der Existenz vorausgeht“, was in etwa bedeutet, dass es zwar keinen Gott, aber dennoch irgendetwas gibt, dass vor der eigent1
Quelle: Sofies Welt, Jostein Gaarder, dtv 2005
10
lichen Existenz bestand. Friedrich Nietzsche hingegen war der schlichten Überzeugung, dass „Gott tot ist“. Wenn schon bei einem Wesen wie Gott so heiß spekuliert
wird, ob es ihn überhaupt geben könnte, woher können wir dann mit Gewissheit
sagen, dass es uns gibt?
So wie Sofie dachte auch ich früher, dass ich nur eine Romanfigur wäre, da mir
das Leben an sich als zu komplex erschien, als dass es Realität sein könnte. Ich habe mir dann immer vorgestellt, wie sich irgendjemand Gedanken darüber macht,
was meine nächste Tat sein könnte, was ich sagen werde und wie ich selbst zu
denken habe.
Demzufolge habe ich überlegt, wer dieser jemand wohl sein könnte, ob ich ihn
kenne und ob er auch die anderen Menschen beziehungsweise Lebewesen in ihren
Taten steuert. Leider konnte mir bis heute noch niemand das Gegenteil beweisen ob ich nun wirklich existiere oder nicht, hängt wohl vom Blickwinkel ab. Ich könnte
mich damit zufrieden geben, dass ich als „lebende“ Person scheinbar dazu in der
Lage bin, frei zu denken und zu handeln. Ebenso könnte ich damit zufrieden sein,
dass ich zumindest das Gefühl habe, für die Geschehnisse um mich herum selbst
verantwortlich zu sein.
Aber andererseits ist es auch ein schöner Gedanke, zu sagen, dass es gar nicht an
mir liegen könnte, wenn etwas schief geht, sondern vielmehr an denjenigen, der
mich und mein Leben steuert. Doch denke ich so weit, dann stellt sich die Frage:
Wer steuert mich?
Gott schließe ich in diesem Falle aus, denn für mich ist er nur eine Hilfe zum Verständnis der Menschen über ihre Existenz. Sie haben versucht, es sich leicht zu machen, indem sie einen Gott erfanden, der die Welt und alles auf ihr - somit auch die
Menschen – erschuf. Dieser Gedanke lässt ein Zweifeln an der eigenen Existenz
nicht zu, denn solange man an Gott glaubt, ist man sich sicher, als sein Geschöpf
zu existieren.
Wenn ich eine Romanfigur wäre, dann würde ich in gewisser Weise existieren. Ich
wäre zwar nur im Bewusstsein meines Autors vorhanden und eventuell auch in dem
der Menschen, die den Roman über mich lesen. Doch immerhin bin ich da. Denn
wie Shakespeare schon sagte „Sein oder Nichtsein“ ist hier nicht die ganze Frage,
sondern vielmehr, was wir sind. Meine Fähigkeiten, mich zu artikulieren, zu denken
und zu handeln sind ein Beweis dafür, dass ich bin, aber noch nicht, was ich bin.
Einige sagen, dass die Fähigkeit des Denkens ein Beleg dafür sei, dass man ein
Mensch ist. Aber unabhängig davon, ob ich nun Realität oder Fiktion bin, kann ich
sagen, dass es in Büchern, den so genannten Fabeln, auch Tiere, Pflanzen und Gegenstände gibt, die sprechen und somit denken können. Vielleicht ist das in meiner
Welt nicht möglich, weil mein Autor es bevorzugt, nur Menschen reden zu lassen,
um dem anhaltenden Idealbild der Realität näher zu kommen, damit ich das Gefühl
habe, wirklich zu sein. Irgendetwas muss mich doch dazu bemächtigen, mit meinem Haustier zu reden. Viele Besitzer eines Tieres sagen, dass ihr Tier intelligent ist
und versteht, was sein Besitzer sagt. Doch hat verstehen nicht etwas mit denken zu
tun? Somit ist klar, dass es nicht Beweis genug ist, zu sagen, dass ich ein Mensch
bin, da ich denken kann, und folglich existiere. Solange ich denken kann und die
Tatsache, dass ich das hier schreibe, spricht stark dafür- bin ich, also lebe ich.
Doch als was existiere ich, bin ich nur Bewusstsein oder Realität? Ist die Welt, in
der ich glaube zu leben, wirklich so, wie ich sie wahrnehme? Als Bestandteil eines
Bewusstseins wird diese Welt mit ziemlicher Sicherheit wirklich so sein, wie ich sie
sehe, denn mein Schöpfer wird mich die Welt nicht anders aufnehmen lassen. Aber
sehen alle anderen die Welt genauso wie ich? Nehmen alle die Farben so auf, wie
ich sie erkenne? Es gibt eine Krankheit, bei der die Betroffenen rot und grün nicht
unterscheiden können, Farbenblindheit genannt. Ist diese Erkrankung vielleicht nur
ein schlechter Scherz meines Autors, um die Erkrankten von der Masse abzugrenzen, sie anders zu machen? Doch würde er dies tun, dann nur zum Zwecke meiner
Belustigung. Ich bin seine Protagonistin, denn durch mich artikuliert er sich, seine
11
Gedanken bestimmen meine. Er will mir auf diese Art und Weise verdeutlichen,
dass nicht alle Menschen gleich sind und ich meine gesunden Augen nicht als
selbstverständlich hinnehmen soll. In gewisser Weise wäre er also ein Mentor für
mich, der mich nicht nur durch das Leben, sondern auch mein Leben leitet. Als
Mensch wäre ich also nicht frei, meine Handlungen sind vorbestimmt und einschätzbar, mein Leben wäre geplant und hängt nicht von Zufällen ab. Als Kind hat
mir diese Vorstellung gefallen, dass mein Leben unabhängig von meinen „eigenen“
Entscheidungen ist, dass meine Taten, mögen sie noch sie schlimm sein, keine negativen Auswirkungen auf das haben, was schon jemand für mich vorgesehen hatte. Es war schön, Gewissheit zu haben, dass das Leben geplant ist und einer festen
Struktur nachgeht. Doch nun, als Erwachsene, denke ich, dass so ein Leben eine
starke Eingrenzung meiner Freiheit wäre, denn mein Handeln käme nicht durch von
mir gegebene Impulse, meine Intelligenz wäre auch nur das Spiegelbild der Intelligenz meines Autors und die Personen um mich herum wären auch nur Hirngespinste, die vielleicht in der realen Welt des Autors leben und mich nur in meiner Welt
begleiten, damit ich nicht einsam bin. Gäbe es eine Möglichkeit, dieser fiktiven Welt
zu entfliehen, so würde ich sie wahrnehmen. Doch ich kann mir gewiss sein, solange ich nur als Fantasie existiere, wird es mir nie gelingen, aus dem Bewusstsein des
Autors zu entfliehen, denn das ist meine Welt, mein Gefängnis.
Aber angenommen, mein Autor steuert wirklich nur mich, wer oder was steuert
dann meine Mitmenschen? Sind sie wirklich nur Spiegelbilder der eigentlichen Realität oder ist unsere Welt das Produkt vieler Autoren, die ihre Geisteswelten zu einer
vereinigt haben, in der jeder Autor eine Figur beherrscht? Wie aber könnte man
sich als Geschöpf dann deren Welt vorstellen, ist sie vergleichbar mit unserer oder
doch eher ein Idealbild, wie eine Welt sein sollte? All diese Fragen sind ungewiss,
solange man keine Gewissheit darüber hat, ob man eine gesteuerte Figur im Kopfe
eines Schreibers ist und somit nur ein Geschöpf.
Dem ungeachtet könnte man sagen, wir seien die Schöpfer, wir schreiben die Geschichten, die Romane, die Gedichte. In unseren Köpfen existieren die Figuren, wir
steuern sie, wir sind frei und handeln aus eigenen Impulsen. Vielleicht schreibe ich
irgendwann eine Geschichte über ein Mädchen, das sich Gedanken darüber macht,
ob es wirklich existiert oder nur gesteuert wird, aber dann letztlich doch zu dem
Entschluss kommt, dass sie existieren muss, da sie in der Lage war, über ihre Existenz nachzudenken. Doch ich als ihre Autorin weiß, dass sie nur in meinen Gedanken existiert, nie aber in einer wirklichen Welt. Ich kann mir darüber gewiss sein,
dass dieses Mädchen als Produkt meiner Fantasie nie dazu fähig sein wird, mit den
Menschen aus meiner Welt Kontakt aufzunehmen, es sei denn, ich will es so. Ihr
Leben ist ohne Einschränkungen von meinem Handeln abhängig. Aber sie würde es
nie erfahren, es sei denn, ich würde ihr auf irgendeiner Art und Weise die Gewissheit geben, dass sie nur meine Fantasie ist.
Doch genauso könnte ich sie denken lassen, sie wäre die Schöpferin, sie könnte
eine Geschichte schreiben und über die dort vorkommenden Figuren bestimmen,
dabei bin immer noch ich diejenige, die alles leitet. Nur das Mädchen weiß es nicht.
Und wer sagt, dass es bei mir anders ist? Vielleicht veranlasst mein Autor mich dazu, alles zu schreiben und gibt mir den Gedanken, über die Dinge eine gewisse
Macht zu haben, ohne zu ahnen, dass eigentlich er sie hat. Doch ich kann mir gewiss sein, dass ich über meinen Autor, wenn es ihn denn gibt, nie Gewissheit erlangen werde, es sei denn, er würde es so wollen.
Man wird nie mit Gewissheit sagen können, ob wir frei oder von einer höheren Instanz gesteuert sind, alle Versuche, etwas Derartiges zu beweisen, laufen nur auf
Spekulation hin.
12
Sophia Noack: Thema III.
„Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder
man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei, es
schließt sich gegenseitig aus. - die meisten wollen gute Menschen sein.“
(Max Frisch, Tagebuch 1946 1949)
Nach Platon ist die Idee des Guten die Idee der Ideen, von der alle anderen Ideen
ihre Existenz hätten. Das Gute sei Ursache und Endzweck der Welt. Nach Hobbes ist
das Gute für jeden die Selbsterhaltung, und Leibnitz sah das metaphysisch Gute in
der Vollkommenheit der Dinge. Das „Gute“ wird also sehr unterschiedlich ausgelegt.
Sein Wesen behauptet kaum jemand, allumfassend definieren zu können bzw. gefunden zu haben. Ein Element des Guten scheint sich jedoch aus allem herauszukristallisieren, nämlich seine Unentbehrlichkeit für den Menschen. In allen Lebensbereichen herrscht das Gute. Es wertet das Leben auf. Es ist sozusagen das Elixier
unser aller Existenz und bedarf eines sehr achtsamen Umgangs und ist letztendlich
in allem enthalten, für das die Menschen zu kämpfen bereit waren. Der Mensch
setzte sein Leben für die Freiheit und für die Demokratie ein und kämpfte gegen
Unterdrückung, Ungleichheit oder Willkür. Er schuf zahlreiche Modelle, die das Zusammenleben der Menschen unter bestimmten Werten ermöglichen sollte. Überall
war der Gedanke des Guten entscheidender Antrieb.
Die Zivilisation, der Anfang höheren menschlichen Zusammenlebens, schuf also
mitunter der Gemeinwille des Guten und bezeugt das nützliche (Sokrates) Element
des Guten für die Menschheit. Civilitas kommt aus dem Lateinischen und bedeutet
Anstand und Höflichkeit; zivilisiert heißt Kultur und Bildung innehabend. Verfolgen
die Menschen das Ziel, z. B. den Maßstäben des Anstands gerecht zu werden, und
erachten somit gesellschaftliche Werte als Vorlagen für den guten Menschen? Findet
man das sogenannte Elixier des Lebens bei der Bestrebung, „gut“ zu werden, wieder?
Max Frischs These enthält in sich einen großen Widerspruch. „Gute Menschen“
und die Verwirklichung des „Guten“ werden als zweierlei Unvereinbares dargestellt.
Diese Kontradiktion gilt es aufzuklären.
Die meisten Menschen sind von ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu der Idee des
Guten ohne ihr eigenes Zutun und demzufolge unbewusst geführt worden. Jede Gesellschaft charakterisiert sich durch ihre eigenen Wertevorstellungen. Diese verändern sich gemäß dem Geschichtsverlauf und der Epochen, wobei sie aber die Konstanten der Gesellschaft bleiben und somit das Leben aller Menschen fortwährend
bestimmen.
Ein guter Mensch im 19. Jahrhundert identifiziert sich mit der Vorstellung des Guten seiner Zeit und strebt unweigerlich danach, diesen Vorstellungen gerecht zu
werden. Betrachtet man beispielsweise Meister Anton aus «Maria Magdalena» von
Friedrich Hebbel, so ist es das zeitgenössische Bild des Guten, das seinen Lebenswandel bestimmte. Ich glaube, dass es trotz eines angeblichen Werteverlusts des
21. Jahrhunderts nach wie vor Werte gibt, die den Menschen als Maxime (Kant) auf
dem Weg zum erstrebten guten Dasein dienen. Sei es im Rahmen der Familie, in
der Freundschaft oder im Beruf. Dem Mensch wird nahezu mit der Geburt das Streben nach dem „Guten“ auferlegt, um einen Platz in der Gesellschaft zu finden und
um sich in dieser wohlzufühlen. Anlass, ein guter Mensch zu werden, gibt es also
immer und er ist dementsprechend natürlich.
Die Idealvorstellung der Nützlichkeit nach dem Bild des guten Menschen zu streben ist folgende: Der Mensch ist von seinen Mitmenschen abhängig. Und da unser
aller Leben – wie gesagt - das Gute in irgendeiner Form erfahren muss, ist es die
Aufgabe eines jeden, auch etwas Gutes zurückzugeben. So wird der Kreis des Gu-
13
ten geschlossen, und alle, die diese zwischenmenschlichen Verhältnisse verinnerlicht haben, profitieren gegenseitig von dem Streben, gute Menschen sein zu wollen. Ich bezeichne diese Zusammenhänge als den Idealkreislauf.
Das Gute wird offensichtlich in seiner Gesellschaftsfunktion jedoch konkret und
der abstrakte „wahrhaftige Kern“ wird ersetzt durch einen Charakter, den die Gesellschaft prägt. Dieser Charakter des Guten ist veränderlich. Das macht das Streben der Mehrheit, gute Menschen zu werden, zwiespältig und birgt in sich Gefahren.
Für den Zusammenhang zwischen den veränderlichen Werten und den möglichen
resultierenden Folgen, verwende ich den Begriff des Wertekreislaufs.
Hinter diesem Kreislauf des „unbeständigen Guten“ verbergen sich die Schattenseiten einer Gesellschaft. Es ist zu beachten, dass das Resultat des Strebens nach
dem guten Sein oft nicht das Gute ist. Meister Anton sowie viele reale Personen
sind an diesem Streben oder an seinen Folgen zu Grunde gegangen. Seine Tochter
Klara wählt als Ausweg aus dem Kreislauf den Freitod, und Anton versteht, von der
gesamten Familie verlassen, die Welt nicht mehr.
Die Absicht des Guten steht direkt in Verbindung mit der Unterdrückung und Bekämpfung dessen, was nicht als gut erachtet wird und dem Bild des guten Menschen zuwiderläuft. Das Gute zu leben kann immer nur einen Versuch darstellen
und sollte nicht Maßstab für alle Lebensbereiche sein, solange es von einem allgemeinen gesellschaftserhaltenden Guten definiert wird und - wie mir scheint - mit
dem Guten an sich wenig zu tun hat. Was die Gesellschaft erhält, kann durchaus
den einzelnen zerstören, und die eigentliche Kunst ist es letztlich eine Balance zwischen Erwartung und Selbsterhaltung zu finden, was schließlich im Sinne des wahren Guten liegt.
Die meisten Menschen streben Max Frisch zufolge danach, gute Menschen zu
werden. Was aber unterscheidet den Menschen, der das Gute verwirklichen will,
von dieser Mehrheit?
Wie ich erklärte, liegt einer Gesellschaft meiner Meinung nach ein (Werte-)Kreislauf, der sie formt, zu Grunde. Der einzelne wird jedoch nicht gleichsam
von dieser „Gesellschaftswelle“ mitgetragen. Dies kann sehr viele Gründe haben.
Sicherlich gibt es jene, die nicht mitgenommen werden möchten, die das Individuelle suchen und es im Abseits zu finden hoffen. Doch dies sind weniger diejenigen,
die dazu veranlasst sind, das Gute zu verwirklichen.
Es gibt hingegen Menschen, denen (z. B.) schon die Kindheit keinen Sinn für Gemeinschaft, Zusammenleben und - geschweige denn - das Gute nahe brachte. Menschen, denen der Zugang zu anderen Menschen, zu Nähe und Geborgenheit verwehrt wurde.
Sie beschreiten einen vollkommen anderen Weg zur Idee des Guten, da sie es
gegenüber dem Gegenteil, dem Schlechten, differenzieren lernen müssen. Ich glaube, dass sich hier eine Minderheit herausbilden kann, denn es ist wohl bekannt,
dass vergleichbare Menschen oft ihr Leben lang im Chaos stecken bleiben. Bei manchen aber werden ihre extremen Erfahrungen zu einem ganz besonderen Blick auf
die Welt, der sehr weit reicht und den anderer Menschen überschreitet. Diese Menschen, die viele Kehrseiten der Gesellschaft, Gewalt, Ausgrenzung oder anderes am
eigenen Leib erfahren haben, können eine sehr tiefe Abneigung gegen diese Missstände entwickeln und im besonderen Fall mit aller verbliebenen Lebenskraft und
ungewöhnlich starkem Willen gegen diese vorzugehen versuchen. Sie haben das
wandelbare „Gute“, mit dem sich die Mehrheit zu schmücken versucht, nicht verinnerlicht, sind nicht in den Wertekreislauf eingegliedert, sondern sie haben womöglich einen Teil des Grundcharakters des abstrakten Guten identifiziert. Bei dieser
Betrachtung ist Max Frischs These anwendbar. Es besteht eine Unvereinbarkeit der
beiden das Gute betreffenden Anliegen.
14
Es gab beispielsweise viele geniale Persönlichkeiten, die psychisch sehr labil waren und der soeben beschriebenen Minderheit angehörten, die die Verwirklichung
des Guten im Sinn hat. Ihre Genialität begrenzte sich aber oft auf das große Ganze
und war im Kleinen, wie in der Freundschaft oder in der Beziehung, folglich im gesamten zwischenmenschlichen Bereich schwerlich wiederzufinden (Sartre, Picasso,
Rousseau etc.).
Dies liegt also an dem Fehlen mitmenschlicher Erfahrung, die sie nicht mehr
nachholen können. Daraus ergibt sich eine weitere Interpretation zu der Unvereinbarkeit der von Max Frisch differenzierten Formen des Strebens. Diesen Personen mangelt es also an sozialer Reife. Sie sind keine Gemeinschaftswesen. Innerhalb des engsten Kreises treten sie oft als besonders unausstehlich auf und belasten ihr Umfeld sehr. Sie streben in diesem Kontext sichtlich nicht danach, gute
Menschen zu werden, wobei ich diesmal meine Idealvorstellung des Kreislaufs des
Guten voraussetze, in dem vor allem das soziale Gute herrscht.
Das heißt, einerseits gibt es den Unterschied zwischen dem wahren Guten und
dem veränderlichen Guten, nach dem die Menschen streben. Andererseits gibt psychologisch, humane Gute, das ich in den Idealkreislauf des Guten projiziert habe,
nach dem die Menschen meist gleichzeitig streben. Es liegt also nahe, dass der Idealkreislauf und der „Wertekreislauf“ des Guten parallel existieren. Sie sind Ausdruck
der (Zwei)Gespaltenheit des Guten, das den guten Mensch charakterisieren kann.
Auf der einen Seite steht das konkrete Gute, das veränderlich und somit gefährlich
ist, auf der anderen Seite steht das humane Gute, das meiner Meinung nach etwas
vom Wesen des Guten, dem abstrakten Guten, beinhaltet.
An dieser Stelle ist noch ein weiterer Fall durchzuspielen. Wie sind die geschichtlichen Umstände, die eine Gesellschaft zwingend betreffen, in den Kontext dieser
Gespaltenheit der menschlichen Absichten, wie sie Max Frisch thematisiert, einzuordnen? Im Zuge der deutschen Geschichte hat unser Land wie kaum ein anderes
die sich wandelnden Gesichter eines Wertekreislaufes aufgezeigt. Die kleinsten Charaktere traten auf der Seite der Nazis die größten Karrieren an und haben dabei aus
der Idee aller Ideen ihren größten Gegensatz zum Ideal gemeinschaftlichen Lebens
in Deutschland erhoben. Das Monströse, wie es oftmals bezeichnet wird, schlich
sich in den Wertekreislauf ein. Die Mehrheit fand keinen Weg aus dem reißenden
Strom der sich wandelnden Gesellschaft. Das Streben nach dem guten Dasein hat
sich bei den meisten scheinbar auf die allgemeinen Erwartungen des Guten dieser
Zeit beschränkt.
Der Idealkreislauf, der etwas vom wahren, unveränderlichen Guten enthält, konnte sich nicht gegen den anderen durchsetzten. Es ist Furcht erregend, wie sehr der
vermutlich dominante Kreislauf einer Gesellschaft durch ihre Probleme bestimmbar
ist und wie sehr sich das Gute dabei bis in sein Extrem verändern lässt. Zu dieser
Zeit waren wieder die Persönlichkeiten gefragt, die sich nie auf die „Welle“ begeben
haben. Gemeint sind entweder jene beschriebene „Genies“, die keinem der beiden
Kreisläufe zugehörig sind, oder solche, die aus Überzeugung dem gemeinschaftlichen Wertekreislauf einen eigenen entgegensetzen konnten, als sich dieser in dem
damals vorliegenden Maße verändert hat. Der Idealkreislauf, dem die vom Wertekreislauf unabhängigen Personen allerdings zugehörig sind, hat den anderen also in
diesen wenigen Fällen bezwingen können. Es war diese Minderheit, die die herrschenden Verhältnisse in Frage stellte. Sie hatte eine Ahnung vom Wesen des wahren Guten, die ihnen die Kraft gab, trotz der großen Gefahr, der sie sich aussetzten,
das Gute zu verwirklichen.
Das Streben nach der Verwirklichung unterschied sich in dieser Situation ganz vehement von dem allgemeinen Streben, ein guter Mensch zu sein. Es war für diese
Menschen unmöglich, dem Bild des „guten Menschen“ gerecht zu werden, da “gut“
in dem Fall sogar bedeuten konnte, an die Gestapo das Versteck eines jüdischen
15
Kindes zu verraten. Versteht man also das mehrheitliche Anliegen, gute Menschen
zu werden, als eine Form von Angepasstheit an das sich wandelnde Gute, das sogar
sein Gegenteil verlangen kann, dann schließt dieses Streben die gleichzeitige Verwirklichung des „wahrhaftigen Guten“ ganz offensichtlich aus.
Wenn also die Mehrheit dem Wertekreislauf machtlos gegenübersteht, lässt sich
dann die Wiederholung eines dem Nationalsozialismus ähnlichen Grauens verhindern? Ist das mehrheitliche Streben wirklich nicht mit der Verwirklichung des Guten
zu verbinden? Es sollte möglich sein, dass der Idealkreislauf mehr Gewicht im Leben des Einzelnen gewinnt und in einer erneuten Konfrontation mit dem anderen
Kreislauf diesen besiegt. Da die Gesellschaft das Individuum auch heutzutage und
vielleicht mehr denn je in vorgegebene Kreisläufe zwingt, sollte die enorme Dynamik, die von ihnen ausgeht, den Menschen umso mehr dazu veranlassen, nach dem
Grundcharakter des Guten zu suchen und auch eine kleine Ahnung nie aus den Augen zu verlieren. Schließlich ist das Gute das Elixier des Lebens und für uns alle unersetzlich.
16
Außer Konkurrenz
Sophie de Beukelaer (Französisches Gymnasium)
III. Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen,
oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei,
es schließt sich gegenseitig aus. - Die meisten wollen gute Menschen sein.
(Max Frisch, Tagebuch 1946-1949)
A: Der Himmel verdichtet sich. Siehst du, ich hatte dir doch gesagt, dass uns das
schöne Wetter nicht lange gegönnt wird.
B: Wie kommst du darauf? Die Sonne lugt doch noch durch die Wolken hindurch.
A: Ja aber nicht mehr lange: Gewitterwolken kommen auf uns zu, dort drüben.
B: Stimmt! Es wird tatsächlich düsterer.
A: Was machst du jetzt? Liest du immer noch Max Frischs Tagebuch?
B: Immer noch.
A: Seine Theaterstücke gefallen mir; Andorra zum Beispiel über die Macht der Vorurteile. Seine Romane jedoch, ach so skeptisch und selbstzweifelnd. Immer wieder
geht es um die Identitätsfrage und er kommt doch zu keinem Ergebnis. Wenn du
mich fragst: Man kann sich das Leben auch wirklich erschweren. Das Ich mit dem
Fragezeichen. Das bräuchte mal das Ausrufezeichen und es würde aktiver werden.
B: Ach wirklich? Vor allem die Unsicherheit der eigenen Identität zieht mich bei seinen Schriften an. Gerade habe ich eine treffende Passage dazu gelesen. Hör mal
zu: „Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen,
oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei,
es schließt sich gegenseitig aus. - Die meisten wollen gute Menschen sein.“
A: Gott wie paradox! Gute Menschen verwirklichen doch das Gute. Das schließt sich
absolut nicht aus. Was sollten sie denn sonst durchsetzen wollen? Gerade ein
Mensch, der bestrebt ist, gut zu sein, also ein guter Mensch zu sein, ist doch dazu
bereit Verantwortung zu übernehmen und zu versuchen, stets das Gute auszuüben.
B: Ja sicher ist ein Mensch, der für das Gute steht und es vertritt, auch ein guter
Mensch. Aber das ist hier doch gar nicht der Punkt. Ja das ist sogar nebensächlich:
ein Mensch, der darauf erpicht ist, gut zu sein, wird nicht unbedingt das Gute
durchsetzen wollen, sondern sich eher auf seine Wirkung konzentrieren. Sagen wir,
das Wirken droht neben der Wirkung unterzugehen.
A: Also meinst du jede sogenannte gute Tat eines Menschen ist nichts als Täuschung, da es mehr um die Wirkung als um den Inhalt der Tat gehe?
B: Ja also nicht jede gute Tat ist mit hintergründigen Absichten verbunden. Jedoch:
Wenn jemand gute Taten nicht wegen der guten Tat ausübt, dann vertritt er eigentlich das Schlechte, da er an das Gute nicht wahrhaft glaubt.
A: Was? Was ist denn das für eine Unterstellung? Gute Menschen sind Menschen,
die nicht wirklich das Gute vertreten, sondern sich mit dem Guten allein aus Vorteilen beschäftigen? Und eine solche Art von Menschen wäre noch dazu die Mehrheit
der Bevölkerung?. Das glaube ich nicht. Max Frisch hat auf jeden Fall zu viel an
dem Ich gearbeitet, wie man daran sieht.
B: Nun mal langsam, gerade das ist doch der erste Schritt, um überhaupt das Gute
vertreten zu können: sich selbst versuchen zu erkennen und immer wieder in Frage
zu stellen. Und außerdem ist die Frage, die sich Max Frisch hier stellt, durchaus berechtigt: Sind gute Menschen überhaupt auch Menschen, die das Gute vertreten?
Das ist nämlich gar nicht so offensichtlich. Welche Menschen handeln noch nach einer Idee des Guten, die ihnen auf ihrem Weg leitet und die ihnen auch in ungerechten Zeiten als Unterstützung dient? Ja, was ist denn überhaupt das Gute? Was verstehst du unter dem Guten?
17
A: Gute Frage. Man benutzt den Begriff häufig, immerzu, wertet damit jede Aktion,
fast beliebig, aber was damit wirklich verbunden ist... Also jemand, der das Gute
verwirklichen will, ist schon daran bestrebt, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, gegenüber sich selbst und genauso gegenüber der Gesellschaft, in der er
lebt.
B: Genau, das sehe ich auch so: wenn man sich an dem Guten orientiert, dann
übernimmt man eine Verantwortung. Aber wie gesagt, was genau ist das Gute?
A: Ja, was genau ist das Gute? Ich würde sagen, dass es keine exakte Definition
vom Guten gibt. Es ist relativ! Das Gute ist das, was das Individuum zu sein glaubt.
Aber halt: Jetzt nicht so, wie du glaubst. Es ist nicht das, was am besten für das
Individuum selbst ist. Keineswegs. Das Individuum muss, um in der Gesellschaft
überlegt handeln zu können, gewisse allgemeine Regeln einhalten.
B: Es gibt also moralische Konventionen, an die man sich halten sollte, um im Zusammenleben richtig handeln zu können?
A: Ja, aber eben nicht einfach nur aus Gehorsam oder aus Vorteilsgründen, sondern
weil ein Mensch sich an Konventionen halten muss, um gut handeln zu können.
Wohlgemerkt kann er in den Konventionen gewichten: welche spricht mir mehr zu,
welche ist mit meinem Gewissen am besten zu vereinbaren? Und genau da ist auch
eine gewisse Überlegung und Selbstkenntnis nötig: Wer bin ich eigentlich? Und welche Tugend kann ich vorziehen, nach welcher kann ich handeln? Die Zusammensetzung der Tugenden wäre für mich dann das Gute. Andere Menschen, ja, zum Beispiel Menschen, die an eine gewisse Religion glauben, seien sie Christen, Muslime,
Juden, ja Buddhisten; also gläubige Menschen würden ihren Glauben an Gott für
das Gute halten, das einzig Gute, auch wenn es natürlich nicht das einzig Gute ist.
Wenn du so willst, ist das Gute eine Art Lebensausrichtung, die man sich selbst
aussucht und die einem dazu verhilft, seine Meinung zu untermauern. Menschen,
die man für gut hält, vertreten also doch das Gute und wollen es verwirklichen. Sie
sind kein bisschen angepasst, sondern stehen zu einer Meinung, die sie vertreten
und als gut befinden, und auch befunden werden können.
B: Aha. Das Gute ist also beliebig, frei von jeder Einschränkung? Sagen wir, ich habe einen Nachbarn, der seinen Müll ungeachtet auf meinen Boden wirft, nur weil er
der Überzeugung ist, dass die Müllordnung nicht wirklich zu beachten ist. Ich hingegen bin der Auffassung, dass die Ordentlichkeit eines Menschen durchaus ernst
zu nehmen ist. Bin ich dann dazu berechtigt ihn zu schlagen, weil er sich gegen eine meiner Tugenden verstoßen hat?
A: Nein, natürlich nicht. Ein guter Mensch bedenkt seine Aktionen und handelt nicht
stürmisch und impulsiv, nur wenn der Nachbar rücksichtslos ist. Er handelt, so weit
es möglich ist, stets gerecht, um sich als guter Mensch zu bewähren.
B: Wie gerecht? Nach dem jeweiligen Rechtssystem, oder?
A: Ja, zum Beispiel. Wenn er sich an die Konventionen der Gesellschaft hält und
versucht jene mit seinen Prinzipien zu vervollständigen, dann ist der Mensch ein
guter Mensch. Ein Mensch, der von Selbstzweifeln geplagt ist, der sich andauernd
zurückzieht und versucht das Gute unabhängig von einem guten Menschen zu bewerten, der verkennt die Welt und ist dazu verdammt, nicht handeln zu können.
Die Welt trägt nicht, wenn man dazu bereit ist, Kompromisse mit den Richtlinien
der Gesellschaft einzugehen und sonst voll zu seiner Meinung zu stehen.
B: Stell dir vor: es gibt eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen: Einer
vertritt die Gesetze der Stadt, in der sie leben, ein Anderer hinterfragt diese und
befindet sie als ungerecht. Der, der die Gesetze verteidigt, hat gute Argumente und
schafft es, den anderen wegen Verrat aus der Stadt verbannen zu lassen. Wer ist
deiner Meinung der Stärkere?
A: Na derjenige, der die Gesetze vertreten hat.
B: Aha. Und wer wäre der, der versucht hat, das Gute zu verwirklichen?
A: Ebenso: der Stärkere in diesem Falle.
B: Gibt es Fälle, in denen der Schwächere nach dem Guten handelt?
18
A: Ja sicher. Fälle, in denen er übergangen wird. Obwohl: meistens können Menschen, die nach dem Guten handeln, überzeugen, da sie gute Menschen sind.
B: Wie? Können sie überzeugen, weil sie gute Menschen sind?
A: Naja, natürlich. Ein guter Mensch ist glaubwürdiger, stärker und kann allein
schon deswegen besser überzeugen. Außerdem handelt er nach anerkannten moralischen Prinzipien.
B: Weshalb?
A: Weil sie gut sind.
B: Will er denn um jeden Preis ein guter Mensch sein?
A: Nein, nicht um jeden Preis, aber er möchte ein guter Mensch sein.
B: Weswegen denn? Weil er sich davon Vorteile verspricht? Also, weil er als Stärkerer hervortritt? Oder weil er aus Überzeugung seiner Idee des Guten folgt?
A: Weil er der Überzeugung ist, dass er dem Guten folg natürlich. Sonst wäre er ja
kein guter Mensch.
B: Du kannst es jedoch nicht mit voller Sicherheit bestimmen. Außerdem: wieso ist
denn derjenige, der das Gesetz kritisiert, ein minder guter Mensch? Weil er etwas
nicht Rentables oder Vorteilhaftes vertritt? Wenn ja, dann ist die Verteidigung des
Stärkeren gar nicht unbedingt aus Überzeugung des Guten entsprungen, sondern
vielmehr aus Gewohnheit, wegen einer gewissen gesellschaftlichen Abhängigkeit,
oder weil er sich wirklich davon Vorteile verspricht, wenn er eine gängigere (geläufige) Position vertritt. In der Tat, so aktiv und stark, wie du ihn charakterisiert hast,
ist er nämlich gar nicht. Er handelt hauptsächlich, um ein guter Mensch zu werden
und gerade deshalb könnte man ihn als Fähnchen im Winde bezeichnen. Aber lass
mich deine Position noch mal zusammenfassen: Ein guter Mensch ist gut, wenn er
sich an Konventionen hält, jedoch trotz allem in der Lage ist, zu sich und zu seiner
Meinung zu stehen und diese versucht, mit dem für ihn Gutem zu verbinden, den
sogenannten besten Weg zu folgen. Aber was macht seine Meinung so gut? Allein,
weil sie aus persönlichen Überlegung entstanden ist wohl nicht, da die Überlegung
ja kein Garant für ihren guten Ursprung ist. Dann müssten also die gesellschaftlichen Konventionen, die einen richtigen Weg vorzugeben scheinen, die Wegweiser
des Guten zu ein. Wenn man nun aber die Gesellschaft wechseln würde und in dieser anderen Gesellschaft die Frauen als untergeordnetes Geschlecht aus Sitte, oder
anderen Überzeugungen, deklariert worden sind, würde man dann in dieser Gesellschaft gegen eine solche Unterordnung sein, weil es gegen die Gerechtigkeit
spricht, die grundlegend für das Gute ist, oder würde man nichts sagen, da ein guter Mensch gleich ein guter, konformer Bürger ist?
A: Je nach Gesellschaft ist man natürlich beeinflusst, aber ich verteidige ja in diesem Falle meine eigene Idee des Guten. In jenen Gesellschaften wäre sie eingeschränkt und die dortige Idee des Guten fände ich verwerflich, da sie der meinigen
nicht entspricht. Ich sehe mich jedoch, in solchen Umständen, als machtlos an.
B: Das ist doch moralischer Relativismus, der nur dazu dient den Problemen aus
dem Weg zu gehen! So setzt du dich doch nicht für deine Idee des Guten ein, an
die du doch zu glauben scheinst! Du bist eben nicht darauf bedacht, jene Idee zu
verwirklichen, sondern eher ein guter Mensch zu sein. „Die Meisten wollen gute
Menschen sein.“
A: Du bist gut! Wenn jeder seine Idee des Guten vertreten würde, dann gäbe es
doch reines Chaos!
B: Das sehe ich genauso. Aber das liegt nicht an der Idee des Guten, die nicht zu
verwirklichen ist, sondern daran, dass es, wie es Max Frisch vermerkt hat, Zweierlei
gibt: die Idee des Guten, eine Art universelle Idee, und das, was man als gut ansieht, etwas vielleicht ganz persönliches oder gesellschaftsbedingtes Gutes. Alle
Menschen, die das Gute „verwirklichen“, können als „gute Menschen“ bezeichnet
werden. Doch die guten Menschen vertreten nicht unbedingt alle die Idee des universellen Guten. Viele kennen sie gar nicht, viele wollen sie nicht vertreten, weil sie
auch Nachteile hat, und ganz viele verwechseln sie gar mit dem relativem Guten
19
eines jeden Menschen, einer jeden Gesellschaft. Die meisten Menschen folgen in
der Tat jenem fälschlichem Guten. Aber weshalb?
A: Nein, lass uns doch noch mal über das „universelle Gute“ reden. Gibt es das
denn überhaupt?
B: Ja gut. Beschäftigen wir uns mit dem Guten. Das Gute, das man bedacht sein
sollte durchzusetzen, weil die meisten Menschen diesem Guten - fälschlicherweisenicht mehr folgen, wie es Max Frisch bemerkt. Genauso wie du denke ich, dass es
eine Verantwortung eines jeden Menschen ist, dem Guten zu folgen. Also jemand,
der das Gute verwirklichen will, strebt danach, eine gewisse Verantwortung zu
übernehmen; Gegenüber sich selbst und genauso gegenüber der Gesellschaft, in
der er lebt. Das ist wichtig. Er übernimmt somit eine moralische Verantwortung
eben auch für die Gesellschaft. Das Gute leitet den Menschen in seinen Aktionen. Es
ist aber nicht nur ein grober, vager Leitfaden im Leben eines Menschen. Es ist fast
schon ein Konzept, das gekannt und beherrscht werden muss, damit man seine eigenen Aktionen auch rechtens ausführt. Es ist also notwendig zum Handeln. Weiter
vermag dieses Gute, den wahren Wert der Dinge zu bestimmen, von denen man
umringt ist. Das bedeutet natürlich genauso, dass man dann zwischen dem Wahren
und dem Falschen in der Welt unterscheiden kann, da man in der Lage ist, den echten Wert der Dinge zu erfassen. Die Idee des Guten ist also notwendig, um die eigenen Aktionen in die angemessene Richtung auszurichten. Wie gesagt: das Gute
zu kennen, würde bedeuten, dass man Wissen erlangen, vielleicht glücklich werden
und - ganz wichtig - frei sein kann, da man dann weder einzuschüchtern noch zu
täuschen ist. Wenn man bedacht ist das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen,
dann vertritt man jene Disziplinen, die am Besten den Körper und den Geist ordnen, und nicht die, die den Konventionen der Gesellschaft am ehesten entsprechen.
Die Gerechtigkeit zum Beispiel wäre eine der Disziplinen, die man durchsetzen und
verwirklichen sollte und zwar in jeder Gesellschaft.
A: Wie kann man das in jeder Gesellschaft durchsetzten?
B: Naja, indem man an eine gewisse Essenz allen Existierenden glaubt, durch die
man das Trügerische von dem Wahren unterscheiden kann, ist auch die Essenz der
Gerechtigkeit allgemeingültig. Das Gute hat deswegen so eine Bedeutung, da es
den Menschen sowohl dazu dient, sich selbst und sein Umfeld in Frage zu stellen als
auch dazu hilfreich ist, eine Basis für die gemeinsame Kommunikation, also für das
Verständnis zu schaffen. Wie gesagt, weil man an etwas Essentielles und daher an
etwas Wahres glaubt.
A: Aber man glaubt daran? Das heißt, diese Idee des Guten ist genauso ein reiner
Glaube?
B: Ja, es stimmt schon, es ist so etwas wie ein spiritueller Glaube an etwas, das
uns den rechten Weg zu weisen vermag. Die Existenz kann man nicht beweisen.
Aber; allein schon, dass man eine moralische Verantwortung übernehmen möchte,
also dieser Willen zur Verantwortung, könnte ein Indiz dafür sein, dass es das Gute
wirklich gibt.
A: Ja gut. Und das „Gute“, dem die meisten Menschen zu folgen gedenken? Diese
Menschen folgen wohl unbedacht, aus Gewohnheit, weil sie wahrscheinlich wirklich
nur der Status in der Gesellschaft anzieht, den sie damit verbinden.
B: Sie üben, wenn man den Unterschied zwischen Wahr und Falsch weiterzieht,
vermeintlich gute Taten aus. Aber meistens aus Ignoranz. Generell stellt man einen
guten Menschen, der gar schon übertrieben moralisch ist, sofort höher in Rang und
Namen. Das lockt natürlich an, und sichert gleichzeitig die ungeschriebenen Sitten
der Gesellschaften, die als gute Verhaltensweisen verstanden werden.
A: Natürlich, natürlich. Aber weshalb wollen Menschen denn jetzt gute Menschen
sein, nur aus Vorteil und Ignoranz des Guten?
B: Vielleicht, weil es Menschen sind, die emsig damit beschäftigt sind, sich eine
Identität anzulegen, mit der sie gut in der Gesellschaft auskommen können. Sie
sind vielleicht gerade zu sehr auf sich fixiert. So kommt der Wille zur Selbster-
20
kenntnis zu kurz, da man allein damit beschäftigt ist, sich etwas zu konstruieren,
ohne sich wirklich zu kennen. Damit sind wir wieder bei Frischs Identitätsfrage:
Kann man sich einfach der Selbsterkenntnis entziehen? Nicht ohne sich selbst zu
täuschen und die moralische Verantwortung nicht richtig wahrzunehmen, könnte
Frisch darauf antworten.
A: Das Fragezeichen hinter dem Ich lässt ihm also gerade Spielraum zum Handeln
und das unbedachte Ausrufezeichen, das ich als Zeichen der Aktivität verstehen
wollte, könnte das Ich erneut abhängig machen! Oh siehst du, nun haben wir das
Unwetter doch schnell überstanden. Und die ersten Sonnenstrahlen kommen durch.
B: Ja wirklich, der Himmel wird lichter.
A: Komm, lass uns das Wetter genießen.
Aus Berlin wurde Annalena Müller zur Winterakademie in Münster eingeladen,
während der die beiden Bundessieger ermittelt wurden.
Als Sieger und damit als Teilnehmer an der Internationalen Philosophie-Olympiade
in.
21
Herunterladen