Fachverband Philosophie e.V. Landesverband Berlin mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung Landes- und Bundeswettbewerb im Rahmen der Internationalen Philosophie-Olympiade Philosophischer Essay 2007 Essays der Berliner Landessieger Annalena Müller: Wessen kann ich mir gewiss sein? Anne-Katrin Petzold: Wessen kann ich mir gewiss sein? Sophia Noack: Das Gute durchsetzen oder ein guter Mensch sein? Sophie de Beukelaer: Das Gute durchsetzen oder ein guter Mensch sein? (außer Konkurrenz) Die TeilnehmerInnen am Berliner Landeswettbewerb Bergmann, Susanne (Carl-von-Ossietzky-Gymnasium Beukelaer, Sophie de (Franz. Gymnasium) Bubel, Nele Elisa (Ev. Gymnasium zum Grauen Kloster) Bunk, Oliver (Sartre-Oberschule) Feind, Gina Maria (Sartre-Oberschule) Hickmann, Josephine (Manfred-von-Ardenne-Schule) Hitzke, Christina (Max-Reinhardt-Gymnasium) Hogrebem, Mara (Droste-Hülshoff-Schule) König, Benjamin (Schiller-Gymnasium, Potsdam) Meier, Benjamin (Jean-Paul-Sartre-Gymnasium) Müller, Annalena (Droste-Hülshoff-Schule) Noack, Sophia (Droste-Hülshoff-Schule) Nöhring, Jessica (Droste-Hülshoff-Schule) Petzold, Anne (Max-Reinhard-Gymnasium) Sachs, Constanze (Paulsen-Gymnasium) Schmidt, Fanny (Hannah-Arendt-Gymnasium) Siegel, Juliane (Gauß-Gymnasium) Töpper, Daniel (Max-ReinhardtGymnasium) Wiegand, Lisanne (PaulsenGymnasium) Jury: Prof. Dr. Thomas Schmidt (Humboldt-Unversität zu Berlin), Vorsitzender (rechts bei der Preisverleihung am 11.4.08) Tanja Kunz (Landesvorsitzende des Fachverbandes Philosophie) Manfred Zimmermann (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung) Wolf Eike Gellinek (Droste-Hülshoff-Oberschule) 2 Informationen zum Landes- und Bundeswettbewerb Philosophischer Essay Im Jahr 2005 fand zum 7. Mal ein Landeswettbewerb Philosophischer Essay in NordrheinWestfalen statt (mit ca. 800 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern), und erstmals auch ein Bundeswettbewerb (mit ca. 80 Essays). In Jahr 2007 werden beide Wettbewerbe zum zweiten Mal zusammengelegt und es gibt zum zweiten Mal auch einen Landeswettbewerb in Berlin. Unter den Landessiegern der einzelnen Bundesländer werden die TeilnehmerInnen der Philosophischen Winterakademie ausgewählt, auf der u.a. die Teilnehmer der Internationalen Philosophie-Olympiade bestimmt werden. Wie in den vergangenen Jahren sollten die Lehrkräfte, die ihren gesamten Kurs Essays schreiben lassen, nur die zwei, allenfalls drei besten Essays einsenden, um die Jury zu entlasten. Sollten auch unter den nicht eingesandten Essays welche als hervorragend eingeschätzt werden, so sollten die Lehrkräfte dem Fachverband Philosophie Vorname, Name, Schule, Jahrgangsstufe, betreuende Lehrkraft, Thema nennen; dann bekommen diese Teilnehmer, genau wie alle anderen, bis etwa Mitte Februar eine Urkunde zugesandt, die die Teilnahme bestätigt. Nicht zuletzt wegen der Ausweitung des Wettbewerbs sollen die Urkunden allerdings auf die wirklich überdurchschnittlichen Leistungen beschränkt bleiben. Die Auswertung der eingegangenen Essays wird von der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung und dem Landesverband Berlin des Fachverbandes Philosophie vorgenommen. Aus den 3 Landessiegern aller teilnehmenden Bundesländer werden 25 TeilnehmerInnen für die Philosophische Winterakademie in Münster ausgewählt, die dort vom 12. bis 15. Februar 2008 stattfindet und die von der Bezirksregierung Münster in Kooperation mit der Akademie Franz-Hitze-Haus, der „Josef-Pieper-Stiftung“, der „Stiftung WestfalenInitiative für Eigenverantwortung und Gemeinwohl“ und der Universität Münster durchgeführt wird. Auf der Winterakademie werden erneut Essays geschrieben (auf Englisch oder Französisch), und es werden philosophische Vorträge gehört und diskutiert. 20 Lehrkräfte werden gemeinsam die beiden Schülerinnen bzw. Schüler auswählen, die im Mai 2007 als Vertreter Deutschlands zur XV. Internationalen Philosophie-Olympiade nach Brasow (Rumänien) reisen dürfen; außerdem werden die beiden zum Aufnahmeverfahren der Studienstiftung des deutschen Volkes eingeladen. Teilnahmeberechtigt sind alle Schülerinnen und Schüler, die im laufenden Schulhalbjahr einen Philosophie-Kurs in der Sekundarstufe II besuchen. (Das gilt auch für diejenigen, die schon im Vorjahr an dem Wettbewerb beteiligt waren.) Aufgabe: Die Interessierten bekommen von ihrer Fachlehrerin bzw. ihrem Fachlehrer die folgenden drei Zitate und eine Frage zur Auswahl: I. Ich komme gut damit zurecht, dass ich vergänglich bin und das, was ich schreibe, auch: total vergänglich. Meine Kinder werden einmal weg sein und ihre Enkelkinder auch, mein Hund wird tot sein und die Kinder des Hundes auch. Das macht mir nichts, so gehört es sich ja auch. Aber was mir wirklich Angst macht, ist, dass in Millionen von Jahren die Sonne die Erde schlucken wird. Sie ist so einzigartig! Wozu das alles, wenn die Erde untergehen wird? Die Literatur, die Musik, alle Gebäude, alles weg. Diese Vorstellung macht mir in der Tat große Bange. (Irene Dische, Schriftstellerin, in: Chrismon, Heft 3/2006, S. 29) II. Trotzdem jede Minute daran erinnert, dass wir im Kriege und im Feindesland sind, bin ich immer noch der Ansicht, dass die dritte Kantische Antinomie wichtiger ist, als dieser ganze Weltkrieg, und dass Krieg zur Philosophie sich verhält wie Sinnlichkeit zur Vernunft. („Aus dem Feldpost-Brief eines kriegsfreiwilligen Kanoniers und Studenten der Philosophie“ (Hellmuth Falkenberg) an seinen Philosophieprofessor H. Rickert 1914. Der Brief erschien 1915 in „Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“; Abdruck in SZ, 12./13.Juli 2003.) 3 III. Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden – das ist zweierlei, es schließt sich gegenseitig aus. - Die meisten wollen gute Menschen sein. (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1950) IV. Wessen kann ich mir gewiss sein? Zu einer der vier Vorlagen ist ein Essay zu schreiben. Der Essay soll in einer Arbeitszeit von vier Zeitstunden verfasst werden. Er kann auch als Hausarbeit von einer auf die folgende Philosophiestunde gegeben werden. Es sollte vermieden werden, dass die Schülerinnen und Schüler Facharbeiten abgeben; daher gilt eine Umfangsbeschränkung: Der Essay darf maximal vier Seiten umfassen. (Dabei gehen wir von der Schriftart Times New Roman in Größe 12 aus, drei Zentimeter Rand, einzeilig geschrieben.) Die Essays sollten am besten mit einer Heftklammer versehen sein, nicht in Klarsichtfolie oder gar noch aufwändiger eingereicht werden. Es gilt weiterhin der Beschluss, die kreativen Formen des Essayschreibens (manche Schüler verfassten früher z. B. Theaterszenen oder Textcollagen) nicht zuzulassen. Zwar haben solche Formen eine wertvolle Bedeutung im Unterricht, doch können sie in einem Wettbewerb schwerlich in eine Rangfolge mit analytischen Essays gebracht werden. Zur Frage, ob Lehrkräfte inhaltliche, methodische oder redaktionelle Hilfestellung leisten dürfen: Jede allgemeine Beratung ist erwünscht: Wie erschließe ich ein Thema? Wie kann man einen Essay aufbauen? Aber konkrete (auf eine Wettbewerbsaufgabe bezogene) inhaltliche und sprachliche Verbesserungsvorschläge müssen aus Fairnessgründen unterbleiben. (Bei einem Probeessay zu einem ganz anderen Thema wäre die detaillierte Beratung natürlich nützlich.) Der Essay kann als Vorübung für eine mögliche Teilnahme an der Winterakademie und der Internationalen Philosophie-Olympiade auch in Englisch oder Französisch verfasst werden. Die Benutzung eines Wörterbuchs (auch zweisprachig) ist erlaubt. (Erfahrungsgemäß bereitet es den Schülerinnen und Schülern weniger Mühe als erwartet, ihren Aufsatz in einer Fremdsprache zu schreiben. Gegenüber sprachlichen Fehlern ist die Jury großzügig.) Der ausgedruckte Text soll als Brief bis 6. Dezember eingesandt werden. Im Kopf sollten der Name der Verfasserin bzw. des Verfassers, die Jahrgangsstufe, der Name der zuständigen Lehrkraft, die Schul- und Privatadresse (möglichst mit e-mail bzw. Telefon) angegeben werden; so können die Teilnehmer der Winterakademie schneller verständigt werden. Die Essays sollen zum einen in ausgedruckter Form und möglichst auch als Datei an die Landesvorsitzende des Fachverbandes Philosophie, Tanja Kunz, Strassmannstr. 21, 10249 Berlin, e-mail [email protected] werden. Kriterien der Bewertung sind: Konzentration (Fokussierung) auf das Thema, Kohärenz (innere Stimmigkeit) der Arbeit, argumentative Überzeugungskraft, Philosophie-Kenntnisse (aber nicht isolierte Wissenswiedergabe) und Originalität. Alle Teilnehmer sollten sich eine Kopie ihres Essays machen, da die eingereichten Arbeiten nicht zurückgesandt werden. Wir gehen davon aus, dass wir, wenn nichts anderes auf dem Essay vermerkt ist, eingereichte Essays veröffentlichen dürfen, insbesondere im Internet, wo Sie unter der genannten Adresse eine Reihe von beispielhaften Arbeiten einsehen können. Zur Internationalen Philosophie-Olympiade Es gibt in verschiedenen Fächern (Mathematik, Physik, Russisch, Latein) seit Jahren fest etablierte Wettbewerbe für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II. 1989 rief die Philosophische Fakultät der Universität Sofia eine Philosophie-Olympiade als nationalen Wettbewerb ins Leben. Seit 1993 ist der Wettbewerb international; es beteiligen sich bisher neben den Bulgaren Vertreter aus Rumänien, der Türkei, Polen, Ungarn, der Ukraine, Slowenien, Litauen, den USA, Argentinien, Uruguay, Chile, Paraguay, Kolumbien, Venezuela, Italien, Bangladesh, Zimbabwe, Finnland, Japan, Südkorea, Russland, Estland, Nor- 4 wegen, Israel, Österreich, Schweiz, Griechenland und eine deutsche Delegation mit jeweils zwei Schülerinnen oder Schülern. Das veranstaltende Land kann zehn Teilnehmer melden. Die Reisekosten tragen die Teilnehmer (oder deren Sponsoren), die Aufenthaltskosten trägt der jeweilige Veranstalter. Die Internationale Philosophie-Olympiade lässt die Teilnehmer erfahren, wie sehr die Völker der teilnehmenden Länder, weit über die Grenzen der EU hinaus, durch die gemeinsame Kultur verbunden sind. Alle Teilnehmer der internationalen Olympiade müssen ihren Essay in einer Fremdsprache verfassen. Fragen zur Form des Essays: - Was ist überhaupt ein Essay? Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Aufsatz und einer Facharbeit ist ein Essay kürzer und formal freier. Er kann durchaus subjektiv sein und (Denk-) Anstoß erregen. - Welche Ansprüche werden an einen philosophischen Essay gestellt? Das Wichtigste an Ihrer Arbeit ist, dass Sie mit klaren Begriffen eine klare These zum vorgegebenen Zitat aufstellen. Von dieser These sollten Sie die Leser Ihres Essays v. a. mit Argumenten - überzeugen. - Mit Beispielen können Sie für Anschaulichkeit sorgen. Alternativpositionen sollten Sie gleichfalls eindeutig bestimmen; Sie dürfen sie aber dann auch polemisch angreifen. Wenn Sie die Positionen von Philosophen wiedergeben, dann sollen sich diese Gedanken in Ihren Argumentationsgang einfügen; eine funktionslose Ausbreitung von Wissen mindert den Wert des Essays. - Muss ich mich genau an das Thema des vorgegebenen Zitats halten? Ja. Aber Sie können die Fragestellung einengen oder akzentuieren; erläutern Sie das bitte in der Einleitung. Vermeiden Sie es, Wissen auszubreiten, das sich nicht auf das Thema bezieht. Für weitere Auskünfte stehen zur Verfügung: Tanja Kunz (Landesvorsitzende des Fachverbandes Philosophie e.V.), Tel. 26 30 09 55, e-mail: [email protected] Manfred Zimmermann (Fachreferent für Philosophie, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Tel. 9026 6069, e-mail: [email protected] Dr. Bernd Rolf (Bundesvorsitzender des Fachverbandes Philosophie e.V.), Tel. 02832-7392, e-mail: [email protected]. 5 Annalena Müller: Wessen kann ich mir gewiss sein? „Wer stellt sich solche Fragen? Was ich weiß, das weiß ich eben und damit ist es gut!“. So würden wohl viele Menschen auf diese Frage reagieren und ein Philosoph würde ihnen antworten: „Ich! So, wie schon Platon und Kant über das Erlangen von Erkenntnis philosophierten, so werde auch ich es ihnen gleich tun.“. Ich kann alles wissen, wenn ich meinen Verstand benutze! Diese These gilt es nun zu unterstützen bzw. zu widerlegen. Die Tatsache, dass die Sinne unabhängig vom Verstand, allein durch die bloße Wahrnehmung, zur Erkenntnis führen, dass das Abbild eines Objekts, welches in mir „drin“ ist, wahr ist und einfach vorhanden ist (Naiver Realismus), beschreibt keine Tatsache, sondern eine kindliche naive Position gegenüber dem Erkenntnisbegriff. Denn woher soll ich wissen, dass es ein Auto ist, was ich höre und sehe, wenn etwas brummt, sich bewegt und metallisch aussieht? Anhand dieser Wahrnehmungen könnte es jedes Fahrzeug sein, doch ohne jegliches Vorwissen, jegliche Erfahrung und Zuordnung in mir selbst, kann ich nicht einmal erkennen bzw. wissen, dass es ein Fahrzeug ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass Kinder, die noch eine relativ naive Weltanschauung besitzen, so viele Fragen stellen: „Was ist das?“, „Warum ist das so?“ etc., damit zeigt sich deutlich, dass wir eben nicht von vorneherein wissen können, wie ein bestimmtes Objekt beschaffen ist, da dieser Begriff nicht in uns „abgespeichert“ ist. Schließlich wird ein Kind nicht geboren und besitzt nicht mit einem Tag schon für jedes Objekt, jeden Gegenstand, eine Idee (Platon - Ideenlehre) in sich. Doch ist diese idealistische Erkenntnisauffassung schon fortschrittlicher zu betrachten als die rein naive Auffassung, da die Abbilder aller Objekte nicht einfach in uns „drin“ sind, sondern Ideen, d.h. immaterielle, ewige und unveränderliche geistige Strukturen. Somit ermöglicht die Idee des Schönen z. B. die Erkenntnis darüber, was das Schöne in sich trägt, also was schön ist. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass jedes Lebewesen das gleiche Gesicht schön findet, sondern dass alle Objekte die Idee des Schönen in sich tragen, sobald jemand diese schön findet. Das schöne Gesicht wäre demnach den Dingen zuzuordnen, da es veränderbar, individuell und vergänglich ist, durch die Sinne wahrgenommen wird, es kann werden und ist somit nicht. Eine Idee hingegen, z. B. das Schöne, ist nicht veränderbar, für jeden Menschen gleich und nur durch den Verstand erkennbar. Damit ein Pferd und eine Maus trotz ihrer unterschiedlichen Gestalt als ein Tier erkannt werden können, muss es eine Idee, einen Grundbegriff des Tiers geben (Platonische 1deenlehre). Der Verstand spielt schon jetzt eine wichtige Rolle, doch woher kommen diese Ideen? Wer hat festgelegt, dass es die Idee des Guten, Bösen, Schönen etc. gibt? Der Verstand spielt tatsächlich eine sehr wichtige, große Rolle, doch ein Mensch wird nicht mit einem Grundwissen von Ideen geboren und außerdem müssen ja bestimmte Kriterien erfüllt werden, nach denen ein Objekt geordnet werden kann. Doch kann erst zugeordnet werden, wenn eine bestimmte Erfahrung im Bezug zu bestimmten Objekten besteht. Diese Erfahrung kann durch Wiederholungen eines bestimmten Ereignisses oder einer gewissen Tiefe eines Ereignisses entstehen. Bei- 6 spiel: Da Kinder noch nicht so viele Erfahrungen gemacht haben können wie ein Erwachsener, ist auch der Wissensstand niedriger. Das bedeutet, dass ein Mensch, der Zeit seines Lebens Erfahrungen mit Ampeln gemacht hat, weiß, dass eine rote Ampel die Warnung gibt, nicht über die Straße zu laufen, da noch Autos fahren, die wiederum Grün haben, was bedeutet, sie können fahren. Ein Kind muss dies jedoch erst lernen, indem es erfährt, was die unterschiedlichen Farben bedeuten. Doch braucht der Prozess hin zur Erkenntnis einige Wiederholungen, damit sich Urteile bilden können. Das Kind muss erst abwägen, was die Farben einer Ampel bedeuten. Über diesen Prozess denken viele gar nicht nach, sondern nehmen an, sie wüssten solche Dinge einfach, sobald man es ihnen sagt. Allerdings kann Erfahrung auch durch die gewisse Tiefe eines Ereignisses bestehen, durch ein Erlebnis. An einem Beispiel: Würde das Kind, welches die Bedeutung der Farben einer Ampel noch nicht verinnerlicht hat, obwohl man dies dem Kind einmalig erzählt hat, nun ohne Bedenken über eine rote Ampel laufen und ein Auto würde es anfahren, dann wäre das mit Sicherheit ein „Erlebnis“ für das Kind. Diese Erlebnis bildet aufgrund seiner Tiefe (z. B. Krankenhausaufenthalt des Kindes) die Erfahrung, somit das Wissen über bestimmte Dinge (Zweck einer Ampel). Dadurch, dass etwas wiederholt oder in dessen Tiefe zur Erfahrung und letztendlich zur Erkenntnis führt, beruht darauf, dass sich durch die Erfahrung Urteile über verschiedene Ereignisse bilden, die durch die Sinne wahrgenommen werden und anschließend vom Verstand reflektiert werden und mit schon vorhandenen Ereignissen bzw. den dadurch gebildeten Kategorien vergleicht (Empirismus). Diese Ansicht würde zwar bedeuten, dass der Mensch mittels seines Verstandes im Inneren Kategorien bildet, die durch unbewusst ablaufende Erfahrungen entstanden sind und denen jedes neue Ereignis zugeordnet werden kann, dass demnach geprüft wird, ob Sachen ähnlich sind in Bezug auf vorherige Ereignisse oder nicht, dass er jedoch apriorische Erfahrungen ausschließt. Natürlich kann Erkenntnis durch die Vereinigung von Sinnen und Verstand gebildet werden, dennoch muss dies nicht zweifelsohne auf Erfahrung beruhen, somit können Erkenntnisse auch der Erfahrung voraus gehen - apriorische Erfahrungen. Apriorische Erfahrungen bilden also aus logischen Grundkenntnissen geschlossene Erkenntnisse. Einzig und allein die logische Denkweise unter Benutzung des Verstandes reicht aus, um die These aufstellen zu können, dass alles, was durch Logik erklärbar ist, auch wirkliches Wissen hervorruft, denn wenn es keine Gegenthese dazu gibt, weil nun einmal alles logisch nachweisbar ist, ist Wissen vorhanden. Ich kann mir also bestimmter Dinge deswegen gewiss sein, wenn ich bestimmte Grundkenntnisse der Mathematik verinnerlicht habe und nun logische Schlussfolgerungen mit Hilfe meines Verstandes ziehe. Es reicht also nicht aus, z. B. verschiedene Gebäude gesehen zu haben, sie somit erfahren zu haben, sondern es muss sich apriorisch eine Raumvorstellung gebildet haben, die in jedem Fall bei allen Menschen gleich vertreten ist, mathematischen Ursprungs ist und nicht etwa bei jedem Menschen, durch Erfahrungen, anders vorherrschen kann. Anders ist dies wie gesagt im Bezug auf die Erkenntnis, die durch Erfahrungen entsteht, diese kann für jeden Menschen unterschiedlich sein, da diese Erfahrungen von dem Menschen selbst gemacht werden und nicht genau so ablaufen wie bei einem anderen Menschen. Die Wissenschaft erzeugt also Wissen durch Logik, da allerdings dieser Logik nichts entgegensteht, sie sich nur ständig weiterentwickelt, so wie die Erkenntnis auch. Außerdem ist sie nicht wie die Erfahrung durch Handlungen geprägt, sondern eben nur durch die Logik und kann somit weiter vermittelt werden. Ich kann mir also keiner Dinge gewiss sein, die auf Erfahrung anderer Menschen beruhen, da mein Verstand dieses Ereignis nicht zuordnen könnte. Ich kann mir demnach nur der Dinge gewiss sein, durch die mein Verstand Urteile bildet und somit Kategorien bzw. Ordnungsprinzipien entstehen lässt. Nun kann ich mir allerdings auch dessen gewiss sein, dass die Seele unsterblich ist (Kant - „Kritik der reinen Vernunft“), obwohl ich dies nicht wissenschaftlich belegen kann und es auch nicht allgemeingültig ist, wie die Mathematik, weil sie für alle 7 Menschen nachvollziehbar ist. Die Seele ist kein Objekt, kein Raum, sondern eine Vorstellung des Menschen. Kinder versuchen sich oft Gott bildlich vorzustellen und malen einen großen bärtigen Mann auf einer Wolke, auch wenn sie diesen nie gesehen haben. Ebenso wenig können wir beweisen, dass die Seele unsterblich ist, aber durch eine Konstruktion in der inneren Vorstellungswelt wird die Seele unsterblich, unser Verstand argumentiert mit Logik. Warum sollte die Seele sterben, wenn doch der Mensch biologisch gesehen dann tot ist, wenn das Herz nicht mehr schlägt? Da niemand beweisen kann, dass dann auch die Seele eines Menschen stirbt und es logisch ist, dass diese nicht stirbt, da die Seele nichts Körperliches bzw. Biologisches ist, sie also nicht aufhört zu funktionieren, kann man sagen die Seele ist unsterblich. Solche weit über die Erfahrungen hinausgehenden Urteile, die nicht durch die Wissenschaft erklärbar sind, jedoch trotzdem logisch erscheinen, müssen nicht allgemeingültig sein. Nur weil mir mein Verstand sagt, dass der Urknall nicht allein ausreicht, um Leben auf der Erde entstehen zu lassen, weil ich deswegen glaube, es habe jemanden gegeben, der sie erschuf, heißt das nicht, dass alle Menschen diese Vorstellung teilen. Dass da noch etwas anderes außer dem Urknall sein muss, das ist klar und logisch, die Gründe dafür jedoch wurzeln in jeder Vorstellung unterschiedlich und sind somit subjektiv zu sehen. Die bildliche Vorstellung von etwas ist demnach auch apriorisch, da keine Anschauung möglich ist, wie z. B. bei der Seele. Ich kann mir diese zwar bildlich vorstellen, jedoch nicht erfahren und trotzdem bringt mich die Vorstellungskraft zu der Erkenntnis, was eine Seele ist. Anhand logischer Schlussfolgerungen kann man ausschließen, dass die Seele ein Gegenstand ist, somit muss sie etwas Höheres sein, eine Vorstellung. Viele Vorstellungen bilden sich auch durch den Glauben, durch die Religion. Im Bezug darauf ist es allerdings schwer zu sagen, ob sie durch Geistliche beeinflusst wurde oder ob der Gläubige sich selbst eine bildliche Vorstellung von gewissen Dingen gemacht hat. In frühen Zeiten, als die Wissenschaft noch so gut wie gar nicht fortgeschritten war, hat man versucht, sich alle Dinge durch die Religion zu erklären und stützte sich auf die These: Gott weiß, was wahr ist, und er wird es mir zeigen. Somit wird Gott als derjenige gesehen, der die Erkenntnis über Alles besitzt, ein religiöser Mensch besitzt demzufolge diese Erkenntnis auch, wenn er nach den Prinzipien lebt, die Gott vorgibt. Außerdem könne ein religiöser Mensch nicht durch den Verstand, sondern durch den Geist zur Erkenntnis kommen. Nicht der sinnlichen Wahrnehmung wegen können wir uns der Dinge gewiss sein, sondern wegen der Prüfungen des Geistes auf dem Grund der Dinge, welcher von Gott festgelegt wurde. Geist und Verstand sind sich recht ähnlich, nur dass sich die Religion auf den Geist, der von Gott geschaffen wurde, bezieht, der Verstand hingegen für alle Menschen durch Logik charakterisiert wird. Ein Geistlicher würde nicht behaupten, seine Erkenntnis entstehe durch den Gebrauch des Verstandes, der Logik wegen, sondern er würde das Erlangen von Wissen Gott zuschreiben, welcher ihm die Erkenntnisse über die Welt mitzuteilen begann, als er ihm das Leben schenkte. Alle Erkenntnis erlangt ein religiöser Mensch durch die von Gott eingeborenen Ideen in das Bewusstsein. Demnach könnte man auch behaupten, dass ich mir all dessen gewiss sein kann, was ich bewusst tue. Ich weiß, dass ich Fahrrad fahre, da ich es bewusst tue. Ich wüsste hingegen nicht, dass ich jemanden mit Worten verletzte, wenn dies unterbewusst abläuft, ich gar nicht die Absicht habe dies zu tun, und bemerke dies erst, sobald mich jemand darauf hinweist. Denn dann erst „schalte ich meinen Verstand ein“ und denke darüber nach, reflektiere diese Szene. Erst dann weiß ich wirklich, dass ich verletzt habe. Ich kann mir demnach aller Dinge bewusst sein, doch benötige ich hierfür meinen Verstand. Dieser bildet die wichtige Grundlage zur Erkenntnis. Nun stellt sich mir die Frage, ob ich mir der Gefühle gewiss sein kann? Gefühle gehen ja schließlich nicht aus dem Verständnis hervor. Kann ich z. B. die Liebe, in welcher Form auch immer, mit dem Verstand erfassen? Woher weiß ich, ob ich lie- 8 be? Dies ist wohl der einzige Punkt, an dem der Verstand sich fast „ausschaltet“. Liebe sollte ein Gefühl bleiben, sobald sich der Verstand „einschaltet“, wird viel zu viel gefragt, nicht gefühlt: Warum hat er mich hintergangen, wir lieben uns doch, oder? Was soll ich denn jetzt machen, ich weiß nicht, wen ich mehr liebe?! Ist das wahre Liebe oder nur eine einmalige Sache? Meint er es ernst mit mir? Ist unsere Liebe zur Gewohnheit geworden? Im Bezug auf Gefühle wird einem der bloße Verstand nicht wirklich weiterhelfen, wenn man sich nicht im Klaren darüber ist, was dieses Gefühl bedeutet, schließlich sind Gefühle nicht logisch, sie können höchstens verdrängt werden oder sie werden zur Einbildung. Nehmen wir an, ein Paar trennt sich nach zwei Wochen, da beide gemerkt haben, dass keine Liebe mehr vorhanden ist bzw. sich gar nicht erst ausgebildet hat. Wissen oder fühlen sie das? Sie haben es doch anscheinend beide erkannt, dennoch gefühlt. Daraus resultiert, dass Liebe gefühlt wird oder nicht und sich daraus die Erkenntnis bildet, was Liebe ist. Aber ist Liebe nicht immer anders? Es bildet sich also nicht eine allgemeine Definition von Liebe aus, sondern nur für diese eine Person. Der nächste Partner, welcher dann wohl möglich die große Liebe ist, wird vielleicht als eine weitere Erfahrung mit dem vorherigen Partner (auch Erfahrung) verglichen, jedoch wird dadurch nur deutlich, dass bei dem jetzigen Partner Liebe vorhanden ist im Gegensatz zum vorherigen. Der Gefühle kann man sich demnach nicht wirklich gewiss sein, allerdings bilden auch Gefühle durch verschiedene Erfahrungen Kategorien aus und der Verstand versucht dann zuzuordnen. Das ist ein wohl unlösbares Problem, dass sich viele, eigentlich fast alle Menschen, nicht nur auf das Gefühl konzentrieren können und immer den Verstand „einschalten“. Optimal wäre es wohl, Verstand und Gefühl gleichzusetzen, um zu erkennen, wann z. B. Liebe zulässig sein soll, wann nicht. Dieses Zusammenspiel von Gefühlen und Verstand ist sehr kompliziert, deswegen wird wohl niemals ein optimales Verhältnis zustande kommen. Festzustellen ist allerdings nach diesem kleinen Exkurs, dass der Verstand selbst in der Gefühlswelt nicht fehlen darf. Es stellt sich nun noch einmal die Frage: Wessen kann ich mir gewiss sein? im Bezug auf die These: Ich kann alles wissen, wenn ich meinen Verstand benutze! Im Verlaufe dieses Essays ist deutlich geworden, dass sich die These bestätigt hat, da man nicht allein durch sinnliche Wahrnehmung wissen kann. Der Verstand kann sowohl unabhängig von Erfahrungen (a priori) sowie auch abhängig von Erfahrungen (a posteriori) zur Erkenntnis führen, Erfahrungen sind jedoch nicht allgemein gültig, die Logik, z. B. durch die Mathematik, hingegen schon. All dieser Dinge kann ich mir gewiss sein, indem ich den Verstand benutze. Selbst Gefühle sind vom Verstand abhängig und rufen somit eine gewisse Erkenntnis hervor. Bezieht man sich jedoch auf die Religion, ist der starke Glaube und die Beziehung zu Gott der Weg zur Erkenntnis. Jedoch ist es auch möglich gläubig zu sein und trotzdem Erkenntnis aus dem Verstand zu gewinnen. Die einzige Bedingung dafür, sich aller Dinge gewiss sein zu können, ist somit die Verwendung des Verstandes, welcher in verschiedenen Situationen zur Erkenntnis führt. Im Anschluss würde sich wohl die Frage stellen: Wessen MUSS ich mir gewiss sein?, doch dies bleibt als Anstoß für ein weiteres philosophisches Essay offen stehen. Ich versichere, dass ich die Arbeit selbstständig verfasst habe und keine anderen als die angegebenen Quellen benutzt habe und alle Entlehnungen als solche gekennzeichnet habe. Da im Original aus Versehen Korrekturzeichen angebracht wurden, senden wir eine Kopie ein. Im Original befindet sich die Unterschrift von Frau Müller. 9 Anne-Katrin Petzold: Wessen kann ich mir gewiss sein? Über etwas Gewissheit zu erlangen, bedeutet nichts anderes, als etwas auf der höchsten Stufe für wahr zu halten und einen Sachverhalt für gegeben anzuerkennen. Im Alltag spricht man häufig davon, dass man Gewissheit über ein bestimmtes Thema bekommen muss, bevor die Unterhaltung fortgesetzt werden kann. Doch ist diese Gewissheit wirklich so leicht zu erlangen? Und hat man es dann endlich geschafft, sie zu erreichen, weshalb kann ich mir dann gewiss sein, dass es so stimmt, wie ich es denke? Gibt es eigentlich irgendetwas, wessen ich mir definitiv gewiss sein kann? Meiner Ansicht nach gibt es nur wenige Dinge, über die man unangefochten sagen kann, dass sie nicht änderbar und dementsprechend so hinzunehmen sind, wie sie bestehen. Den Anfang meiner Erläuterungen macht hier das Ende, denn es ist eins der Dinge, die gewiss sind. Mit dem Ende können vielerlei Dinge gemeint sein, vom Ende eines Buches oder Films, einer Schulstunde, das Ende einer Freundschaft oder einfach nur das absolute Ende, der Tod. Zusammengefasst kann man „Ende“ als „Aufhören, zu existieren“ bezeichnen. Der griechische Naturphilosoph Demokrit würde mir in dieser Angelegenheit widersprechen, denn er war der Meinung, dass alles aus kleinen Bausteinen zusammengesetzt wäre 1. Hört etwas auf, in seiner derzeitigen Form zu existieren, so löst es sich in seine Teile und setzt sich mit anderen zu etwas Neuem zusammen. Somit wäre es nach Demokrit durchaus denkbar, dass die Blume, die wir auf unserem Tisch zu stehen haben, zu Teilen früher als Känguru existierte. Eine Verdeutlichung dessen, was Demokrit gemeint haben könnte, wäre unser Staub, der sich bekanntlich aus winzigsten Kleinteilen zusammensetzt. So kam es vor, dass eine Staubprobe in Skandinavien Sand aus der Afrikanischen Wüste beinhaltete, er ist also um Kilometer gewandert, um so etwas anderem, nämlich Staub, zu werden. Kann man aber von einem Ende im Sinne des Nicht-Existierens sprechen, wenn die Teile in etwas anderem weiterleben? Es existiert immerhin weiter, nur nicht mehr in seiner ursprünglichen Form, wobei es ungewiss ist, welche Form seine erste war. Man kann sich also gewiss sein, dass man die ursprüngliche Form eines Gegenstandes oder Lebewesens nie in Erfahrung bringen wird. Aber man kann über seine eigene Existenz nachdenken. Existenz: Existieren wir wirklich oder sind wir nur die Ausgeburt einer blühenden Fantasie? Sind wir die Schöpfer oder die Geschöpfe? Ist die Welt um uns herum wirklich so, wie wir sie als Individuum wahrnehmen? All das sind weitere Ungewissheiten. Nehmen wir einmal an, wir wären Figuren in einem Roman. Wären wir uns dessen bewusst? Oder fühlen wir, dass wir nur ein Produkt der Vorstellungskraft eines anderen sind? Aber woher wissen wir als Mensch, dass wir nicht doch eben diese Figuren sein könnten, gelenkt von einer höheren Instanz. Diese höhere Instanz könnte man als Gott oder Fantasie eines Autors darstellen. Ein gutes Beispiel hierfür wäre der Roman „Sofies Welt“ von Jostein Gaarder, in dem die Protagonistin Sofie Amundsen nach einem speziellen Philosophieunterricht erfährt, dass sie gar nicht als Lebewesen existiert, sondern nur eine simple Romanfigur ist. Und so, wie Sofie die Philosophie als Schlüssel zur Erkenntnis der Nichtexistenz genutzt hat, haben auch schon diverse Denker versucht, eben diese zu erläutern. Für sie war es die Vernunft, die uns angeblich vorgab, dass es einen Gott geben müsse, da wir eine Vorstellung eines vollkommenen Wesens haben. Kant hingegen war der Ansicht, dass weder Vernunft noch Erfahrung dazu beitragen, dass es einen Gott gibt. Sartre wiederum meinte, dass „die Essenz der Existenz vorausgeht“, was in etwa bedeutet, dass es zwar keinen Gott, aber dennoch irgendetwas gibt, dass vor der eigent1 Quelle: Sofies Welt, Jostein Gaarder, dtv 2005 10 lichen Existenz bestand. Friedrich Nietzsche hingegen war der schlichten Überzeugung, dass „Gott tot ist“. Wenn schon bei einem Wesen wie Gott so heiß spekuliert wird, ob es ihn überhaupt geben könnte, woher können wir dann mit Gewissheit sagen, dass es uns gibt? So wie Sofie dachte auch ich früher, dass ich nur eine Romanfigur wäre, da mir das Leben an sich als zu komplex erschien, als dass es Realität sein könnte. Ich habe mir dann immer vorgestellt, wie sich irgendjemand Gedanken darüber macht, was meine nächste Tat sein könnte, was ich sagen werde und wie ich selbst zu denken habe. Demzufolge habe ich überlegt, wer dieser jemand wohl sein könnte, ob ich ihn kenne und ob er auch die anderen Menschen beziehungsweise Lebewesen in ihren Taten steuert. Leider konnte mir bis heute noch niemand das Gegenteil beweisen ob ich nun wirklich existiere oder nicht, hängt wohl vom Blickwinkel ab. Ich könnte mich damit zufrieden geben, dass ich als „lebende“ Person scheinbar dazu in der Lage bin, frei zu denken und zu handeln. Ebenso könnte ich damit zufrieden sein, dass ich zumindest das Gefühl habe, für die Geschehnisse um mich herum selbst verantwortlich zu sein. Aber andererseits ist es auch ein schöner Gedanke, zu sagen, dass es gar nicht an mir liegen könnte, wenn etwas schief geht, sondern vielmehr an denjenigen, der mich und mein Leben steuert. Doch denke ich so weit, dann stellt sich die Frage: Wer steuert mich? Gott schließe ich in diesem Falle aus, denn für mich ist er nur eine Hilfe zum Verständnis der Menschen über ihre Existenz. Sie haben versucht, es sich leicht zu machen, indem sie einen Gott erfanden, der die Welt und alles auf ihr - somit auch die Menschen – erschuf. Dieser Gedanke lässt ein Zweifeln an der eigenen Existenz nicht zu, denn solange man an Gott glaubt, ist man sich sicher, als sein Geschöpf zu existieren. Wenn ich eine Romanfigur wäre, dann würde ich in gewisser Weise existieren. Ich wäre zwar nur im Bewusstsein meines Autors vorhanden und eventuell auch in dem der Menschen, die den Roman über mich lesen. Doch immerhin bin ich da. Denn wie Shakespeare schon sagte „Sein oder Nichtsein“ ist hier nicht die ganze Frage, sondern vielmehr, was wir sind. Meine Fähigkeiten, mich zu artikulieren, zu denken und zu handeln sind ein Beweis dafür, dass ich bin, aber noch nicht, was ich bin. Einige sagen, dass die Fähigkeit des Denkens ein Beleg dafür sei, dass man ein Mensch ist. Aber unabhängig davon, ob ich nun Realität oder Fiktion bin, kann ich sagen, dass es in Büchern, den so genannten Fabeln, auch Tiere, Pflanzen und Gegenstände gibt, die sprechen und somit denken können. Vielleicht ist das in meiner Welt nicht möglich, weil mein Autor es bevorzugt, nur Menschen reden zu lassen, um dem anhaltenden Idealbild der Realität näher zu kommen, damit ich das Gefühl habe, wirklich zu sein. Irgendetwas muss mich doch dazu bemächtigen, mit meinem Haustier zu reden. Viele Besitzer eines Tieres sagen, dass ihr Tier intelligent ist und versteht, was sein Besitzer sagt. Doch hat verstehen nicht etwas mit denken zu tun? Somit ist klar, dass es nicht Beweis genug ist, zu sagen, dass ich ein Mensch bin, da ich denken kann, und folglich existiere. Solange ich denken kann und die Tatsache, dass ich das hier schreibe, spricht stark dafür- bin ich, also lebe ich. Doch als was existiere ich, bin ich nur Bewusstsein oder Realität? Ist die Welt, in der ich glaube zu leben, wirklich so, wie ich sie wahrnehme? Als Bestandteil eines Bewusstseins wird diese Welt mit ziemlicher Sicherheit wirklich so sein, wie ich sie sehe, denn mein Schöpfer wird mich die Welt nicht anders aufnehmen lassen. Aber sehen alle anderen die Welt genauso wie ich? Nehmen alle die Farben so auf, wie ich sie erkenne? Es gibt eine Krankheit, bei der die Betroffenen rot und grün nicht unterscheiden können, Farbenblindheit genannt. Ist diese Erkrankung vielleicht nur ein schlechter Scherz meines Autors, um die Erkrankten von der Masse abzugrenzen, sie anders zu machen? Doch würde er dies tun, dann nur zum Zwecke meiner Belustigung. Ich bin seine Protagonistin, denn durch mich artikuliert er sich, seine 11 Gedanken bestimmen meine. Er will mir auf diese Art und Weise verdeutlichen, dass nicht alle Menschen gleich sind und ich meine gesunden Augen nicht als selbstverständlich hinnehmen soll. In gewisser Weise wäre er also ein Mentor für mich, der mich nicht nur durch das Leben, sondern auch mein Leben leitet. Als Mensch wäre ich also nicht frei, meine Handlungen sind vorbestimmt und einschätzbar, mein Leben wäre geplant und hängt nicht von Zufällen ab. Als Kind hat mir diese Vorstellung gefallen, dass mein Leben unabhängig von meinen „eigenen“ Entscheidungen ist, dass meine Taten, mögen sie noch sie schlimm sein, keine negativen Auswirkungen auf das haben, was schon jemand für mich vorgesehen hatte. Es war schön, Gewissheit zu haben, dass das Leben geplant ist und einer festen Struktur nachgeht. Doch nun, als Erwachsene, denke ich, dass so ein Leben eine starke Eingrenzung meiner Freiheit wäre, denn mein Handeln käme nicht durch von mir gegebene Impulse, meine Intelligenz wäre auch nur das Spiegelbild der Intelligenz meines Autors und die Personen um mich herum wären auch nur Hirngespinste, die vielleicht in der realen Welt des Autors leben und mich nur in meiner Welt begleiten, damit ich nicht einsam bin. Gäbe es eine Möglichkeit, dieser fiktiven Welt zu entfliehen, so würde ich sie wahrnehmen. Doch ich kann mir gewiss sein, solange ich nur als Fantasie existiere, wird es mir nie gelingen, aus dem Bewusstsein des Autors zu entfliehen, denn das ist meine Welt, mein Gefängnis. Aber angenommen, mein Autor steuert wirklich nur mich, wer oder was steuert dann meine Mitmenschen? Sind sie wirklich nur Spiegelbilder der eigentlichen Realität oder ist unsere Welt das Produkt vieler Autoren, die ihre Geisteswelten zu einer vereinigt haben, in der jeder Autor eine Figur beherrscht? Wie aber könnte man sich als Geschöpf dann deren Welt vorstellen, ist sie vergleichbar mit unserer oder doch eher ein Idealbild, wie eine Welt sein sollte? All diese Fragen sind ungewiss, solange man keine Gewissheit darüber hat, ob man eine gesteuerte Figur im Kopfe eines Schreibers ist und somit nur ein Geschöpf. Dem ungeachtet könnte man sagen, wir seien die Schöpfer, wir schreiben die Geschichten, die Romane, die Gedichte. In unseren Köpfen existieren die Figuren, wir steuern sie, wir sind frei und handeln aus eigenen Impulsen. Vielleicht schreibe ich irgendwann eine Geschichte über ein Mädchen, das sich Gedanken darüber macht, ob es wirklich existiert oder nur gesteuert wird, aber dann letztlich doch zu dem Entschluss kommt, dass sie existieren muss, da sie in der Lage war, über ihre Existenz nachzudenken. Doch ich als ihre Autorin weiß, dass sie nur in meinen Gedanken existiert, nie aber in einer wirklichen Welt. Ich kann mir darüber gewiss sein, dass dieses Mädchen als Produkt meiner Fantasie nie dazu fähig sein wird, mit den Menschen aus meiner Welt Kontakt aufzunehmen, es sei denn, ich will es so. Ihr Leben ist ohne Einschränkungen von meinem Handeln abhängig. Aber sie würde es nie erfahren, es sei denn, ich würde ihr auf irgendeiner Art und Weise die Gewissheit geben, dass sie nur meine Fantasie ist. Doch genauso könnte ich sie denken lassen, sie wäre die Schöpferin, sie könnte eine Geschichte schreiben und über die dort vorkommenden Figuren bestimmen, dabei bin immer noch ich diejenige, die alles leitet. Nur das Mädchen weiß es nicht. Und wer sagt, dass es bei mir anders ist? Vielleicht veranlasst mein Autor mich dazu, alles zu schreiben und gibt mir den Gedanken, über die Dinge eine gewisse Macht zu haben, ohne zu ahnen, dass eigentlich er sie hat. Doch ich kann mir gewiss sein, dass ich über meinen Autor, wenn es ihn denn gibt, nie Gewissheit erlangen werde, es sei denn, er würde es so wollen. Man wird nie mit Gewissheit sagen können, ob wir frei oder von einer höheren Instanz gesteuert sind, alle Versuche, etwas Derartiges zu beweisen, laufen nur auf Spekulation hin. 12 Sophia Noack: Thema III. „Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei, es schließt sich gegenseitig aus. - die meisten wollen gute Menschen sein.“ (Max Frisch, Tagebuch 1946 1949) Nach Platon ist die Idee des Guten die Idee der Ideen, von der alle anderen Ideen ihre Existenz hätten. Das Gute sei Ursache und Endzweck der Welt. Nach Hobbes ist das Gute für jeden die Selbsterhaltung, und Leibnitz sah das metaphysisch Gute in der Vollkommenheit der Dinge. Das „Gute“ wird also sehr unterschiedlich ausgelegt. Sein Wesen behauptet kaum jemand, allumfassend definieren zu können bzw. gefunden zu haben. Ein Element des Guten scheint sich jedoch aus allem herauszukristallisieren, nämlich seine Unentbehrlichkeit für den Menschen. In allen Lebensbereichen herrscht das Gute. Es wertet das Leben auf. Es ist sozusagen das Elixier unser aller Existenz und bedarf eines sehr achtsamen Umgangs und ist letztendlich in allem enthalten, für das die Menschen zu kämpfen bereit waren. Der Mensch setzte sein Leben für die Freiheit und für die Demokratie ein und kämpfte gegen Unterdrückung, Ungleichheit oder Willkür. Er schuf zahlreiche Modelle, die das Zusammenleben der Menschen unter bestimmten Werten ermöglichen sollte. Überall war der Gedanke des Guten entscheidender Antrieb. Die Zivilisation, der Anfang höheren menschlichen Zusammenlebens, schuf also mitunter der Gemeinwille des Guten und bezeugt das nützliche (Sokrates) Element des Guten für die Menschheit. Civilitas kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Anstand und Höflichkeit; zivilisiert heißt Kultur und Bildung innehabend. Verfolgen die Menschen das Ziel, z. B. den Maßstäben des Anstands gerecht zu werden, und erachten somit gesellschaftliche Werte als Vorlagen für den guten Menschen? Findet man das sogenannte Elixier des Lebens bei der Bestrebung, „gut“ zu werden, wieder? Max Frischs These enthält in sich einen großen Widerspruch. „Gute Menschen“ und die Verwirklichung des „Guten“ werden als zweierlei Unvereinbares dargestellt. Diese Kontradiktion gilt es aufzuklären. Die meisten Menschen sind von ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu der Idee des Guten ohne ihr eigenes Zutun und demzufolge unbewusst geführt worden. Jede Gesellschaft charakterisiert sich durch ihre eigenen Wertevorstellungen. Diese verändern sich gemäß dem Geschichtsverlauf und der Epochen, wobei sie aber die Konstanten der Gesellschaft bleiben und somit das Leben aller Menschen fortwährend bestimmen. Ein guter Mensch im 19. Jahrhundert identifiziert sich mit der Vorstellung des Guten seiner Zeit und strebt unweigerlich danach, diesen Vorstellungen gerecht zu werden. Betrachtet man beispielsweise Meister Anton aus «Maria Magdalena» von Friedrich Hebbel, so ist es das zeitgenössische Bild des Guten, das seinen Lebenswandel bestimmte. Ich glaube, dass es trotz eines angeblichen Werteverlusts des 21. Jahrhunderts nach wie vor Werte gibt, die den Menschen als Maxime (Kant) auf dem Weg zum erstrebten guten Dasein dienen. Sei es im Rahmen der Familie, in der Freundschaft oder im Beruf. Dem Mensch wird nahezu mit der Geburt das Streben nach dem „Guten“ auferlegt, um einen Platz in der Gesellschaft zu finden und um sich in dieser wohlzufühlen. Anlass, ein guter Mensch zu werden, gibt es also immer und er ist dementsprechend natürlich. Die Idealvorstellung der Nützlichkeit nach dem Bild des guten Menschen zu streben ist folgende: Der Mensch ist von seinen Mitmenschen abhängig. Und da unser aller Leben – wie gesagt - das Gute in irgendeiner Form erfahren muss, ist es die Aufgabe eines jeden, auch etwas Gutes zurückzugeben. So wird der Kreis des Gu- 13 ten geschlossen, und alle, die diese zwischenmenschlichen Verhältnisse verinnerlicht haben, profitieren gegenseitig von dem Streben, gute Menschen sein zu wollen. Ich bezeichne diese Zusammenhänge als den Idealkreislauf. Das Gute wird offensichtlich in seiner Gesellschaftsfunktion jedoch konkret und der abstrakte „wahrhaftige Kern“ wird ersetzt durch einen Charakter, den die Gesellschaft prägt. Dieser Charakter des Guten ist veränderlich. Das macht das Streben der Mehrheit, gute Menschen zu werden, zwiespältig und birgt in sich Gefahren. Für den Zusammenhang zwischen den veränderlichen Werten und den möglichen resultierenden Folgen, verwende ich den Begriff des Wertekreislaufs. Hinter diesem Kreislauf des „unbeständigen Guten“ verbergen sich die Schattenseiten einer Gesellschaft. Es ist zu beachten, dass das Resultat des Strebens nach dem guten Sein oft nicht das Gute ist. Meister Anton sowie viele reale Personen sind an diesem Streben oder an seinen Folgen zu Grunde gegangen. Seine Tochter Klara wählt als Ausweg aus dem Kreislauf den Freitod, und Anton versteht, von der gesamten Familie verlassen, die Welt nicht mehr. Die Absicht des Guten steht direkt in Verbindung mit der Unterdrückung und Bekämpfung dessen, was nicht als gut erachtet wird und dem Bild des guten Menschen zuwiderläuft. Das Gute zu leben kann immer nur einen Versuch darstellen und sollte nicht Maßstab für alle Lebensbereiche sein, solange es von einem allgemeinen gesellschaftserhaltenden Guten definiert wird und - wie mir scheint - mit dem Guten an sich wenig zu tun hat. Was die Gesellschaft erhält, kann durchaus den einzelnen zerstören, und die eigentliche Kunst ist es letztlich eine Balance zwischen Erwartung und Selbsterhaltung zu finden, was schließlich im Sinne des wahren Guten liegt. Die meisten Menschen streben Max Frisch zufolge danach, gute Menschen zu werden. Was aber unterscheidet den Menschen, der das Gute verwirklichen will, von dieser Mehrheit? Wie ich erklärte, liegt einer Gesellschaft meiner Meinung nach ein (Werte-)Kreislauf, der sie formt, zu Grunde. Der einzelne wird jedoch nicht gleichsam von dieser „Gesellschaftswelle“ mitgetragen. Dies kann sehr viele Gründe haben. Sicherlich gibt es jene, die nicht mitgenommen werden möchten, die das Individuelle suchen und es im Abseits zu finden hoffen. Doch dies sind weniger diejenigen, die dazu veranlasst sind, das Gute zu verwirklichen. Es gibt hingegen Menschen, denen (z. B.) schon die Kindheit keinen Sinn für Gemeinschaft, Zusammenleben und - geschweige denn - das Gute nahe brachte. Menschen, denen der Zugang zu anderen Menschen, zu Nähe und Geborgenheit verwehrt wurde. Sie beschreiten einen vollkommen anderen Weg zur Idee des Guten, da sie es gegenüber dem Gegenteil, dem Schlechten, differenzieren lernen müssen. Ich glaube, dass sich hier eine Minderheit herausbilden kann, denn es ist wohl bekannt, dass vergleichbare Menschen oft ihr Leben lang im Chaos stecken bleiben. Bei manchen aber werden ihre extremen Erfahrungen zu einem ganz besonderen Blick auf die Welt, der sehr weit reicht und den anderer Menschen überschreitet. Diese Menschen, die viele Kehrseiten der Gesellschaft, Gewalt, Ausgrenzung oder anderes am eigenen Leib erfahren haben, können eine sehr tiefe Abneigung gegen diese Missstände entwickeln und im besonderen Fall mit aller verbliebenen Lebenskraft und ungewöhnlich starkem Willen gegen diese vorzugehen versuchen. Sie haben das wandelbare „Gute“, mit dem sich die Mehrheit zu schmücken versucht, nicht verinnerlicht, sind nicht in den Wertekreislauf eingegliedert, sondern sie haben womöglich einen Teil des Grundcharakters des abstrakten Guten identifiziert. Bei dieser Betrachtung ist Max Frischs These anwendbar. Es besteht eine Unvereinbarkeit der beiden das Gute betreffenden Anliegen. 14 Es gab beispielsweise viele geniale Persönlichkeiten, die psychisch sehr labil waren und der soeben beschriebenen Minderheit angehörten, die die Verwirklichung des Guten im Sinn hat. Ihre Genialität begrenzte sich aber oft auf das große Ganze und war im Kleinen, wie in der Freundschaft oder in der Beziehung, folglich im gesamten zwischenmenschlichen Bereich schwerlich wiederzufinden (Sartre, Picasso, Rousseau etc.). Dies liegt also an dem Fehlen mitmenschlicher Erfahrung, die sie nicht mehr nachholen können. Daraus ergibt sich eine weitere Interpretation zu der Unvereinbarkeit der von Max Frisch differenzierten Formen des Strebens. Diesen Personen mangelt es also an sozialer Reife. Sie sind keine Gemeinschaftswesen. Innerhalb des engsten Kreises treten sie oft als besonders unausstehlich auf und belasten ihr Umfeld sehr. Sie streben in diesem Kontext sichtlich nicht danach, gute Menschen zu werden, wobei ich diesmal meine Idealvorstellung des Kreislaufs des Guten voraussetze, in dem vor allem das soziale Gute herrscht. Das heißt, einerseits gibt es den Unterschied zwischen dem wahren Guten und dem veränderlichen Guten, nach dem die Menschen streben. Andererseits gibt psychologisch, humane Gute, das ich in den Idealkreislauf des Guten projiziert habe, nach dem die Menschen meist gleichzeitig streben. Es liegt also nahe, dass der Idealkreislauf und der „Wertekreislauf“ des Guten parallel existieren. Sie sind Ausdruck der (Zwei)Gespaltenheit des Guten, das den guten Mensch charakterisieren kann. Auf der einen Seite steht das konkrete Gute, das veränderlich und somit gefährlich ist, auf der anderen Seite steht das humane Gute, das meiner Meinung nach etwas vom Wesen des Guten, dem abstrakten Guten, beinhaltet. An dieser Stelle ist noch ein weiterer Fall durchzuspielen. Wie sind die geschichtlichen Umstände, die eine Gesellschaft zwingend betreffen, in den Kontext dieser Gespaltenheit der menschlichen Absichten, wie sie Max Frisch thematisiert, einzuordnen? Im Zuge der deutschen Geschichte hat unser Land wie kaum ein anderes die sich wandelnden Gesichter eines Wertekreislaufes aufgezeigt. Die kleinsten Charaktere traten auf der Seite der Nazis die größten Karrieren an und haben dabei aus der Idee aller Ideen ihren größten Gegensatz zum Ideal gemeinschaftlichen Lebens in Deutschland erhoben. Das Monströse, wie es oftmals bezeichnet wird, schlich sich in den Wertekreislauf ein. Die Mehrheit fand keinen Weg aus dem reißenden Strom der sich wandelnden Gesellschaft. Das Streben nach dem guten Dasein hat sich bei den meisten scheinbar auf die allgemeinen Erwartungen des Guten dieser Zeit beschränkt. Der Idealkreislauf, der etwas vom wahren, unveränderlichen Guten enthält, konnte sich nicht gegen den anderen durchsetzten. Es ist Furcht erregend, wie sehr der vermutlich dominante Kreislauf einer Gesellschaft durch ihre Probleme bestimmbar ist und wie sehr sich das Gute dabei bis in sein Extrem verändern lässt. Zu dieser Zeit waren wieder die Persönlichkeiten gefragt, die sich nie auf die „Welle“ begeben haben. Gemeint sind entweder jene beschriebene „Genies“, die keinem der beiden Kreisläufe zugehörig sind, oder solche, die aus Überzeugung dem gemeinschaftlichen Wertekreislauf einen eigenen entgegensetzen konnten, als sich dieser in dem damals vorliegenden Maße verändert hat. Der Idealkreislauf, dem die vom Wertekreislauf unabhängigen Personen allerdings zugehörig sind, hat den anderen also in diesen wenigen Fällen bezwingen können. Es war diese Minderheit, die die herrschenden Verhältnisse in Frage stellte. Sie hatte eine Ahnung vom Wesen des wahren Guten, die ihnen die Kraft gab, trotz der großen Gefahr, der sie sich aussetzten, das Gute zu verwirklichen. Das Streben nach der Verwirklichung unterschied sich in dieser Situation ganz vehement von dem allgemeinen Streben, ein guter Mensch zu sein. Es war für diese Menschen unmöglich, dem Bild des „guten Menschen“ gerecht zu werden, da “gut“ in dem Fall sogar bedeuten konnte, an die Gestapo das Versteck eines jüdischen 15 Kindes zu verraten. Versteht man also das mehrheitliche Anliegen, gute Menschen zu werden, als eine Form von Angepasstheit an das sich wandelnde Gute, das sogar sein Gegenteil verlangen kann, dann schließt dieses Streben die gleichzeitige Verwirklichung des „wahrhaftigen Guten“ ganz offensichtlich aus. Wenn also die Mehrheit dem Wertekreislauf machtlos gegenübersteht, lässt sich dann die Wiederholung eines dem Nationalsozialismus ähnlichen Grauens verhindern? Ist das mehrheitliche Streben wirklich nicht mit der Verwirklichung des Guten zu verbinden? Es sollte möglich sein, dass der Idealkreislauf mehr Gewicht im Leben des Einzelnen gewinnt und in einer erneuten Konfrontation mit dem anderen Kreislauf diesen besiegt. Da die Gesellschaft das Individuum auch heutzutage und vielleicht mehr denn je in vorgegebene Kreisläufe zwingt, sollte die enorme Dynamik, die von ihnen ausgeht, den Menschen umso mehr dazu veranlassen, nach dem Grundcharakter des Guten zu suchen und auch eine kleine Ahnung nie aus den Augen zu verlieren. Schließlich ist das Gute das Elixier des Lebens und für uns alle unersetzlich. 16 Außer Konkurrenz Sophie de Beukelaer (Französisches Gymnasium) III. Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei, es schließt sich gegenseitig aus. - Die meisten wollen gute Menschen sein. (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949) A: Der Himmel verdichtet sich. Siehst du, ich hatte dir doch gesagt, dass uns das schöne Wetter nicht lange gegönnt wird. B: Wie kommst du darauf? Die Sonne lugt doch noch durch die Wolken hindurch. A: Ja aber nicht mehr lange: Gewitterwolken kommen auf uns zu, dort drüben. B: Stimmt! Es wird tatsächlich düsterer. A: Was machst du jetzt? Liest du immer noch Max Frischs Tagebuch? B: Immer noch. A: Seine Theaterstücke gefallen mir; Andorra zum Beispiel über die Macht der Vorurteile. Seine Romane jedoch, ach so skeptisch und selbstzweifelnd. Immer wieder geht es um die Identitätsfrage und er kommt doch zu keinem Ergebnis. Wenn du mich fragst: Man kann sich das Leben auch wirklich erschweren. Das Ich mit dem Fragezeichen. Das bräuchte mal das Ausrufezeichen und es würde aktiver werden. B: Ach wirklich? Vor allem die Unsicherheit der eigenen Identität zieht mich bei seinen Schriften an. Gerade habe ich eine treffende Passage dazu gelesen. Hör mal zu: „Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei, es schließt sich gegenseitig aus. - Die meisten wollen gute Menschen sein.“ A: Gott wie paradox! Gute Menschen verwirklichen doch das Gute. Das schließt sich absolut nicht aus. Was sollten sie denn sonst durchsetzen wollen? Gerade ein Mensch, der bestrebt ist, gut zu sein, also ein guter Mensch zu sein, ist doch dazu bereit Verantwortung zu übernehmen und zu versuchen, stets das Gute auszuüben. B: Ja sicher ist ein Mensch, der für das Gute steht und es vertritt, auch ein guter Mensch. Aber das ist hier doch gar nicht der Punkt. Ja das ist sogar nebensächlich: ein Mensch, der darauf erpicht ist, gut zu sein, wird nicht unbedingt das Gute durchsetzen wollen, sondern sich eher auf seine Wirkung konzentrieren. Sagen wir, das Wirken droht neben der Wirkung unterzugehen. A: Also meinst du jede sogenannte gute Tat eines Menschen ist nichts als Täuschung, da es mehr um die Wirkung als um den Inhalt der Tat gehe? B: Ja also nicht jede gute Tat ist mit hintergründigen Absichten verbunden. Jedoch: Wenn jemand gute Taten nicht wegen der guten Tat ausübt, dann vertritt er eigentlich das Schlechte, da er an das Gute nicht wahrhaft glaubt. A: Was? Was ist denn das für eine Unterstellung? Gute Menschen sind Menschen, die nicht wirklich das Gute vertreten, sondern sich mit dem Guten allein aus Vorteilen beschäftigen? Und eine solche Art von Menschen wäre noch dazu die Mehrheit der Bevölkerung?. Das glaube ich nicht. Max Frisch hat auf jeden Fall zu viel an dem Ich gearbeitet, wie man daran sieht. B: Nun mal langsam, gerade das ist doch der erste Schritt, um überhaupt das Gute vertreten zu können: sich selbst versuchen zu erkennen und immer wieder in Frage zu stellen. Und außerdem ist die Frage, die sich Max Frisch hier stellt, durchaus berechtigt: Sind gute Menschen überhaupt auch Menschen, die das Gute vertreten? Das ist nämlich gar nicht so offensichtlich. Welche Menschen handeln noch nach einer Idee des Guten, die ihnen auf ihrem Weg leitet und die ihnen auch in ungerechten Zeiten als Unterstützung dient? Ja, was ist denn überhaupt das Gute? Was verstehst du unter dem Guten? 17 A: Gute Frage. Man benutzt den Begriff häufig, immerzu, wertet damit jede Aktion, fast beliebig, aber was damit wirklich verbunden ist... Also jemand, der das Gute verwirklichen will, ist schon daran bestrebt, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, gegenüber sich selbst und genauso gegenüber der Gesellschaft, in der er lebt. B: Genau, das sehe ich auch so: wenn man sich an dem Guten orientiert, dann übernimmt man eine Verantwortung. Aber wie gesagt, was genau ist das Gute? A: Ja, was genau ist das Gute? Ich würde sagen, dass es keine exakte Definition vom Guten gibt. Es ist relativ! Das Gute ist das, was das Individuum zu sein glaubt. Aber halt: Jetzt nicht so, wie du glaubst. Es ist nicht das, was am besten für das Individuum selbst ist. Keineswegs. Das Individuum muss, um in der Gesellschaft überlegt handeln zu können, gewisse allgemeine Regeln einhalten. B: Es gibt also moralische Konventionen, an die man sich halten sollte, um im Zusammenleben richtig handeln zu können? A: Ja, aber eben nicht einfach nur aus Gehorsam oder aus Vorteilsgründen, sondern weil ein Mensch sich an Konventionen halten muss, um gut handeln zu können. Wohlgemerkt kann er in den Konventionen gewichten: welche spricht mir mehr zu, welche ist mit meinem Gewissen am besten zu vereinbaren? Und genau da ist auch eine gewisse Überlegung und Selbstkenntnis nötig: Wer bin ich eigentlich? Und welche Tugend kann ich vorziehen, nach welcher kann ich handeln? Die Zusammensetzung der Tugenden wäre für mich dann das Gute. Andere Menschen, ja, zum Beispiel Menschen, die an eine gewisse Religion glauben, seien sie Christen, Muslime, Juden, ja Buddhisten; also gläubige Menschen würden ihren Glauben an Gott für das Gute halten, das einzig Gute, auch wenn es natürlich nicht das einzig Gute ist. Wenn du so willst, ist das Gute eine Art Lebensausrichtung, die man sich selbst aussucht und die einem dazu verhilft, seine Meinung zu untermauern. Menschen, die man für gut hält, vertreten also doch das Gute und wollen es verwirklichen. Sie sind kein bisschen angepasst, sondern stehen zu einer Meinung, die sie vertreten und als gut befinden, und auch befunden werden können. B: Aha. Das Gute ist also beliebig, frei von jeder Einschränkung? Sagen wir, ich habe einen Nachbarn, der seinen Müll ungeachtet auf meinen Boden wirft, nur weil er der Überzeugung ist, dass die Müllordnung nicht wirklich zu beachten ist. Ich hingegen bin der Auffassung, dass die Ordentlichkeit eines Menschen durchaus ernst zu nehmen ist. Bin ich dann dazu berechtigt ihn zu schlagen, weil er sich gegen eine meiner Tugenden verstoßen hat? A: Nein, natürlich nicht. Ein guter Mensch bedenkt seine Aktionen und handelt nicht stürmisch und impulsiv, nur wenn der Nachbar rücksichtslos ist. Er handelt, so weit es möglich ist, stets gerecht, um sich als guter Mensch zu bewähren. B: Wie gerecht? Nach dem jeweiligen Rechtssystem, oder? A: Ja, zum Beispiel. Wenn er sich an die Konventionen der Gesellschaft hält und versucht jene mit seinen Prinzipien zu vervollständigen, dann ist der Mensch ein guter Mensch. Ein Mensch, der von Selbstzweifeln geplagt ist, der sich andauernd zurückzieht und versucht das Gute unabhängig von einem guten Menschen zu bewerten, der verkennt die Welt und ist dazu verdammt, nicht handeln zu können. Die Welt trägt nicht, wenn man dazu bereit ist, Kompromisse mit den Richtlinien der Gesellschaft einzugehen und sonst voll zu seiner Meinung zu stehen. B: Stell dir vor: es gibt eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen: Einer vertritt die Gesetze der Stadt, in der sie leben, ein Anderer hinterfragt diese und befindet sie als ungerecht. Der, der die Gesetze verteidigt, hat gute Argumente und schafft es, den anderen wegen Verrat aus der Stadt verbannen zu lassen. Wer ist deiner Meinung der Stärkere? A: Na derjenige, der die Gesetze vertreten hat. B: Aha. Und wer wäre der, der versucht hat, das Gute zu verwirklichen? A: Ebenso: der Stärkere in diesem Falle. B: Gibt es Fälle, in denen der Schwächere nach dem Guten handelt? 18 A: Ja sicher. Fälle, in denen er übergangen wird. Obwohl: meistens können Menschen, die nach dem Guten handeln, überzeugen, da sie gute Menschen sind. B: Wie? Können sie überzeugen, weil sie gute Menschen sind? A: Naja, natürlich. Ein guter Mensch ist glaubwürdiger, stärker und kann allein schon deswegen besser überzeugen. Außerdem handelt er nach anerkannten moralischen Prinzipien. B: Weshalb? A: Weil sie gut sind. B: Will er denn um jeden Preis ein guter Mensch sein? A: Nein, nicht um jeden Preis, aber er möchte ein guter Mensch sein. B: Weswegen denn? Weil er sich davon Vorteile verspricht? Also, weil er als Stärkerer hervortritt? Oder weil er aus Überzeugung seiner Idee des Guten folgt? A: Weil er der Überzeugung ist, dass er dem Guten folg natürlich. Sonst wäre er ja kein guter Mensch. B: Du kannst es jedoch nicht mit voller Sicherheit bestimmen. Außerdem: wieso ist denn derjenige, der das Gesetz kritisiert, ein minder guter Mensch? Weil er etwas nicht Rentables oder Vorteilhaftes vertritt? Wenn ja, dann ist die Verteidigung des Stärkeren gar nicht unbedingt aus Überzeugung des Guten entsprungen, sondern vielmehr aus Gewohnheit, wegen einer gewissen gesellschaftlichen Abhängigkeit, oder weil er sich wirklich davon Vorteile verspricht, wenn er eine gängigere (geläufige) Position vertritt. In der Tat, so aktiv und stark, wie du ihn charakterisiert hast, ist er nämlich gar nicht. Er handelt hauptsächlich, um ein guter Mensch zu werden und gerade deshalb könnte man ihn als Fähnchen im Winde bezeichnen. Aber lass mich deine Position noch mal zusammenfassen: Ein guter Mensch ist gut, wenn er sich an Konventionen hält, jedoch trotz allem in der Lage ist, zu sich und zu seiner Meinung zu stehen und diese versucht, mit dem für ihn Gutem zu verbinden, den sogenannten besten Weg zu folgen. Aber was macht seine Meinung so gut? Allein, weil sie aus persönlichen Überlegung entstanden ist wohl nicht, da die Überlegung ja kein Garant für ihren guten Ursprung ist. Dann müssten also die gesellschaftlichen Konventionen, die einen richtigen Weg vorzugeben scheinen, die Wegweiser des Guten zu ein. Wenn man nun aber die Gesellschaft wechseln würde und in dieser anderen Gesellschaft die Frauen als untergeordnetes Geschlecht aus Sitte, oder anderen Überzeugungen, deklariert worden sind, würde man dann in dieser Gesellschaft gegen eine solche Unterordnung sein, weil es gegen die Gerechtigkeit spricht, die grundlegend für das Gute ist, oder würde man nichts sagen, da ein guter Mensch gleich ein guter, konformer Bürger ist? A: Je nach Gesellschaft ist man natürlich beeinflusst, aber ich verteidige ja in diesem Falle meine eigene Idee des Guten. In jenen Gesellschaften wäre sie eingeschränkt und die dortige Idee des Guten fände ich verwerflich, da sie der meinigen nicht entspricht. Ich sehe mich jedoch, in solchen Umständen, als machtlos an. B: Das ist doch moralischer Relativismus, der nur dazu dient den Problemen aus dem Weg zu gehen! So setzt du dich doch nicht für deine Idee des Guten ein, an die du doch zu glauben scheinst! Du bist eben nicht darauf bedacht, jene Idee zu verwirklichen, sondern eher ein guter Mensch zu sein. „Die Meisten wollen gute Menschen sein.“ A: Du bist gut! Wenn jeder seine Idee des Guten vertreten würde, dann gäbe es doch reines Chaos! B: Das sehe ich genauso. Aber das liegt nicht an der Idee des Guten, die nicht zu verwirklichen ist, sondern daran, dass es, wie es Max Frisch vermerkt hat, Zweierlei gibt: die Idee des Guten, eine Art universelle Idee, und das, was man als gut ansieht, etwas vielleicht ganz persönliches oder gesellschaftsbedingtes Gutes. Alle Menschen, die das Gute „verwirklichen“, können als „gute Menschen“ bezeichnet werden. Doch die guten Menschen vertreten nicht unbedingt alle die Idee des universellen Guten. Viele kennen sie gar nicht, viele wollen sie nicht vertreten, weil sie auch Nachteile hat, und ganz viele verwechseln sie gar mit dem relativem Guten 19 eines jeden Menschen, einer jeden Gesellschaft. Die meisten Menschen folgen in der Tat jenem fälschlichem Guten. Aber weshalb? A: Nein, lass uns doch noch mal über das „universelle Gute“ reden. Gibt es das denn überhaupt? B: Ja gut. Beschäftigen wir uns mit dem Guten. Das Gute, das man bedacht sein sollte durchzusetzen, weil die meisten Menschen diesem Guten - fälschlicherweisenicht mehr folgen, wie es Max Frisch bemerkt. Genauso wie du denke ich, dass es eine Verantwortung eines jeden Menschen ist, dem Guten zu folgen. Also jemand, der das Gute verwirklichen will, strebt danach, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen; Gegenüber sich selbst und genauso gegenüber der Gesellschaft, in der er lebt. Das ist wichtig. Er übernimmt somit eine moralische Verantwortung eben auch für die Gesellschaft. Das Gute leitet den Menschen in seinen Aktionen. Es ist aber nicht nur ein grober, vager Leitfaden im Leben eines Menschen. Es ist fast schon ein Konzept, das gekannt und beherrscht werden muss, damit man seine eigenen Aktionen auch rechtens ausführt. Es ist also notwendig zum Handeln. Weiter vermag dieses Gute, den wahren Wert der Dinge zu bestimmen, von denen man umringt ist. Das bedeutet natürlich genauso, dass man dann zwischen dem Wahren und dem Falschen in der Welt unterscheiden kann, da man in der Lage ist, den echten Wert der Dinge zu erfassen. Die Idee des Guten ist also notwendig, um die eigenen Aktionen in die angemessene Richtung auszurichten. Wie gesagt: das Gute zu kennen, würde bedeuten, dass man Wissen erlangen, vielleicht glücklich werden und - ganz wichtig - frei sein kann, da man dann weder einzuschüchtern noch zu täuschen ist. Wenn man bedacht ist das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, dann vertritt man jene Disziplinen, die am Besten den Körper und den Geist ordnen, und nicht die, die den Konventionen der Gesellschaft am ehesten entsprechen. Die Gerechtigkeit zum Beispiel wäre eine der Disziplinen, die man durchsetzen und verwirklichen sollte und zwar in jeder Gesellschaft. A: Wie kann man das in jeder Gesellschaft durchsetzten? B: Naja, indem man an eine gewisse Essenz allen Existierenden glaubt, durch die man das Trügerische von dem Wahren unterscheiden kann, ist auch die Essenz der Gerechtigkeit allgemeingültig. Das Gute hat deswegen so eine Bedeutung, da es den Menschen sowohl dazu dient, sich selbst und sein Umfeld in Frage zu stellen als auch dazu hilfreich ist, eine Basis für die gemeinsame Kommunikation, also für das Verständnis zu schaffen. Wie gesagt, weil man an etwas Essentielles und daher an etwas Wahres glaubt. A: Aber man glaubt daran? Das heißt, diese Idee des Guten ist genauso ein reiner Glaube? B: Ja, es stimmt schon, es ist so etwas wie ein spiritueller Glaube an etwas, das uns den rechten Weg zu weisen vermag. Die Existenz kann man nicht beweisen. Aber; allein schon, dass man eine moralische Verantwortung übernehmen möchte, also dieser Willen zur Verantwortung, könnte ein Indiz dafür sein, dass es das Gute wirklich gibt. A: Ja gut. Und das „Gute“, dem die meisten Menschen zu folgen gedenken? Diese Menschen folgen wohl unbedacht, aus Gewohnheit, weil sie wahrscheinlich wirklich nur der Status in der Gesellschaft anzieht, den sie damit verbinden. B: Sie üben, wenn man den Unterschied zwischen Wahr und Falsch weiterzieht, vermeintlich gute Taten aus. Aber meistens aus Ignoranz. Generell stellt man einen guten Menschen, der gar schon übertrieben moralisch ist, sofort höher in Rang und Namen. Das lockt natürlich an, und sichert gleichzeitig die ungeschriebenen Sitten der Gesellschaften, die als gute Verhaltensweisen verstanden werden. A: Natürlich, natürlich. Aber weshalb wollen Menschen denn jetzt gute Menschen sein, nur aus Vorteil und Ignoranz des Guten? B: Vielleicht, weil es Menschen sind, die emsig damit beschäftigt sind, sich eine Identität anzulegen, mit der sie gut in der Gesellschaft auskommen können. Sie sind vielleicht gerade zu sehr auf sich fixiert. So kommt der Wille zur Selbster- 20 kenntnis zu kurz, da man allein damit beschäftigt ist, sich etwas zu konstruieren, ohne sich wirklich zu kennen. Damit sind wir wieder bei Frischs Identitätsfrage: Kann man sich einfach der Selbsterkenntnis entziehen? Nicht ohne sich selbst zu täuschen und die moralische Verantwortung nicht richtig wahrzunehmen, könnte Frisch darauf antworten. A: Das Fragezeichen hinter dem Ich lässt ihm also gerade Spielraum zum Handeln und das unbedachte Ausrufezeichen, das ich als Zeichen der Aktivität verstehen wollte, könnte das Ich erneut abhängig machen! Oh siehst du, nun haben wir das Unwetter doch schnell überstanden. Und die ersten Sonnenstrahlen kommen durch. B: Ja wirklich, der Himmel wird lichter. A: Komm, lass uns das Wetter genießen. Aus Berlin wurde Annalena Müller zur Winterakademie in Münster eingeladen, während der die beiden Bundessieger ermittelt wurden. Als Sieger und damit als Teilnehmer an der Internationalen Philosophie-Olympiade in. 21