Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen Einleitung von Reiner Wiehl. Aus dem Englischen von Eberhard Bubser. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1971. 524 S. (Adventures of Ideas (1933). New York [The Free Press. A Division of the Macmillan Publishing Co.,Inc.] London [Collier Macmillan Publishers] 1967) XII. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 348 I. 348f. Wir haben die These, daß die vergangenen Vorgänge den–relativ zu ihnen– zukünftigen Vorgängen immanent sind, bereits im vorigen Kapitel hinreichend ausführlich diskutiert. Das Vergangene hat für das Gegenwärtige–d. h. für das, was von ihm aus gesehen jenseits der Schwelle des Zukünftigen liegt– eine objektive Existenz. Nicht so klar dagegen ist–unter dem Gesichtspunkt der Subjekt-Objekt-Struktur des Erlebens–in welchem Sinne man sagen könnte, daß auch. die Zukunft den Ereignissen, die vor ihr liegen, immanent ist, und daß es eine wechselseitige Immanenz unter den gleichzeitigen Vorgängen gibt. Die Fragestellung wird ein/facher, wenn wir uns zunächst einmal auf das Verhältnis der Zukunft zur Gegenwart konzentrieren. Feststeht, daß die Zukunft jedenfalls irgend etwas für die Gegenwart bedeutet; denn das wird schon durch die alltäglichsten Gewohnheiten der Menschen hinreichend belegt. Vertragliche Abmachungen und andere Formen der sozialen Übereinkunft, ehrgeizige Vorsätze, Ängste und Eisenbahnfahrpläne, wären nichts als leere und zwecklose Gesten des Bewußtseins, wenn es nicht zuträfe, daß die Gegenwart in ihrer vollen Verwirklichung schon gewisse Beziehungen zu einer über sie hinausreichenden Zukunft in sich trägt. 349 f.Auch in diesem Fall haben sich die Gewohnheiten des schriftsprachlichen Denkens, vor allem der Vorausblick und der kritische Rückblick über längere Distanz, nachteilig auf die Philosophie ausgewirkt. Wenn wir an die Zukunft denken, geht es uns immer gleich um Jahrhunderte, Jahrzehnte, Jahre oder doch zumindest Tage. Und rückblickend brüten wir kritisch über jener ungeheuren Masse von Fabeln, die man die Geschichte nennt. Das führt dazu, daß uns unser Verhältnis zur Vergangenheit und zur Zukunft durch die Anstrengungen unseres abstrakten Vorstellungsvermögens bestimmt erscheint, das sich nicht auf die unmittelbare Beobachtung bestimmter Fakten berufen kann. Aber wenn wir es bei dieser Folgerung bewenden lassen, spricht überhaupt nichts mehr dafür, daß es überhaupt eine Vergangenheit gegeben hat bzw. eine Zukunft geben wird, und unsere Unwissenheit wird in diesem Punkte dann vollkommen: alles, was uns als Gegebenheit verbleibt, sind dann unsere begrifflich artikulierten gegenwärtigen Überzeugungen. Das ist das unvermeidliche Ergebnis der; schriftsprachebedingten Angewohnheit, immer gleich die weit-entfernte Zukunft oder die weit zurückliegende Vergangenheit zu betrachten. Durch die Schriftsprache, die Literatur, ist uns die Weisheit der gesamten Menschheit erhalten geblieben, aber / wir haben dafür unter anderem auch mit einer Verminderung unserer unmittelbaren Anschauungsfähigkeit bezahlen müssen. Wenn es darum geht, inwiefern es eine unmittelbare Beobachtung des Vergangenen bzw. Zukünftigen gibt, sollten wir uns deshalb auf Zeit- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 2 spannen beschränken, deren Größenordnung eine Sekunde – oder auch nur Bruchteile einer Sekunde —nicht überschreitet. 350 II. Wenn wir uns auf diese kurzfristigen Intuitionen konzentrieren, wird uns klar, daß die Zukunft ganz gewiß nicht nichts ist, sondern in der Welt des ihr Vorausgehenden schon eine sehr lebendige Wirksamkeit entfaltet. jedes unserer Erlebnisse gibt sich als ein Moment des Übergangs zwischen zwei Welten zu erkennen, der Welt des unmittelbar Vergangenen und der Welt der unmittelbar bevorstehenden Zukunft. Das ist nichts weiter als ein konsequent wiederholtes Verdikt des gesunden Menschenverstands. Darüber hinaus besitzt diese Immanent des unmittelbar Bevorstehenden in der Gegenwart auch gewisse unverkennbare strukturelle Merkmale. Schwierig ist nur, sie mit Hilfe der Subjekt-Objekt-Struktur des Erlebens zu erklären. Die zukünftigen Ereignisse bzw. Vorgänge sind als individuelle und mit einer gewissen absoluten Vollständigkeit ausgestattete Wirklichkeiten in der Gegenwart nichtexistent. Die Zukunft muß der Gegenwart also in einem Sinne immanent sein, der sich von der objektiven Unvergänglichkeit der vergangenen Vorgänge unterscheidet. Es gibt in der Gegenwart keine individuellen Vorgänge, die der Zukunft angehören; denn die Gegenwart markiert ja gerade die äußerste Grenze des bereits verwirklichten Individuellen. Wie die Zukunft überhaupt aufzufassen ist, muß durch eine Betrachtung des Prozesses zu erklären sein, in dem sich jeder individuelle reale Vorgang selbst vollendet. 350f. Man kann diesen Prozeß in aller Kürze als einen übergang von der Wiederholung (re-enaction) zur Antizipation cha/rakterisieren. Die mittlere Phase dieses Übergangs wird durch das Aufnehmen neuer Inhalte bestimmt; sie stellt den individuellen Beitrag dar, durch den das unmittelbare Subjekt die Anfangsphase der Wiederholung zur Endphase der Antizipation umformt. Man kann diese Endphase auch als den Moment der Erfüllung (satisfaction) bezeichnen, weil in ihm der schöpferische Drang dieser bestimmten Individualität Erfüllung findet. Der neuaufgenommene Inhalt des Vorgangs besteht aus Akten des positiven begrifflichen Erfassens (positive conceptual prehensions), d. h. aus Akten des begrifflichen Fühlens (conceptual feelings). Diese Akte des begrifflichen Fühlens werden mit dem physischen Erfassen der voraufgegangenen Vorgänge integriert und führen zu aussageartigen Vorstellungen (propositions) über die Vergangenheit. Diese gedankenartigen Vorstellungen bzw. Propositionen werden dann wiederum untereinander und mit neuen begrifflichen Gefühlen integriert und re-integriert und ergeben so weitere Propositionen. 351 Schließlich ergeben sich dabei Propositionen, die die Konstitution des unmittelbaren Subjekts betreffen. Es gehört zum Wesen dieses Subjekts, daß es in den Zustand der objektiven Unvergänglichkeit übergeht. Es folgt also unmittelbar aus seiner Konstitution, daß die Aktivität, in der es sich selbst bildet, in eine Aktivität übergeht, in der es anderes bildet. Das gegenwärtige Subjekt ist also so konstituiert, daß die Zukunft es verkörpern und seine Aktivitätsmuster wiederholen wird. Die zukünftigen individuellen Vorgänge sind dabei nach -wie vor nichtexistent. Das einzige unmittelbar Wirkliche ist immer das gegenwärtige Subjekt, das in seiner Konstitution die Notwendigkeit einer jenseits des Prozesses seiner unmittelbaren Selbstentfaltung liegenden objektiven Unvergänglichkeit verkörpert. Diese objektive Unvergänglichkeit ist für die Zukunft Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 3 ein unumstößliches Faktum, das die Form seiner perspektivischen Wiederholung in sich trägt. 351f. Die Endphase der Antizipation besteht in einem gedankenhaften Klarwerden (propositional realization) des Wesens des / gegenwärtigen Subjekts hinsichtlich der von ihm der Zukunft auferlegten Notwendigkeit, es zu verkörpern und zu wiederholen, soweit das die bestehenden Verträglichkeitsverhältnisse zulassen. Das Seiner-selbst-Innewerden (self-enjoyment) eines Erlebnisvorgangs beginnt also mit dem Innewerden der in ihm fortlebenden Vergangenheit und endet mit dem Innewerden seiner selbst als eines in der Zukunft Fortlebenden. So stellt sich das Wirken des schöpferischen Drangs des Universums in jedem individuellen Vorgang dar. In diesem Sinne ist die Zukunft jedem gegenwärtigen Vorgang immanent, wobei sich ihre Beziehungen zur Gegenwart im einzelnen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten der Dominanz bestimmen. Dabei existiert jedoch kein zukünftiger individueller Vorgang als solcher. Die antizipierenden Vorstellungen betreffen ausnahmslos die Konstitution des gegenwärtigen Vorgangs und der ihr inhärenten Notwendigkeiten: der Notwendigkeit, daß es eine Zukunft gibt, und der Notwendigkeit, einen bestimmten inhaltlichen Beitrag zur Wiederholung in den Anfangsphasen zukünftiger Vorgänge beizusteuern. 352 Festzuhalten wäre hier vor allem, daß jeder individuelle Vorgang durch den schöpferischen Drang, der zu seinem Wesen gehört, transzendiert wird. Das ist ein im Hinblick auf die wesensmäßige Vollendung des Vorgangs niemals bloß zufälliges Faktum. Der Umschlag von der Wiederholung zur Antizipation, der während der Entfaltung jedes realen Vorgangs erfolgt, geht auf das zwischen diesen Phasen liegende Moment bewußter Einsicht zurück. Es ist dabei gleichgültig, ob die Ideen, die in diesem Akt des begrifflichen Erfassens aufgenommen werden, alt oder neu sind; das entscheidende Resultat, zu dem sie führen, ist, daß jeder Vorgang als eine in die Vergangenheit zurückblickende Wirkung entsteht und als eine in die Zukunft vorausschauende Ursache endet. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich die Teleologie des Universums. 352f. Wenn die Aktivität der Einsicht nicht zur Aufnahme neuer Ideengehalte führt, bleiben als Gegebenheiten des begrifflichen Fühlens nur die zeitlosen Objekte übrig, die bereits in die Anfangsphase der Wiederholung eingegangen sind. In diesem Falle wandelt die Reintegration mit der Anfangsphase deren konformes Aufnehmen lediglich in eine Antizipation um, in der die Erhaltung bestimmter Ordnungstypen und Konfigurationen des Fühlens vorweggenommen wird, die bereits in der Erbmasse der vorausgegangenen Vorgänge eine beherrschende Rolle gespielt haben. Die Anpassung wird zum dominierenden Merkmal. Auf diese Weise kann dann ein ganzer Bereich von Vorgängen den Eindruck der passiven Unterwerfung unter ihm von außen auferlegte Naturgesetze erwecken. Wenn aber – im Gegensatz dazu – eine begriffliche Neuheit durch eine ganze Kette von koordinierten Vorgängen hindurch immer wieder und mit immer stärkerem Nachdruck wiederholt wird, haben wir es mit einer dauernden Person' und einem von ihr gesetzten Zweck zu tun, an dem sie festhält und den sie in ihrer Umwelt zur Geltung bringt. In diesem Falle nimmt die Antizipation einer gleichförmigen Zukunft die Gestalt der zweckvollen Absicht an, einen Begriff in ein Faktum zu verwandeln. In beiden Fällen aber ob Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 4 es nun eine begriffliche Neuheit gibt oder nicht – bildet die subjektive Form des begrifflichen Erfassens die universelle Antriebskraft, die jedes einzelne Ereignis sich gleichsam in die Zukunft hinausschleudern läßt. 353 III: 353f. Damit ist es nun möglich geworden zu bestimmen, in welchem Sinne die Zukunft der Gegenwart immanent ist. Sie ist der Gegenwart immanent, weil in deren eigenem Wesen die Beziehungen angelegt sind, die sie zur Zukunft haben wird. Sie enthält in ihrem Wesen die Notwendigkeiten, die der Zukunft Konformität auferlegen. Die Zukunft ist in der Gegenwart als allgemeines Faktum anwesend, das mit zur Natur der Dinge gehört. Und sie ist auch schon mit den allgemeinen Bestimmungen anwesend, die die unmittelbare Gegenwart / ihrer Natur nach der auf sie folgenden Zukunft auferlegen kann. All dies gehört mit zum Wesen des Gegenwärtigen, und die mit diesen Bestimmungen ausgestattete Zukunft wird so zu einem in der subjektiven Unmittelbarkeit der Gegenwart erfaßten Objekt. Jeder unmittelbar gegenwärtige Vorgang erfaßt auf diese Weise den allgemeinen metaphysischen Charakter des Universums und den Anteil, den er selber an ihm hat. Die Zukunft steht also zur Gegenwart im Verhältnis des Objekts zum Subjekt; sie hat in der Gegenwart eine objektive Existenz. Aber ihre objektive Existenz unterscheidet sich von der objektiven Existenz des Vergangenen in der Gegenwart. Die vergangenen Vorgänge existieren je für sich und üben auch je für sich ihre Funktion als in der Gegenwart erfaßte Objekte aus. Diese individuelle objektive Existenz der realen Vorgänge der Vergangenheit, von denen jeder je für sich als Objekt für jeden gegenwärtigen Vorgang funktioniert, konstituieren ein Kausalverhältnis, in dem sie als Wirkursachen auftreten. Aber es gibt keine realen und bereits voll entfalteten Vorgänge in der Zukunft, und dementsprechend auch keine realen zukünftigen Vorgänge, die als Wirkursachen einen Einfluß auf die Gegenwart ausüben könnten. Was in der Gegenwart objektiv gegeben ist, ist die Notwendigkeit einer Zukunft, die aus realen Vorgängen besteht, und zwar aus Vorgängen, die sich den Bedingungen anpassen, die ihnen im Wesen des gegenwärtigen Vorgangs vorgegeben sind. Die Zukunft gehört zum Wesen des gegenwärtigen Faktums, besitzt aber keine Aktualität, die über die Aktualität dieses Faktums selbst hinausginge. Nur der Charakter ihrer Beziehungen zum gegenwärtigen Faktum ist im Wesen dieses Faktums selbst bereits realisiert. 354 IV. 354f. Ereignisse sind definitionsgemäß gleichzeitig, wenn zwischen ihnen kein kausales Abhängigkeitsverhältnis besteht. Wenn also zwei Vorgänge sich gleichzeitig vollziehen, gehört keiner / von beiden zur Vergangenheit des anderen, und ebenso wenig zu seinen Wirkursachen. Die völlige kausale Unabhängigkeit aller gleichzeitigen Vorgänge bringt so etwas wie Ellenbogenfreiheit in die Welt. Sie umgibt jedes reale Geschehen mit einem Spielraum angenehmer Unverantwortlichkeit. »Bin ich meines Bruders Hüter?« war eine der ersten Gesten des menschlichen Selbstbewußtseins. Unser Anspruch auf Freiheit wurzelt in diesem Verhältnis zur gleichzeitigen Umwelt. Hier gibt es in der Natur einen Bezirk voneinander unabhängiger Aktivitäten. Um das Universum verstehen zu können, müssen wir die Kausalität der Wirkursachen, die Teleologie der Selbsterschaffung und die Unabhängigkeit des Gleichzeitigen voneinander im rechten Verhältnis zueinander sehen. Und um ihre jeweiligen Rol- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 5 len adäquat begreifen zu können, müssen wir außerdem den Prozeß der perspektivischen Elimination verstehen, die Ordnungstypen, die über ungeheuer lange Epochen hinweg dominant sind, und jene vergleichsweise kurzfristig dauernden Gebilde, die ihre jeweilige Epoche durch zusätzliche Ordnungsmodi diversifizieren. 355 Die wechselseitige Unabhängigkeit der gleichzeitigen Vorgänge beschränkt sich strikt auf die Sphäre ihrer teleologischen Selbsterschaffung. Ihr Ursprung dagegen liegt in einer gemeinsamen Vergangenheit, und ihre objektive Unvergänglichkeit wirkt sich in einer gemeinsamen Zukunft aus. Indirekt, infolge der Immanenz des Vergangenen und des Zukünftigen, stehen also alle Vorgänge miteinander im Zusammenhang. Aber ihre unmittelbare Aktivität der Selbsterschaffung ist ein privater, von allen anderen gleichzeitigen Vorgängen abgetrennter Vollzug. 355f. Es gibt, wie ich eben schon sagte, bei den gleichzeitigen Vorgängen eine indirekte Form der wechselseitigen Immanenz. Wenn z. B. A und B gleichzeitige Vorgänge sind, und C ein Vorgang, der in der Vergangenheit beider vorkommt, dann ist sowohl A als auch B C in gewisser Weise immanent, nämlich in der Weise, in der das Zukünftige dem Vergangenen immanent sein kann. Und umgekehrt ist C sowohl in A als / auch in B objektiv unvergänglich. Auf diese indirekte Weise gibt es also zwischen A und B eine wechselseitige Immanenz. Aber weder wird die objektive Unvergänglichkeit von A in B wirksam, noch die von B in A. Als individuelle und vollständige Realität ist A vor B verhüllt, und umgekehrt. Und es trifft auch nicht ganz uneingeschränkt zu, daß A und B die gleiche Vergangenheit haben können. Selbst wenn die Vorgänge in der Vergangenheit von A mit denen in der Vergangenheit von B vollkommen identisch sind, besitzt A doch noch einen von B verschiedenen Status, der zu einem Unterschied in der perspektivischen Elimination unter den Gegebenheiten führt. Die objektive Unvergänglichkeit des Vergangenen in A sieht also anders aus als die objektive Unvergänglichkeit des gleichen Vergangenen in B. Gleichzeitige Vorgänge, die hinreichend weit voneinander entfernt sind, haben deshalb effektiv auch nicht die gleiche Vergangenheit. Außerdem muß man hier auch noch den erst kürzlich entwickelten Zeitbegriff der modernen Physik in Betracht ziehen. Aus ihm folgt, daß wenn A gleichzeitig mit B ist und P gleichzeitig mit A, deshalb P noch nicht unbedingt gleichzeitig mit B sein muß. P kann in diesem Falle ebensogut ein späteres oder früheres Ereignis sein als B. Wenn A und B dicht benachbart sind, kann man die auf diese Weise zustandegekommene Unterschiedlichkeit ihrer Vergangenheit vielleicht vernachlässigen. Aber wenn die beiden weit voneinander entfernt sind, können diese Unterschiede unter Umständen eine erhebliche Rolle spielen. 356f. Als Resultat dieser Überlegungen ergibt sich, daß in den Fällen, wo die Umwelt von einem bestimmten Typ gleichförmiger Koordination beherrscht wird, jeder Vorgang seine Vergangenheit als eine Antizipation der Erhaltung dieses Ordnungstyps in der über sie hinausreichenden Zukunft erleben wird. Zu dieser Zukunft gehört nun aber auch der fragliche Vorgang selbst und die mit ihm gleichzeitige Umwelt. Auf diese Weise kommt es zu einer indirekten Immanenz der Umwelt in dem fraglichen Vorgang, und zwar nicht im / Hinblick auf die sich in ihr abspielenden individuellen Vorgänge, sondern lediglich im Hinblick auf die Gegebenheit eines allgemeinen Substrats der sich erhaltenden Ordnungsbeziehungen. Diese Ordnungsbeziehungen verbinden die einzelnen Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 6 Bestandteile der gleichzeitigen Umwelt untereinander und mit unserem Vorgang. Im Erleben dieses Vorgangs treten die einzelnen Bestandteile der gleichzeitigen Umwelt jedoch lediglich in ihrer Rolle als Träger eben dieser Ordnungsbeziehungen auf. Das ist–ganz allgemein–die Erklärung dafür, warum wir die gleichzeitige Welt als einen Bereich gleichförmiger räumlicher Beziehungen wahrnehmen. Es gibt keinerlei Grund, warum irgendein bestimmtes System derartiger Beziehungen die gegenwärtige Epoche beherrschen sollte. Durch unsere Erklärung wird nur begründet, warum irgendein System gleichförmiger Beziehungen unsere Wahrnehmung der mit uns gleichzeitigen Welt beherrschen muß, und warum ihre innere Aktivität in dieser Wahrnehmung verlorengeht. Die mit uns gleichzeitige Welt geht in unser Erleben nur als der passive Träger von Beziehungen und Eigenschaften ein. 357 V. 357f. Die Wirklichkeiten des Universums sind Erlebensprozesse, und jeder dieser Prozesse ist ein individuelles Faktum. Das Universum im ganzen ist die in ständigem Fortschritt begriffene Gesamtheit dieser Prozesse. Die aristotelische Lehre, daß alles Bewirken der Aktualität angehört, wird hier akzeptiert, ebenso wie Platons Diktum, daß das Seiende überhaupt nichts anderes ist als das, »was etwas bewirken kann«, was–mit anderen Worten–»einen Unterschied an der Sache hervorbringt«. »Etwas sein« heißt also, als Faktor bei der Analyse wirklicher Vorgänge entdeckbar sein. Daraus folgt unmittelbar, daß in gewissem Sinne alles, seiner jeweiligen Seinskategorie entsprechend, »wirklich« ist. Aber in diesem Sinne bedeutet »wirklich« kaum mehr, als daß ein bestimmter Laut oder ein bestimmtes Schriftzeichen eine Bedeu/tung hat. »Realisierung« oder »Verwirklichung« hingegen enthalten schon den Bezug auf diejenigen Verwirklichungsprozesse, in denen die fragliche Entität als positiver Faktor auftritt. Obgleich also alles in gewissem Sinne wirklich ist, braucht es nicht unbedingt in einer bestimmten Menge wirklicher Vorgänge realisiert zu sein. Notwendig ist nur, daß res irgendwo verwirklicht und an irgendeinem wirklichen Gebilde zu entdecken ist. Es gibt nichts, was nicht in irgendeinem Sinne, physisch oder begrifflich, verwirklicht worden ist. Der Ausdruck »wirklich« kann natürlich auch die Differenzen markieren, die sich aus dem Kontrast zwischen physischer und Lbegrifflicher Verwirklichung ergeben. 358 VI. 358f. Bei beliebigen Mengen wirklicher Vorgänge werden die einzelnen Vorgänge durch ihre wechselseitige Immanenz miteinander vereinigt; und in dem Grade, in dem sie miteinander vereinigt sind, erlegen sie sich wechselseitige Beschränkungen auf. Bei dieser wechselseitigen Immanenz und Beschränkung zwischen Paaren von Vorgängen handelt es sich offensichtlich nicht um eine symmetrische Beziehung, weil – außer im Falle der Gleichzeitigkeit – einer der beiden Vorgänge immer zur Zukunft des anderen gehören wird. Infolgedessen wird der frühere dem späteren als Wirkursache immanent sein, der spätere dem früheren hingegen im Modus der Antizipation wie ich es ja schon vorhin ausführlicher erläutert habe. Jede Gruppe von Vorgängen, die man sich auf diese Weise zu einer Einheit zusammengefaßt vorstellen kann, werde ich als einen Nexus bezeichnen. Die Einheit eines solchen Nexus läßt sich nur trivial beschreiben, wenn die zu ihm gehörigen Vorgänge im Universum verstreut sind und im Status weit voneinander differieren. Wenn dagegen der Einheit Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 7 des Nexus eine dominierende Bedeutung zukommt, entstehen Nexūs unterschiedlichen Typs, die ich als Regionen, Gesellschaften, Personen, dauernde Objekte, körperliche Substanzen, lebende Organis/men, Ereignisse usf. bezeichnen werde, wobei entsprechende Ausdrücke für die Abstufungen der Komplexität, deren die Natur fähig ist, noch zu finden wären. Es wird genügen, wenn ich im nächsten Kapitel einige dieser Typen von Nexūs kurz skizziere. 359 VII. Wenn wir an Beschränkungen (bzw. Zwang) und Freiheit denken, denken wir meist an die Werte, die im Zusammenhang mit ihnen verwirklicht werden, und auch an ihren Gegensatz. Aber man kann sie auch noch anders betrachten. Wir können uns z. B. fragen, was in der Natur der physischen Dinge die physische Verwirklichung von Freiheit, Zwang, oder einer verträglichen Mischung beider bedingt. Tatsächlich interpretieren wir ja die Geschichte der Menschheit ganz gewohnheitsmäßig im Hinblick auf die Verwirklichung von Freiheit oder Zwang. Wenn man von der Verwirklichung dieses Gegensatzes in physischen Vorgängen absieht, bleibt von der Geschichte der zivilisierten Menschheit nur eine sinnlose Folge von Ereignissen übrig, ein Spiel der Emotionen um Begriffe, die für die physischen Fakten total irrelevant bleiben. 359f. Die wechselseitige kausale Unabhängigkeit gleichzeitiger Vorgänge ist die Grundtatsache, auf der die Freiheit in der Welt beruht. Die neuen Möglichkeiten, denen sich die gleichzeitige Welt gegenübersieht, werden von den gleichzeitigen Vorgängen unabhängig und isoliert voneinander aufgegriffen. Es stimmt nicht, daß alles, was geschieht, sofort und unmittelbar zu einer Bedingung wird, der sich alles übrige fügen muß. Die Vorstellung einer vollständigen wechselseitigen Determination impliziert eine übertriebene Vorstellung von der Gemeinschaftlichkeit und Einheitlichkeit der Welt. Es gibt in der wirklich existierenden Welt durchaus Anwendungsmöglichkeiten für Begriffe wie »sporadisches Auftreten« und »füreinander irrelevant«. überdies ergibt sich aus der – durch / die wechselseitige Unverträglichkeit unterschiedlicher subjektiver Formen bedingten – perspektivischen Elimination von Gegebenheiten nodi ein weiterer Freiheitsspielraum. Die voraufgegangene Umwelt wird bei der Determination der Anfangsphase eines aus ihr entspringenden Vorgangs nicht in vollem Umfang wirksam. Es gibt Faktoren in ihr, die eliminiert werden, bevor sie als explizite Gegebenheiten in den neu entstehenden Vorgang eingehen können. Der fließende Strom reinigt sich selbst – oder aber er verliert einiges von der Klarheit, die er sich unter glücklicheren Umständen erhalten hätte. Die Anfangsphase eines jeden neu entstehenden Vorgangs repräsentiert einen Kampf innerhalb des Vergangenen um die in die Zukunft hinausreichende objektive Existenz. Der Schiedsrichter in diesem Kampf ist der oberste Eros, der sich als erste Phase individueller und subjektiver Zielsetzung im neuen Verwirklichungsprozeß inkarniert. Man kann also ganz nach Belieben irgend zwei Vorgänge in der Welt herausgreifen und wird in jedem von beiden Elemente finden, die für die Konstitution des anderen irrelevant sind. Und wenn man diesen Umstand vergißt, verfällt man nur allzu leicht in eine übertrieben moralische Betrachtungsweise. Glücklicherweise gibt es eine ganze Menge Dinge, die nicht so furchtbar wichtig sind, und bei denen wir es halten können, wie wir Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 8 wollen. Die gegenteilige Auffassung ist immer eine Brutstätte des Fanatismus gewesen und hat unsere Geschichte mit Momenten der Bestialität befleckt. 360 VIII. 360f. Wenn wir die Welt unter dem Gesichtspunkt der hier entwickelten Metaphysik richtig verstehen wollen, müssen wir uns über die Rolle klarwerden, die Wirkursachen, teleologische Selbsterschaffung, perspektivische Elimination, die wechselseitige kausale Unabhängigkeit der gleichzeitigen Vorgänge, die Gesetze, die während ausgedehnter Epochen die herrschenden Ordnungsformen bestimmen, und schließlich auch noch / die Ordnungen von geringerer Dauerhaftigkeit innerhalb der Epochen – und zwar jeweils im Verhältnis zueinander —spielen. Das Verständnis, das wir dabei anstreben, ließe sich auch noch auf andere Weise, nämlich durch die folgenden Gegensatzpaare charakterisieren: Zwang und Freiheit, überleben und Untergang, Tiefe und Trivialität des Fühlens, begriffliche und physische Verwirklichung, Erscheinung und Wirklichkeit. Bei jeder Schilderung der Abenteuer der Ideen geht es darum, wie die Ideen zwischen diesen Gegensatzpaaren hindurch ihren Weg verfolgen. 361 Wenn wir die Struktur der Epoche des Universums betrachten, in der wir uns selbst befinden, entdecken wir eine Abfolge geschichteter Ordnungstypen, bei der jede Schicht einen zusätzlichen Ordnungstyp für eine begrenzte Region einführt, die im übrigen am allgemeineren Ordnungstyp einer weiteren Umwelt teilhat. Und diese weitere Umwelt ist ihrerseits wiederum nur eine begrenzte Region innerhalb der ganzen uns bekannten Schöpfungsperiode. Man kann jede dieser Regionen – zusammen mit der Klasse der in ihr dominierenden Ordnungsbeziehungen – entweder im Hinblick auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihren Teilen betrachten, oder aber im Hinblick auf die Wirkung, die sie als einheitliches Ganzes auf das Erleben eines außenstehenden Beobachters hat. Außerdem gibt es noch eine dritte Betrachtungsweise, die die beiden ersten in sich vereinigt: Es kann eich bei dem Wahrnehmenden um einen Erlebensvorgang handeln, der selber dieser Region angehört, sie aber dennoch als eine begreift, einschließlich seiner Mitgliedschaft in ihr. 361f. Wenn man eine Region unter dem ersten Gesichtspunkt analysiert, stellt sie sich als etwas dar, was bestimmten Naturgesetzen – nämlich den in ihr vorherrschenden Ordnungsbeziehungen – unterworfen ist. Bei der zweiten Betrachtungsweise tritt an die Stelle der Analyse die Synthese, und die Region nimmt den Charakter einer fortdauernden Einheit an, deren Wesen durch einen bestimmten Komplex von ihr wohnenden Merkmalen bestimmt wird. Dieser Komplex von Wesensmerkmalen, der bei der zweiten Betrachtungsweise in den Blick kommt, ist nichts anderes als die Klasse der innerhalb dieser Region herrschenden Naturgesetze, die von der ersten, analytischen Betrachtungsweise enthüllt worden sind. Jede dieser Betrachtungsweisen betont (auf ihre Weise) die Identität der Wesenszüge, die sich durch die konkrete wechselseitige Verknüpfung der Vielzahl von Vorgängen, aus denen die betreffende Region besteht, hindurchzieht. Jede solche Region ist also auf zweifache Weise eine Einheit: zuerst einmal einfach aufgrund des Verknüpfungszusammenhangs, der sich aus der wechselseitigen Immanenz der ihr angehörenden Vorgänge ergibt, und zweitens aufgrund der durchgängigen Identität der Wesenszüge, die bewirkt, daß die verschiedenen Teile der Region gegenüber je- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 9 dem außenstehenden Vorgang eine analoge Rolle spielen. Eine Region mit den in ihr herrschenden Naturgesetzen ist also das Gleiche wie eine dauernde Substanz mit ihren Wesensmerkmalen. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 362 10 XIII. Die Gruppenbildung bei realen Vorgängen I. 362f. Das Zusammenfassen von Vorgängen zu Gruppen ist das Ergebnis einer von diesen Vorgängen im wahrnehmenden Erleben ausgeübten gemeinsamen Funktion. Die in der Gruppe zusammengefaßten Vorgänge werden dann zu einer Einheit; sie werden, im Erleben des Wahrnehmenden, zu einem Ding, allerdings zu einem Ding, das komplex ist, weil es sich in eine Vielzahl von Vorgängen – oder auch in eine Vielzahl von untergeordneten Gruppen von Vorgängen – zerlegen läßt. Diese untergeordneten Gruppen von Vorgängen sind dann ihrerseits komplexe Einheiten, von denen jede der gleichen metaphysischen Seinskategorie angehört wie die Gesamtgruppe. Dieses Charakteristikum, nämlich die Zerlegbarkeit in Untergruppen eines dem Existenzcharakter nach analogen / Typs, bildet die Grundlage des allgemeinen Begriffs der Ausgedehntheit. Wenn und insofern es im einzelnen bestimmbare Beziehungen gibt, die sich systematisch über die ausgedehnten Gruppen einer bestimmten Epoche verteilen, konstituieren sie die Geometrie, die für diese Epoche gültig ist. 363 Die allgemeinste gemeinsame Funktion, die von jeder beliebigen Gruppe realer Vorgänge ausgeübt wird, ist die der wechselseitigen Immanenz. Platonisch gesprochen handelt es sich bei dieser Funktion um die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen »Worin«. Wenn man eine Gruppe von Vorgängen nur im Hinblick auf diese fundamentale Eigenschaft der wechselseitigen Immanenz betrachtet – unabhängig von der Relevanz, die diese Immanenz für die einzelnen Mitglieder der Gruppe haben mag oder nicht, also rein als eine Gruppe, die diese allgemeinste Form des Zusammenhangs exemplifiziert – wollen wir von einem Nexus sprechen. 363f. Bei der Verwendung des Terminus »Nexus« wird also kein spezieller Ordnungstyp vorausgesetzt, ja, es wird nicht einmal vorausgesetzt, daß es unter den Mitgliedern des Nexus überhaupt eine Ordnung gibt, sondern nur, daß sie der allgemeinen metaphysischen Notwendigkeit der wechselseitigen Immanenz unterliegen. Faktisch bringt die–immer auf erhöhte Intensität und Vielfalt abzielende Teleologie des Universums jedoch nur Epochen hervor, in denen vielfältige, eine Vielzahl von untergeordneten Nexūs beherrschende Ordnungstypen miteinander verflochten sind. Ein Nexus kann sowohl räumlich als auch zeitlich ausgedehnt sein; mit anderen Worten: er kann Klassen von Vorgängen umfassen, die gleichzeitig sind, und auch solche, die relativ zueinander der Vergangenheit bzw. der Zukunft angehören. Wenn ein Nexus rein räumlich ist, kann es in ihm kein Paar von Vorgängen geben, bei dem der eine Vorgang zeitlich früher liegt als der andere. Die wechselseitige Immanenz zwischen den Vorgängen dieses Nexus wird dann durch die für gleichzeitige Vorgänge typische Indirektheit charakterisiert. Aus diesem Grunde wird unsere Raumanschauung immer von der Vor/stellung des »Außerlichseins« beherrscht. Wenn es sich dagegen um einen rein zeitlichen Nexus handelt, kann es in ihm kein Paar von gleichzeitigen Vorgängen geben: er bildet dann eine unverzweigte Kette zeitlicher Übergänge von einem Vorgang zum nächsten. Die Vorstellung eines zeitlichen Übergangs läßt sich nie ganz von der der »Verursachung« trennen. Überhaupt enthält diese letztere nur einen speziel- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 11 len Gesichtspunkt, unter dem die unmittelbare Immanenz des Vergangenen in der Zukunft aufgefaßt wird. 364 II. Das unmittelbare Benachbartsein von Vorgängen ist ein wichtiger Begriff. Zwei nichtgleichzeitige Vorgänge sind benachbart, wenn es keinen dritten Vorgang gibt, der dem einen voraufgeht und dem anderen nachfolgt. Ein rein zeitlicher Nexus von Vorgängen ist stetig, wenn (mit Ausnahme des ersten und des letzten Vorgangs) jeder Vorgang in ihm einen unmittelbar vorausgehenden und einen unmittelbar nachfolgenden Nachbarn hat. Der Nexus verläuft dann gleichsam wie ein Faden in einer stetigen zeitlichen bzw. seriellen Ordnung, wobei es für den ersten und den letzten Vorgang in dieser Ordnung natürlich nur einseitige Nachbarschaften gibt. 364f. Die räumliche Nachbarschaft ist etwas schwieriger zu definieren; man kommt dabei ohne Zuhilfenahme der zeitlichen Dimension nicht aus. Den Ansatzpunkt der Definition bildet unsere frühere Feststellung, daß keine zwei gleichzeitigen Vorgänge genau die gleiche Vergangenheit haben können. Wenn also A und B gleichzeitige Vorgänge sind, gehören zur Vergangenheit von A einige Vorgänge, die nicht zur Vergangenheit von B gehören, und zur Vergangenheit von B gehör(-ii Vorgänge, die nicht zur Vergangenheit von A gehören. A und B sind nun benachbart, wenn gilt, daß es (i) keinen Vorgang gibt, der sowohl mit A als mit B gleichzeitig ist, und dessen Vergangenheit (ii) sämtliche Vorgänge enthält, die der Vergangenheit von A, der Vergangenheit von B, oder beiden / angehören. Die Einzelheiten dieser Definition sind hier nicht weiter wichtig. Wichtig – und zwar entscheidend wichtig – ist nur der Grundsatz, daß sich die wechselseitigen Beziehungen zwischen den gegenwärtigen Vorgängen aus ihrer Vergangenheit herleiten. Das ist der Grund, warum wir die mit uns gleichzeitige Welt als eine Kollektion lebloser Substanzen erleben, die passiv irgendwelche ihnen auferlegte Eigenschaften tragen. 365 Halten wir fest, daß sich die zeitliche und räumliche Nachbarschaft mit Hilfe der wechselseitigen Immanenz aller Vorgänge definieren läßt. Im weiteren könnten wir dann mit Hilfe des Nachbarschaftsbegriffs eine Region als einen Nexus definieren, in dem gewisse Nachbarschaftsverhältnisse erhalten bleiben. Aber die logischen Details dieser Definition sind für unsere Diskussion hier irrelevant. Wir haben bisher ausschließlich Arten von Nexüs betrachtet, deren Einheitlichkeit auf dem bloßen Faktum der wechselseitigen Immanenz beruht. Wir wollen diese Gattung von Nexüs als die Gattung bezeichnen, deren Arten sich ausschließlich durch Verschiedenheiten der rein extensiven Strukturierung unterscheiden, oder kurz als die Gattung der strukturierten Nexūs (the Genus of Patterned Nexūs). Jeder Nexūs gehört zu einer der Arten dieser Gattung, wenn man von den qualitativen Faktoren, die mit seiner Struktur verwoben sind, abstrahiert. III. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 12 Wir kommen als nächstes zum allgemeinen Begriff einer Gesellschafl von Vorgängen, durch den die allgemeine Betrachtung der Ordnungstypen und ihrer genetischen Ausbreitung ringeleitet wird. Bei seiner Definition muß man Faktoren in Betracht ziehen, die in der Analyse der Gattung der strukwrierten Nexüs übergangen worden sind. 365f. Eine Gesellschaft ist ein Nexus, der einen bestimmten Typus »gesellschaftlicher Ordnung« illustriert, bzw. »an ihm teil/hat«.Und »gesellschaftliche Ordnung« läßt sich nun wie folgt definieren: 366 »Ein Nexus besitzt eine >gesellschaftliche Ordnung<, wenn es (i) ein gemeinsames formendes Element gibt, das in die Bestimmung jedes zu ihm gehörenden realen Gebildes eingeht, wenn (ii) das Entstehen dieses gemeinsamen formenden Elements in jedem Mitglied des Nexus durch die Bedingungen bewirkt wird, die diesem Mitglied anläßlich seines Erfassens anderer Mitglieder des Nexus auferlegt werden, und wenn (iii) die betreffenden Akte des Erfassens die entsprechenden Reproduktionsbedingungen auf dem Wege eines positiven, die fragliche gemeinsame Form einschließenden Fühlens hervorbringen. Ein derartiger Nexus ist eine >Gesellschaft<, und das gemeinsame formende Element ist das >definierende Charakteristikum< dieser Gesellschaft.«1 Oder, in einer anderen Fassung dieser Definition: »Worauf es bei einer >Gesellschaft< in dem hier intendierten Sinn des Worts ankommt, ist, daß sie sich selbst erhält, mit anderen Worten: daß sie selber der Grund ihres Daseins ist. Eine Gesellschaft ist also mehr als eine Menge realer Gebilde, auf die sich derselbe Klassenname anwenden läßt, d. h. sie involviert mehr als bloß mathematische Formen von >Ordnung<. Wenn es sich bei einer Klasse um eine Gesellschaft handeln soll, muß der Klassenname deshalb auf jedes ihrer Mitglieder anwendbar sein, weil es in seiner Genese aus anderen Mitgliedern dieser Gesellschaft abgeleitet ist. Die Mitglieder einer Gesellschaft sind untereinander gleich, weil sie sich infolge des ihnen gemeinsamen definierenden Charakteristikums wechselseitig die Bedingungen auferlegen, die zu dieser Gleichheit führen«.2 366f. Aus diesen Bestimmungen des Begriffs »Gesellschaft« (in der hier gemeinten Verwendung) geht ganz klar hervor, daß eine Klasse gleichzeitiger Vorgänge keine vollständige Gesellschaft / bilden kann, weil zwischen ihnen die geforderten genetischen Beziehungen nicht möglich sind. Natürlich können gleichzeitige Vorgänge einer Gesellschaft angehören; aber die Gesellschaft als solche muß ihre Vorgänger und Nachfolger mitumfassen. Mit anderen Worten: was eine Gesellschaft auszeichnet, ist der ihr eigentümliche Charakter der Dauerhaftigkeit. Die wirklichen Dinge (real actual things), die von Dauer sind, sind ausnahmslos Gesellschaften, nicht aber einzelne Vorgänge (actual occasions). Die Verwechslung von Gesellschaften mit den im vollsten Sinne wirklichen Dingen, den einzelnen Vorgängen, ist ein Fehler, der für die europäische Metaphysik schon seit der Zeit der Griechen immer wieder verderblich geworden ist. Eine Gesellschaft hat wesentliche Charakteristika, die 1 Vgl. Process and Reality, I. Teil, Kap. III, Abschn. II., hier geringfügig abgeändert. 2 Vgl. Process and Reality, II. Teil, Kap. III, Abschn. II. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 13 sie zu der Gesellschaft machen, die sie ist, und daneben besitzt sie zufällige Eigenschaften, die sich mit den Umständen ändern. Eine Gesellschaft–als ein vollständig Seienden, das sich seinen metaphysischen Status auf Dauer erhält–hat also eine Geschichte, in der ihre sich wandelnden Reaktionen auf die sich wandelnden Umstände zum Ausdruck, kommen. 3 Aber ein einzelner realer Vorgang hat keine Geschichte. Er verändert sich nie. Er wird und er vergeht; und in diesem Vergehen übernimmt er eine neue metaphysische, Funktion im schöpferischen Fortschritt des Universums. 367f. Das Sich-selbst-Gleichbleiben einer Gesellschaft beruht auf dem Sich-selbstGleichbleiben ihres definierenden Charakteristikums und auf der wechselseitigen Immanent der zu ihr gehörenden Vorgänge. Aber es gibt keinen bestimmten Nexus, den man als den Nexus bezeichnen könnte, der dieser Gesellschaft zugrundeliegt, es sei denn, daß die Gesellschaft schon im ganzen der Vergangenheit angehört. Denn der realisierte Nexus, der der Gesellschaft zugrundeliegt, wächst mit dem schöpferischen Fortschritt in die Zukunft ständig an. So nimmt z. B. das Leben eines Menschen immer um noch einen Tag / zu, und die Lebensdauer der Erde um noch ein weiteres Jahrtausend. Und solange der Mensch nicht gestorben ist und die Erde nicht aufgehört hat zu existieren, gibt es keinen bestimmten Nexus, den man uneingeschränkt mit diesem Menschen oder mit dieser Erde gleichsetzen könnte. 368 IV: Aber obgleich es keinen Nexus gibt, den man als den Nexus dieser Gesellschaft bezeichnen könnte, solange die Gesellschaft existiert, gibt es doch eine Abfolge von Nexus, von denen jeder die Gesellschaft bis zu einem bestimmten Realisierungsstadium repräsentiert. Die verschiedenen Mitglieder einer solchen, ein und dieselbe Gesellschaft repräsentierenden Folge können unterschiedliche Ausdehnungsstrukturen (extensive patterns) haben. In diesem Falle können die Ausdehnungsstrukturen–eben wegen ihrer Unterschiedlichkeit–nicht zum definierenden Charakteristikum der Gesellschaft gehören. Aber die Ausdehnungsstrukturen der verschiedenen Nexūs der Folge können auch identisch sein, oder zumindest gemeinsame Züge haben. Und in diesem Falle kann dann die gemeinsame Struktur (bzw. die durchgängigen strukturellen Merkmale) Bestandteil des definierenden Charakteristikums der fraglichen Gesellschaft sein. 368f. Das einfachste Beispiel für eine Gesellschaft, in der die Abfolge der Nexūs ihrer fortschreitenden Verwirklichung eine gemeinsame Ausdehnungsstruktur besitzt, haben wir in dem Fall, wo jeder solche Nexus einen rein zeitlichen und stetigen Charakter hat. Die betreffende Gesellschaft besteht dann in jedem ihrer Realisierungsstadien aus einer Menge benachbarter Vorgänge in serieller Anordnung. So ist z. B. ein Mensch, wenn man ihn als ein zeitlich dauerndes Wahrnehmungssubjekt definiert, eine Gesellschaft dieses Typs. Diese Definition des Menschen trifft übrigens genau das, was Descartes mit seiner »denkenden Substanz« gemeint hat. Wie wir uns erinnern, heißt es bei ihm im 3 Der hier verwendete Begriff der Gesellschaft ist mit dem Substanzbegriff hei Descartes vergleichbar: vgl. die Prinzipien LI-LVII im ersten Teil der »Prinzipien der Philosophie«. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 14 Prinzip XXI des ersten / Teils seiner »Prinzipien der Philosophie« und auch in der dritten Meditation, daß die Dauer nichts anderes ist als ein ständiges Wiedererschaffenwerden durch Gott. Der cartesische Begriff von der menschlichen Seele und der hier entwickelte unterscheiden sich also nur durch die Funktion, die bei Descartes Gott zugeschrieben wird. In beiden gibt es eine Abfolge von Vorgängen, bei der jedem Vorgang ein gewisses Maß von innerer Vollständigkeit zukommt. 369 Die Gesellschaften dieses allgemeinen Typs, bei dem die realisierten Nexus immer rein zeitlich und stetig sind, werden im folgenden als »personale Gesellschaften« bezeichnet; und jede einzelne Gesellschaft dieses Typs kann man als »Person« bezeichnen. Entsprechend der eben angeführten Definition ist ein Mensch also eine Person. Aber ein Mensch ist ja mehr als eine reine Abfolge von Erlebensvorgängen. Wenn man ihn als eine solche Abfolge definiert, stellt das vielleicht Philosophen–unter anderem auch Descartes–zufrieden, hat aber mit der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes »Mensch« nicht mehr sehr viel zu tun. Lebende Wesen haben nicht nur ein Innenleben, sondern auch einen Körper; und soweit unsere Erfahrung reicht, gibt es ein Innenleben nur, wo es auch einen Körper gibt. Der Körper eines lebenden Wesens ist nun aber eine Gesellschaft, die eine ungeheure Anzahl von räumlich und zeitlich koordinierten Vorgängen umfaßt. Und daraus folgt, daß »Mensch« im vollen Umfang der üblichen Bedeutung dieses Ausdrucks sich mit der hier definierten »Person« nicht deckt. Die Einheit eines Menschen ist die Einheit einer umfassenderen Gesellschaft, bei der die Koordinationsformen der Gesamtgesellschaft für das Verhalten der verschiedenen Teile eine dominierende Rolle spielen. 369f. Wenn wir die Welt des Lebendigen, der Pflanzen und der Tiere, im ganzen betrachten, finden wir alle möglichen Typen von Körpern. Jeder lebende Körper ist eine nichtpersonale Gesellschaft. Aber bei den meisten Tieren– und jedenfalls bei allen Wirbeltieren–wird das Gesamtsystem offenbar / von einer Untergesellschaft beherrscht, die personalen Charakter hat. Diese Untergesellschaft gehört dem gleichen Typ an wie der im Sinne unserer früheren Definition mit »Person« gleichgesetzte »Mensch«, obgleich die Bewußtseinsbzw. psychischen Pole (mental poles) in den Vorgängen der dominierenden personalen Gesellschaft die Höhe des menschlichen Bewußtseinslebens natürlich in den meisten Fällen nicht erreichen. In gewisser Weise ist ein Hund also eine »Person«, in einer anderen Hinsicht dagegen eine nichtpersonale Gesellschaft. Bei den niederen Tieren und bei allen Pflanzen scheint es derartige dominierende personale Untergesellschaften nicht zu geben. Ein Baum ist eine demokratische Gesellschaft. Ein lebender Körper ist also nicht unbedingt dasselbe wie ein Körper, der von einer Person beherrscht wird. Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang zwischen »Lebendigkeit« und »Personalität«. Eine personale Gesellschaft braucht–im normalen Sinne des Worts– nicht »lebendig« zu sein; und eine »lebende« Gesellschaft braucht nicht »personal« zu sein. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 370 15 V. Das Universum erreicht die in ihm verwirklichten Werte vermöge seiner Koordination, in der es »Gesellschaften von Gesellschaften« und »Gesellschaften von Gesellschaften von Gesellschaften« gibt. So ist z. B. eine Armee eine Gesellschaft, die aus Regimentern besteht, Regimenter sind Gesellschaften, die aus Männern bestehen, diese Männer wiederum sind Gesellschaften, die aus Zellen, aus Fleisch, Blut und Knochen bestehen, zusammen mit der dominierenden Gesellschaft des personalen menschlichen Erlebens, und die Zellen schließlich sind ihrerseits auch wieder Gesellschaften, die aus Elementarteilchen wie Protonen bestehen, usw. usf. Außerdem setzen alle diese Gesellschaften einen umgebenden Raum gesellschaftlicher physischer Aktivität voraus. 370f. Es ist klar, daß die hier vorgeführte Definition von »Gesellschaft« noch so gefaßt ist, daß sie eine unzulässig vereinfachte / Vorstellung vom Gemeinten suggerieren muß. So müßte man z. B. den Begriff des »definierenden Charakteristikums« noch so erweitern, daß er den Begriff einer Koordination von Gesellschaften miteinschließt. Dabei würde sich dann herausstellen, daß es unterschiedliche Niveaus von Gesellschaften gibt. Eine Armee z. B. ist eine Gesellschaft, die sich auf einem anderen Niveau befindet als ein Regiment; und ein Regiment ist auf einem anderen Niveau als ein einzelner Mann. Die Natur ist ein Komplex von dauernden Objekten, die als untergeordnete Elemente in einer umfassenden raumzeitlichen Gesellschaft funktionieren. Diese umfassende Gesellschaft ist für uns das Universum der Natur. Es gibt jedoch keinen Grund, dieses Universum schon mit der grenzenlosen Gesamtheit aller wirklichen Dinge gleichzusetzen. 371 Darüber hinaus bildet jedes dieser dauernden Objekte–sei es nun ein Tisch, ein lebender Körper oder ein Stern–selber so etwas wie ein untergeordnetes Universum, das untergeordnete dauernde Objekte in sich enthält. Die einzige im strikten Sinne personale Gesellschaft, von der wir eine unmittelbare und deutliche Anschauung haben, ist die Gesellschaft, die von unseren eigenen Erlebensvorgängen gebildet wird. Daneben gibt es noch eine unmittelbare, allerdings weniger deutliche Anschauung vom Abgeleitetsein unseres Erlebens aus vorgängigen körperlichen Funktionen und–bei einem weiteren Verlust an Deutlichkeit–vom Abgeleitetsein unseres Körpers aus der äußeren Umwelt überhaupt. 371f. Wenn man die Natur beobachtet, will es so scheinen, als ob es in ihr Lücken gibt; aber wenn man diese Lücken zu fassen versucht, läßt sie sie gleichsam unversehens wieder verschwinden. So erwecken normale materielle Körper z. B. den Eindruck undurchdringlicher Festigkeit. Aber feste Körper können in den flüssigen Aggregatzustand übergehen, und flüssige in den gasförmigen. Und unter bestimmten Gesichtspunkten muß man die festesten Substanzen, die es gibt, wie eine besonders zähe Flüssigkeit behandeln. Auch die Undurchdringlichkeit ist ein schwieriger Begriff. Salz löst sich in Wasser / auf und kann aus dem Wasser wiedergewonnen werden. Moleküle bilden sich, wenn Atome in bestimmten Konfigurationen miteinander verschmelzen. Nahrungsstoffe lösen sich im Körper auf und erzeugen alsbald ein diffuses Gefühl der körperlichen Stärkung und Erfrischung–was sich vor allem an flüssigen Stimulanzien beobachten läßt. Jeder unmittelbare Eindruck von Undurchdring- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 16 lichkeit verliert also bei näherem Zusehen seinen klaren und unbezweifelbaren Status. 372 VI. Ein weiterer derartiger Unterschied ist der zwischen lebenden und unbelebten Körpern. Wenn wir lebende Körper analysieren, können wir die Schranke, an der wir zum Unbelebten übergehen, nicht genau markieren. Und die Funktionen der unbelebten Materie scheinen sich reibungslos in die Funktionen des Lebendigen einzufügen. Es scheint so, als ob in den unbestreitbar lebenden Körpern eine Koordination erreicht worden wäre, durch die gewisse, schon den Fundamentalvorgängen inhärente Funktionen verstärkt werden. Bei der unbelebten Materie löschen diese Funktionen sich wechselseitig aus und produzieren so, im Durchschnitt und insgesamt, keinen merklichen Effekt. Bei lebenden Körpern dagegen wird dies durch die Koordination der Grundfunktionen verhindert, und es kommt dann zu einem durchaus bemerkbaren Durchschnittseffekt. 372f. Diejenigen Aktivitäten bei der Selbstgestaltung der realen Vorgänge, die im Falle ihrer Koordination zu lebenden Gesellschaften führen, sind die vermittelnden psychischen Funktionen, durch die die Rezeption der Anfangsphase in die Antizipation der Endphase übergeführt wird. Überall, wo die psychische Spontaneität der Vorgänge sich nicht wechselseitig auslöscht, sondern inmitten sich verändernder Umstände auf ein gemeinsames Ziel gerichtet bleibt, gibt es Leben. Das Wesen des Lebens besteht in der teleologischen Durchsetzung des Neuen, die auf einer gewissen Konformität der Zielsetzungen basiert. Neuen Umständen wird dabei mit neuen Funktionen begegnet, die der sich durchhaltenden Zwecksetzung angepaßt sind. 373 Die Lebendigkeit kann eine Klasse von Vorgängen charakterisieren, die sich über eine ganze Gesellschaft verteilt, ohne daß alle–oder auch nur die meisten–Vorgänge dieser Gesellschaft dieser Klasse anzugehören brauchten. Das gemeinsame Element der Zweckhaftigkeit, das diese Vorgänge charakterisiert, muß dann zu den Bestandteilen des definierenden Charakteristikums dieser Gesellschaft gezählt werden. Es ist klar, daß man nach dieser Definition keinen Einzelvorgang als lebendig bezeichnen kann. Lebendigkeit ist die Koordination psychischer Spontaneitäten, die alle Vorgänge einer Gesellschaft durchzieht. Aber auch ganz abgesehen von der Frage nach dem Leben scheint ein hoher Grad psychischer Entfaltung bei einem Einzelvorgang unmöglich zu sein. Eine personale Gesellschaft, die selbst lebendig ist und eine sie umfassende lebendige Gesellschaft beherrscht, ist der einzige Organisationstyp, der Vorgänge mit einem hohen Grad psychischer Entfaltung hervorbringen kann. Der Körper eines lebenden Menschen besteht aus einer Vielzahl lebendiger Gesellschaften, deren Vorgänge, unter dem Gesichtspunkt der psychischen Entfaltung betrachtet, auf einem niederen Niveau verharren. Aber im ganzen ist er so koordiniert, daß er eine lebende personale Gesellschaft trägt, deren Vorgänge einen hohen Grad psychischer Entfaltung erreichen. Diese personale Gesellschaft ist der Mensch, sofern man ihn als Person definiert. Sie ist die Seele, von der Platon gesprochen hat. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 17 373f. Wieweit es für diese Seele eine Existenzgrundlage gibt, die über den Körper hinausreicht, ist eine andere Frage. Das ewigdauernde Wesen Gottes–das in einem Sinne außerzeitlich, in einem anderen aber zeitlich ist–könnte mit der Seele eine besonders intensive Beziehung der wechselseitigen Immanenz entwickeln. Auf diese Weise wäre es denkbar, daß die Seele–in einem gewichtigen Sinne–aus der vollständi/gen Abhängigkeit von der sie umfassenden körperlichen Organisation befreit werden kann. 374 Man muß dabei jedoch anmerken, daß es bei lebenden Wesen immer ein Mehr oder Weniger an Personalität geben kann. Man kann nicht fragen, ob der Mensch oder das Tier eine Seele hat oder nicht, sondern die Frage muß lauten: Wieviel Seele gibt es hier, wenn es überhaupt eine gibt? Jede Entwicklung, die zur Herausbildung einer Mehrzahl von Personen hohen Entfaltungsgrades bei ein und demselben lebenden Wesen führte, müßte sich infolge der Divergenz der unterschiedlichen Zielsetzungen selbst zerstören. Anders gesagt: eine derartige Vervielfachung der Personalität würde das Wesen des Lebens selbst zerstören, das auf der Konformität einer durchgehaltenen Zwecksetzung beruht. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 18 XIV. Erscheinung und Wirklichkeit I. Im objektiven Inhalt eines Erlebensvorgangs gibt es sowohl »Erscheinung« als auch »Wirklichkeit«. Wobei gleich zu bemerken wäre, daß dies nicht die einzige Dichotomie ist, die sich in unserem Erleben feststellen läßt; denn bei jedem Erlebnis gibt es ja außerdem noch den physischen und den psychischen Pol, die erfaßten Objekte und die subjektiven Formell des Erfassens. Und metaphysisch gesehen ist das Gegensatzpaar »Erscheinung-Wirklichkeit« denn auch keineswegs so fundamental wie die beiden anderen, die ich eben genannt habe. 374f. Zunächst einmal betrifft die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit nicht das Ganze unseres Erlebens, sondern nur seinen objektiven Inhalt, während sie die subjektive Form des gegenwärtigen Erlebensvorgangs unberührt läßt. Und zweitens ist ihre Bedeutung nur gering, wenn man von den höheren Stufen des Erlebens absieht, auf denen es zu / einer eigentümlich komplexen Synthese zwischen physischen und psychischen Funktionen kommt. Auf diesen höheren Stufen allerdings beherrscht der Gegensatz zwischen Erscheinung und Wirklichkeit diejenigen Faktoren des Erlebens, die vom Bewußtsein besonders deutlich erkannt und unterschieden werden. Eigentlich sollte man also versuchen, durch eine tiefere Einsicht in die SubjektObjekt-Struktur des Erlebens und in die Rolle der in ihm auftretenden physischen und psychischen Funktionen zu einer Grundlegung der Metaphysik zu kommen. 375 Aber unglücklicherweise hat die beherrschende Rolle, die der Gegensatz zwischen Erscheinung und Wirklichkeit im Bewußtsein spielt, die Metaphysiker seit der Zeit der Griechen dazu verführt, von diesem oberflächlicheren Kontrast auszugehen. Dieser Fehler hat sich im modernen Denken stärker ausgewirkt als in der Philosophie der Antike und des Mittelalters, und zwar in Gestalt des konsequenten Festhaltens an der Überzeugung, daß die sensualistisch gedeutete Wahrnehmung die Grundlage jeder Erfahrungstätigkeit sein müsse. Außerdem hat er dazu geführt, daß man zwischen »Geist« und »Natur« eine unüberbrückbare Kluft sah: ein modernes Problem, das zuerst im cartesischen Dualismus Gestalt angenommen hat. Man sollte dabei jedoch nicht übersehen, daß es sich bei diesen modernen Entwicklungen um nichts weiter gehandelt hat als um die konsequente Durchführung von Gedanken, die bereits in der älteren europäischen Philosophie angelegt waren. Es hat eben nur zweitausend Jahre gedauert, bis man sich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert über die Konsequenzen dieser Gedanken vollkommen klargeworden ist. 375f. Die Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Wirklichkeit« hat ihren Ansatzpunkt in dem Prozeß der Selbstgestaltung, der sich in jedem realen Vorgang vollzieht. Der objek/tive Inhalt der rezipierenden Anfangsphase eines solchen Vorgangs ist die reale voraufgegangene Welt, so, wie sie für diesen Vorgang gegeben ist. Das ist die »Wirklichkeit«, die er schöpferisch zu verarbeiten beginnt, das fundamentale Faktum, dessen Konsonanzen und Dissonanzen ihre Aufnahme und Auflösung in ihm erwarten. Es gibt bis zu diesem Punkt nichts als die reale Wirksamkeit des Vergangenen, das seine Funktion der objektiven Unvergänglichkeit ausübt. Das ist das, was in diesem Augen- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 19 blick für diesen Vorgang die Wirklichkeit ist (wobei »Wirklichkeit« durchaus als Gegensatz von »Erscheinung« zu verstehen ist). In der nächsten, der Zwischenphase im Prozeß der Selbstgestaltung, bildet sich dann ein Ferment des qualitativen Bewertens aus. Diese qualitativen Fühlensakte leiten sich entweder direkt von den in der Anfangsphase gegebenen Qualitäten ab, oder aber indirekt, vermöge der Relevanz, die sie für die ursprünglichen Qualitäten haben. Diese begrifflichen Fühlensakte gehen dann neue Beziehungen untereinander ein, die mit einer neuen Gewichtung der subjektiven Form erfaßt werden. Das Ferment des Bewertens wird mit den physischen Erfassensakten des physischen Pols integriert. Der ursprüngliche objektive Inhalt ist in diesem Stadium also nach wie vor vorhanden, aber mit neuen, hybriden Erfassensakten, die aus der Integration mit dem begriffliche Ferment resultieren, überlagert und vermischt. Bei den höheren Typen von realen Vorgängen herrscht jetzt das fühlende Erfassen von gedankenartigen Vorstellungen (propositional feelings) vor. Dieser erweiterte objektive Inhalt erlangt eine ihn an die (die subjektive Zielsetzung des neuen Vorgangs erfüllenden) Gefühle und Zwecke adaptierende Koordination. 376f. Der psychische Pol gewinnt seinen objektiven Inhalt einesteils durch Abstraktion aus den Gegebenheiten des physischen Pols, andernteils aber verdankt er sie der Immanent des fundamentalen Eros, der alle idealen Möglichkeiten verwirklichungsfähig macht. Der Inhalt des objektiven Universums hat sich während dieses Prozesses aus der Grundlage für das Ent/stehen einer neuen Individualität in ein Instrument zur Verfolgung von Zwecksetzungen verwandelt. Und der Prozeß fühlt sich jetzt als Individuum vollendet: Cogito, ergo sum. (Wobei daran zu erinnern wäre, daß bei Descartes eine cogitatio mehr als ein rein intellektuelles Erfassen ist.) 377 Durch die Differenz zwischen dem objektiven Inhalt des physischen Pols in der Anfangsphasee und dem objektiven Inhalt der Endphase, in der es zu einer Integration zwischen dem physischen und dem psychischen Pol gekommen ist, wird das konstituiert, was für den betreffenden Vorgang »Erscheinung« ist. Mit anderen Worten: was »Erscheinung« ist, ist ein Resultat der Aktivität des psychischen Pols, durch den die Qualitäten und Koordinationen der gegebenen physischen Welt einer Transformation unterzogen werden. Sie ist das Ergebnis einer Verschmelzung des Idealen mit dem Aktualisierten: »The light that never was, on sea or land – ein Licht, wie man's an Land und auf See noch niemals sah«. 377 III. Es kann keine allgemeinen metaphysischen Prinzipien geben, nach denen sich festlegen ließe, wie sich bei einem bestimmten Vorgang die Erscheinung von der Wirklichkeit unterscheidet, aus der sie entsteht. Die Unterschiede zwischen Erscheinung und Wirklichkeit hängen vom Typ der sozialen Ordnung ab, die in der Umwelt des betreffenden Vorgangs herrscht. Alles, was wir zu diesem Thema unmittelbar wissen oder erschließen können, gilt nur für die gegenwärtige Epoche des Universums im allgemeinen, und im besonderen für das Tierleben auf der Oberfläche dieser Erde. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 20 377f. Bei den Vorgängen, aus denen sich die Gesellschaften anorganischer Körper oder des sogenannten leeren Raums zusammensetzen, gibt es keinerlei Grund für die Annahme, daß sich ihre psychischen Aktivitäten auf irgendeine bedeutsame Weise von Funktionen unterschieden, die denen der objektiven Gegebenheiten in der Anfangsphase strikt konformgehen. In ihnen / tritt nichts Neues auf; und die perspektivische Elimination ihres Gestaltungsprozesses folgt den »Naturgesetzen«, die der betreffenden Epoche inhärent sind. Die Kombination dieser Aktivitäten konstituiert die Gesetze der Physik; und effektiv entsteht dabei nichts, was als »Erscheinung« gelten könnte. 378 Bei den Vorgängen hohen Entfaltungsgrades dagegen, die zu den Bestandteilen des Tierlebens auf der Erdoberfläche gehören, liegen die Dinge völlig anders. Der Körper jedes Lebewesens ist im ganzen ein Sinnesorgan. Er bildet eine lebendige Gesellschaft, zu der unter Umständen auch eine dominante »personale« Gesellschaft von Vorgängen gehört. Diese »personale« Gesellschaft besteht aus den Vorgängen, die das individuelle Erleben des betreffenden Lebewesens ausmachen, das, was man beim Menschen die »Seele« nennt. Der ganze Körper ist so organisiert, daß eine allgemeine Koordination des Psychischen am Ende in der Abfolge der Vorgänge dieser personalen Gesellschaft zusammenfließt. Die »Erscheinung« ist bei diesen Vorgängen hinreichend koordiniert, um effektiv zu werden; und in der subjektiven Form dieser Erlebensvorgänge entsteht bei den höheren Tieren das Bewußtsein. Es entsteht ganz spezifisch im Zusammenhang mit den psychischen Funktionen und hat es vor allem mit dem von ihnen Hervorgebrachten zu tun. Insbesondere ist nun aber die »Erscheinung« ein Produkt des Psychischen, und deshalb spielt sie in unseren bewußten Wahrnehmungen eine dominierende Rolle. Sie besitzt eine Klarheit und Distinktheit, die unserem vagen und kompakten Gefühl der Abkunft aus der realen Welt völlig abgeht. Aus dem Erscheinenden ist dieser Unterton des Abgeleitetseins verschwunden; es lebt in unserem Bewußtsein als die für unser Empfinden und unsere Zwecksetzungen gegenwärtig verfügbare Welt. Die Welt stellt sich in der Erscheinung als das Material einer ihr auferlegten Tätigkeit dar, der Betätigung eines Vorgangs, der das Schöpferische des ganzen Universums gleichsam zu seiner eigenen Vollendung zusammengezogen und dabei von dem wirklichen, objektiven Inhalt, aus dem er selber herstammt, abstrahiert hat. 379 Dieser Status, den die »Erscheinung« in der Konstitution des Erlebens einnimmt, läßt den tieferen Grund für die verheerende metaphysische Meinung erkennen, daß die physische Materie ihre Eigenschaften rein passiv aufweise und frei von allem eigenen Empfinden sei. Sobald man Klarheit und Distinktheit zum Prüfstein der metaphysischen Bedeutung macht, muß man den wirklichen metaphysischen Status der »Erscheinung« völlig mißverstehen. IV. 379f. Wenn die höheren psychischen Funktionen in der Gesellschaft eines Organismus stabilisiert sind, kommt es zu einem Ver- schmelzen zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Betrachten wir, um gleich das augenfälligste Beispiel zu nehmen, die personale Abfolge der Erlebnisse im Leben eines Menschen. Unter den Gegebenheiten, die er im gegenwärtigen Vorgang seines personalen Lebens aufnimmt, kommt seinen voraufgegangenen Erlebensvor- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 21 gängen charakteristischerweise eine dominierende Rolle zu. Zum Inhalt dieser voraufgegangenen Erlebnisse gehört nun aber auch das, was in ihnen selbst »Erscheinung« war. Die vergangenen »Erscheinungen« sind Bestand-. teil der realen Funktion, die die reale, aktualisierte Welt in der Anfangsphase des unmittelbar gegenwärtigen Erlebensvorgangs hat. Es ist jetzt eine Naturtatsache, daß die Welt vom Standpunkt dieser vorausgegangenen Vorgänge des perzonalen Lebens aus so und nicht anders erschienen ist. Und wenn wir einmal vom Spezialfall der Personalität absehen, gilt ganz allgemein, daß die objektive Wirklichkeit des Vergangenen, die als solche in der Gegenwart ihre Funktion ausübt, zu ihrer eigenen Zeit »Erscheinung« war. Was früher Erscheinung war, nimmt jetzt den Charakter des Gegebenen an, wobei es in dem, was für den gegenwärtigen Vorgang Erscheinung ist, neu gewichtet und bewertet, weiter ausgeführt und noch anderweitig modifiziert werden kann. Auf diese Weise kommt es zu einer innigen und unauflöslichen / Verschmelzung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, zwischen vollendeten Tatsachen und Antizipation. Wir haben hier faktisch genau die Situation beschrieben, mit der es die philosophische Analyse beim menschlichen Erleben zu tun hat. Wir neigen dazu, diesen Verschmelzungsprozeß ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner höheren Entfaltungsgrade bei menschlichen Wesen zu betrachten. Tatsächlich aber vollzieht er sich überall in der Natur. Es liegt in seinem Wesen, daß nur so das Neue in die Gesamtheit der Funktionen dieser Welt eingehen kann. 380 V. Es wäre ein Fehler, wenn man annehmen wollte, daß die Rolle der psychischen Funktionen auf dem Niveau des menschlichen Intellekts darin bestünde, den Erfahrungs- bzw. Erlebnisinhalten größere Tiefe und Subtilität zu verleihen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das bewußt Psychische ist ein Agens der Simplifikation; und aus diesem Grunde handelt es sich bei der Erscheinung um eine unglaublich simplifizierte Version der Wirklichkeit. Das sollte uns eigentlich nicht weiter paradox vorkommen. Ein einziger Augenblick der Introspektion genügt, um uns die Schwäche unserer intellektuellen Operationen und die dunkle Kompaktheit unserer komplexen Gefühle des Abkünftigseins vor Augen zu führen. Der Punkt, der hier genauer erörtert werden muß, ist, wie diese Simplifikation im Erleben tierischer Organismen zustande kommt. 380f. Das beste Beispiel für diesen Simplifizierungsprozeß ist die Wahrnehmung, in der ein Gesellschaftsnexus als eine Einheit erscheint, mit charakteristischen Eigenschaften, die in Wirklichkeit auf seine einzelnen Mitglieder und deren wechselseitigen Zusammenhang zurückzuführen sind. Nach einigen Eliminationen nimmt man das definierende Charakteristikum des Nexus als eine Eigenschaft wahr, die unmittelbar dem Nexus als einheitlichem Ganzen zukommt. Allerdings schwankt man / bei derartigen Wahrnehmungsvorgängen häufig, ob die fragliche Eigenschaft der betreffenden Gruppe als einer Einheit, oder aber ihren einzelnen Mitgliedern als einer Vielheit zuzuschreiben ist. So kann man z. B. ein Orchester als einheitlichen Klangkörper als laut empfinden, aber auch als laut infolge des lauten Spielens seiner einzelnen Angehörigen. Wie die betreffende Eigenschaft von den Individuen auf die Gruppe als Gan- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 22 zes übertragen wird, läßt sich anhand der dabei ins Spiel kommenden psychischen Operationen erklären. Zunächst kommt es zu einem begrifflichen Auffassen (entertainment) der Eigenschaften, die die individuellen Wirklichkeiten aufweisen. Dabei verschmelzen die Eigenschaften, die viele Individuen gemeinsam haben, zu einem einheitlichen, dominierenden Eindruck. Dieses dominierende Erfassen (prehension) wird dann mit dem Nexus (oder mit einem Teil von ihm) integriert, und er wird als eine Einheit, die diese Eigenschaft aufweist, wahrgenommen. Die Assoziation des Nexus als einheitlichem Ganzen mit der Eigenschaft wird für das erlebende Subjekt im allgemeinen in einem anderen Exemplifikationsmodus erfolgen als in dem, in dem die betreffenden Individuen diese Eigenschaft aufweisen. Die Disziplin eines Regiments inhäriert dem Regiment als Ganzem auf andere Weise als seinen einzelnen Soldaten. Dieser Unterschied im Modus des Sichzeigens kann mehr oder weniger offensichtlich sein, besteht aber auf alle Fälle. Hier finden wir einen weiteren Grund für den Anschein, als ob es ein passives Aufweisen von Eigenschaften durch Substanzen gäbe: Die zusammengesetzte Gruppe weist ihre Eigenschaften passiv auf, weil die ihnen zugrundeliegenden Aktivitäten sich in den einzelnen Wirklichkeiten vollziehen. Ich habe diese ganze Frage – die Obertragung von Eigenschaften von der Vielzahl der Individuen auf den Nexus als einheitliches Ganzes – im dritten Teil von Process and Reality (Kapitel III, Abschnitt III) ausführlich diskutiert, wobei ich diesen Übertragungsprozeß als »Transmutation« bezeichnet habe. Das transmutierte Perzept – also das, was nach dieser Übertragung wahrgenom/men wird – gehört offensichtlich dem Bereich der »Erscheinung« an. Aber weil es ja im tierischen und menschlichen Erleben auftritt, gehört es der mit der Wirklichkeit verschmolzenen Erscheinung an: weil es sich aus der Vergangenheit vererbt. Es ist also eine Naturtatsache, daß die Welt so und nicht anders erscheint, eine Naturtatsache, der fundamentale strukturelle Verhältnisse innerhalb der belebten Natur auf der Erdoberfläche zugrundeliegen. In allem, was Erscheinung ist, gibt es ein Element der Transmutation. 382 VI. Für die auf der Erdoberfläche lebenden Wesen ist die Sinneswahrnehmung das bei weitem wichtigste Beispiel einer Transmutation. Keine Theorie der Sinneswahrnehmung kann es sich leisten, die Erkenntnisse der Physiologie zu übergehen. Das Entscheidende bei der Sinneswahrnehmung sind die Gehirnfunktionen, und diese hängen wiederum von den vorausgegangenen Funktionen anderer Körperorgane ab. Wenn man bestimmte körperliche Funktionen vorgibt, resultieren die entsprechenden Sinneswahrnehmungen. Was sich in der Natur außerhalb des Körpers vollzieht, ist im Detail irrelevant, solange es für die Existenz des Organismus im ganzen förderlich ist. Der menschliche Körper ist das selbstgenügsame Organ der menschlichen Sinneswahrnehmung. 382f. Es gibt gewisse Vorgänge in der Außenwelt, wie etwa die Ausbreitung des Lichts oder die Bewegungen materieller Körper, die normalerweise den Anlaß bestimmter Sinneswahrnehmungen bilden. Aber zunächst einmal ergeben diese äußeren Vorgänge eben nur den normalen Erregungsmodus. Eine ausreichende Dosis entsprechender Drogen würde die gleichen Dienste tun, ob- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 23 gleich sich ihr Einfluß auf die Wahrnehmungsgegebenheiten natürlich nicht mit der gleichen Bestimmtheit j voraussagen läßt. Auf alle Fälle können wir festhalten, daß es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen bestimmten Typen von äußeren Vorgängen und bestimmten Typen von / Wahrnehmungsgegebenheiten gibt. Kaum eine Wahrnehmungsgegebenheit ist im strikten Sinn des Worts normal. Die gröblichsten Sinnestäuschungen gibt es in Hülle und Fülle, und ein gewisses illusionäres Moment ist in fast allen Wahrnehmungen anzutreffen. Es gibt ja kaum ein Zimmer in dem nicht ein Spiegel hinge, der trügerische Wahrnehmungsbilder produzieren kann. 383 Und zweitens ist – wenn wir uns auf den normalen Erregungsmodus beschränken – das einzig Wichtige an den äußeren Vorgängen die Art und Weise, wie sie die Funktionen der Körperoberfläche affizieren. Wie das Licht ins Auge eintritt, ist – neben der gesunden körperlichen Allgemeinverfassung – das einzig Wichtige bei der normalen Gesichtswahrnehmung. Im übrigen kann das Licht von einem Spiralnebel herkommen, der tausend Lichtjahre entfernt ist, oder von einer Glühbirne, die nur ein paar Schritt weit weg ist, deren Licht uns aber über ein kompliziertes Arrangement von Prismen und Spiegeln erreicht. Es wird nur in der Zusammensetzung, Intensität und geometrischen Konfiguration wahrgenommen, in der es in unser Auge eintritt. Unser Körper ist bemerkenswert gleichgültig, was die Vergangenheit der von ihm aufgenommenen Reize betrifft, und verlangt von keinem einen Herkunftsnachweis. Der spezifische Charakter der Körpererregung ist das einzige, worauf es ankommt. 383f. Die Folgerung hieraus ist, daß alle Informationen, die man der Sinneswahrnehmung unmittelbar entnehmen kann, schließlich die Funktionen des körperlichen Organismus betreffen; und tatsächlich ist es ja auch das Gefühl der Einheit mit unserem Körper, das in unseren Wahrnehmungserlebnissen dominiert. Nun ist aber unsere körperliche Organisation so beschaffen, daß es im Endergebnis zu einer kompletten Transmutation der aus vorausgegangenen körperlichen Funktionen übernommenen Sinnesgegebenheiten in Merkmale bestimmter Regionen kommt, die in wohldefinierten geometrischen Beziehungen zur geometrischen Struktur der betreffenden Funktionen stehen. Der Erlebensvorgang, in dem diese / Transmutation stattfindet, gehört zu der personalen Abfolge von Vorgängen, die die Seele des betreffenden Lebewesens bilden. Die fraglichen Körperfunktionen und der vermöge geometrischer Beziehungen für sie relevante Nexus sind dem Erlebensvorgang (hier: experient occasion) immanent. Der aus den diesen Funktionen zugrundeliegenden Einzelvorgängen übernommene qualitative Inhalt wird zu Merkmalen von Regionen umgesetzt, die durch ihren geometrischen Zusammenhang mit den betreffenden Vorgängen ausgezeichnet sind. Die übliche Analyse der optischen Wahrnehmung entspricht dieser Auffassung Zug um Zug: denn bei ihr wird der vermeintliche Ort des Wahrnehmungsbilds ja durch die geometrischen Verhältnisse innerhalb des Auges festgelegt. Bei anderen Arten der Sinneswahrnehmung ist diese Entsprechung weniger deutlich. 384 Man darf hier natürlich nicht vergessen, daß es innerhalb der personalen Verkettung der Erlebensvorgänge unserer Seele eine Vererbung der Sinneswahrnehmungen von den früheren auf die späteren Vorgänge gibt, und daß es außerdem denkbar ist, daß sich in den Nervenbahnen und in benachbarten Gehirnregionen so etwas wie Vorformen von Sinnesgegebenheiten herausbil- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 24 den könnten. Aber die endgültige Synthese, in der das, was Erscheinung ist, entsteht, ist ausschließlich den Vorgängen der personalen Seele vorbehalten. VII. 384f. Die Frage, wie die besondere Spezies von Qualitäten, die wir als »Sinnesqualitäten« (sensa) bezeichnen, beschrieben werden muß, ist äußerst wichtig. Unglücklicherweise hat die gelehrte Tradition der Philosophie ihre Haupteigenschaft übersehen, nämlich die ungeheure emotionale Bedeutung, die sie haben. Man ist der verderblichen Vorstellung anheimgefallen, daß es hier in erster Linie um ein rein passives Aufnehmen ginge, dessen Resultate dann während der nachträglichen Reflexion – und zwar ohne ersichtlichen Grund – eine affektive Fär/bung annähmen. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall. Die richtige Erklärung der Sinneswahrnehmung ist, daß die qualitative Seite der affektiven Tönung der hier zur Debatte stehenden körperlichen Funktionen zu Eigenschaften bestimmter Regionen transmutiert wird. Diese Regionen werden dann als mit diesen charakteristischen Qualitäten assoziiert wahrgenommen, wobei aber gleichzeitig auch die subjektive Form des Erfassens von eben denselben Qualitäten bestimmt bleibt. Das ist der Grund, weshalb uns durch die Sinneswahrnehmung eine so entschieden ästhetische Einstellung auferlegt wird. Das das Objekt charakterisierende Muster von Sinnesqualitäten – d. h. diese Eigenschaften, die in diesen Kontrasten aufeinander abgestimmt sind – geht immer auch in die subjektive Form ihres Erfaßtwerdens ein; und dadurch wird so etwas wie Kunst überhaupt erst möglich: denn sie bildet mit ihren Objekten ja zugleich auch die affektive Tönung des sied erfassenden Erlebnisses. Hierin besteht das Wesen des ästhetischen Erlebens, soweit es auf der Sinneswahrnehmung beruht. 385 VIII. Ein weiterer Punkt, auf den wir eingehen müssen, ist der Umstand, daß es eine Region der gleichzeitigen Welt ist, die in der Sinneswahrnehmung das Substrat der Sinnesqualitäten bildet, nämlich die Region, die in der und der Richtung »gerade vor uns liegt«. Diese geometrische Beziehung des »in der und der Richtung gerade vor uns Liegens« wird nun aber durch die Operationen unseres Gehirns bestimmt und hat nichts mit irgendwelchen physischen Übertragungsvorgängen zwischen der Substratsregion und dem Gehirn zu tun. Wenn man die Beschreibungen des Wahrnehmungsvorgangs betrachtet, die sich an das Vorbild moderner wissenschaftlicher Theorien halten, könnte man meinen, daß unsere optische Wahrnehmung immer dem Weg eines Lichtstrahls nachgeht. Aber es gibt nichts, was diese Vorstellung irgendwie rechtfertigte. 386 Der Weg, den das Licht außerhalb des Organismus zurückgelegt hat, ist vollkommen irrelevant. Die so-und-so gefärbte Region wird »gerade vor uns, in der-und-der Richtung« wahrgenommen. Wir stoßen hier auf die fundamentale Gegebenheitsweise von »Geradheit«. Wir müssen uns also – unter dem Gesichtspunkt der Widerspruchsfreiheit der hier vertretenen Auffassung – fragen, ob in der dominanten Struktur der geometrischen Beziehungen eine Bestimmung von »Geradheit« mitgegeben ist. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 25 Unsere Theorie verlangt, daß durch das Erfassen eines Nexus innerhalb unseres Gehirns, der unter den wechselseitigen Beziehungen seiner Teile »Geradheit« aufweist, die Extrapolation eben dieser Beziehungen auf Regionen außerhalb des Gehirns bewirkt wird. Etwas einfacher gesagt: das Erfassen des Stücks einer geraden Linie innerhalb des Gehirns sollte mit Notwendigkeit ihre Verlängerung über die Grenzen des Körpers hinaus determinieren, und zwar ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der Vorgänge in der Außenwelt. Wenn es uns gelingt, das im einzelnen aufzuweisen, haben wir die Möglichkeit von »Transmutationen«, die eine »Projektion« von Sinnesqualitäten involvieren, sichergestellt. Ich habe diese Frage an anderer Stelle (nämlich in den Kapiteln 111, IV und V des vierten Teils von Process and Reality) ausführlich erörtert und dort eine Definition der Geradheit – allgemeiner: der Ebenheit – gegeben, die den gestellten Anforderungen genügt. Dadurch wird etwas vermieden, was sonst unumgänglich notwendig wäre, nämlich bei der Bestimmung dessen, was als Gerade zugrundezulegen ist, auf Messungen zurückzugreifen, und bei den Messungen dann natürlich auf einzelne Vorkommnisse. Die Begriffe der Geradheit, der Kongruenz und folglich auch der Entfernung lassen sich unmittelbar aus den Begriffen einer gleichförmig-systematischen, nichtmetrischen Geometrie ableiten. 386f. Nebenbei wäre dazu noch zu bemerken, daß – wenn die Geradheit von Messungen abhinge – es keine Wahrnehmung von Geradheit in dem geben könnte, was noch nicht gemessen / worden ist; und die Vorstellung, daß etwas »gerade vor uns« liegt, müßte dann einfach unsinnig sein. 387 IX. Auf diese Weise wird das aus der Vergangenheit Ererbte auf die Gegenwart projiziert: es wird zur Sinneswahrnehmung, zu dem, was im gegenwärtigen Erleben »Erscheinung« ist. Die »wechselseitige Immanenz« gleichzeitiger Vorgänge steht im engsten Zusammenhang mit der Immanent des Zukünftigen in der Gegenwart, weist dessenungeachtet aber einige eigene, für sie allein charakteristische Züge auf. Es gibt in ihr eine symmetrische Beziehung der wechselseitigen kausalen Unabhängigkeit. Und im menschlichen Erleben nimmt das Erfassen der gleichzeitigen Welt den Charakter der mit Hilfe der körperlichen Sinnesorgane vollzogenen Sinneswahrnehmung an. Zu den subjektiven Formen dieser Sinneswahrnehmung gehört das bewußte Unterscheiden, das unterschiedliche Grade der Klarheit und Distinktheit annehmen kann. Faktisch können die Gegebenheiten der Sinneswahrnehmung im Bewußtsein einen Grad von Klarheit und Distinktheit erreichen, durch den sie alles, was auf andere Weise erfaßt wird, übertreffen. Die Folge davon ist, daß man bei fast allen Versuchen, zu einer systematischen und exakten Theorie von der Beschaffenheit der Welt zu kommen, seine Ergebnisse nahezu selbstverständlich durch den Nachweis ihrer Übereinstimmung mit den Gegebenheiten der Sinneswahrnehmung zu rechtfertigen gesucht hat: mit dem unglücklichen Resultat, daß auf die Dauer unmittelbare Beobachtung überhaupt unbesehen mit der Sinneswahrnehmung gleichgesetzt worden ist. Wir haben diese Annahme schon in Kapitel IX dieses Buchs kritisiert. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 26 387f. Überdies kommt die Sinneswahrnehmung in der ihr unterstellten idealen Reinheit und Isoliertheit im menschlichen Erleben überhaupt nicht vor. Sie wird immer schon von dem / begleitet, was man als »Interpretation« zu bezeichnen pflegt, und diese Interpretation braucht nicht unbedingt das Ergebnis ausführlicher Gedankenarbeit zu sein. Vielmehr ertappen wir uns gleichsam dabei, daß wir eine unmittelbar in unserem Erleben gegebene Welt substantieller Objekte »akzeptieren«.4 Unsere Gewohnheiten, Bewußtseinszustände und Verhaltensweisen setzen diese »Interpretation« einfach voraus. Tatsächlich ist der Begriff bloßer Sinnesgegebenheiten das Produkt eines schon sehr fortgeschrittenen Denkens. Es bedurfte Platons, um das Höhlengleichnis zu formulieren; und es bedurfte Humes, um eine konsequent sensualistische Wahrnehmungstheorie zu konstruieren. In Wirklichkeit gibt es aber offenbar schon bei den Tieren ein gewisses Maß von »Interpretation«. Es spricht alles dafür, daß ihr Wahrnehmungsvermögen den sensualistischen Grundanforderungen genügt: Hunde schnuppern, Adler sind notorisch scharfsichtig, und fast alle höheren Tiere reagieren auf Geräusche. Das Verhalten, das sie im Zusammenhang mit diesen Wahrnehmungen an den Tag legen, läßt jedoch vermuten, daß es auf der unmittelbaren Annahme einer substantiellen Außenwelt beruht. Tatsächlich reicht die Annahme eines rein sensualistischen Wahrnehmungsmodus nicht aus, um unsere unmittelbare Beobachtung der gleichzeitigen Welt zu erklären. Es gibt in ihr noch einen weiteren Faktor, der mit unserer Wahrnehmung von Sinnesqualitäten gleichursprünglich ist, einen Faktor, der auf die Immanenz des Vergangenen im unmittelbar gegenwärtigen Vorgang zurückgeht, dessen Wahrnehmen hier zur Diskussion steht. Die Immanenz des Vergangenen im wahrnehmenden Vorgang aber läßt sich nicht vollkommen klären, solange man der Immanenz des Zukünftigen im Vergangenen nicht genügend Beachtung schenkt. Das Vergangene bringt als objektives Konstituens sein eigenes Erfassen der über es selbst / hinausreichenden Zukunft in das Erleben des wahrnehmenden Vorgangs ein; und dieses Erfassen bleibt in der Anfangsphase des wahrnehmenden Vorgangs objektiv erhalten. Es gibt dementsprechend ein indirektes Erfassen der gleichzeitigen Vorgänge, auf dem Umweg über die sie hervorbringenden Wirkursachen; denn die unmittelbare Zukunft des unmittelbar Vergangenen enthält ja alle die Vorgänge, die mit dem wahrnehmenden Erleben gleichzeitig sind. Außerdem spielt das Erfassen des unmittelbar Vergangenen bzw. Zukünftigen eine dominierende Rolle im Erleben seiner jeweiligen Subjekte. Es handelt sich beim Erfassen der gleichzeitigen Vorgänge um ein Erfassen dieser Vorgänge insofern und insoweit sie Bedingungen unterliegen, die ihnen durch die Vorgänge der unmittelbaren Vergangenheit des sie erfassenden Subjekts vorgegeben sind. Die Gegenwart ist also insoweit wahrnehmbar, als sie auf Wirkursachen aus der Vergangenheit des Wahrnehmenden zurückgeht. Die großen dominanten Beziehungszusammenhänge, die für die epochale Ordnung der Natur grundlegend sind, treten dabei mit überwältigender Deutlichkeit zutage. Sie bilden die ganz allgemeinen und alles durchdringenden Vorbedingungen der bestehenden Perspektive. Diese Beziehungen sind das, was wir als die vom 4 Vgl. hierzu H. H. Price, Perception, London 1932, vor allem Kapitel VI: Perceptual Assurance, Perceptual Acceptance. Price räumt in diesem wertvollen Buch der Sinneswahrung eine fndamentalere Rolle ein, als sie meiner Auffassung nach hat. – Übrigens wäre in diesem Zusammenhang auch noch Santayana's Animal Faith heranzuziehen. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 27 Standpunkt des Beobachters aus wahrnehmbaren räumlichen Beziehungen bezeichnen. 389f. Die Einzelvorgänge der gleichzeitigen Welt, von denen jeder seine eigene, individuelle Spontaneität besitzt, bleiben jedoch vor dem Beobachter verhüllt. In dieser Hinsicht steht die gleichzeitige Welt im Erleben des Wahrnehmenden auf gleichem Fuße mit der Zukunft. Die relevante Umwelt, d. h. die unmittelbare Vergangenheit des betreffenden menschlichen Körpers, registriert mit besonderer Empfindlichkeit die geometrischen Formen des Erlebens und die Synthese der qualitativen Seite ihrer Erfassensakte mit eben diesem Erleben geometrischer Beziehungen. Auf diese Weise ergibt sich eine faktische Basis für das Inbeziehungsetzen der Derivate aus signifikanten Regionen der Vergangenheit mit den geometrischen / Repräsentanten dieser Regionen in der Gegenwart. (Vgl. hierzu Kapitel III, Abschnitt IV im dritten Teil von Process and Reality, sowie die Kapitel IV und V im vierten Teil.) Die Folgerung aus alledem ist, daß die gleichzeitige Welt nicht vermöge ihrer Eigenaktivität wahrgenommen wird, sondern vermöge der Aktivitäten, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, und durch die ihr sowie dem gegenwärtig Wahrnehmenden selber gewisse Bedingungen auferlegt worden sind. Diese bei der Wahrnehmung wirksam werdenden Aktivitäten gehören in erster Linie der unmittelbaren Vergangenheit des betreffenden menschlichen Körpers an, und in zweiter Linie der Vergangenheit der Umwelt, innerhalb derer dieser Körper funktioniert, und die auch diejenigen Vorgänge enthält, die in den wahrgenommenen gleichzeitigen Regionen einen beherrschenden Einfluß entfaltet haben. Diese Theorie über unsere Wahrnehmung des Gleichzeitigen läßt Raum für unsere habituelle Überzeugung, daß die Art und Weise, wie wir die mit uns gleichzeitige Welt wahrnehmen, im Hinblick auf das Wesen der Vorgänge, aus denen die von uns wahrgenommenen Regionen bestehen, eine allgemeine qualitative Relevanz hat, gleichzeitig jedoch eine Tendenz zu qualitativen Verzerrungen enthält, die auf die Eigenfunktionen des wahrnehmenden Organismus zurückzuführen ist. 390f. Eine solche Verzerrung ist schon auf den ersten Blick erkennbar: Jeder reale Vorgang ist in Wahrheit ein Prozeß, ein Vollzug sich entfaltender Aktivitäten. Die gleichzeitigen Regionen aber werden hauptsächlich unter dem Aspekt der passiven perspektivischen Beziehungen wahrgenommen, die sie untereinander und zum Wahrnehmenden haben. Sie werden also lediglich als die passiven Träger der in der Sinneswahrnehmung mit ihnen assoziierten Qualitäten wahrgenommen. Daher die falsche Vorstellung von einem Substrat, dem die Eigenschaften auf eine gleichsam leere Weise inhärieren. Wobei »leer« hier soviel bedeuten soll wie: »frei von allem individuellen Selbstgefühl, das sich schon aus dem bloßen Faktum / der Verwirklichung in diesem Kontext ergeben könnte«. Mit anderen Worten: das Substrat mit dem Komplex der ihm inhärierenden Qualitäten wird hier fälschlicherweise als bloße Realisierung vorgestellt, ohne jedes Eigen- und Selbstgefühl, d. h. ohne inneren Wert. Und das ist der Grund, warum man zu einer falschen Metaphysik kommt, wenn man sich ausschließlich an die Sinneswahrnehmung hält: ein Irrtum, der nur einem hohen Grad von Intellektualität entspringen konnte. Die instinktiven Interpretationen, die das menschliche und tierische Leben gleichermaßen lenken, setzen dagegen eine gleichzeitige Welt voraus, die voll von der Aktivität energieträchtiger Werte ist. Es bedarf schon einer beträchtlichen Fertigkeit, Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 28 um diese verheerende Abstraktion vornehmen zu können, das Herauspräparieren der kahlen Sinneswahrnehmungen aus der kompakten Insistenz unseres Gesamterlebens. Natürlich ist alles, was wir an Abstraktionen hervorbringen können, für bestimmte Zwecke nützlich – sofern und solange wir dabei wissen, was wir tun. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 391 29 XV. Zur philosophischen Methode Ich möchte in diesem letzten Kapitel des dritten Teils einige Methoden diskutieren, die sich in der spekulativen Philosophie mit Gewinn anwenden lassen. Zur Verdeutlichung (und mit der Nebenabsicht, sie bei dieser Gelegenheit noch einmal zu erläutern) werde ich einige meiner eigenen Theorien zur Sprache bringen und kommentleren.5 Ich werde mich in diesem Kapitel vor allem mit den ereignishaften und zeitlichen Aspekten der Natur befassen. 391f. Zur methodologischen Seite ist das Resultat meiner ÜberIegungen im wesentlichen folgendes: die Theorie diktiert die / Methode; und jede bestimmte Methode ist nur auf Theorien einer ihr korrespondierenden Spezies anwendbar. Das gleiche gilt im Hinblick auf die Verwendbarkeit bestimmter Terminologien. Dieses enge Verhältnis zwischen Theorie und Methode ergibt sich zum Teil aus dem Umstand, daß die Relevanz des vorliegenden Beweismaterials selber immer von der Theorie abhängig ist, die gerade zur Diskussion steht. Dieser Umstand ist auch der Grund, warum man diese die Debatte beherrschenden Theorien »Arbeitshypothesen« nennt. 392f. Die Sachlage läßt sich veranschaulichen, wenn wir unser Erleben befragen, welche Belege »erster Hand« es uns für die allgemeine wechselseitige Verbundenheit aller Dinge liefern kann. Wenn wir uns mit Hume zu der Ansicht bekennen, daß es allein und ausschließlich Sinneseindrücke sind, die den Anlaß unseres reflektierenden Erlebens bilden, und außerdem zu der dann schon eigentlich nicht mehr zu bestreitenden Ansicht, daß kein derartiger Eindruck in sich irgendwelche Informationen über den Charakter anderer Sinneseindrücke enthält, haben wir eine Hypothese, die jeden Beleg für einen Zusammenhang unter den Dingen verschwinden läßt. Oder nehmen wir einmal die cartesische Lehre an, daß es substantielle Seelen gibt, die die verschiedensten Dinge wahrnehmen und erleben, und daneben substantielle materielle Körper. Dann gehen wir von einer Hypothese aus, nach der die Beziehungen zwischen zwei Erlebensvorgängen ein und derselben Seele nichts über die Beziehungen zwischen zwei Erlebensvorgängen in verschiedenen Seelen aussagen, nichts über den Zusammenhang zwischen der Seele und dem materiellen Körper, nichts über irgendeinen Zusammenhang zwischen zwei Erregungszuständen ein und desselben Körpers oder auch den Erregungszuständen verschiedener materieller Körper. Aber wenn wir – wie z. B. in Process and Reality – annehmen, daß alle fundamentalen individuellen Wirklichkeiten metaphysisch gesehen den Charakter von Erlebensvorgängen haben, erlaubt uns diese Hypothese, aus dem un/mittelbar einsichtigen Zusammenhang zwischen dem unmittelbar gegenwärtigen und dem unmittelbar vergangenen Erlebnis kategoriale Bestimmungen zu entnehmen, die sich auf alle Vorgänge in der Natur anwenden lassen. Eine Menge von Verwirrungen im philosophischen Denken geht darauf zurück, daß man diesen Umstand übersehen hat: Es ist immer die Theorie, die diktiert, welches Beweismaterial für sie relevant ist. Man kann eine Theorie nicht auf Beweismaterial stützen wollen, das von ihr selber schon als irrelevant ver- 5 Vgl. Process and Reality, das ich im folgenden mit den Initialen P. R. zitiere, und ebenso Science and the Modern World, zitiert als S. M. W. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 30 worfen worden ist. Hier liegt auch der Grund für die unumgängliche Langsamkeit des Fortschritts in allen Wissenschaften, die es noch nicht zu einer hinlänglich umfassenden Theorie gebracht haben: man kann in ihnen unmöglich wissen, wonach man suchen muß, und welcher Zusammenhang sich unter den sporadisch vorliegenden Beobachtungen herstellen lassen könnte. Und bei philosophischen Diskussionen, denen keine Theorie zugrundeliegt, gibt es kein Kriterium, nach dem sich über die Bündigkeit der angeführten Belege entscheiden ließe. So nimmt z. B. Hume an, daß der von ihm konzipierte Assoziationsmechanismus unterschiedslos bei allen Typen von Sinneseindrücken und ebenso bei den aus -ihnen gebildeten Vorstellungen funktioniert. Diese Annahme ist ein notwendiger Bestandteil seiner Theorie. Und wenn man von dieser Theorie absehen wollte, würde man bei jedem einzelnen Typus von Sinneseindrücken nur durch einen erneuten Appell an das unmittelbare Erleben feststellen können, ob es hier so etwas wie Assoziationen gibt – z. B. unter Geschmäcken, Geräuschen, visuellen Eindrücken, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Assoziationen zwischen Geräuschen, Geschmäcken usw. inter se, sondern auch für die Assoziationen zwischen Geschmacks- und Geräuscheindrücken usw., und zwar bei allen möglichen Typen von Eindrücken und allen möglichen Kombinationen dieser Typen. 393f. Man kann den Sinn dieser Vorrede ganz kurz zusammenfassen: Keine Methode ist mehr als eine geglückte Vereinfachung. Und nur Wahrheiten eines einer bestimmten Methode korrespondierenden Typs lassen sich durch sie zutagefördern und mit Hilfe der durch sie festgelegten Begriffe formulieren. Denn jede Vereinfachung ist gleichzeitig auch eine irgendwo unzulässige Vereinfachung. Die Kritik an einer Theorie fängt also nie einfach mit der Frage »Wahr oder Falsch?« an, sondern mit der Feststellung des Bereichs, innerhalb dessen sie sich mit Gewinn anwenden läßt, und an dessen Grenzen sie versagt. Eine Theorie ist immer so etwas wie die ohne vorsichtig einschränkende Klauseln vorgebrachte Behauptung einer Wahrheit, die in Wirklichkeit nicht mehr als eine Teilwahrheit ergibt. Im Normalfall wird man in ihr immer Begriffe finden, die entweder in ihrem Gebrauch unnötig eingeschränkt oder aber mit einer unzulässigen Allgemeinheit verwendet werden und deshalb entsprechende Fallunterscheidungen erforderlich machen. 394 II. Die Philosophie ist ein sehr schwieriger Fragenbereich, der von der Zeit Platons bis zur Gegenwart immer wieder von subtilen Verwirrungen heimgesucht worden ist. Das Auftreten dieser Verwirrungen, die ihre Wurzel in der trügerischen Geläufigkeit unserer Umgangssprache haben, ist, bei Licht besehen, sogar der Grund, aus dem es so etwas wie Philosophie gibt; es ist ihr eigentlicher Zweck, die Oberfläche der Scheinklarheiten unserer Umgangssprache zu durchdringen. Man braucht in diesem Zusammenhang nur an Sokrates zu erinnern, oder an den Sophistes, wo Platon sagt, daß das »Nichtseiende« selber eine Form des »Seienden« ist: eine Aussage, in der mit extremer Deutlichkeit der Zusammenbruch unserer Sprache und gleichzeitig eine profunde metaphysische Einsicht (die für unsere Diskussion hier eine ganz fundamentale Rolle spielt) zum Ausdruck kommt. 395 III. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 31 Die spekulative Philosophie kann man als den Versuch definieren, ein kohärentes, logisches, notwendiges System allgemeiner Ideen zu finden, durch das alle Bestandteile unseres Erlebens interpretierbar werden.6 Wobei »interpretierbar« bedeutet, daß jeder dieser Bestandteile als ein Einzelfall begreifbar sein muß, in dem die Züge des allgemeinen Schemas realisiert sind. Die spekulative Philosophie macht also Gebrauch von der Methode der »Arbeitshypothese«. Und sie verfolgt mit dieser Arbeitshypothese den Zweck, die gegenwärtig – in der Umgangssprache, in den gesellschaftlichen Institutionen, in den menschlichen Verhaltensweisen und in den Grundprinzipien der verschiedenen Spezialwissenschaften – vorliegenden Ausdrucksformen der menschlichen Erfahrung zu koordinieren, die Harmonie unter ihnen sichtbar werden zu lassen und die bestehenden Diskrepanzen aufzudecken. Keine Form des systematischen Denkens hat je ohne hinreichend allgemeine und ihren speziellen Thema angemessene Arbeitshypothese Fortschritte machen können. Eine solche Hypothese lenkt unsere Beobachtungen und wägt die Relevanz verschiedener Typen von Beweismaterial gegeneinander ab. Oder ganz kurz gesagt: sie schreibt uns unser methodisches Vorgehen vor. Wenn man ohne eine solche explizite Theorie produktiv zu denken versuchte, würde das einfach bedeuten, daß man die Meinungen seiner Großväter unbesehen übernimmt. In den Vorstadien der Erkenntnis muß man sich mit einem mehr oder weniger aufs Geratewohl herausgegriffenen Kriterium begnügen. Der Fortschritt ist dann entsprechend langsam; und viel Mühe wird ergebnislos verschwendet. Aber selbst eine unzulängliche Arbeitshypothese ist besser als garkeine, wenn sie nur in einigen Punkten den Fakten entspricht, weil sie schon eine gewisse Koordinierung des Vorgehens mit sich bringt. 396 Der Fortschritt jeder einigermaßen entwickelten Wissenschaft vollzieht sich auf zweifache Weise: Zunächst gibt es einen Fortschritt in den Detailerkenntnissen, die mit Hilfe der durch die herrschende Arbeitshypothese vorgeschriebenen Methode hervorgebracht werden, daneben aber auch Berichtigungen der Arbeitshypothese, die durch die erkannten Unzulänglichkeiten der herrschenden Orthodoxie bedingt sind. Und manchmal kommt man nicht umhin, in ein und derselben Wissenschaft zwei oder mehr Arbeitshypothesen gleichzeitig zu verwenden, bei denen jede für sich zu bestimmten erfolgen und natürlich auch zu bestimmten Fehlschlägen führt. So wie sie dastehen, sind sie miteinander unverträglich; und der Wissenschaft bleibt dann nichts weiter übrig als abzuwarten, bis eine neue, umfassendere Arbeitshypothese gefunden wird, die die Vorzüge des bisherigen in sich vereinigt, ohne ihre Nachteile aufzuweisen. Und wenn weine neue Arbeitshypothese vorgeschlagen wird, kann man sie nur von ihrem eigenen Standpunkt aus kritisieren. Es wäre z.B. sinnlos, wenn man gegen die Newtonsche Dynamik einwenden wollte, daß nach den aristotelischen Vorstellungen bei einer Eigenbewegung der Erdoberfläche alle losen Dinge auf ihr zurückbleiben und durcheinanderpurzeln müßten. 6 P. R., erster Teil, Kap. I, Abschn. I. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 32 396f. Der Philosophie hat immer wieder der dogmatische Grundfehler zu schaffen gemacht, nämlich die Überzeugung, daß es sich bei ihren Arbeitshypothesen um klare, einleuchtende und unüberholbare Prinzipien handle. Und als Reaktion auf diesen ist sie dann oft in den extrem entgegengesetzten Grundfehler verfallen, das methodische Vorgehen überhaupt in den Wind zu schlagen. In diesem Falle pflegen sich die Philosophen dann zu rühmen, daß sie sich von keinem System gefangenhalten ließen, fallen aber gerade dadurch der trügerischen Klarheit isoliert betrachteter Sprechweisen zum Opfer, die zu überwinden doch gerade die Aufgabe der Philosophie ist. einen andere Form der Reaktion auf den dogmatischen Grundfehler ist die – oft stillschweigende – Annahme, daß es überhaupt keine intellektuelle Analyse geben / könnte, die nicht an irgendeine obsolete dogmatische Methode gebunden wäre, daß es also zum Wesen des Intellekts gehört, gewissen irreführenden Fiktionen zu verfallen. Für dieser Art von Reaktion ist der Antintellektualismus Nietzsches und Bergsons typisch, und bis zu einem gewissen Grade auch der amerikanische Pragmatismus. 397 IV. Eine Methode besteht wesentlich darin, mit gewissen Gegebenheiten, dem vorliegenden Beweismaterial, auf eine bestimmte Art und Weise umzugehen. Welches sind die Gegebenheiten, an die die Philosophie appelliert? Es ist üblich, den objektiven Ansatz der Griechen, dem subjektiven Ansatz der Moderne – der von Descartes initiiert und von Locke und Hume mit einem noch deutlicheren Nachdruck versehen worden ist – gegenüberzustellen. Aber ob wir nun antike Griechen oder Angehörige der Neuzeit sind, wir können immer nur mit Dingen umgehen, die wir erleben, die uns auf irgendeine Weise erfahrungsmäßig gegeben sind. Die Griechen haben sich mit Dingen beschäftigt, die sie für erfahrungsmäßig gegeben hielten; und Hume hat schließlich nichts weiter gefragt als »Was ist uns tatsächlich erfahrungsmäßig gegeben?« – also genau die Frage gestellt, auf die schon Platon und Aristoteles ihrer Ansicht nach Antworten gegeben hatten. Wenn man von etwas spricht, gehört es schon rein aufgrund dieses Sprechens irgendwie zu den Inhalten eines unserer Erlebnisse, bzw. eines Erfahrungsakts. Dadurch, daß wir über es sprechen, wissen wir in gewissem Sinne schon, daß es existiert. Dies ist der Punkt, auf den Platon hingewiesen hat, als er schrieb, daß das Nichtseiende selber eine Form des Seiendes sei. 397f. Die sprachliche Mitteilung besteht aus Geräuschen bzw. sichtbaren Gestalten, durch die das Erleben von etwas anderem, d.h. nicht mit ihnen identischem, hervorgerufen wird. Ver/lautbarungen oder Zeichen, bei denen es nicht zu einer stabilen Koordination zwischen ihrem Klang- bzw. Gestaltcharakter und einer bestimmten Bedeutung kommt, müssen als sprachliche Mitteilungen versagen, können die ihnen zugedachte Funktion nicht erfüllen. Und wo es keine auf irgendeine Weise dem unmittelbaren Erleben zugängliche Bedeutung gibt, wird auch keine Bedeutung mitgeteilt. Denn wenn man auf nichts zeigt, heißt das, daß man überhaupt nicht »zeigt«. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 398 33 Wenn man von der gleichen Sache zweimal spricht, beweist das, daß das Sein dieser Sache von den einzelnen, je für sich genommenen Akten des Sprechens unabhängig ist, solange wir nicht annehmen, daß diese beiden Akte sich wechselseitig voraussetzen oder in der besprochenen Sache schon gemeinsam vorausgesetzt sind. Wo wir dagegen nicht zweimal von der gleichen Sache sprechen können, verschwindet unser Wissen schlechthin, einschließlich der Philosophie. Und weil wir uns beim Sprechen wiederholen können, kommt den besprochenen Dingen eine bestimmte von dem Erlebensvorgang, zu dem der betreffende Sprachakt gehört, unabhängige Seinsweise zu. Der Unterschied zwischen den antiken und den modernen Philosophen besteht darin, daß die antiken nach dem fragten, was wir schon erfahren haben, und die modernen nach dem, was wir erfahren können. Beide Fragen aber betreffen Dinge, die den Erfahrungsakt transzendieren, der zu ihnen Anlaß gibt. V. 398f. Die Umformung der Humeschen Frage »Was erfahren wir faktisch?« zu »Was können wir erfahren?« ergibt einen himmelweiten Unterschied, obgleich Hume in seinem Treatise immer wieder von der einen Form der Frage zur anderen übergeht, ohne dies ausdrücklich zu kommentieren. Die zweite Form der Frage – was wir erfahren können – geht in der modernen Erkenntnistheorie mit einer impliziten methodischen Grundregel Hand in Hand, nämlich der, daß es vor / allem darauf ankommt, eine Einstellung introspektiver Wachheit zu gewinnen, die es uns gestattet, die gegebenen Komponenten des Erlebens als solche und unabhängig von allen privaten und bloß subjektiven Reaktionen – Reflexionen, Vermutungen, Emotionen und Absichten – zu erkennen. 399 Wenn man es tatsächlich zu einer solchen Haltung angespannter Aufmerksamkeit bringt, kann es hinsichtlich der Antwort auf die gestellte Frage keinen Zweifel geben: was uns gegeben ist, sind gewisse Konfigurationen von Sinneseindrücken, die uns durch unsere Sinnesorgane übermittelt werden. Das ist dann genau die sensualistische Auffassung von Locke und Hume. Kant hat später die Konfigurationen, unter denen uns die Sinnesgegebenheiten erscheinen, als »Formen der Anschauung« gedeutet, die vom wahrnehmenden Subjekt beigesteuert werden (womit er die Leibnizsche Lehre von der Selbstentfaltung des erlebenden Subjekts aufgegriffen hat). Dadurch ist bei Kant der Bereich der Gegebenheiten etwas enger gefaßt als bei Hume: es handelt sich jetzt nur noch um die reinen Empfindungen, abzüglich der Ordnung ihres Auftretens. Die allgemeine Analyse der Konsequenzen dieser Grundauffassung, so wie sie von Hume vorgetragen worden ist, wird dadurch jedoch nicht weiter erschüttert, ebensowenig wie seine abschließende Reflexion, daß die Prinzipien der Philosophie nicht zur Rechtfertigung der praktischen Regeln ausreichen, die wir im Alltagsleben ganz selbstverständlich befolgen. Es gibt zwei Grundvoraussetzungen, auf die sich die Rechtfertigung dieses Vorgehens in der modernen Erkenntnistheorie stützt, und beide sind fundamental falsch. Es handelt sich dabei um Irrtümer, die man bis zu Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 34 den Griechen zurückverfolgen kann; modern ist nur die Ausschließlichkeit, mit der man sich auf sie verlassen hat. VI. 399f. Der erste Grundirrtum ist die Annahme, daß es nur ganz wenige, genau festgelegte Wege gibt, auf denen man mit der / Außenwelt kommunizieren kann, nämlich unsere »fünf Sinne«. Sie führt unmittelbar zu der weiteren Annahme, daß man sich bei der Suche nach dem Gegebenen auf die Frage beschränken kann, welches die Daten sind, die uns von unseren Sinnesorganen geliefert werden – wobei, wie zu bemerken ist, den Augen eine entschiedene Vorzugsstellung zukommt. Diese Auffassung von der Rolle unserer Sinnesorgane hat auf vage und allgemeine Weise etwas Wahres an sich und unbestreitbar eine erhebliche praktische Bedeutung. So beruhen z. B. die exakten Beobachtungen, die wir in der Wissenschaft anstellen, ausschließlich auf den Gegebenheiten unserer Sinne. Die Kategorien des wissenschaftlichen Denkens stammen allerdings aus einer anderen Quelle. 400 In Wirklichkeit ist der lebende Körper als Ganzes das lebendige Organ unsere Erfahrung. Jede physikalische oder chemische Instabilität, die sich in irgendeinem seiner Teile bemerkbar macht, wird vom Gesamtorganismus sofort mit einer das Gleichgewicht wiederherstellenden Aktivität beantwortet; und diese physischen Aktivitäten sind es, in denen das menschliche Erleben ? ist, daß es sich bei ihm um eine natürliche Aktivität handelt, die mit den Lebensfunktionen hochentwickelter Organismen untrennbar verbunden ist. Die Naturwirklichkeiten müssen so interpretierbar sein, daß sich dieses Faktum erklären läßt: Dias ist eines der Desiderate, die von einem philosophischen Gesamtschema der Dinge zu erfüllen wären. 400f. Das Erleben und Sammeln von Erfahrungen scheint auf besondere Weise mit unseren Gehirntätigkeiten verbunden zu sein. Aber ob und inwieweit dieser Annahme eine exakte theoretische Gestalt gegeben werden kann ist eine Frage, die über die Grenzen unserer Beobachtungsmöglichkeiten hinausreicht. Wir können nicht bestimmen, bei welchen Molekülen das Gehirn anfängt und der Körper endet. Und wir können auch nicht sagen, bei welchen Molekülen der Körper aufhört / und die Außenwelt beginnt. die Wahrheit ist vielmehr, daß zwischen dem Gehirn und dem Körper ebenso wie zwischen dem Körper und der übrigen Natur ein stetiger Zusammenhang besteht. Das menschliche Erleben ist ein Akt der Selbsthervorbringung, der die Gesamtheit der – auf die Perspektive einer bestimmten, innerhalb des Körpers gelegenen (aber nicht notwendig mit einem bestimmten Teil des Gehirns fest koordinierten) Brennpunktregion gebrachten – Natur mit in sich einschließt. 401 VII. Der zweite Grundirrtum ist die Annahme, daß wir unser Erleben nur durch Akte der bewußten introspektiven Analyse in den Blick bekommen könnten. In der Psychologie ist dieser Ausschließlichkeitsanspruch der Introspektion ja schon seit längerem diskreditiert. Jeder Erlebensvorgang läuft nach sei- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 35 nem eigenen, ganz individuellen Muster ab, hebt einige seiner Komponenten deutlich hervor und verweist andere in den dunklen Hintergrund, aus dem sich seine Gesamttönung anreichert. Und durch eine introspektive Einstellung läßt sich an diesem allgemeinen Charakter aller Erlebensvorgänge nichts ändern. Sie läßt die klar umrissenen Sinnesgegebenheiten in aller Deutlichkeit hervortreten und deckt die vagen Gefühle der auf uns einwirkenden Zwänge und Abkünftigkeiten, die die große Masse unseres Erlebens ausmachen, einfach zu. Vor allem aber unterdrückt sie das Gefühl für jenes intime Abkünftigkeitsverhältnis zu unserem eigenen Körper, das uns dazu bringt, unseren Körper instinktiv mit uns selbst zu identifizieren. 401f. Wenn wir einige der Hauptkategorien entdecken wollen, mit deren Hilfe sich die unendlich vielfältigen Komponenten unseres Erlebens klassifizieren lassen, müssen wir an die Gegebenheiten aller möglichen Erlebnisse appellieren. Nichts darf / ausgelassen werden, alles muß zu seinem Recht kommen: das trunkene und das nüchterne Erleben, das Erleben im Schlaf und im Wachen, im Dämmerzustand und bei hellem Bewußtsein, im Zustand der Selbstbefangenheit und im Zustand der Selbstvergessenheit, intellektuelles und physisches, religiöses und zurückblickendes, glückliches und trauerndes, von Emotionen fortgerissenes und mit vollkommener Selbstbeherrschung ertragenes Erleben, das Erleben im Hellen ebenso wie im Dunkeln, das normale ebenso wie das abnorme. 402 VIII. Damit sind wir zum Kern unseres Themas gekommen: wo ist die Vorratskammer, in der jene noch groben und unbehauenen Evidenzen lagern, von denen die philosophische Diskussion ausgehen sollte, und welches sind die Ausdrucksformen, die bei dieser Diskussion zu verwenden sind? Die Hauptquellen für ein Belegmaterial, das diese ganze Breite des menschlichen Erlebens umfaßt, sind die Sprache, die gesellschaftlichen Institutionen und das menschliche Handeln, und außerdem das, worin diese drei sich vereinigen: die sprachliche Interpretation der Institutionen und des Handelns. Die Sprache legt ihr Zeugnis gleichsam in drei Kapiteln ab: über die Bedeutungen der Wörter, über die Bedeutungen, die sich in grammatischen Formen verkörpert haben, und schließlich noch in einem dritten über Bedeutungen, die über einzelne Wörter und grammatische Formen hinausreichen und sich auf geheimnisvolle Weise in den Meisterwerken der Literatur offenbaren. 402f Unsere Sprache ist in allem unvollständig und fragmentarisch; sie ist nicht viel mehr als ein Niederschlag des Durchnittserfolgs der ersten Schritte, die uns inzwischen vom Bewußtseinsleben der Affen trennen. Aber es gibt bei jedem Menschen ein Aufblitzen von Einsichten, die die bereits in der Etymologie und der Grammatik stabilisieren Bedeu/tungen überschreiten. Und darin gründet die Rolle, die der Literatur, den Spezialwissenschaften und der Philosophie zukommt: es geht in ihnen – auf unterschiedliche Weise – immer darum, einen Ausdruck für Bedeutungen zu finden, die bisher noch nicht zur Sprache gekommen sind. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 36 Lungen überschreiten. Und darin gründet die Rolle, die der Literatur, den Spezialwissenschaften und der Philosophie zukommt: es geht in ihnen — auf unterschiedliche W eise immer darum, einen Ausdruck für Bedeutu ngen zu finden, die bisher noch nicht zur Sprache gekommen sind. Betrachten wir als Beispiel dafür nur einmal die anderthalb Zeilen, in denen es Euripides 4 gelungen ist, die philoso phischen Hauptprobleme zusammenzudrängen, die das europäische Denken von seiner Zeit bis in unsere Gegenwart verfolgt haben: »Zeus, wer du auch bist, ein Zwang der Natur oder die Vernunft der Menschen: zu dir habe ich gebetet.« Und die Ideen, die sie in uns evozieren: »Zeus«, »Zwang (d. h. Notwendigkeit) der Natur«, »Vernunfl der Menschen« und »Gebet«. Diese Zeilen ergreifen uns heute noch mit der gleichen Unmittelbarkeit wie das erste athenische Publikum, idas sie je gehört hat. Wir finden sie in der Biographie eines !modernen Staatsmanns, wo sie den fe ierlichen Ernst des Augenblicks zum Ausdruck bringen sollen, in dem der Blick eich vom Schauspiel des Lebens abwendet und der religiösen Betrachtung zukehrt. 1 lume j edoch hätte keinen Sinneseindruck finden können, aus dem sich die Vorstellung eines »Zeus«, eines »Zwangs der Natur«, einer »Vernunft der Menschen« oder jenes überredenden Strebens, das wir »Gebet« nennen, hätte herleiten lassen. Und auch John Morley, der GladstoneBiograph, muß das Zitat eigentlich im Widerspruch zu seinen positivistischen Neigungen gewählt haben; denn wenn er ihnen gefolgt wäre, hätte ihm sein Bedeutungsgehalt kaum mehr als trivial er i c he i ne n können. Vielleicht muß man die Formulierung dieser Zeilen sogar schon beim A utor selbst als einen Triumph der dramatischen Intuition über seinen temperamentsmäßigen Skeptizismus betrachten. Die durch die Alltagssprache interpretierte Alltagspraxis der Menschheit erzählt uns die gleiche Geschichte wie Euripides. kDie Troerinnen«, Z. 886-7. 1 John Morley, Life of Gladstone, Kapitel X. 403 Jeder Staatsmann oder Generaldirektor eines Industrieu nternehmens setzt voraus, daß es so etwas wie »Notwendig keiten, die sich aus der Sachlage ergeben« (eine (!'v6Y%11 IDvGFO)g) gibt, die die zukünftige Entwicklung in gewissem Umfange bestimmen; er legt aufgrund dieser Annahme »al lgemeine Richtlinien für das künftige Vorgehen« fest und ordnet an, daß sie »befolgt werden«, womit er zu erkennen gibt, daß er die Effektivität der »freien Wahl« und des »einsichtigen Verhaltens« (des voü;) unter den gegebenen Umständen für möglich hält. Er stellt dem faktisch Gegebenen mögliche Al ternativen gegenüber und setzt sich ein ideales Ziel, das erreicht oder verfehlt werden kann. Die Durchsetzbarkeit sol eher idealen Zielsetzungen hängt seiner Überzeugung nach von der Energie ab, mit Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 37 der man sie verfolgt; und diese Überzeugung ist es, die es ihm statthaft erscheinen läßt, seine Untergebenen zu loben oder zu tadeln. Es gibt in der Welt Elemente der Ordnung ebenso wie Ele mente der Unordnung; und das setzt eine wesentliche wechsel• seitige Verbundenheit aller Dinge voraus. Denn es ist ein(, gemeinsame Eigenschaft der Unordnung und der Ordnung, daß sie eine Vielzahl untereinander zusamme nhängende Dinge voraussetzen. Jedes erlebende Subjekt (experient) hat eine perspektivisdi• Auffassung (apprehension) von der Welt und ist selber auch ein Bestandteil der Welt, aufgrund eben dieses Erfassensaki(-i (prehension), der es in einer Welt verankert, die sein eigen(-% Erleben transzendiert. Denn es gehört zum Wesen dieser perspektivischen Abkünftigkeitsbeziehung, daß die in ihr erschvi nende Welt zu erkennen gibt, daß sie die Perspektive, unter der sie hier erscheint, transzendiert. Jede Münze hat ihre an dere, dem sie gerade betrachtenden Blick verborgene Seite. Wir brauchen also nur an die Literatur, die Umgangssprache und die Alltagspraxis zu appellieren, um sofort aus dem ei)g• umschriebenen Kreis einer Erkenntnistheorie herauszukoni men, die ausschließlich auf unmittelbar durch Introspektion zugänglichen Sinnesgegebenheiten beruht. Die unserer Er fahrung zugängliche Welt in unserem Erleben ist dieselbe wie die Welt, die jenseits des Bereichs unserer Erfahrung liegt; jeder Erlebensvorgang ist ein Vorgang innerhalb der Welt, und die W elt ihrerseits ist in allen Vo rgängen in ihr enthalten. Die Kategorien sind dazu da, um das Paradox dieser wechselseitigen Verbundenheit aller Dinge aufzuklären: das Paradox ihrer Vielheit und der einen Welt, die zugleich in ihnen und außerhalb von ihnen ist. IX. Das Fundament der europäischen Philosophie sind die Dia loge Platons, in denen es (unter methodischem Aspekt) hauptsächlich darum geht, durch eine dialektische Auseinandersetzung mit den Bedeutungsinhalten unserer Sprache, die durch eine scharfblickende Beobachtung des menschlichen Handelns und der wirkenden Kräfte der Natur e rgänzt wird, zu philosophischen Kategorien zu gelangen. In einem dieser Dialoge, dem Sophistes, stellt Platon das methodische Vorgehen der Philosophie ausdrücklich zur Diskussion; und unter seinen Folgerungen finden wir den nachdrücklichen Hinweis auf die Begrenztheit und Unzulänglichkeit unserer Umgangssprache. Die bloße, unkritisch gehandhabte Dialektik ist ein höchst mangelhaftes Instr ument, und ihr Gebrauch das Kennzeichen des Sophisten. Bei seinen inhaltlichen Oberlegungen kommt Platon hier zu der These, daß das Nichtseiende selber eine Form des Seienden ist: es dürfte genügen, diese These zu bedenken, um uns deutlich zu madien, daß wir bei philosophischen Diskussionen die Sprache zwar als W erkzeug benutzen, uns aber nie von ihr beherrschen lassen sollten. Denn die Sprache ist sowohl in ihren Ausdrücken als auch in ihren Formen unvollkommen. Und damit Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 38 hätten wir die beiden Hauptirrtümer aufgedeckt, denen das methodische Vorgehen in der Philosophie immer wieder ausgesetzt ist: zum ersten das unkritische Vertrauen 1,i die Zulänglichkeit unserer Sprache, und zum zweiten das unkritische Vertrauen in die höchst unnatürlichen Anstrengungen der Introspektion, wenn es darum geht, eine Basis für die Erkenntnistheorie zu gewinnen. Allerdings sind seit Platon ja nun nahezu zweieinhalbtausend Jahre vergangen; und diese Zeit ist in Europa mclit zuletzt mit beständigen Anstrengungen des heidnischen, christlichen und säkularisierten philosophischen Denkens angefüllt gewesen. Man stößt deshalb häufig auf die Ansicht, daß sich im Laufe dieser Zeit ein stabilisiertes und allgemein bekanntes philosophisches Vokabular herausgebildet hätte, und daß philosophische Erörterungen, die aus seinen Grenzen auszubredien versuchen, nur zu überflüssigen und deshalb beklagenswerten Neologismen führen könnten. Das ist eine Behauptung, die ganz entschieden eine genauere Nachprüfung verdient, und die höchst bemerkenswert wäre, wenn sie zutreffend sein sollte: weil dann aus ihr folgen würde, daß es eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Philosophie und den Spezialwissenschaften gibt. So verwendet z. B. die moderne Mathematik, die gesichertste und in ihrer Autorität unangefochtenste Wissenschaft, weitgehend verbale und symbolische Ausdrucksformen, die noch vor achtzig Jahren völlig unverständlich gewesen wären. Ebenso steht es in der Physik: die alten Wörter haben – wo sie noch benutzt werden – inzwischen längst eine neue Bedeutung, und daneben wimmelt es von neuen Wörtern. Es wäre ganz müßig, hier einen vollständigen Katalog aller Wissenschaften aufzustellen und jedesmal den gleichen Refrain zu wiederholen. Die Kon Sequenz, die sich daraus ergibt, müßte selbst für den fluch tigsten Blick einleuchtend erscheinen. Unbestreitbar ist in der Philosophie der Einfluß der früheren Literatur viel größer als in allen anderen Wissenschaften, und mit Recht. Aber die Ansicht, daß sich in ihr ein technisd)t,4 Vokabular herausgebildet hätte, das für alle Zwecke und für 406 alle vorkommenden Bedeutungsnuancen hinreichend wäre, ist vollkommen unbegründet. Tatsächlich ist die philosophische Literatur ja so ungeheuer umfangreich und die Vielzahl der philosophischen Schulen so groß, daß sich überall eine Fülle von Belegen für die – höchst verständliche und entschuldbare – Unkenntnis irgendeines bestimmten Sprachgebrauchs finden läßt. Ich möchte hier das Verfließende und die Vagheit philosophischer Terminologien an einem erst ganz kürzlich vorge- kommenen Beispiel illustrieren. Die Logik ist bekanntlich der mit Hilfe wohleingeübter technischer Ausdrucksweisen am nachhaltigsten systematisierte Zweig der Philosophie. Betrachten wir nun einmal die Ausdrücke »Urteil« (judgement) und »Proposition« (_ »das zur Beurteilung Vorgelegte«, der »Urteilsinhalt«, »der Gedanke« oder »die Aussage«). Ich schreibe hier keine Einführung in die Logik und kann mich deshalb mit der Feststellung begnügen, daß die Verwendungsweise dieser Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 39 Ausdrücke bei den professionellen Logikern eine erhebliche Schwankungsbreite zeigt. Es ist eine ziemlich naheliegende Frage, ob es hier nicht Bedeutungsnuancen gibt, die die Ausdrucksfähigkeit eines simplen Zweiwortvokabulars – »Urteil« und »Proposition« –bei weitem überfordern. So hat z. B. Mr. Joseph kürzlich6 untersucht, wie Mr. W. E. Johnson den Ausdruck »Proposition« in seiner bekannten Abhandlung über Logik (der Logic von 1921) verwendet hat, und er hat dabei zwanzig unterschiedliche Bedeutungen entdeckt. Wobei wir nicht vergessen dürfen, daß wir es hier mit zwei der scharfsinnigsten Logiker der Gegenwart zu tun haben. Ob Mr. Joseph Mr. Johnsons Formulierungen richtig interpretiert hat, steht im Moment nicht weiter zur Debatte. Wenn es Mr. Joseph gelungen ist, im Zusammenhang mit der Verwendung des Ausdrucks »Proposition« bei Mr. Johnson zwanzig unterschiedliche, wenn auch untereinander engverwandte Bedeutungen zu entdecken, 6 »What does Mr. W. E. Johnson mean by a proposition?«, Mind, Vols. 3 6 -37 (1927 -28). gibt es diese zwanzig Bedeutungen, selbst wenn die Unter-schiede zwischen ihnen Mr. Johnson oder Mr. Joseph imAugenblick unwichtig erscheinen sollten. Was wichtig ist, isteine Frage des Standpunkts und der Absicht, die man geradehat. Es bleibt jedenfalls denkbar, daß es zu einer Verfe*,inerung der theoretischen Logik kommt, durch die sich plötl lich die gleichzeitige Einführung von zwanzig neuen Ausdrücken nicht mehr umgehen läßt. Und wenn Mr. Johnson »Proposition« in zwanzig verschiedenen Bedeutungen verwendet haben sollte, war das für seinen Gedankengang erforderlich, und man könnte allenfalls einwenden, daß er ihn eben wegen dieser nicht zur Kenntnis genommenen Unterschiede noch weiter ausführen und vervollständigen müßte. Man darf wohl mit ziemlicher Sicherheit behaupten, daß sich bei jedem philosophischen terminus technicus ähnliche Fälle wiederholen könnten. XI. Ein weiteres Beispiel, das zum Teil meine Verwendungsweise der Ausdrücke »Erfassen« (Prehenston), »Fühlen« (feeling) und »Erfüllung« (Satisfaction) betrifft 7 , ergibt sich, wenn man die Wendungen betrachtet, durch die der Zusammenhaiii, der Dinge untereinander zum Ausdruck gebracht wird. Die in der Philosophie gängige Bezeichnung hierfür ist »Beziehung« bzw. »Relation«. Es gibt eine ganze Reihe von Kontroversen über Beziehungen, auf die ich hier nicht weiter einzugehen brauche. Aber eine von ihnen wirft ein gewisses Licht auf das Thema, das uns hier unmittelbar interessiert. Man ist allgemein der Ansicht, daß es sich bei den Beziehen gen um Universalien handelt, so daß A die gleiche Beziehung zu B haben kann wie C zu D. »Lieben«, »glauben«, »zwi scheu« und »größer als« wären Beispiele für Beziehungen in diesem Sinne. Gegen diese Auffassung ist nichts einzuwen. den; denn genaugenommen handelt es sich ja bloß um ein(, 7 Vgl. u. a. S. M. W., Kap. IV, und P. R., erster Teil, Kap. 11. 4 Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 40 Definition: Universalien, die sich nur mit Hilfe von zwei oder mehr Einzeldingen exemplifizieren lassen, sollten durch einen besonderen Ausdruck gekennzeichnet werden; und »Beziehung« ist der Ausdruck, auf den man sich allgemein geeinigt 1 hat. Aber in der durch diese Definition festgelegten Bedeutung kann eine Beziehung nicht den wirklichen Zusammenhang zwischen den wirklichen Einzeldingen im wirklichen Ablauf des Geschehens kennzeichnen. So liegt New York z. B. zwischen Boston und Philadelphia. Das ist eine ganz reale und individuelle Tatsache, der man auf der Erdoberfläche, und zwar an einem bestimmten Teil der amerikanischen Ostküste begegnet, aber keineswegs dasselbe wie das Universale »zwischen«. Es handelt sich hier vielmehr um eine komplexe Wirklichkeit, die — unter anderem — das abstrakte Universale »zwischen« exemplifiziert. Diese überlegung ist der Ansatzpunkt für Bradleys Einwand, daß Beziehungen nichts miteinander in Beziehung setzen. Drei Städte und ein abstraktes Universale ergeben noch längst nicht diesen Zusammenhang zwischen diesen drei Städten. Die wirkliche Verbundenheit unter ihnen ist vielmehr etwas, das theoretisch erst noch geklärt werden muß. Bradley schreibt dazu: »Gibt es am Ende so etwas wie eine Beziehung, die nicht nur zwischen ihren Gliedern besteht? Oder anders gewendet: impliziert das Bestehen einer Beziehung nicht die F 'xistenz einer zugrundeliegenden Einheit und eines umfasOnden Ganzen?«8 Bradleys »umfassendes Ganzes« (inclusive whole) ist die reale Verbundenheit, nach der auch wir suchen. In dem von mir zitierten Kapitel verwendet Bradley den Ausdruck »Fühlen« (Feeling), um die Primäraktivität zu kennzeichnen, die die Basis unseres Erlebens bildet. Es ist das Erleben selbst, in seiner ursprünglichen Verfassung und bei einem absoluten ursprünglichen 0 F. H. Bradley, Essays an Truth and Reality (hier nach der Oxforder Ausgabe von 1914 zitiert): Kap. VI, »On our Knowledge of Immediate Axiierience«, Appendix, S. 193. Vgl. auch den Zusatz zu diesem Appendix. Minimum von analytischer Durchdringung. Die Analyse des Fühlens kann uns nie etwas enthüllen, was über das Wesen d es Erlebensvorgangs hinausgeht, und deshalb wird es von Bradley als »nichtrelational«, »frei von jedem Beziehungscharakter« gekennzeichnet. Es gibt natürlich schwerwiegende Unterschiede zwischen Bradleys Auffassung und meiner eigenen; und das war der Grund, warum ich — etwa in Process and Reality — meine eigene Auffassung weitgehend unab hängig von Bradley entwickelt habe, natürlich nicht ohne entsprechende Hinweise auf ihn. Es dürfte wohl ganz korrekt sein, wenn man sich bei der Wahl seiner teemini technici an die Sprechweise bekannter und verwandte Auffassungen vertretender Autoren hält. Und es wirft ein ganz interessantes Licht auf die Überzeugung, daß es in der Philosophie so etwas wie eine allgemein geläufige Fachsprache gäbe, daß ein anerkannter Philosoph meine Verwendungsweise des Ausdrucks »Füh- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 41 len« (feeling) schwarz auf weiß gerügt hat, weil sie so noch nie in der Philosophie vorgekommen wäre. Es wäre noch hinzuzufügen, daß auch William James in seiner Psychologie das Wort »Fühlen« in ungefähr dem gleichen Sinn verwendet hat. So heißt es z. B. im ersten Kapitel: »Die Sinnesempfindung (sensation) ist ein Fühlen ursprünglicher Gegebenheiten.« Und im zweiten: »Im allgemeinen bezeichnet man diese höhere Form des Bewußtwerdens von Dingen als Wahrnehmung, das bloße, inartikulierte Fühlen ihrer Anwesenheit dagegen als Empfindung, sofern es so etwas überhaupt gibt. Allem Anschein nach können wir in Augenblicken, in denen unsere Aufmerksamkeit gänzlich zerstreut ist, bis •üi einem gewissen Grade in einen solchen Zustand des inartikti Beeten Fühlens verfallen.« Vielleicht ist es auch nicht uiliii teressant, wenn ich hier noch einige Zitate von Bradley ati füge, um deutlich zu machen, in welchem Umfang ich mit seiner Auffassung vom Fühlen in dem von mir zitierten 1<.i pitel konform gehe. Er sagt (I.c., S. 159): »In jedem belle bigen Augenblick ist mehr in meinem allgemeinen Fühlen enthalten als die Objekte, die ich gerade vor mir habe; und es gibt keine Wahrnehmung von Objekten, die den Sinn einer lebendigen Emotion erschöpfen könnte.« In Übereinstimmung mit dieser Auffassung Bradleys finde ich bei der Analyse eines »Fühlens« (bzw. e i n e s » E r f a s s e n s « ) folgende Komponenten: »das Gegebene«, dem bei Bradley »das Objekt, das ich vor mir h abe« entspricht, »die subjektive Form«, die mit Bradleys »lebendiger Emotion« gleichzusetzen ist, und »das Subjekt«, also das Bradle ysche »Ich«. Und zwar spreche ich hier von »subjektiver Form«, weil ich die Bedeutung dieses Ausdrucks umfassender ansetzen möchte als die von »Emotion«. So ist bei mir z. B. das Bewußtsein, sofern es vorliegt, ein Element der subjektiven Form, womit ich natürlich erheblich von der Auffassung Bradleys abweiche. Die subjektive Form ist bei mir das, was das Subjekt als Ganzes infolge seines Erfassens einer bestimmten Gegebenheit charakterisiert. Im großen und ganzen stimme ich jedoch mit Bradleys Auf fassung von der Funktion der subjektiven Form überein. So heißt es z. B. bei ihm (auf S. 161 des zitierten Buchs): »Diese Fra-gen bleiben unlösbar, wenn nicht das, was ich fühle, und was kein Objekt ist, das ich vor mir habe, dennoch aktiv und gegenwärtig ist. Dieses erfühlte Element wird und muß i n die Konstitution des Objekts eingehen, das mir Genüge tut.« Von meinem Standpunkt aus betrachtet enthält diese Aussage zwar eine Zweideutigkeit; aber ich würde beide ihrer mög lichen Deutungen unterschreiben. Diejenige Komponente des Fühlens, die »kein Objekt ist, das ich vor mir habe«, ist die subjektive Form. Wenn Bradley also sagen will, daß die subjektiven Formen des Fühlens den Prozeß der Integration determinieren, stimme ich völlig mit ihm überein. Das Ergebnis ist dann, wie Bradley sagt, »das, was mir Genüge tut«, das abschließende Gefühl, in dem die Unrast des schöpferischen Prozesses zum Stillstand kommt. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 42 Bradley könnte mit der W endung »das, was ich fühle, und was kein Objekt ist, das ich vor mir habe« aber auch das meinen, was ich als ein »negatives Erfassen« (negative prehension) bezeichne. Ein derartiges Erfassen ist aktiv, weil es seine subjektive Form in den schöpferischen Prozeß einbringt, aber gleichzeitig verwehrt es se inem »Objekt« die Möglichkeit, unter den Gegebenheiten der a bschließenden Erfüllung aufzutreten. Diese abschließende komplexe Gegebenheit ist dann das, was Bradley »das Objekt, das mir Genüge tut« nennt. Auch bei dieser Deutung stimme ich also mit ihm überein. Die Vorstellung, daß jede konkrete Verwirklichung der Subjekt-Objekt-Situation sich innerhalb der umfassenden Einheit einer »lebendigen Emotion« vollzieht, ist wesentlich älter als die Formulierung, die Bradley ihr gegeben hat. Wir finden sie im Keim schon bei Platon angelegt, der immer wieder betont, daß das wahre Wissen den ganzen Charakter des Menschen bildet. Implizit ist darin die Weigerung enthalten, die »lebendige Emotion« vom rein intellektuellen Erkennen abzutrennen, d. h. eine Gleichsetzung des Wissens mit der Tugend. Die Fortschritte der Psychologie haben unser Unterscheidungsvermögen geschärft, aber nichts an dem Umstand geändert, daß jede Wahrnehmung ihre unabtrennbare emotionale Tönung hat. Die historische Bedeutung dieser Auffassung ist von George Foot Moore unterstrichen worden: ... »Die Zivilisation ent wickelt sich nur dort, wo eine beträchtliche Anzahl von Menschen an der Verwirklichung gemeinsamer Zwecke arbeitet. Und eine derartige Verbundenheit unter Menschen läßt sich nicht so sehr durch eine bloße Gemeinsamkeit der Ideen zustande bringen, als vielmehr durch eine Gemeinsamkeit des Fühlens, durch die diese Ideen >emotionalisiert< und zu Überzeugungen und Beweggründen des Handelns werden.«9 Die konventionellen Abstraktionen, die in der Erkenntnis theorie eine so beherrschende Rolle spielen, sind von den kon9 Vgl. seine Vorbemerkung (»Prefatory Note«) zu J. H. Denisons Emotion as the Basis of Civilization, New York 1928, einem höchst bedeutsanir. Werk. 412 kreten Fakten unseres Erlebens sehr, sehr weit entfernt. Und das W ort »Fühlen« hat den sehr wesentlichen Vorzug, daß mit ihm das Moment der subjektiven Form und das Erfassen eines Objekts gleichzeitig angesprochen wird. In dieser Doppelbedeutung hält es zusammen, was die abstrakte Betrachtungsweise nur als disjecta membra sichtbar werden läßt.10 XII. Die erforderliche theoretische Durchdringung der wechselseitigen Verbundenheit aller Dinge läßt sich also am Vorgang des menschlichen Erlebens illustrieren. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 43 Hier kann ich mich noch einmal auf die Autorität Bradleys berufen. Er schreibt (op. cit., S. 175): »In jedem beliebigen Augenblick ist der Zustand meines Erlebens (was auch immer es sonst mit ihm auf sich haben mag) ein Ganzes, das ich unmittelbar gewahre. Es handelt sich bei ihm um die erlebte nichtrelationale Einheit des Vielen in Einem.« Mit »nicht relational« meint er offenbar, daß es sich beim Erleben nicht um eine Beziehung zwischen einem Erlebenden und etwas anderem handelt, daß außerhalb seiner selbst läge, sondern daß es sich beim Erleben immer um ein »umfassendes Ganzes« handelt, durch das die geforderte Verbundenheit »der Vielen in Einem« bewirkt wird. Und darin stimme ich völlig mit ihm überein: meiner Ansicht nach handelt es sich bei der Verbundenheit (connectedness) der Dinge um nichts anderes als ihr Beisammensein in Erlebensvorgängen, die natürlich nur vergleichsweise selten mit menschlichen Erlebensvorgängen gleichzusetzen sind. Merkwürdigerweise stimmt auch Hume hier zu. Denn alle Zusammenhänge im Strom der Sinneseindrücke, die er als zu distinkten Zeitpunkten auftretende distinkte Existenzen versteht, werden nach ihm ja von der »sanften Kraft« der Asso10 Die genetische Beschreibung des Prozesses der »Emotionalis ierung« behandle ich in Symbolism, Its Meaning and Effect, sowie im Kap. VIII des zweiten Teils von P. R. und im ganzen dritten Teil. ziation gestiftet, die immer nur innerhalb ein und desselben Erlebensvorgangs wirksam werden kann. Und auch Kants Lehre könnte unter diesem Aspekt betrachtet werden: daß die Formen des Zusammenhangs unter den erlebten Dingen durch unsere Erlebensvorgänge gestiftet werden. Natürlich gibt es zwischen all diesen Auffassungen auch schwerwiegende Unterschiede. Aber in ihrem allgemeinen Prinzip stimmen sie überein: daß der Grund für die Verbundenheit der Dinge untereinander im Erlebensvorgang zu suchen ist. XIII. Auch Leibniz kann keine andere Verbundenheit unter den wirklichen Dingen finden als die, die gänzlich innerhalb des individuellen Erlebens der einzelnen Monaden einschließlich der obersten Monade – liegt. Er hat die Ausdrücke »Perzeption« und »Apperzeption« für die ni edere und höhere Form des Kenntnisnehmens einer Monade von der an deren gewählt. Aber diese Ausdrücke sind allzu eng mit der Vorstellung von Bewußtseinsvorgängen verknüpft, zu denen es meiner Auffassung nach bei den fraglichen Prozessen nicht notwendigerweise kommen muß. Außerdem hängen sie auch noch mit der Vorstellung vom Abbildcharakter der W ahrnehmung, von der W iedergabe der wahrgenommenen Gegenstände im W ahrnehmungsbild zusammen, die ich aufs entschiedenste verwerfe. Aber nun gibt es glücklicherweise den Terminus »Apprehension« (Auffassen) in der Bedeutung »etwas klar begreifen«.11 Dementsprechend verwende ich nach dem Vorbild von Leibniz – »Prehension« (Erfassen) für die allgemeine Weise, in der ein Erlebensvorgang andere Dinge – entweder andere Er- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 44 lebensvorgänge oder auch Dinge eines anderen Typs – in seinem eigenen W esen enthalten ',kann. Dieser Terminus vermeidet jede Assoziation mit dem 11 In der er von L. T. Hobhouse im ersten und zweiten Kapitel seinri Theory of Knowledge verwendet wird. Bewußtsein oder der abbildenden Wahrnehmung. Akte des Fühlens (feelings) bilden den positiven Typ des Erfassens (prehensions). In den Akten des positiven Erfassens bleibt das ursprünglich »Gegebene« als ein Teil des abschließenden komplexen Objekts erhalten, das den Prozeß der Selbstgestaltung (self-formation) »erfüllt« und zu etwas Vollstän13 digem macht. Diese Bezeichnungsweisen sind so gewähl t worden, um der Bedingung Genüge zu tun, daß die Sprechweise einer sich ent- wickelnden Theorie nach Möglichkeit zwanglos aus der Sprechweise der großen Meister hervorwachsen sollte, die ihre Grundlagen gelegt haben. Der Sprachgebrauch, der zu einer bestimmten Zeit in bestim mten philosophischen Schulen herrscht, bildet immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtvokabular der philosophischen Tradition. Und wenn man an die in ihnen herrschende Unterschiedlichkeit der Auffassungen denkt, hat das auch völlig seine Richtigkeit. Mit Hilfe der gerade gängigen Sprechweisen kann man im mer nur die Lehrmeinungen der gerade herrschenden Schule und ihrer anerkannten Varianten zum Ausdruck bringen. Und die Forderung, daß eine andere Lehrmeinung, die in anderen Teilen der Tradition wurzelt, sich ebenfalls auf diese Sprachauswahl beschränken müßte, läuft auf nichts anderes hinaus als auf den dogmatischen Anspruch, daß gewisse Vor-annahmen niemals revidiert werden dürften. Dann sind nur die Lehrmeinungen zulässig, die sich mit Hilfe des geheiligten Vokabulars zum Ausdruck bringen lassen. W as man vernünftigerweise fordern darf ist, daß jede Lehrmeinung sich in ihren Sprechweisen auf die eigene Tradition gründen sollte. Und wenn in dieser Beziehung Vorsorge getroffen worden ist, kann man in der lauten Entrüstung über eingeführte Neologismen nicht mehr sehen als ein Maß für den unbe wußten Dogmatismus des Entrüsteten. 416 XIV. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 45 Das Hauptverfahren der Philosophie im Umgang mit ihren Gegebenheiten ist die Methode der beschreibenden Verallgemeinerung. Gesellschaftliche Institutionen z. B. exemplifizieren eine unerschöpfliche Fülle von Eigenschaften. Es gibt keine Tatsache, die einfach nur so-und-so beschaffen wäre, und die nicht eine Vielzahl von Merkmalen exemplifizierte, die sämtlich ihre Wurzeln in den Eigentümlichkeiten der Epoche haben, der sie angehört. Die philosophische Verallgemeinerung greift aus dieser Fülle diejenigen Merkmale heraus, denen eine bleibende Bedeutung zukommt, und übergeht das Triviale und bloß Ephemere. Es gibt in ihr so etwas wie einen Aufstieg von den Einzelheiten des vorliegenden Faktums bzw. der betrachteten Spezies zur Allgemeinheit der hier exemplifizierten Gattung. 416 Wobei gleich anzumerken wäre, daß ein umgekehrtes Vorgehen nicht möglich ist: Es gibt keinen Weg, der von einer bloßen Gattung herab zu einem bestimmten Einzelfall oder auch nur zu einer bestimmten Spezies führte. Denn die Einzelfälle und schon die Spezies sind das Produkte einer Vermischung der Gattungen. Und man kann keiner Gattung für sich genommen – ansehen, mit welchen anderen Gattungen sie verträglich ist. So deutet z. B. nichts im Begriff »eine Wirbelsäule haben« auf die Begriffe »seine Jungen säugen« oder »im Wasser schwimmen« hin. Man kann also die Gattung »Wirbeltier« – für sich genommen – solange kontemplieren wie man will, ohne sich Säugetiers oder Fische – selbst als abstrakte Möglichkeiten – vorstellen zu können. Weder die Spezies noch die Einzelfälle lassen sich anhand der Gattung allein entdecken, weil zu beiden Formen gehören, die mit der Gattung noch nicht »mitgegeben« sind. Eine Spezies ist eine potentielle Mischung von Gattungen; und jeder Einzelfall involviert – unter anderem – die faktische Vermischung einer Vielzahl von Spezies. Ein Syllogismus ist ein Schema, das die Art und Weise einer solchen Mischung demonstriert. 417 Es geht also in der Logik nicht um die Analyse von Allgemeinheiten, sondern um die Art und Weise, wie sie sich miteinander vermischen.7 Die Philosophie ist ein Aufstieg zu den allgemeinen Formen, in der Absicht, Einblick in die unter ihnen möglichen Kombinationen zu gewinnen. Und die Entdeckung neuer allgemeiner Formen vermehrt die Fruchtbarkeit der bisher bekannten, weil sie neue Kombinationsmöglichkeiten sichtbar werden läßt. XV. Schon das erste, undeutliche Aufdämmern eines großen Prinzips pflegt von einer ungeheuren emotionalen Kraftentfaltung begleitet zu sein. Die turbulente Fülle der einzelnen Handlungen, die aus solchen komplexen, einen Kern tiefer Intuition umgebenden Gefühlen entspringen, fällt in primitiven Zeiten oft abstoßend und bestialisch aus. Schließlich aber bildet sich in der zivilisierten Sprache eine ganze Gruppe von Wörtern heraus, von denen jedes die allgemeine Idee in irgendeiner speziellen Form verkörpert. Wenn wir das Allgemeine erkennen wollen, das in all diesen speziellen Ausprägungen ent- 7 Vgl. Platon, Sophistes, 253. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 46 halten ist, müssen wir die ganze Gruppe der entsprechenden Wörter einer vergleichenden Betrachtung unterziehen, in der Hoffnung, das ihnen gemeinsame Element zu entdecken. Das ist ein für die Zwecke der philosophischen Verallgemeinerung unbedingt notwendiges Vorgehen; denn der voreilige Gebrauch irgendeines geläufigen Worts muß – infolge der mit seiner üblichen Verwendung verbundenen speziellen Konnotationen – unweigerlich dazu führen, daß wir den von uns angestrebten Grad von Allgemeinheit nicht erreichen. 417f. Nehmen wir z. B. als Arbeitshypothese an8, daß die fundamental wirklichen Dinge mit den Ereignissen im Prozeß ihrer / Selbsterzeugung gleichzusetzen sind. Dann besteht jedes dieser Ereignisse, wenn man es als eigenständiges Individuum betrachtet, aus einem Übergang zwischen zwei idealen Grenzzuständen, nämlich aus dem Übergang vom Zustand der idealen disjunktiven Verschiedenheit aller seiner Bestandteile in den Zustand ihres konkreten Beisammenseins. Hinsichtlich der Natur dieses Prozesses gibt es zwei geläufige Auffassungen. Die eine ist, daß ein außenstehender Schöpfer den Endzustand des Beisammenseins aus dem Nichts erschafft. Nach der anderen ist es ein zur Natur der Dinge gehöriges metaphysisches Prinzip, daß es nichts in der Welt gibt als die einzelnen Verwirklichungen eines solchen Übergangs und ihre Komponenten. Nehmen wir an, daß diese letztere Auffassung zutreffend ist. Dann kann man durch die Wendung »das Schöpferische« zum Ausdruck bringen, daß jedes dieser Ereignisse ein Prozeß ist, der zu etwas Neuem führt. Und wenn man sich durch die Formulierung »das immanent Schöpferische« oder »das Eigenschöpferische« absichert, kann man auch die in dieser Sprechweise leicht enthaltene Implikation eines transzendenten Schöpfers vermeiden. Allerdings legt schon das bloße Wort »schöpferisch« den Gedanken an einen Schöpfer nahe, was dieser Auffassung einen gewissen Beigeschmack des Paradoxen oder aber des Pantheismus gibt. Immerhin tut es seinen Dienst insofern, als es das Entstehen von etwas Neuem designiert. Das Wort »Konkreszenz« ist aus einem bekannten lateinischen Verbum abgeleitet, das »zusammenwachsen« bedeutet. Es hat außerdem den Vorteil, daß das (bei uns zu einem Adjektiv gewordene) Partizip »konkret« in seiner geläufigen Verwendung die vollständige physische Realität bezeichnet. »Konkreszenz« ist also geeignet, die Vorstellung von einer Vielheit von Dingen zu vermitteln, die in eine vollständige komplexe Einheit übergeht. Aber es erinnert uns nicht an das schöpferische Neue, das dabei eine Rolle spielt, z. B. nicht an den individuellen Charakter, der anläßlich der Konkreszenz der ursprünglichen Gegebenheiten entsteht. Der durch dieses Wort vermittelten Vorstellung vom / Ereignis fehlt das Moment der »Emotionalisierung«, der »subjektiven Form«. 419 8 Und weiter: das Wort »zusammen« (together) ist einer der am häufigsten mißbrauchten Ausdrücke in der Philosophie. Es wird in seiner gattungshaften Allgemeinheit durch eine endlose Vielfalt von Spezies illustriert. Und es ist deshalb reine Sophisterei, wenn man es so verwendet, als ob es in all diesen unterschiedlichen Fällen immer ein und dieselbe Bedeutung behielte. Jede Vgl. P.R., passim, wo die zweite der im folgendenangeführten Auffassungen ausführlich entwickelt wird. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 47 mögliche Bedeutung von »zusammen« läßt sich in verschiedenen Stadien der Analyse von Erlebensvorgängen antreffen. Nichts ist »zusammen«, außer im Erleben; und nichts ist – in jedem beliebigen Sinne von »ist« –, wenn es nicht ein Bestandteil des Erlebens oder eines jener unmittelbaren Geschehnisse ist, die einen Vorgang der Selbsterschaffung ausmachen. XVI. Um also durch philosophische Verallgemeinerung zum – als Verallgemeinerung des Erlebnisakts zu verstehenden – Begriff des fundamentalen, konkret Wirklichen (final actuality) zu gelangen, bedarf es einer scheinbaren Redundanz von Ausdrucksformen: und zwar weil wir darauf angewiesen sind, daß die jeweils verwendeten Wörter sich wechselseitig korrigieren. Wir brauchen die Ausdrücke »zusammen«, »das immanent Schöpferische«, »die Konkreszenz«, »das Erfassen«, »das Fühlen«, »die subjektive Form«, »die Gegebenheiten«, »Wirklichkeit«, »Werden« und »Prozeß«.9 XVII. 419f. In diesem Stadium der Verallgemeinerung ergibt sich ein neuer Gedankengang: Ereignisse werden und vergehen. Ihr / Werden ist ein unmittelbarer Vollzug, und dann verschwinden sie in der Vergangenheit. Sie sind vorüber, vergangen, vorbei, etwas, das nicht mehr ist. Platon nennt sie im Timaios »Dinge, die dauernd werden und niemals wirklich sind«. Aber bevor er das niederschrieb, war er schon zu seiner großen metaphysischen Verallgemeinerung gekommen, einer Entdeckung, die die Grundlage unserer Diskussion hier bildet: Er hatte im Sophistes geschrieben, daß das Nichtseiende selber eine Form des Seienden ist. Er selber hat diese Lehre nur auf seine ewigen Formen angewendet, hätte sie aber auch auf die Dinge anwenden sollen, die vergänglich sind. Er hätte damit einen anderen Aspekt der Methode der philosophischen Verallgemeinerung illustrieren können: Wenn man zu einer allgemeinen Idee gekommen ist, sollte man ihren Gebrauch nicht willkürlich auf den Umkreis des Themas beschränken, innerhalb dessen sie entstanden ist. Beim Entwurf eines philosophischen Schemas sollte man jedem metaphysischen Begriff den weitesten überhaupt nur möglich erscheinenden Umfang zu geben versuchen. Nur auf diese Weise läßt sich erforschen, welches die richtige wechselseitige Adjustierung der in dem Schema miteinander verbundenen Ideen ist. Dieser Grundsatz – daß der Geltungsbereich eines metaphysischen Prinzips nur durch die Notwendigkeiten seines Bedeutungsgehalts und auf keine andere Weise eingeschränkt werden sollte – ist noch wichtiger als das Ockhamsche Parsimonieprinzip – sofern es sich bei ihm überhaupt um etwas anders als einen Aspekt dieses Prinzips handelt. 9 Im Original: »together«, »creativity«, »concrescence«, »prehension«, »feeling«, »subjective form«, »data«, »actuality«, »becoming«, »process«. Vgl. hierzu P. R. und S. M. W. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 48 Die aristotelische – oder richtiger: platonische – Lehre vom Werden wäre also noch durch eine Lehre vom Vergehen zu ergänzen. Wenn ein Vorgang vergeht, schlägt seine Unmittelbarkeit des Seins in das Nichtsein der Unmittelbarkeit um. Aber das bedeutet natürlich nicht, daß er nun schlechthin Nichts wäre; er ist und bleibt ein »stubborn fact«, ein unumstößliches Faktum. Pereunt et imputantur. 419f. Die gängigen Sprechweisen der Menschheit lassen uns die Ver/gangenheit unter drei Aspekten erscheinen: unter dem Aspekt der Verursachung, des Gedächtnisses und der aktiven Umwandlung unseres unmittelbar vergangenen Erlebens zur Grundlage für die Modifikationen unseres gegenwärtigen Erlebens. »Vergehen« heißt also, eine Rolle in der über die Gegenwart hinausreichenden Zukunft übernehmen. Das Nichtsein der Vorgänge ist die Form ihrer »objektiven Unvergänglichkeit«. Und ein rein physisches Erfassen ist die Art und Weise, wie ein Vorgang in der Unmittelbarkeit seines Seins einen anderen in sich aufnimmt, der in die objektive Unvergänglichkeit seines Nichtseins eingetreten ist. Dies sind die Weisen, wie das Vergangene im Gegenwärtigen lebt: Es ist Verursachung. Es ist Gedächtnis. Es ist die Wahrnehmung des Abkünftigseins. Es ist die emotionale Anpassung an eine gegebene Situation, die emotionale Kontinuität des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen. Es ist das fundamentale Element, aus dem die schöpferische Selbstbetätigung jedes zeitlichen Vorgangs entspringt. Vergehen ist nichts weiter als der Beginn des Werdens. Wie das Vergangene vergeht bestimmt, wie das Zukünftige wird. 423 Vierter Teil Aspekte der Zivilisation XVI. Wahrheit I. Wahrheit und Schönheit sind die großen regulativen Qualitäten, durch die sich das Erscheinende vor dem unmittelbaren Urteil des erlebenden Subjekts rechtfertigt. Das Ausmaß, in dem sich das Erscheinende so rechtfertigen kann, bestimmt den Status, der ihm im unmittelbar gegenwärtigen Erleben eingeräumt wird. Die subjektive Form seines Erfassens kann den Charakter eines unmittelbaren Hervorhebens oder Abschwächens annehmen, ebenso wie den einer Zwecksetzung, die auf ein Verlängern in die Zukunft hinein oder auf ein Ausschließen aus ihr abzielt. Wahrheit und Schönheit bilden die fundamentale Begründung für jedes Hervorheben in der Gegenwart und jedes Fortsetzen in die Zukunft. Natürlich kann es auch vorkommen, daß die Gegenwart für die Zukunft geopfert wird, und daß zukünftige Wahrheit und Schönheit den Grund bilden, aus dem die eine oder andere dieser Qualitäten in der unmittelbaren Gegenwart in den Hintergrund verdrängt wird. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 49 II. 423f. Die Wahrheit ist etwas, durch das nur das Erscheinende qualifiziert werden kann. Die Wirklichkeit ist nichts weiter als wirklich; und es wäre Unsinn, wenn man fragen wollte, ob sie wahr oder falsch ist. Die Wahrheit ist die Anpassung (conformation) des Erscheinenden an die Wirklichkeit. Es gibt bei dieser Anpassung ein Mehr oder Weniger, und sie kann auf / direkte oder auf indirekte Weise erfolgen. Wahrsein ist also eine Eigenschaft, der Gattungscharakter zukommt, und die eine Vielfalt von Graden und Modi umfaßt. Vor einem Gerichtshof z. B. kann die falsche Sorte Wahrheit praktisch auf einen Meineid hinauslaufen. Bei Porträts spricht man manchmal von einer »täuschend genauen Wiedergabe«: einer Wiedergabe, die so wahrheitsgetreu ist, daß sie den Dargestellten dem Blick als wirklich gegenwärtig erscheinen lassen kann, und die deshalb fast schon wieder so etwas ist wie ein Betrug. Ein Spiegelbild ist eine Erscheinung, die gleichzeitig wahrheitsgetreu und trügerisch ist. Das Lächeln eines Heuchlers kann falsch und das eines Menschenfreundes wahr und echt sein, wahrhaftig lächeln tun sie beide. 424 III. 424f. Man kann den Begriff der Wahrheit soweit verallgemeinern, daß man auf das Erscheinende nicht mehr explizit Bezug zu nehmen braucht. Zwei Objekte können so beschaffen sein, daß (1) keines von beiden ein Bestandteil des anderen ist, und sie (2) in ihrer Zusammensetzung einen gemeinsamen Faktor enthalten, obwohl ihr »Wesen« – im vollen Sinne des Worts – nicht das Gleiche ist. In diesem Falle kann man sagen, daß es zwischen den beiden Objekten eine Wahrheitsbeziehung gibt: bei der Betrachtung des einen ist ein Faktor erkennbar, der auch zum Wesen des anderen gehört. Mit anderen Worten: man kann in diesem Falle bei beiden von einigen Zügen des Komplexes von Qualitäten, der ihr Wesen bildet, abstrahieren. Die partielle Konfiguration von Qualitäten, die sich dabei ergibt, läßt sich dann als eine Abstraktion aus dem ursprünglichen Komplex bezeichnen. Dementsprechend besteht zwischen den objektiven Inhalten zweier Erfassensakte eine Wahrheitsbeziehung, wenn sich ein und dieselbe Teilkonfiguration aus beiden abstrahieren läßt. Diese Teilkonfiguration tritt bei beiden in Erscheinung, während zu den in ihr unterdrückten Elementen die Differenzen ge/hören, denen die beiden Inhalte ihre individuelle Unterschiedlichkeit verdanken. Platon hat den Ausdruck »Teilhabe« (μέθεξις) verwendet, um die Beziehung eines komplexen Faktums zu einer in ihm auftretenden Teilkonfiguration zu kennzeichnen. Allerdings hat er dabei den Begriff der Teilkonfigurationen auf rein abstrakte Kombinationen qualitativer Elemente beschränkt und alle konkreten Einzelwirklichkeiten, die als Komponenten in einer zusammengesetzten Wirklichkeit auftreten können, außer Betracht gelassen. Diese Einschränkung ist irreführend, und deshalb wollen wir hier die Möglichkeit zulassen, daß konkrete Einzeldinge unter den Elementen der Teilkonfiguration vorkommen. Unter Voraussetzung der der so erweiterten Bedeutung des Ausdrucks können wir dann sagen, daß zwischen zwei objektiven Inhalten eine Wahrheitsbeziehung besteht, wenn jeder von ihnen an der gleichen Konfiguration teilhat. Jeder von ihnen zeigt, was der andere – zum Teil – ist; sie interpre- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 50 tieren sich auf diese Weise wechselseitig. Wenn man uns also fragt, was »Wahrheit« bedeutet, können wir nichts weiter sagen als daß zwischen zwei zusammengesetzten Fakten eine Wahrheitsbeziehung besteht, wenn jedes von ihnen an der gleichen Konfiguration von Qualitäten teilhat. Was wir von einem dieser beiden Fakten wissen, wissen wir auch vom anderen, soweit es durch diese Wahrheitsbeziehung gedeckt ist. 425f. Zur Realisierung einer solchen Wahrheitsbeziehung im Erleben gehört immer ein gewisser Erscheinungscharakter, weil die- Akte, in denen die betreffenden zusammengesetzten Fakten erfaßt worden sind, dabei so integriert werden, daß ihre objektiven Inhalte eine in sich kontrastierende Einheit bilden. Wir erfassen intuitiv, daß sich im Kontrast der beiden unterschiedlichen Wesenheiten eine teilweise Gestaltidentität abzeichnet. Und infolge dieser Identität findet eine Übertragung der subjektiven Form vom Fühlen des einen Objekts auf das Fühlen des anderen statt. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Die subjektive Form, die die Rechtfertigung ihrer Übertragung von der einen auf die andere Seite des / Kontrasts in sich selbst enthält, hat den Charakter der intuitiven Erkenntnis »Dies ist so«. 426 Auf diese Weise kommt es bei einem Objekt – einem realen Faktum – zu einer Neuverteilung der relativen Werte unter seinen Komponenten, nämlich infolge der Züge an ihm, die in Analogie zu einem anderen Objekt stehen. Es wird so zu einem realen Faktum, dem ein gewisser Erscheinungscharakter beigemischt ist. Ohne diesen würden seine Komponenten nicht mit genau den Proportionen, die sie nunmehr haben, in das fühlende Erleben eingehen. Wenn man die Wahrheit nur zum Teil kennt, hat man ein verzerrtes Bild von der Welt. So hat z. B. ein Wilder, der bloß bis zehn zählen kann, eine ganz übertriebene Vorstellung von der Ungeheuerlichkeit des für ihn nicht mehr Abzählbaren; und uns geht es nicht viel anders, wenn uns bei Größenordnungen von einigen Millionen unsere Phantasie im Stich zu lassen beginnt. Es ist eine zwar gängige aber trotzdem ganz irrige moralische Platitüde, daß es immer gut sein müßte, die Wahrheit zu kennen. Im Gegenteil: eine kleine Wahrheit kann oft zu einem großen Übel führen, das manchmal auch die Gestalt eines großen Irrtums hat. Wie Henri Poincaré deutlich gemacht hat, hätte der unzeitige Gebrauch von Präzisionsinstrumenten den Fortschritt der Wissenschaft entscheidend aufhalten können. Wenn z. B. Newtons Vorstellungskraft von den Ungenauigkeiten der Keplerschen Gesetze, die sich bei späteren Beobachtungen herausgestellt haben, beirrt worden wäre, stünde die Formulierung des Gravitationsgesetzes vielleicht heute noch aus. Es ist für die Wahrheit wichtig, daß sie auch zur rechten Zeit kommt. III. 426f. Im menschlichen Erleben treten Wahrheitsbeziehungen am augenfälligsten in den »Propositionen« (= »zur Beurteilung vorgelegte Annahmen«, »Urteilsinhalte«, »Gedanken«, auf logische bzw. die Bedürfnisse einer logifizierten Ontologie hin / normierte »Aussagen« - Üb.) und in der Sinneswahrnehmung in Erscheinung. Eine Proposition ist die abstrakte Möglichkeit, daß in irgendeinem genauer spezifizierten Nexus von wirklichen Dingen ein bestimmtes zeitloses Objekt (eternal object) realisiert wird, wobei es sich bei diesem Objekt entweder um ein einfaches oder auch um eine komplexe Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 51 Konfiguration einfacher zeitloser Objekte handeln kann. Diese Realisierung kann (1) den vollständigen Nexus betreffen, wobei dann den einzelnen Vorgängen, aus denen er besteht, bestimmte Funktionen im Prozeß der Realisierung zukommen; (2) kann es sich um die je individuelle Realisierung des betreffenden zeitlosen Objekts durch einige oder auch alle Einzelvorgänge des fraglichen Nexus handeln, und (3) kann die Realisierung in einem nicht näher spezifizierten untergeordneten Nexus stattfinden. Die Aufzählung dieser Möglichkeiten soll nur die Möglichkeit der verschiedenen Typen von als explizite Aussagen auftretenden Propositionen demonstrieren, die für die Zwecke der formalen Logik wichtig sind. 427 Für die Zwecke der gegenwärtigen Diskussion dagegen genügt es völlig, wenn wir uns an das generelle Faktum halten, daß es sich bei einer Proposition um die abstrakte Möglichkeit des Auftretens einer bestimmten Konfiguration von zeitlosen Objekten an einem bestimmten Nexus handelt. 427f. Kein Satz der Wortsprache ist bloß und nicht mehr als der Ausdruck einer Proposition. Auf irgendeine Weise enthält er immer auch gleichzeitig den Anstoß für das Hervorbringen einer bestimmten psychologischen Einstellung, mit der die in ihm enthaltene Proposition aufgefaßt wird. Mit anderen Worten: Jeder Satz .versucht die subjektive Form festzulegen, die das Fühlen der betreffenden Proposition als Gegebenheit umgibt. Dieser Anstoß kann uns dazu bringen, das Gesagte zu glauben, zu bezweifeln, zu genießen, oder auch ihm zu gehorchen. Er wird zum Teil durch Modus und Tempus des Verbs und überhaupt durch die grammatische Struktur vermittelt, zum Teil durch den Anmutungscharakter des gesamten Satzes, zum Teil durch den Inhalt des Buchs im ganzen, / zum Teil durch die materielle Beschaffenheit des Buchs – zu der auch die Farbe seines Umschlags gehört – und zum Teil durch die Namen des Autors und des Verlegers. Der Satz mit seinem psychologischen Anmutungscharakter ist oft mit der eigentlichen Proposition durcheinandergebracht worden, und das hat in der Debatte um das Wesen der Propositionen zu erheblichen Verwirrungen geführt. 428 Die Proposition ist ein Begriff, den man sich von den Wirklichkeiten macht, eine Vermutung, eine Theorie, eine Annahme über die Beschaffenheit der Dinge. Das Auffassen von Propositionen im Erleben ist einer Vielzahl von Zwecken dienlich. Sie ist der Extremfall einer – als Gegensatz zur »Wirklichkeit« zu denkenden – »Erscheinung«, weil die wirklichen Dinge, die ihr logisches Subjekt bilden, in ihr als Illustrationen des betreffenden Prädikats aufgefaßt werden. Das unbewußte Auffassen von Propositionen bildet eines der Stadien im Übergang von der »Wirklichkeit« der Anfangsphase des Erlebens zur »Erscheinung« der Abschlußphase. Bei den niedrigsten Typen von realen Vorgängen, in deren Selbstgestaltungsprozessen es kaum zu einem Auffassen von Propositionen kommt, gibt es praktisch keine den Übergang von der Anfangs- zur Schlußphase differenzierende »Erscheinung«. 428f. Daß eine Proposition interessant ist, ist wichtiger als daß sie wahr ist. Diese Feststellung ist beinahe schon eine Tautologie. Denn das Ausmaß, in dem eine Proposition in einem bestimmten Erlebnisvorgang zur Wirkung kommt, wird ja gerade durch das Ausmaß, in dem sie interessant und bedeutsam ist, bestimmt. Natürlich sind wahre Propositionen eher interessant als falsche. Und wenn das Handeln dem emotionalen Anreiz wahrer Proposi- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 52 tionen folgt, wird es öfter erfolgreich sein als bei falschen. Aber selbst wenn man vom Handeln völlig absieht, hat die rein kontemplative Betrachtung der Wahrheit immer noch ein ganz besonderes Interesse. Alles in allem aber bleibt es unbeschadet dieser klärenden Zusätze wahr, daß eine Proposition in dem Maße wichtig ist, in dem sie interessant ist. Nichts illustriert besser die Gefahren der / wissenschaftlichen Spezialisierung als die Konfusion, die dadurch entstanden ist, daß man die theoretische Behandlung von Propositionen ausschließlich den Logikern überlassen hat. Die Wahrheit einer Proposition besteht in ihrer Wahrheitsbeziehung zu dem Nexus, der ihr logisches Subjekt ist. Eine Proposition ist dann wahr, wenn der betreffende Nexus faktisch die Konfiguration von zeitlosen Objekten exemplifiziert, die als Prädikat der Proposition auftritt. Wenn man diese Situation einfach auf ihre verschiedenen Bestandteile hin analysiert, könnte es also so scheinen, als ob die Proposition – im Falle ihrer Wahrheit – mit dem angesprochenen Ne s schlechthin identisch wäre. Denn wir haben es ja nach beiden Seiten hin mit den gleichen realen Vorgängen und den gleichen zeitlosen Objekten zu tun. Aber es gibt bei dieser Analyse einen alles beherrschenden Faktor, den man nur zu leicht übersieht, nämlich den spezifischen Modus des Beisammenseins der Komponenten. Der Nexus enthält die zeitlosen Objekte im Modus der Verwirklichung, während in der wahren Proposition der Nexus und die zeitlosen Objekte im Modus der abstrakten Möglichkeit beisammen sind. Die zeitlosen Objekte sind in diesem Falle mit dem Nexus bloß als ein »Prädikat« verbunden. Nexus und Proposition gehören also unterschiedlichen Seinskategorien an; wenn man sie miteinander zu identifizieren versucht, ergibt das nichts als Unsinn, und zwar die gleiche Sorte von Unsinn wie die Identifizierung physikalischer Tatsachen mit mathematischen Formeln. 429f. Von Propositionen gilt das Gleiche, was auch von allen übrigen Dingen – mit Ausnahme des sich selber unmittelbaren Erlebens – gilt: sie existieren ausschließlich als etwas, das in Erlebnissen erfaßt wird. Es ist für die Funktionsweise des psychischen Pols charakteristisch, daß der objektive Inhalt seiner Erfassensakte nur im Modus der Möglichkeit existiert. Aber zu allem, was ein Faktum ist, gehört wesentlich ein psychischer Pol, so daß wir bei der Analyse jedes realen Vorgangs mit Notwendigkeit auf Komponenten stoßen, die im / Modus der Möglichkeit existieren. Die augenfälligsten Beispiele für Wahrheiten und Falschheiten ergeben sich beim Vergleich zwischen Dingen, die im Modus der Möglichkeit, und anderen, die im Modus der Wirklichkeit existieren. 430 IV. Bei den auf dieser Erde lebenden Tieren kulminiert das Erscheinungshafte in der Sinneswahrnehmung. Die Sinneseindrücke, die aus voraufgegangenen Aktivitäten des Organismus resultieren, werden als Eigenschaften auf bestimmte Regionen der gleichzeitigen Welt projiziert. Jeder Beigeschmack des Hypothetischen, der bloß vermuteten Möglichkeit, daß es so sein könnte, wird dabei zum Verschwinden gebracht. Die betreffenden Regionen scheinen dem Wahrnehmenden eben diese Eigenschaften aus eigenem Recht zu besitzen. Genau das ist es, was hier als »Erscheinung« auftritt: daß das uns wahrnehmungsmäßig Gegebene Eigenschaften dieser Regionen da sind. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 53 Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage, ob die uns sinnlich gegebenen Eigenschaften diesen Regionen denn tatsächlich zukommen. Welche Antwort wir auf diese Frage geben können, hängt davon ab, was hier mit »tatsächlich« und mit »zukommen« gemeint sein soll. Dies ist die Stelle, wo die Begriffe »Wahrheit« und »Falschheit« auf die Sinneswahrnehmung anwendbar werden. Aber es gibt im Haus der Wahrheit viele Wohnungen, und deshalb werden wir analysieren müssen, welche Typen von Wahrheit und Falschheit es bei der Sinneswahrnehmung geben kann. 430f. Dazu muß man sich zunächst wieder einmal den ursprünglichen Status der Sinnesgegebenheiten als Qualifikationen der affektiven Tönung eines Erlebnisvorgangs vor Augen halten. Sie werden primär als solche Qualifikationen aufgenommen und erst danach, durch »Transmutation«, zu den objektiv wahrgenommenen Eigenschaften von Regionen. Die Eigentümlichkeiten dieses Status bilden den Grund für die ungeheure / ästhetische Bedeutung, die die Sinnesqualitäten haben. Denn die Sinnesqualität setzt sich als Faktor in den Gegebenheiten eines Erfassensakts sofort in eine Qualifikation der affektiven Tönung, d. h. der subjektiven Form dieses Erfassens um. Eine gegebene Konfiguration von Sinnesqualitäten produziert also eine ihr konforme Konfiguration affektiver Tönungen. Und wenn eine Region der Sinneswahrnehmung als rot erscheint, stellt sich infolgedessen die Frage, ob die Gegebenheit »Rot« auch auf die affektiven Tönungen der realen Vorgänge, aus denen die betreffende Region faktisch besteht, einen dominierenden Einfluß ausübt. 431 Wenn das der Fall ist, besteht in gewissem Sinne eine Wahrheitsbeziehung zwischen der wirklichen Beschaffenheit der fraglichen Region und der Art, wie sie dem gleichzeitigen Beobachter als Erscheinung gegeben ist. Wenn z. B. das wahrgenommene rote Licht in einem Spiegel reflektiert worden sein sollte, kann man aus dem Erscheinungsbild der Region hinter dem Spiegel keine berechtigten Rückschlüsse auf die affektive Tönung der realen Vorgänge ziehen, aus denen sie besteht. 431f. Die Vorstellung, daß es sich bei den Sinnesgegebenheiten primär um Qualifikationen der affektiven Tönung des Erlebens handelt, erscheint dem philosophischen Denken paradox, obwohl sie dem Alltagsverstand ziemlich einleuchtend vorkommt. Man brauchte hier nur an die sprichwörtliche Reizbarkeit von Bullen und nervösen Leuten durch rote Tücher zu erinnern. Und die affektive Tönung, die durch den Anblick eines Waldes im ersten Frühlingsgrün hervorgerufen wird, läßt sich nicht anders charakterisieren als eben durch den Hinweis auf die wundervolle Zartheit dieses Grüns. Es handelt sich um eine sehr starke ästhetische Emotion, deren spezifische Qualität nichts anderes ist als »Frühlingsgrün«. Für den Intellekt ist eine bestimmte Geruchswahrnehmung nur ein Datum; das Tier erlebt sie primär als Qualifikation seines subjektiven Fühlens. Unser hochentwickeltes Bewußtsein macht aus den Sinnesqualitäten rein objektive Gegebenheiten, eben / Daten; aber unser in seinen Grundlagen animalisches Erleben faßt sie als Typen subjektiven Fühlens auf. Das Erlebnis beginnt als »dieser geruchsartige Eindruck« und wird vom Bewußtsein zum »Eindruck von diesem bestimmten Geruch« weiterverarbeitet. 432 Es gibt auch Fälle, in denen sich gewisse Abschattierungen von Stimmungen beobachten lassen, die gleichsam kurz vor der Schwelle stehen, nach deren Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 54 Überschreiten sie zu Sinnesgegebenheiten würden. Bei Kindern üben sie z. B. faktisch noch die Funktion von Sinnesqualitäten aus; und erst der entwickelte Intellekt des Erwachsenen verbannt sie dann aus dieser Kategorie. Das Kind ist in der Lage, seiner Mutter Stimmungslagen wie liebevolle Fürsorglichkeit, Fröhlichkeit, Niedergeschlagenheit oder Gereiztheit unmittelbar vom Gesicht abzulesen und spontan auf sie zu reagieren. Und es ist ganz gewiß höchst unwahrscheinlich, daß die subtilen Gedankengänge, durch die unsere Erkenntnistheoretiker an ihr Wissen kommen, schon bei Kleinkindern, Hunden oder Pferden angetroffen werden könnten. Die direkte Wahrnehmung der Stimmungen muß in diesen Fällen auf gleichem Fuße mit den übrigen Sinnesleistungen stehen. Aber der tierische Organismus funktioniert bei diesem Wahrnehmen von Stimmungen auf andere Weise als bei der Übermittlung der Sinnesgegebenheiten, und deshalb gibt es für den ausgebildeten Intellekt hier einen Unterschied des Typs. 432f. Aber wie dem auch sei, die Fröhlichkeit der Mutter wird vom Kind als etwas Gegebenes gefühlt, und zwar auf eine dem Gegebenen konforme Weise, mit der gleichen affektiven Tönung. Diese Gegebenheit leitet sich aus der Vergangenheit – der unmittelbaren Vergangenheit – her und wird auf die gegenwärtige Region projiziert, wo sich der Nexus von realen Vorgängen befindet, der das komplexe Faktum der leiblichen und seelischen Existenz der Mutter ausmacht. Für das Kind enthält das, was ihm so als Erscheinung geboten wird, die Qualität des Fröhlichseins; und es kann – und wird – dann oft zu der mit ihm gleichzeitigen realen Mutter / eine Wahrheitsbeziehung im vollsten Sinn des Wortes »Wahrheit« haben. 433 V. Im Verhältnis der Sinneswahrnehmung zu den mit ihr gleichzeitigen realen Vorgängen kann sich ein weiterer Typus einer Wahrheitsbeziehung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit exemplifizieren. Die Sinneswahrnehmung dürfte in vielen Fällen einfach aus den normalen, gesunden Funktionen des betreffenden Organismus resultieren. Und auch in der Erbfolge unter den Erlebnisvorgängen der personalen Seele dürfte vielfach so etwas wie eine gesunde Normalität anzutreffen sein. Überhaupt dürfte es in diesen Fällen so etwas wie eine gemeinsame Anpassung der leiblichen und seelischen Reaktionen an die wesentlichen Gegebenheiten des äußeren Energieflusses geben, eben die Art von Anpassung, die der Erhaltung der betreffenden Spezies von Organismen normalerweise dienlich ist. Wenn man diese Voraussetzungen über die Normalität der vorliegenden Situation macht, wird die aus ihr resultierende Erscheinung dem entsprechen, was für Organismen dieses Typs unter Umständen dieses Typs angemessen ist. Es handelt sich dann einfach um eine Naturgegebenheit, und das, was hier als »Erscheinung« auftritt, resultiert aus dem Wirken von Naturgesetzen, die den Charakter der betreffenden kosmischen Epoche und gewisser innerhalb dieser Epoche realisierter spezifischer Verhältnisse repräsentieren. Die daraus resultierende Wahrheitsbeziehung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit hat einen mehr indirekten Charakter als der erste hier besprochene Typ; sie ist umfassender, vager und in ihren Bezügen diffuser. Wir Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 55 nehmen einfach wahr, was jedes in guter Verfassung befindliche Individuum unseres Typs unter diesen Umständen wahrnehmen würde. 434 VI. Es gibt eine Unterscheidung, die für alle Typen von Wahrheitsbeziehungen gilt. Die Funktionen des Wirklichen gehören der Vergangenheit an, während die Erscheinung als gegenwärtig wahrgenommen wird. In mondlosen Nächten bildet jener schwachleuchtende Streifen am Himmel, den wir die Milchstraße nennen, eine Erscheinung der gleichzeitigen Welt, nämlich eines sehr großen Bereichs innerhalb des »Worin« der gesamten uns erscheinenden Welt. Aber die Wirklichkeit, auf deren Funktionen diese Erscheinung zurückgeht, besteht aus einem Strom von Lichtenergie, der sich über für unser Empfinden unermeßliche Zeiträume hinweg durch die unermeßliche Tiefe des Weltalls bewegt hat. Und die Frage ist nun: Gibt es hinter jener für uns sichtbaren Milchstraße, die uns – in einer schwerbestimmbaren endlichen Entfernung – wie eine Barriere von dem mit uns gleichzeitigen tieferreichenden Weltraum trennt, immer noch und als mit uns gleichzeitiges Faktum solche Aktivitäten, bei denen es zur Übertragung von Lichtenergie kommt? Vielleicht haben die realen Vorgänge, die in wechselseitiger Verknüpfung jene entfernten Regionen erfüllen, ihre Ablaufsformen inzwischen schon längst verändert. Das letzte Aufflammen von Sternen nimmt nur Tage in Anspruch; und danach verlöschen sie innerhalb einiger Jahre. – Die Erscheinung der mit uns gleichzeitigen Regionen enthält Wahrheitsbeziehungen zum Vergangenen und Wahrheitsbeziehungen zur gegenwärtigen Realität. Und die zutreffende Einschätzung dieser letzteren Wahrheitsbeziehungen fordert uns einen Sprung der Vorstellungskraft ab, den wir durch nichts weiter rechtfertigen können als durch die Wahrheitsbeziehungen der Erscheinung zum Vergangenen und durch die Erfahrungen, die wir mit der Stabilität der in Frage stehenden Ordnungstypen bereits gemacht haben. 434f. Vielleicht ist es so, daß bei der wechselseitigen Immanenz der Erlebensvorgänge die Ordnung von Voraufgehen und / Abkünftigkeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – zwar für physische und psychische Pole gleichermaßen gilt, daß aber die wechselseitigen Beziehungen zwischen den psychischen Polen nicht den gleichen Gesetzen der Perspektive unterworfen sind wie die Beziehungen zwischen den physischen Polen. In diesem Falle wären dann die meßbare Zeit und der meßbare Raum für die Beziehungen unter ihnen irrelevant. Es könnte also sein, daß es bei einigen Typen von Erscheinung ein Moment der Unmittelbarkeit in ihrer Beziehung zur psychischen Seite der gleichzeitigen Welt gibt. Andere Typen von Erscheinung dagegen, wie die lokalisierten Sinnesqualitäten unserer Wahrnehmung, hängen von Raum und Zeit ab, in denen die aus der wechselseitigen Immanenz der physischen Pole entstehende Perspektivität zum Ausdruck kommt. 435 Wenn dies der Fall sein sollte, gibt es unterschiedliche Typen von Erscheinung, bei denen einige eine direktere Beziehung zur gleichzeitigen Wirklichkeit haben als andere. VII. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 56 Es gibt noch einen weiteren, dritten Typ von Wahrheitsbeziehungen, der noch vager und indirekter ist als der zweite Typ, von dem wir eben gesprochen haben. Man könnte ihn als den Typus der »symbolischen Wahrheit« bezeichnen. Er ließe sich auch als extreme Ausprägung des zweiten Typs verstehen; aber im großen und ganzen ergibt sich ein klareres Bild, wenn man ihn als einen eigenen Typ betrachtet. 435f. Im Falle der symbolischen Wahrheit ist die Beziehung, zwischen Erscheinung und Wirklichkeit so zu charakterisieren, daß bei gewissen Klassen von Wahrnehmenden das Erfassen der Erscheinung zum Erfassen der Wirklichkeit führt, und zwar so, daß es zur Konformität zwischen den subjektiven Formen dieser beiden Erfassensakte kommt. Dabei besteht in diesem Falle jedoch keinerlei direkte Kausalbeziehung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit; weder ist die Erschei/nung in irgendeinem direkten Sinne Ursache der Wirklichkeit, noch die Wirklichkeit Ursache der Erscheinung. Es sind vielmehr rein zufällige Umstände, durch die sich der im Erleben dieser Wahrnehmenden erfaßte Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen und diesen Wirklichkeiten ergeben hat. Ihrem eigenen Wesen nach lassen die Erscheinungen nichts von der Natur der ihnen zugeordneten Wirklichkeiten erkennen, und das Gleiche gilt auch umgekehrt. Der Zusammenhang zwischen ihnen besteht ausschließlich im Erleben einer Klasse entsprechend konditionierter wahrnehmender Personen. Die Sprachen und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sind das wohl augenfälligste Beispiel für diesen dritten Wahrheitstyp. Zwischen den Lauten bzw. Schriftzeichen einer Sprache und den in ihr zum Ausdruck gebrachten Propositionen besteht eine indirekte Wahrheitsbeziehung. Es gibt bei jeder Sprache eine richtige und eine falsche Verwendungsweise der in ihr vorkommenden Ausdrücke, und zwar innerhalb jener Gruppe von Menschen, die entsprechend konditioniert worden sind. Wobei – in Anbetracht des ästhetischen Phänomens der Literatur – daran zu erinnern ist, daß durch die Sprache nicht nur objektive Bedeutungsinhalte, sondern auch subjektive Formen vermittelt werden. 436f. Auch gewissen Musikstücken, zeremoniellen Gewändern, zeremoniellen Gerüchen und rhythmischen visuellen Darbietungen zeremoniellen Charakters kommt symbolische Wahrheit oder Falschheit zu. Bei diesen letzteren Beispielen erreicht die Vermittlung objektiver Bedeutungsinhalte ein Minimum, während die Vermittlung subjektiver Formen den höchsten Grad erreicht. Die Formen der Musik, die ein starkes patriotisches, kriegerisches oder religiöses Sentiment zum Ausdruck bringen, sind hier ein gutes Beispiel: sie artikulieren die Emotion, die dem dumpfen Empfinden der Gläubigen und Ergriffenen nach den Gedanken an das Vaterland, den Krieg oder die Werke Gottes begleiten sollte. Das dumpfe, unartikulierte Gefühl wird durch die Musik zur artikulierten und distinkten Erfaßbarkeit erhoben. Sie leistet uns diesen Dienst / oder auch Bärendienst –, indem sie die schlecht greifbare objektive Realität mit einem emotionalen Gewand umgibt, das sie zu einer klaren und auf eine bestimmte subjektive Form des Erfassens hin zugeschnittenen Erscheinung macht. 437 Es gibt dann – um weiter bei diesem Beispiel zu bleiben – eine durch die Gemeinsamkeit der subjektiven Form begründete vage Wahrheitsbeziehung zwischen der Musik und der resultierenden Erscheinung, außerdem aber auch Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 57 noch eine Wahrheitsbeziehung zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit – der Realität des Vaterlandes, des Krieges oder Gottes –. Diese komplexe Verbindung einer Vielfalt von Wahrheitsbeziehungen mitsamt den in sie eingehenden Falschheiten ist es, was die Kunst in die Lage versetzt, die Wahrheit über die Natur der Dinge auf dem Wege der indirekten Interpretation zum Ausdruck zu bringen. Ich habe hier natürlich, der Einfachheit halber, nur ein ziemlich grobes und nahezu vulgäres Beispiel vorgeführt. Aber wenn man davon absieht, ist dies der Charakter, den die delikate innere Wahrheit der Kunst in den meisten Fällen hat. VIII. 437f. Der Gang dieser Überlegungen läßt vermuten, daß ein Exkurs über die Ursprünge der in menschlichen Gesellschaften verbreiteten Verhaltens- und Interpretationsgewohnheiten ganz instruktiv sein dürfte. Ideen entstehen aufgrund einer inneren Verwandtschaft mit gewissen menschlichen Funktionsweisen, die sich schon lange vor ihnen herausgebildet haben. In den ersten Anfängen ihrer historischen Inkarnation dämmern sie, unerkannt und unausgedrückt, im Halbschatten des Bewußtseins. Für den Historiker späterer Zeiten geben sie sich zuerst im zögernden und unsicheren Wachstum der Bedeutung zu erkennen, die denjenigen Funktionen des Stammes zugemessen wird, die ein erstes Aufdämmern der Idee im Bewußtsein fördern. Danach aber tritt dann bald ein Umschlag ein: der eine oder andere rastlose Intellekt unter / den Stammesangehörigen interpretiert die betreffenden Funktionen durch die zugehörigen Ideen, und dadurch werden die angesprochenen Verhaltensweisen zu etwas mehr als bloß Funktionen, denen im Leben des Stammes ein gewisser Eigenwert zukommt, nämlich zu Ausdrucksmitteln für Ideen. Sie gehen eine feste Verbindung mit einer bestimmten intellektuellen Konstruktion ein. Sie evozieren danach als Verhaltensformen, zusammen mit dem ganzen Geflecht der sie umgebenden Emotionen, das Erfassen eben dieser intellektuellen Konstruktion; und ebenso gilt das Umgekehrte: die Vorstellung der Konstruktion löst einen Drang zum Ausdruck in eben diesen Verhaltensformen aus. Die Emotionen produzierenden Zeremonien werden auf diese Weise zum Ausdrucksmittel der Ideen; und die Ideen werden zur Inter- pretation der sie darstellenden Zeremonien. Soviel zur Erklärung, wie es ursprünglich zur Verknüpfung zwischen einer Idee und einem gewissen Apparat von Ausdrucksmitteln kommt. Die Verknüpfung zwischen einer Idee und ihrem Ausdruck ist hier eben als »Interpretation« gekennzeichnet worden. Deshalb ist jetzt eine etwas genauere Analyse dieses Begriffs »Interpretation« angezeigt. Man kann sagen, daß sich zwei Verhaltensmuster dann und nur dann wechselseitig interpretieren, wenn es einen beiden gemeinsamen Erlebensfaktor gibt, der bei jeder Aktivierung des einen wie des anderen Verhaltensmusters realisiert wird. Und dieser gemeinsame Faktor bildet auch den Grund, aus dem der Übergang vom einen zum anderen dieser beiden Verhaltensmuster möglich wird. Jedes der beiden Muster interpretiert das andere als einen Ausdruck dieses gemeinsamen Faktors. Wobei »Verhaltensmuster« hier nur als ein anderes Wort für »Modus des Erlebens« zu verstehen ist. In diesem Sinne ist das Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 58 Sich-aneignen eines Mythos ebenso ein Verhaltensmuster wie ein bestimmter Stammestanz oder ein höfisches Zeremoniell. 439 IX. Schließlich und letztlich aber ist es ja doch die ungeschminkte Wahrheit, die wir wissen wollen. Zur endgültigen Befriedigung unseres Strebens brauchen wir mehr als krude Ersatzobjekte für die Wahrheit oder subtile Ausflüchte, wie delikat ihre innere Struktur auch immer sein mag. Die indirekten und umwegigen Formen der Wahrheit werden uns nie zufriedenstellen können. Alles, was wir uns als Zweck vornehmen, sucht seine wesentliche Rechtfertigung in den nackten Tatsachen. Das ist das Fundament, auf das es ankommt; alles übrige ist bloß Zutat, ganz gleich, wie wichtig es in anderen Hinsichten auch sein mag. Wenn sich nirgendwo eine ungeschminkte Wahrheit finden ließe, müßte unser Leben in einem von parfümierten Winken und Andeutungen erfüllten Zustand der Dekadenz versinken. 439f. Die ungeschminkte Wahrheit, die wir brauchen, ist eine klare und distinkte Erscheinung, die der hinter ihr stehenden Wirklichkeit konform ist. Im menschlichen Erleben ist die klare und distinkte Erscheinung in erster Linie eine Sache der Sinneswahrnehmung. Und die ungeschminkte Wahrheit, die wir von der Sinneswahrnehmung erwarten, basiert auf Wahrheitsbeziehungen des ersten Typs, den wir zum Teil schon im vierten Abschnitt dieses Kapitels diskutiert haben. Wir haben dort bereits die Auffassung entwickelt, daß das Erfassen einer Sinnesqualität, die als erscheinendes Objekt eine bestimmte Region der mit uns gleichzeitigen Welt qualifiziert, auch bedeutet, daß die subjektive Form dieses Erfassens eben diese Sinnesqualität als einen ihrer Faktoren enthält. Wir erfreuen uns am grünen Frühlingslaub »auf grüne Weise«; wir genießen den Sonnenuntergang mit einer Emotion, die durch die Farben und Kontraste des von uns Gesehenen artikuliert wird. Es ist dies, wodurch so etwas wie Kunst möglich wird, und was das Wundervolle der erscheinenden Natur ausmacht. Denn wenn die subjektive Form des Aufnehmens zur objektiven Sinnesgegebenheit nicht in einem Verhältnis der kon/formen Entsprechung stünde, würden die Werte des Wahrgenommenen der Willkür und dem Zufall in der Zusammensetzung der übrigen Komponenten des Erlebens ausgeliefert sein. Wenn man z. B. eine Menge von drei oder vier Objekten in der Anschauung vor sich hat, ergibt sich aus ihrer bloßen Anzahl noch keine subjektive Form. Es handelt sich bei ihr um nicht mehr als eine bloße Bedingung, durch die die Zusammenstellung gewisser effektiver Komponenten des Erlebens geregelt wird. Und wenn man von diesen Komponenten absieht, kann ihre bloße Dreizahl nicht die subjektive Form ihres Erfaßtwerdens bestimmen. Aber ein Grün kann das: und darin liegt der Unterschied zwischen Sinnesqualitäten und abstrakten mathematischen Formen. 440 Die Beständigkeit der aus der Sinneswahrnehmung abgeleiteten Werte, die erhalten bleiben, selbst wenn man sie vernachlässigt oder wenn sie mit anderen Emotionen in Konflikt geraten, beruht darauf, daß die Sinnesqualitäten selber in die subjektive Form ihres physischen Erfaßtwerdens eingehen. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 59 X. 440f. Die Frage, die jetzt entschieden werden muß, ist, ob die grüne Frühlingswiese, so wie sie uns erscheint, den Vorgängen im Bereich der Wiese – und vor allem im Bereich der einzelnen Grashalme – irgendwie unmittelbar konform ist. Haben wir irgendwelche Gründe für die Annahme, daß die Dinge in diesen Bereichen sich in irgendeinem Sinne wirklich so verhalten, wie wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen? Nun, soviel ist zunächst einmal klar: eine derartige Konformität kann sich nicht aus irgendwelchen Naturnotwendigkeiten ergeben. Das wird durch unsere Sinnestäuschungen bewiesen. Die Fälle des Doppelsehens und die Bilder, die durch Spiegelungen und Phänomene der Lichtbrechung hervorgerufen werden, beweisen zur Genüge, daß die Erscheinungsweise einer bestimmten Region mit den Vorgängen innerhalb der Region in keinem relevanten Zusammenhang zu stehen / braucht. Was die Erscheineinungen in letzter Instanz kontrolliert, sind die Funktionen unseres biologischen Organismus. Diese Funktionen aber stammen zusammen mit den Vorgängen innerhalb der mit ihnen gleichzeitigen Umweltregionen von einer Vergangenheit ab, die für beide gleichermaßen im höchsten Grade relevant ist. Und deshalb bietet sich die Frage an, ob der Organismus und die ihn umgebende Umwelt nicht so aufeinander abgestimmt sein könnten daß unter normalen Umständen das in der Wahrnehmung Erscheinende den wirklichen Vorgängen in den wahrgenommenen Regionen konform ist. 441 Wenn eine solche Abstimmung und Entsprechung erreicht worden ist, wird man sie zu den Vollkommenheiten der Natur in der Ausbildung höherer Typen des animalischen Lebens zählen müssen. Jedenfalls handelt es sich bei ihr nicht um etwas, das sich irgendwie mit Notwendigkeit so hätte ergeben müssen; und daß es in diesem Zusammenhang immer wieder zu Fehlschlägen, wechselseitigen Störungen und bloßen Teilanpassungen kommt, ist ja nur allzu offensichtlich. Aber wir müssen uns fragen, ob es nicht doch innerhalb der Natur selbst eine Tendenz zum Gleichklang gibt, einen Eros, der das Vollkommene anstrebt. Dieser Frage können wir jedoch nicht nachgehen, ohne den vergleichsweise engen Bereich der Wahrheitsbeziehungen zu überschreiten. XVII. Schönheit I. Schönheit besteht in der wechselseitigen Anpassung der verschiedenen Faktoren innerhalb eines Erlebensvorgangs. Schönheit im ursprünglichen Sinne ist also eine Qualität, die in realen Vorgängen exemplifiziert wird, oder umgekehrt: an der reale Vorgänge je für sich teilhaben können. Es gibt sie in unterschiedlichen Abstufungen und Typen. 442f. »Anpassung« impliziert immer irgendein Ziel Wir haben das Wesen der Schönheit also erst dann bestimmt, wenn es uns gelungen ist, das Ziel der hier zur Rede stehenden Anpassung zu analysieren. Es handelt sich um ein zweifaches Ziel. Zunächst wird das Ausbleiben wechselseitiger Störungen unter den verschiedenen Akten des Erfassens angestrebt, damit die unter- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 60 schiedlichen Intensitäten der subjektiven Form, die sich natürlicher – und ungezwungenerweise – mit einem Wort: konform – aus den objektiven Inhalten der verschiedenen Erfassensakte ergeben, nicht miteinander in Konflikt geraten. Wenn das Erreichen dieses Ziels sichergestellt ist, haben wir es mit der niederen Form der Schönheit zu tun, der Vermeidung schmerzhafter Mißklänge und des Vulgären. Daneben aber gibt es noch eine höhere Form der Schönheit. Um sie zu erreichen, müssen wir die erste –niedere – Form voraussetzen, außerdem aber noch die Bedingung stellen, daß es bei der Zusammenfassung der verschiedenen Erfassensakte in der Einheit einer Synthesis zur Bildung neuer Kontraste unter ihren objektiven Inhalten kommt. Durch diese Kontraste werden dann neue, ihnen konforme Fühlungsintensitäten hervorgerufen, die die Intensitäten des konformen Fühlens innerhalb der ursprünglichen Fühlenskomponenten steigern. Auf diese Weise tragen die Teile zur kompakten Einheit des gefühlten Ganzen bei; und das Ganze wiederum leistet seinen Beitrag zu einer gesteigerten Intensität des Fühlens beim Erfassen seiner Teile. Die subjektiven Formen der Erfassensakte verflechten sich so miteinander zur Einheit eines strukturierten Kontrasts, in dem sie je für sich hervorgehoben werden. Mit anderen Worten: die vollkommene Schönheit wird hier als eine Vollkommenheit der Harmonie definiert, und die Vollkommenheit der Harmonie ihrerseits als eine Vervollkommnung der subjektiven Formen in ihren Details und in der sie zusammenfassenden Synthese. Darüber hinaus ist die Vollkommenheit der subjektiven Form noch genauer durch ihre »Stärke« zu bestimmen. Zur Stärke in dem hier gemeinten Sinne gehört zweierlei, nämlich die Vielfalt der effektiv kon/trastierenden Details, d. h. das Moment der Kompaktheit und Massivität, und die eigentliche Intensität, die eine rein komparative und von allen Bezügen auf qualitative Verschiedenheit freie Größe ist. Ob und wie das Maximum der eigentlichen Intensität erreicht wird, hängt dann allerdings wieder von der Massivität bzw. Kompaktheit ab. 443 II. Um diese Definition der Schönheit verstehen zu können, muß man sich drei Thesen des metaphysischen Systems gegenwärtig halten, durch das die Welt in diesen Kapiteln interpretiert wird. Es geht in diesen Thesen um die wechselseitigen Beziehungen (a) zwischen dem objektiven Inhalt eines Erfassensaktes und der subjektiven Form dieses Erfassens, (b) zwischen den subjektiven Formen der verschiedenen Erfassensakte, die dem gleichen Erlebensvorgang angehören, und (c) zwischen der subjektiven Form eines Erfassens und der von der subjektiven Zielsetzung des erfassenden Vorgangs involvierten Spontaneität. Zwischen diesen Thesen besteht ein enger Zusammenhang, aber jede von ihnen führt ein Prinzip ein, das in den anderen beiden nicht explizit zur Sprache kommt. Ich möchte sie im Folgenden der Reihe nach erläutern: 443f. (a) Alle qualitativen Faktoren im Universum sind primär Qualifikationen einer subjektiven Form; und die unendliche Vielfalt der Qualitäten involviert die Möglichkeit einer unendlichen Vielfalt subjektiver Formen, die diese Qualitäten exemplifizieren. Dies bedeutet jedoch nicht, daß alle subjektiven Formen, die unterschiedliche Qualitäten exemplifizieren, mit gleicher Deutlichkei t vom menschlichen Bewußtsein aufgenommen werden. Das Bewußtsein ist ein Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 61 sehr variables und ungewisses Element, das nur hier und da auf der Oberfläche des Erlebens aufflackert. Es gehört jedoch zum Inhalt dieser These, daß der qualitative Inhalt des erfaßten Objekts mit zu den Qualitäten gehört, die sich in der subjektiven Form / des betreffenden Erfassensakts exemplifizieren. Dies ist das allgemeine Prinzip, das den folgenden Auffassungen zugrundeliegt: (1) daß ein sich mit dem Gegebenen zur Konformität bringendes Fühlen10 die Anfangsphase jedes Vorgangs bildet, (2) daß der psychische Pol sich in Gestalt qualitativer Bewertungen betätigt, und (3) daß das ursprüngliche Wesen Gottes – das ich hier auch als den Eros des Universums bezeichnet habe – Bewertungen involviert. Weiterhin folgt, daß die subjektive Form eines Erfassensaktes zum Teil durch die qualitative Seite seines objektiven Inhalts festgelegt wird, ja daß faktisch zu Anfang eine konforme Anpassung an sie vorliegt. Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen, daß es dieser Umstand ist, der Kunst möglich macht. Ebenso ist das Moment des deterministischen Zwangs, das in der Welt anzutreffen ist, auf ihn zurückzuführen. 444f. Das konforme Sichanpassen der subjektiven Form betrifft jedoch nur die qualitative Seite am Inhalt des objektiv Gegebenen. Das aber hat zur Folge, daß man die allgemeine Feststellung, daß die subjektive Form dem objektiv Gegebenen konformiert, durch zwei Ausnahmen einschränken muß, auf die man stößt, wenn die äußerste Grenze der Abstraktion erreicht worden ist. Die extreme Abstraktion von allen qualitativen Elementen bringt jede Gestalt auf ihre rein mathematische Form – z. B. auf die Form der Dreiheit, oder auf die Form abstrakter Beziehungen zwischen Zahlenklassen, für die die Zugehörigkeit der Zahl Vier zur Klasse der ganzzahligen Quadrate ein Beispiel wäre. Derartige Formen aber können ihrer Natur nach keine subjektiven Formen qualifizieren. So etwas wie eine quadratische Emotion gibt es eben einfach nicht. Außer auf eine ganz indirekte Weise – wie z. B. bei der Glattheil einer Kugel, der Eckigkeit eines Würfels, dem Rhythmus einer Schwingung – gibt es bei mathematischen Formen keine Konformität der subjektiven Form. / (Ich denke dabei an die reine Mathematik im strikt modernen Sinne.) 445 Daneben kann es aber auch bei der Vorstellung eines realen Vorgangs, einer individuellen Wirklichkeit, zur Abstraktion von allen qualitativen oder mathematischen Komponenten kommen, die auf irgendeine Weise in seinem Wesen verwirklicht sind – als objektive Gegebenheit, als subjektive Form oder als eine Beziehung zwischen Akten des Erfassens. Darüber hinaus gibt es bei individuellen Wirklichkeiten noch ein Abstrahieren vom ursprünglichen Modus ihres Erfaßtwerdens, so daß sie danach, in späteren Phasen des Erlebens, als ein bloßes »Es« aufgefaßt werden können.11 Wie schon gesagt, können nur die qualitativen Komponenten einer als Gegebenheit fungierenden individuellen Wirklichkeit in die subjektive Form des Erlebens eingehen. Die einzige direkt mit der subjektiven Form verbundene Wirklichkeit ist der unmittelbar gegenwärtige Vorgang im Prozeß seiner Selbstgestaltung; denn die subjektive Form ist ja dieses unmittelbare Subjekt in eben diesem Zustand des unmittelbaren Fühlens. In dem Sinne aber, in dem eine Wirklichkeit sich dem objekti- 10 Vgl. dazu den dritten Teil dieses Buchs und die ausführlichere Darstellung in P. R. 11 Vgl. Kap. I im Concept of Nature, dazu Kap. IX, Abschnitt III im zweiten Teil von Process and Reality, und Kap. IV im dritten Teil. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 62 ven Erfassen als ein bloßes Es darbieten kann, geht es nicht in die subjektive Form des Erfassens ein. 445f. (b) Die zweite These betrifft die Einheit des unmittelbar gegenwärtigen Vorgangs im Prozeß seiner Selbstgestaltung. Die (im Plural) auftretenden subjektiven Formen sind nichts weiter als Beiträge zu ein und demselben Faktum, nämlich dem subjektiven Fühlen dieses einen Vorgangs. Unter den verschiedenen Akten des Erfassens kommt es zu einer gewissen Auffächerung in unterschiedliche subjektive Formen, und zwar deshalb, weil jeder Teil der objektiv gegebenen Gesamtheit je für sich eine ihm in qualitativer Hinsicht konforme Reproduktion in der subjektiven Form hervorbringt. Und wenn ein und dieselbe Qualität in verschiedenen objektiven / Gegebenheiten auftaucht, muß ihr Wirksamwerden in der subjektiven Form durch einen Integrationsprozeß bestimmt werden, und daneben natürlich auch noch durch ihre Verträglichkeit mit den übrigen qualitativen Inhalten des Fühlens. Die Auffächerung subjektiver Formen zu getrennten Akten des Erfassens bezieht sich also primär auf die dem Gegebenen konformen Ursprünge der subjektiven Form, die auf unterschiedliche Komponenten der objektiv gegebenen Gesamtheit zurückgehen. 446 (c) Die dritte These unterstreicht die fundamentale Autonomie dieses ganzen Prozesses. Der Prozeß der Synthesis der konform aus den Gegebenheiten abgeleiteten subjektiven Formen wird durch diese Gegebenheiten nicht in seinem Ablauf festgelegt. Denn die Gegebenheiten, für sich genommen, enthalten noch kein regulatives Prinzip, nach dem ihre spätere Synthesis sich bestimmen könnte. Dieses regulative Prinzip entstammt vielmehr der neuen Einheit, die ihnen durch das~im Prozeß der Herausbildung begriffene neue Wesen auferlegt wird. Der unmittelbar gegenwärtige Vorgang muß aus der Spontaneität seines eigenen. Wesens die noch fehlenden Bestimmungen zur Synthesis der subjektiven Form beisteuern. Die Zukunft des Universums unterliegt also zwar gewissen Voraussetzungen, die durch die Immanenz des Vergangenen in ihm geschaffen worden sind, bedarf aber zu ihrer vollständigen Determination der Spontaneität der in ihr immer wieder neu entstehenden Vorgänge. III. 447f. Für das Folgende werden wir zwischen zwei Bedeutungen des Wortes »Schönheit« unterscheiden müssen. Bei der ersten davon handelt es sich um die Bedeutung, die wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels erläutert haben, um die Schönheit, die in realen Vorgängen – der einzigen Art von vollständig wirklichen Dingen, die es gibt – verwirklicht ist. Aber bei der Analyse eines solchen Vorgangs kann man sich nun ver/anlaßt sehen, auch gewisse Teile seines objektiven Inhalts – und zwar wegen des Beitrags, den sie in konformer Anpassung zur Vollkommenheit der subjektiven Form des unmittelbar gegenwärtigen Gesamtvorgangs leisten – »schön« zu nennen. Diese zweite Bedeutung des Ausdrucks »Schönheit« wäre zutreffender als eine Definition des Ausdrucks »schön« bzw. »das Schöne« zu betrachten. Die Schönheit, die in einem Vorgang verwirklicht wird, hängt sowohl von dem objektiven Inhalt ab, in dem dieser Vorgang seinen Ursprung hat, als auch von seiner eigenen Spontaneität. Der objektive Inhalt ist immer aufgrund der Schönheit »schön«, die Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 63 vom unmittelbar gegenwärtigen Vorgang durch einen glücklichen Akt der Spontaneität verwirklicht werden könnte. Und ganz entsprechend ist jeder einzelne Teil des objektiven Inhalts auf eine noch indirektere Weise »schön« (wobei geringfügige Variationen in der Bedeutung dieses Ausdrucks möglich sind). Ein solcher Teil kann z. B. aufgrund der Schönheit schön sein, die durch eine glückliche Kombination mit anderen Gegebenheiten und durch einen glücklichen Akt der Spontaneität des sie erfassenden Vorgangs verwirklicht wird. Aber eine so seltene Kombination von Glücksumständen ist ein Ideal, das nicht für diese Welt ist. Wenn wir von der Existenz »des Schönen« sprechen, meinen wir normalerweise, daß wir die Existenz der Art von objektiver Umwelt voraussetzen, die unter den gegebenen allgemeinen sozialen Verhältnissen vorausgesetzt werden darf, und daß wir die Art von Akten der Spontaneität erwarten, die man sich von den in Frage kommenden wahrnehmenden Erlebensvorgängen erhoffen darf. Wir können dabei an Künstler denken, oder an kultivierte Zeitgenossen, oder an den Normalbürger in einer bestimmten Stadt und zu einer bestimmten Zeit. Jedenfalls bezeichnet »schön« in allen vorkommenden Bedeutungsschattierungen die Fähigkeit, als Gegebenheit für einen wahrnehmenden Erlebensvorgang das Entstehen von Schönheit zu befördern. Und wenn man von der »Schönheit« einer bestimmten Komponente in irgend etwas Gegebenem / spricht, handelt es sich immer um »Schönheit« in diesem zweiten, abgeleiteten Sinne. 448 IV. Bei unserer anfänglichen Definition der Schönheit haben wir kommentarlos den Begriff »Vollkommenheit« verwendet. Wenn eine subjektive Form »vollkommen« ist, bedeutet das, daß es in ihr keine Fühlenskomponenten gibt, die sich wechselseitig so stören bzw. in ihrer Entfaltung hemmen, daß keine die ihr angemessene Stärke erreichen kann. Aber »Hemmung« (inhibition) kann in diesem Zusammenhang zweierlei bedeuten; und wir müssen hier sorgfältig unterscheiden, weil nur eine von diesen beiden Arten von Hemmungen der Vollkommenheit Abbruch tut. Eine vollständige Hemmung ist nur ein Indiz für die Endlichkeit jeder subjektiven Form und tut ihrer »Vollkommenheit« in keiner Weise Abbruch. Im Gegenteil, eine solche subjektive Form kann in ihrer Art immer noch vollkommen sein – wobei »in ihrer Art« einen bestimmten Typ von Endlichkeit kennzeichnet, aus dem gewisse Dinge ausgeschlossen bleiben müssen. Aber eine durch eine derart vollständige Hemmung ausgeschlossene Komponente des subjektiven Fühlens ist ja strenggenommen überhaupt keine Komponente dieser subjektiven Form, sondern vielmehr etwas, das unter anderen Verhältnissen eine Komponente gewesen wäre. Die vollständige Hemmung in diesem Sinne will ich hier als »Anästhesie« bezeichnen. Die Hemmung im zweiten Sinne – in dem sie der Vollkommenheit Abbruch tut – involviert die faktische und aktive Gegenwärtigkeit der beiden fraglichen Fühlenskomponenten. In diesem FaIle resultiert aus ihnen eine dritte Fühlenskomponente, ein Gefühl der wechselseitigen Destruktivität, und das bewirkt, daß eine – oder beide – der ursprünglichen Fühlenskomponenten nicht die Stärke erreicht, die dem Erfassen der sie auslösenden Gegebenheit angemessen wäre. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 449 64 Es ist dies ein Fühlen des Übels in seinem allgemeinsten Sinne, sei es ein physischer Schmerz oder ein psychisches Übel, wie Kummer, Abscheu oder Entsetzen. Diesen Typ der Hemmung will ich als »ästhetische Destruktion« bezeichnen. Die ästhetische Destruktion ist ein -positiver Bestandteil der subjektiven Form und mit der Vollkommenheit unverträglich. Das subjektive Erleben der ästhetischen Destruktion will ich als »dissonantes Fühlen« bezeichnen. Jedes derartige Fühlen ist ein Faktor in der subjektiven Form des betreffenden Erlebensvorgangs. Je intensiver das dissonante Fühlen wird, umso weiter entfernt die subjektive Form sich vom Vollkommenen. Eine komplexe Gegebenheit soll »objektiv dissonant« heißen, wenn sie bei dem in Frage kommenden Typ von Wahrnehmungssubjekten normalerweise zu dissonantem Fühlen führen wird. 449f. Aus diesen Überlegungen folgt, daß wir bei der Definition der Schönheit eine Unterscheidung übersehen haben. Die Formen des subjektiven Fühlens, die dem Typus des emotionalen Erlebens einer ästhetischen Destruktion angehören, müssen bei dieser Definition ausdrücklich ausgenommen – oder vielmehr, wie wir noch feststellen werden, einer Klasse zugeordnet werden, die eine gesonderte Behandlung erfordert. Für die »Vollkommenheit« im eigentlichen Sinne ist es unumgänglich, daß jedes dieser Klasse zugehörige Fühlen außer Betracht bleibt. Allerdings werden wir bei näherem Zusehen feststellen, daß es in jedem Falle unvollkommene Vorgänge gibt, die besser sind als andere, in denen ein bestimmter Typ von Vollkommenheit realisiert ist. Denn es gibt höhere und niedere Formen der Vollkommenheit; und etwas Unvollkommenes, das auf eine höhere Form der Vollkommenheit abzielt, ist höher zu bewerten als etwas arideres, in dem eine niedere Form der Vollkommenheit verwirklicht ist. Selbst nur materielle und grobsinnliche Genüsse sind noch Formen der Schönheit; und der Fortschritt kann ohne Dissonanzen des Fühlens nicht vorankommen. Der gesellschaftliche Wert der Freiheit liegt ja gerade darin, daß sie Dissonanzen zum Vorschein kommen läßt. Jede Vollkommenheit, die es gibt, wird / von einer anderen übertroffen; denn alles Verwirklichte ist endlich, und es gibt keine Vollkommenheit, die die Unendlichkeit aller übrigen Vollkommenheiten in sich enthalten könnte. Zwischen Vollkommenheiten unterschiedlichen Typs kommt es zum Widerstreit und zu Dissonanzen. Und der Beitrag zur Entfaltung der Schönheit, den dieser – in sich selbst destruktive und schlechte – Widerstreit leisten kann, ist ein positives Fühlen, in dem sich unser Streben plötzlich von der Schalheit einer verbrauchten Vollkommenheit auf ein noch frisches Ideal verlagert. Dieser am Dissonanten auftauchende Wertaspekt ist ein Tribut an die Verdienste des Unvollkommenen. 450 V. 450f. Ein Blick auf die Zivilisation des alten Griechenlands läßt uns den Wert des Widerstreits erkennen. Der Fortschritt der Griechen wurde durch ein großartiges Ideal der Vollkommenheit in Gang gebracht, ein Ideal, das alle anderen Ideale, die in den benachbarten Zivilisationen jemals aufgekommen waren, mit großem Abstand übertraf. Es hat eine Zivilisation vorbereitet und verwirklicht, in der eine bestimmte Form des menschlich Schönen bis zu einer weder früher noch später jemals übertroffenen Vollkommenheit gedieh. Die Kunst der Griechen, ihre theoretischen Wissenschaften, ihre Lebensweise, ihre Lite- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 65 ratur, ihre Philosophenschulen und ihre religiösen Rituale fanden sich zu einer Einheit zusammen, die jedem Aspekt dieses wundervollen Ideals Ausdruck verlieh. Das Vollkommene wurde erreicht, und als es erreicht war, begann die Inspiration zu welken. Während der Folge von Generationen, die die Errungenschaften ihrer Vorgänger wiederholten, begannen diese allmählich ihre Frische zu verlieren. Gelehrsamkeit und gelehrter Geschmack traten an die Stelle von Schwung und Abenteuerlust. Auf das hellenische Griechentum folgte die Epoche des Hellenismus; in der der ursprüngliche Genius in Wiederholungen erstickte. Wir können uns vor/stellen, wie die Zukunft der Mittelmeerzivilisation ausgesehen hätte, wenn es nicht zu den Barbareneinfällen und zur Entstehung der beiden neuen Religionen – des Christentums und des Islams – gekommen wäre: zweitausend Jahre einer leblosen Wiederholung griechischer Kunstformen und unfruchtbarer, in leere Formeln gekleideter philosophischer Debatten unter den etablierten Schulen der Stoiker, Epikuräer, Aristoteliker und Neo-Platonisten; eine konventionalisierte Geschichtsschreibung; eine stabile und mit dem ehrfurchtgebietenden Glanz eines altertümlichen Zeremoniells umgebene Regierung, die von traditionellen Formen der Frömmigkeit gestützt wird; eine Literatur ohne Tiefe; eine Wissenschaft, die sich in den Details der Deduktionen aus unbefragten Prämissen verliert; eine aufs höchste verfeinerte Sensibilität, weit entfernt vom ursprünglichen robusten Abenteurersinn. 451 Und dieses Bild ist kein reines Phantasieprodukt. Das byzantinische Imperium hat, ungeachtet aller Stürme, fast tausend Jahre lang so ausgesehen, und ebenso das chinesische, trotz der Ausbreitung des Buddhismus und der Tatarenüberfälle. Beide, die Chinesen und die Griechen, haben es zu einer Vollkommenheit der Zivilisation gebracht, die, für sich betrachtet, schlechthin bewunderungswürdig ist. Aber selbst das Vollkommenste muß sich im Laufe der dauernden Wiederholung abnützen. Eine Zivilisation, die sich die Intensität ihres ersten Schwungs erhalten will, braucht mehr als Gelehrsamkeit. Sie braucht auch Abenteuer, nämlich die Suche nach neuen Formen der Vollkommenheit. VI. 451f. Diese Feststellung sollte eigentlich nicht weiter erstaunlich klingen. Spontaneität und Originalität der Entscheidung sind etwas, das zum Wesen jedes realen Vorgangs gehört. Sie bilden den höchsten Ausdruck der Individualität; die ihnen konforme subjektive Form ist eine Freiheit der Freude, die aus der Freude an der Freiheit kommt; Frische, Schwung und / gesteigerte Intensität sind ihre natürlichen Begleiter. Bei einer personalen Abfolge von Erlebensvorgängen führt das von Schwierigkeiten begleitete Anstreben einer idealen Vollkommenheit zu einer tieferen Befriedigung als das Verharren au einem Niveau des Erreichten, dessen Variationsmöglichkeiten im wesentlichen schon erschöpft sind. Es ist also ein in allen Fällen weiser Rat, daß man sich nie zu endgültig mit der fortdauernden Verwirklichung ein und desselben Typs von Vollkommenheit zufriedengeben sollte. Jeder Vorgang in einer Gesellschaft von Vorgängen, und vor allem jeder Vorgang, der einer personalen Gesellschaft angehört, sucht nach neuen Antrieben in den Kontrasten, die sich zwischen der – aus den Operationen des psychischen Pols entstehenden – Er- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 66 scheinung und den ererbten Wirklichkeiten des physischen Pols bilden. Und dort, wo die Spontaneität auf ihrem niedrigsten Niveau ist und praktisch vernachlässigt werden kann, findet man noch eine letzte Spur ihres Wirkens in der Oszillation zwischen entgegengesetzten Zuständen. Das ist der Grund für die ungeheure Bedeutung und Vielfalt der Schwingungszustände in der physischen Natur. 452 VII. Es ist hier gesagt worden, daß das Erleben der Destruktion an sich ein Übel ist, ja daß es die Bedeutung dessen konstituiert, was man als schlecht, böse oder übel zu bezeichnen pflegt. Wir haben inzwischen gesehen, daß diese Feststellung viel zu simpel war und durch qualifizierende Zusätze ergänzt werden muß, auch wenn sich dadurch nichts an der Grundposition ändert, daß »die Destruktion als ein dominierendes Faktum im Erleben« eine zutreffende Definition für den Begriff des Übels bzw. Bösen ist. 452f. Die vorkommenden Fälle einer Vermischung der Schönheit mit dem Übel ergeben sich aus dem gemeinsamen Wirksamwerden dreier metaphysischer Prinzipien: () daß jede Verwirklichung ein endlicher Prozeß ist, (2) daß eben diese End/lichkeit den Ausschluß möglicher Alternativen involviert, (3) daß die psychischen Funktionen in den Verwirklichungsprozeß subjektive Formen einführen, die relevanten, aber im Endergebnis von der physischen Verwirklichung ausgeschlossenen Alternativen konform sind. 453 Das Ergebnis im Ganzen ist, daß die Verfassung der realen Welt infolge der durch die psychischen Pole eingeführten divergierenden Tönungen nicht mehr in die Gegebenheit eines harmonischen Fühlens umzusetzen ist. Jeder neue Vorgang sieht sich – von seiner eigenen psychischen Spontaneität noch ganz abgesehen – einer fundamentalen Disharmonie in der realen .Welt gegenüber, in der er selber seinen Ursprung hat. Und das ist gut so. Denn sonst wurde die Wirklichkeit ja lediglich aus einem Zyklus von Wiederholungen bestehen, in denen nur eine endliche Anzahl von Möglichkeiten realisiert wird. Genau das war die beengende, ja erstickende Lehre einiger antiker Denker. 453f. Für das individuelle Erleben gibt es drei Arten, dieser im ursprünglichen Erfassen gegebenen Disharmonie der Welt zu begegnen. Zwei von ihnen haben wir unter dem allgemeinen Titel »Hemmung« schon besprochen: eine von diesen Hemmungen ist die »Anästhesie«, die Reaktion, die aus einem rein negativen Erfassen (negative prehension) besteht. Die andere besteht aus einer positiven, von einem positiven Gefühl des Widerstreits begleiteten Realisierung. Die Elimination der reinen Unverträglichkeit wird in diesem zweiten Falle vom positiven Fühlen einer akuten Störung in der affektiven Tönung begleitet. Dieses Erlebnis besteht im Erfassen einer qualitativen Gegebenheit, die sich konform der subjektiven Form aufprägt. Die dritte Art, auf die Disharmonie im Gegebenen zu reagieren, beruht auf einem anderen Prinzip, nämlich dem, daß eine Readjustierung der relativen Intensitäten in manchen Fällen unverträgliche Formen des Fühlens in verträgliche überführen kann. Diese Möglichkeit ist immer dann gegeben, wenn die Dissonanz in der affektiven Tönung auf eine Dissonanz der Intensitäten zurückgeht, nicht aber auf / eine rein logische Unverträglichkeit der beteiligten Qualitäten. So können sich z. B. zwei Systeme von Erfassensakten (systems of prehensions) je für sich im Zu- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 67 stand innerer Harmonie befinden, in der Einheit ein und desselben Erlebens zusammengefaßt aber eine Dissonanz hervorrufen, wenn die Intensität ihrer subjektiven Formen mehr oder weniger die gleiche Stärke hat. Es kann zu einer Dissonanz kommen, wenn dies ebenso stark gefühlt wird wie das, oder auch umgekehrt, wenn das ebenso stark gefühlt wird wie dies. Wenn jedoch eines der beiden Systeme mit verminderter Intensität in den Halbschatten des Fühlens zurücktritt, kann es von dieser Hintergrundsposition aus gleichsam das andere ins Relief bringen und einen Gesamteindruck der kompakten Vielfältigkeit vermitteln helfen. Genau das aber ist die normale habituelle Beschaffenheit des menschlichen Erlebens: ein weitläufiger, inartikulierter oder doch nur undeutlich artikulierter Hintergrund niederer Intensität, vor dem sich die Details des Vordergrundes klar und deutlich abheben. Man könnte diese dritte Art des Eliminierens von Dissonanzen als das Verfahren des »Abdrängens in den Hintergrund« bezeichnen, oder natürlich auch als ein »Hervorheben des Vordergrunds«, weil der in Frage stehende Erlebensvorgang den Zustand der Anästhesie ja auch dadurch vermeiden kann, daß er beim Erfassen eines der beiden Systeme die Intensität der begleitenden subjektiven Tönung verstärkt. 454f. Aber es gibt noch eine vierte Art, dieses Ziel zu erreichen, und sie bildet die tieferliegende Erklärung für das Funktionieren der zweiten und der dritten Art bei allen Erlebensvorgängen, deren psychische Aktivitäten ein hohes Niveau erreichen. Die zweite und die dritte Art der Dissonanzelimination gehören (sofern es sich nicht in Wirklichkeit um Fälle der vierten Art handelt) jenem niederen Typus von psychischen Funktionen an, den ich als »physische Zwecksetzung gekennzeichnet habe.12 Das vierte Verfahren der Dissonanz/elimination besteht nun darin, daß die Spontaneität des Erlebensvorgangs seine psychischen Funktionen auf die Einführung eines dritten Systems von Erfassensakten hinsteuert, das für die beiden anderen, unter sich disharmonischen, gleichermaßen relevant ist. Dieses neue System ist dann so beschaffen, daß es die Verteilung der Intensitäten innerhalb der beiden vorgegebenen Systeme radikal verändert und diesen Systemen selber in der Erlebensintensität des Gesamtvorgangs ein neues Gewicht gibt. Faktisch handelt es sich hier um nichts anderes als das Einführen der Erscheinung und ihrer Verwendung zu dem Zweck, die massive qualitative Vielfältigkeit der Wirklichkeit vor der Simplifizierung durch negative Erfassensakte zu bewahren. 455f. Die Erscheinung erhält diese Vielfältigkeit, indem sie die Intensitäten, die ursprünglich aus dem Wirklichkeitshintergrund abgeleitet sind, in sich konzentriert. Auch dies ist ein vereinfachendes Verfahren. So ist es z. B. ein und dieselbe Region, die in der Erscheinung an die Stelle der vielen individuellen Vorgänge tritt, aus denen die betreffende Region in Wirklichkeit besteht. Und ebenso inhärieren in der Erscheinung die Qualitäten, die in Wirklichkeit über eine Mannigfaltigkeit von Vorgängen verteilt sind, einfach den Regionen, die von diesen Vorgängen besetzt sind, oder aber Regionen, die mit den erstgenannten Regionen in einem bestimmten Zusammenhange stehen. Die Wirklichkeit tritt vor der Erscheinung in den Hintergrund zurück, als die noch nicht aufgedeckte fundamentale Erklärung all der Prozesse, in denen ihre Reichhaltigkeit und Vielfalt erhalten geblieben ist. Ebenso wird jetzt die Vielfalt der 12 Vgl. den dritten Teil von Process and Reality, Kap. V, Abschn. VII und VIII. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 68 affektiven Tönungen auf die Erscheinung übertragen, und zwar auf eine Weise, die ihre innere Verträglichkeit erhält. Was hierbei auf die Erscheinung übertragen wird, ist ein einheitlich-kompaktes Fühlen von etwas Harmonischem, etwas Dissonantem, von etwas, das vulgär oder auch nur schlechthin alltäglich ist. Die Erscheinung bringt diejenigen Faktoren zur Deutlichkeit des Fühlens, die sich als verallgemeinerungsfähig aus der turbulenten Überfülle des / Faktischen hervorheben. Sie stellt auf diese Weise sicher, daß das individuelle Erleben es in erster Linie mit hinreichend weitverbreiteten Qualitäten des Fühlens zu tun bekommt. Die angestrebte einheitliche Kompaktheit der subjektiven Form befindet sich immer in einem gewissen Gegensatz zur Intensität des individuellen Fühlens. Die Vielfalt der individuellen Intensitäten gerät infolge der Unterschiedlichkeit ihrer Objekte miteinander in Konflikt. Die Erscheinung kombiniert Kompaktheit mit Intensität, indem sie die unterschiedlichen Objekte zu einer Einheit zusammenfaßt. Sie vereinfacht die Objekte, und auf diese Vereinfachung projiziert sie dann die qualitativen Inhalte der gegebenen Welt. Sie erhält Intensität und Kompaktheit, indem sie – im Guten wie im Schlechten – ein besonders starkes Erleben affektiver Tönungen hervorruft. Der höchste Gipfel der Schönheit wird durch sie ebenso ermöglicht wie der tiefste Abgrund der Schlechtigkeit, weil sie beide vor den zahmen Reaktionen des Abdämpfens oder der Elimination bewahrt. 456 VIII. 456f. Wir können jetzt der Möglichkeit der Harmonie und der Möglichkeit des positiven Fühlens ihrer Destruktion ihrer Fühlens auf dn Grund gehen. Dazu müssen wir uns erinnern, daß es nicht nur ein positives, ganzheitliches Fühlen der verlorenen Harmonie, sondern ebenso ein positives, ganzheitliches Fühlen der erreichten Harmonie gibt. Es gibt nicht nur das Faktum, daß die Details unseres Erlebens Raum füreinander lassen; es gibt darüber hinaus noch die Möglichkeit, daß das Ganze positiv als eine Harmonie gefühlt wird. Und entsprechend gibt es die Möglichkeit, daß das Ganze positiv als Dissonanz gefühlt wird, je nachdem, welcher Fall nun gerade vorliegt. Die Harmonie wird als solche gefühlt, und ebenso die Dissonanz. Aber nun handelt es sich bei der Harmonie um mehr als um eine bloß logische Verträglichkeit, und bei der Dissonanz um mehr als eine bloß logische Unverträglichkeit. Man pflegt / als Künstler keine Logiker zu konsultieren. Den Schlüssel zu der uns hier weiterführenden Erklärung finden wir im Verständnis des Charakters, den das Erfassen einer Individualität als solcher hat. Es handelt sich dabei um ein Fühlen, in dem jeder objektive Faktor als ein individuelles Es aufgefaßt wird, dem eine eigene Signifikanz zukommt. Die emotionale Signifikanz, die einem von seinen qualitativen Aspekten getrennten und als ein Es dargebotenen Objekt im Augenblick seines Erfaßtwerdens zukommt, ist eine der stärksten Kräfte der menschlichen Natur. Auf ihr basiert die Familienanhänglichkeit ebenso wie die Hartnäckigkeit, mit der wir an bestimmten Besitztümern hängen. Und zwar ist dies ein Zug, der sich nicht nur bei Menschen findet. Ein Hund z. B. wird gelegentlich jemanden beschnüffeln, um herauszu finden, ob dieser Jemand Es ist, nämlich das Objekt seiner Anhänglichkeit. Das Zimmer, der Stall (oder wo immer er sich gerade aufhält) ist bestimmt voll von Gerüchen, und eine ganze Reihe von ihnen dürfte für die Nase eines Hundes interessanter und angenehmer sein. Aber er schnuppert im Moment eben nicht zu seinem Ver- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 69 gnügen, sondern um das Es zu entdecken, an dem seine Zuneigung hängt. Man kann dieses Bestreben vielleicht durch ein Ersatzobjekt täuschen (z. B. den Hund vielleicht durch jemanden, der gerade einige alte Kleidungsstücke seines Herrn angezogen hat). Aber wenn das Ersatzobjekt einmal als solches erkannt worden ist, wird es nie an die Stelle des eigentlichen Es treten können. Es kann vielleicht selber auch Zuneigung und eine gewisse Anhänglichkeit erwecken, aber nie diese volle Inbrunst des Gefühls. – Etwas ähnliches ist es auch, was archäologischen Gegenständen ihre Faszination verleiht, z. B. einem Stein, dessen Inschrift auf Befehl und unter den Augen von Sennacherib selbst gemeißelt worden ist. Selbst die beste moderne Kopie könnte diesen eigentümlichen Reiz nicht haben und erscheint uns – wenn man von Forschungszwecken absieht – uninteressant. Die Gewohnheit der Reliquienverehrung wirft schon ein gewisses licht auf die pathologische Seite dieses Sachverhalts. 458 Ohne Zweifel hat der emotionale Wert der bestimmten Individualität seinen Ursprung in einer Generalisierung der Emotionen, die sie von ihren bloß sinnlichen BestandteiIen befreit. Um derart generalisierte Emotionen handelt es sich bei der Liebe, der Bewunderung, dem Gefühl für das Exquisite und den Wert einer Sache, dem Haß, dem Grauen und dem allgemeinen Gefühl der Verbundenheit, d. h. die Gefühle, die man gegenüber bestimmten Objekten hat, die mit der eigenen Existenz besonders eng verbunden sind. Die Abfolge, in der im Leben einer Seele immer ein Vorgang dem nächsten immanent wird, resultiert für den gegenwärtigen Erlebensvorgang in einer Akkumulation von Erfassensakten, deren Gegenstand immer das gleiche Objekt gewesen ist. Im Ablauf dieser Folge von Erfassensakten treten verschiedene neue Qualitäten in den Vordergrund, und andere, ursprüngliche, treten in unterschiedlichen Varianten auf. Auf diese Weise werden die speziellen, besonders stark variierenden und fluktuierenden Qualitätstypen nach und nach aus der zur subjektiven Tönung des abschließenden Erfassensakten führenden Folge von Übergängen eliminiert. Generalisierte Gefühlstönungen treten an ihre Stelle – die fundamentalen Emotionen der lebenslangen Zuneigung, der lebenslangen Abneigung und der Ansprechbarkeit durch das ästhetisch Gelungene. Infolgedessen produziert jedes Auftreten dieses Es – teils aufgrund der Stelle, die es in der Gesamtstruktur des Erlebens innehat, und teils aufgrund des unmittelbaren Aufweises gewisser untergeordneter Qualitäten – sofort eine starke und klarumrissene emotionale Tönung von dominierender Signifikanz. Und zwar handelt es sich hier nicht nur um eine Signifikanz für den allgemeinen Komplex der subjektiven Form im unmittelbar Wahrnehmenden, sondern um eine Signifikanz, die auch auf das ursprüngliche, objektive Es zurückreflektiert wird. Auf diese Weise wird das Es, das sich durch untergeordnete Details des Status und der Qualität zu erkennen gibt, schließlich in der Erscheinung als ein Es erfaßt, das durch die Beständigkeit eines bestimmten Charakters ausgezeichnet ist. 459 Die Erkenntnistheoretiker der sensualistischen Schule haben dieses abschließende Erfassen als eine Interpretation ursprünglicher Sinneseindrücke gedeutet. Aber in diesem abschließenden Erfassen läßt sich auch nicht die geringste Spur einer – induktiven oder deduktiven – logischen Folgerungskette entdecken. Der Wahrnehmende integriert vielmehr unmittelbar vorausgegangene reale Funktionen dieses Objekts in den vorausgegangenen Vorgängen seines Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 70 Seelenlebens. Die -sogenannte »Interpretation« ist ein Fazit der wirklichen Geschichte, und nicht bloß der dekorative Zuckerguß auf einer zur Schau gestellten Vermutung. Die Vorstellung, daß rein qualitative Sinneseindrücke den Inhalt unseres Erlebens und das Fundament unserer Erfahrung bilden, wird durch nichts in unserer unmittelbaren Anschauung gerechtfertigt. 459f. Um das Wesen von Harmonie und Dissonanz zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß die Stärke des Erlebens – dem Volumen und der Intensität nach – von den Details eines Substrats abhängig ist, das sich aus signifikanten Individuen zusammensetzt. Das, was als Erscheinung gegeben ist, hat eine glückliche Konstitution, wenn es in dieser Erscheinung gelungen ist, die Fülle der – je für sich betrachtet – insignifikanten Vorgänge zu einigen wenigen signifikanten Dingen zusammenzufassen. Die Erscheinung »interpretiert« die Welt vermöge der Faktoren, die sie aus der Welt in sich aufgenommen hat; und die Existenz jedes Faktors dieser Interpretation kann durch unmittelbare Anschauung bestätigt werden – vorausgesetzt, daß unsere bewußte Analyse tief genug in die Sache eindringen kann. Das also ist die Verfassung des geglückten Erlebens. Es gewinnt seine Kraft aus dem Zusammenschluß signifikanter individueller Objekte; und die Signifikanz dieser Objekte wird durch die Existenz des Erlebens selber noch vermehrt. Auf diese Weise kommt es im Erleben zum Genuß der Harmonie, und ein Faktor in diesem Genuß ist die vorahnende Intuition, daß die Grundlagen dieser Harmonie sich in der Zukunft, im Bereich seiner eigenen objektiven Unvergänglichkeit, noch weiter vertiefen / werden. Das Moment der Destruktivität ist in diesem Falle völlig abwesend. 460 Aber es ist auch ein intensives Erleben möglich, in dem es keine Harmonie gibt. In diesem Falle kommt es zur Destruktion signifikanter Charakterzüge der individuellen Objekte; und wenn das Erleben im ganzen vom unmittelbaren Fühlen dieser Destruktion beherrscht wird, kommt es zu einem unmittelbaren gefühlsmäßigen Erfassen dieses Übels und zur Antizipation einer Destruktion oder Abschwächung der künftigen Gegebenheiten. Die Harmonie hängt an der Erhaltung der individuellen Signifikanz des Details, und die Dissonanz resultiert aus ihrer Zerstörung. In jeder Dissonanz steckt ein Moment der Frustration. Aber selbst die Dissonanz kann noch dem Gefühl des allmählichen Abgleitens in den Zustand allgemeiner Anästhesie – oder selbst der ermatteten Zahmheit, die ihr Vorläufer ist – vorzuziehen sein. Die Vollkommenheit des niederen Niveaus steht unter der Unvollkommenheit, die auf ein höheres Niveau abzielt. Die bloß qualitative Harmonie innerhalb eines Erlebens, in dem es kaum signifikante Objekte gibt, ist ein herabgekommener Typ von Harmonie, zahm, vage, in den Umrissen und der Intention nach ungenügend artikuliert. Es gehört zu den Eigenschaften eines schönen Systems von Objekten, daß es im Aufgefaßtwerden durch eine Abfolge von Erlebensvorgängen, die darauf eingestimmt sind, sich an ihm zu erfreuen, sich rasch zu einem System von Erscheinungsobjekten mit kraftvollen individuellen Merkmalen ausbaut. Von den berühmten Skulpturen am Portal der Kathedrale von Chartres hat jede schon beim ersten Blick des Betrachters eine eigene Bedeutung und Individualität, ohne dadurch mit ihrer Rolle als Detail des Ganzen in Konflikt zu geraten. Was wir beim Anblick dieses Portals sehen, ist nicht bloß eine qualitativ schöne Konfiguration. Wir sehen vielmehr, wie jede einzelne dieser Skulpturen in Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 71 ihrer individuellen Schönheit ihren Beitrag zur Schönheit des Ganzen leistet. Die dauerhafte Individualität im Detail ist das, was jedem stärkeren Erleben seinen inneren Halt gibt. 461 In solchen Fällen ihrer höchsten Vollendung veranschaulicht die Kunst die metaphysische Lehre vom Verwobensein des Absoluten mit dem Relativen. Die Relativität wird im Kunstwerk durch die Harmonie seiner Komposition exemplifiziert, und das Absolute in dem Anspruch auf eine eigene Individualität, der an jedem seiner Teile zu erkennen ist. – Wir können nun auch verstehen, wie man durch die Erscheinung zu dem aristotelischen Standpunkt geführt werden kann, daß es ein substantielles, dauerndes und durch gewisse Wesensmerkmale gekennzeichnetes Es gibt. Es ist eine wichtige Wahrheit, die in diesem Standpunkt zum Ausdruck kommt und ihn deshalb auch so einleuchtend macht. Die ästhetische Bedeutung dieser scheinbaren Individualität liegt in der Art, wie sie unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Denn wenn und insofern es zwischen Erscheinung und Wirklichkeit eine Wahrheitsbeziehung gibt, läßt das Erscheinen einer solchen dauernden Individualität das Vorhandensein einer Gesellschaft von realen Vorgängen erkennen, die wegen ihres Einflusses auf die Zukunft wichtig ist. Ein solches Aufsichziehen der ästhetischen Aufmerksamkeit läßt also die indirekte Bedeutung erkennen, die Antizipationen und Zwecksetzungen als Faktoren im unmittelbaren Anschauungsgenuß des unmittelbar Wahrnehmenden haben. Die Gefahr, die das Überqueren einer Straßenkreuzung mit sich bringt, ist für den Fußgänger ein Regulativ, das für seine ästhetische Bewertung der ihm erscheinenden Szenerie ein gewisses Gewicht hat. Die Vorstellung einer rein passiven, von allen Zwecksetzungen und Handlungen völlig freien Kontemplation ist ein ins Extrem getriebener und deshalb irriger Gedanke, der einen fundamentalen regulativen Faktor im ästhetischen Gesamtkomplex aus dem Blick verloren hat. Natürlich gibt es im Bereich der Zwecksetzungen und des Handelns die denkbar größten Unterschiede. Aber darauf brauchen wir hier nicht weiter einzugehen; festzuhalten bleibt nur, daß man das Fundament der Realität, auf dem jede Erscheinung beruht, bei der Bewertung dieser Erscheinung nicht aus dem Blick verlieren darf. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 462 72 XVIII. Wahrheit und Schönheit I. 462f. Nach den Überlegungen in den beiden vorausgegangenen Kapiteln sieht es so aus, als ob die Schönheit ein umfassenderer und fundamentalerer Begriff wäre als die Wahrheit. Natürlich sind beide Ausdrücke hier in einem höchst verallgemeinerten Sinn verwendet worden. Alle engeren Bedeutungen sind von den hier gebrauchten umfassenden nicht weiter abzugrenzen, außer durch habituelle Voraussetzungen über das, was wichtig und was trivial ist. Die Schönheit besteht im Erreichen einer inneren Konformität unter den verschiedenen Komponenten des Erlebens, die ihnen ein Maximum an Effektivität verleiht. Es geht bei der Schönheit also um die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten der Wirklichkeit, ebenso aber auch um die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Komponenten der Erscheinung und um die Beziehungen zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Es gibt also keinen Bestandteil unseres Erlebens, der nicht schön sein könnte. Die Teleologie des gesamten Universums ist auf das Hervorbringen von Schönheit ausgerichtet, und deshalb ist jedes System von Dingen, das man im umfassenden Sinne des Worts als schön bezeichnen kann, dadurch und i insoweit in seiner Existenz gerechtfertigt. Aber es kann auf eine andere Weise noch versagen, wenn es nämlich die Existenz von mehr Schönheit verhindert, als in ihm selbst verwirklicht ist. Dann ist das System zwar für sich genommen schön, im Ganzen seiner Umwelt aber ein Übel. – Die Bedeutung des Begriffs Wahrheit ist in zwei Hinsichten enger. Zunächst (und das ist wichtig) geht es bei der Wahrheit aus schließlich um die Beziehungen zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Die Wahrheit ist die Übereinstimmung, dir Konformität zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Und außerdem hat der Begriff der Konformität bei der Wahrheit eine engere Bedeutung als bei der Schönheit. Denn jede Wahr/heitsbeziehung zwischen zwei Dingen setzt voraus, daß es etwas gibt, was diese beiden Dinge gemeinsam haben. 463f. Wenn man die Wahrheitsbeziehung rein für sich und in Absehung von allen übrigen Faktoren betrachtet, scheint sie nicht so besonders wichtig zu sein. Sie gibt uns nichts an die Hand als das bloße Faktum, daß zwischen zwei Dingen in einer bestimmten Hinsicht eine partielle Identität besteht. Es gibt nichts an diesem Faktum, das eine diesem Umstand korrespondierende subjektive Form im Wahrnehmenden hervorrufen müßte. Und noch weniger ist einzusehen, warum der Einfluß, den eine Wahrheitsbeziehung möglicherweise auf die subjektive Form eines Erlebensvorgangs ausüben könnte, in Richtung auf das Hervorbringen von Schönheit wirksam werden sollte. Mit anderen Worten: Wahrheitsbeziehungen sind nicht notwendigerweise schön. Sie brauchen nicht einmal neutral zu sein; es ist durchaus möglich, daß sie ein Übel sind. Damit bleibt also die Schönheit das Einzige, was sich durch sich selber rechtfertigt. Die Dissonanzen im Universum haben ihren Ursprung darin, daß die Formen der Schönheit höchst vielfältig und nicht notwendigerweise miteinander verträglich sind. Und ein gewisses Maß von Dissonanz ist immer notwendig, um den Übergang von einer Form zu einer anderen zu ermöglichen. Die objektive Existenz des Vergangenen und des Zukünftigen in der Gegenwart bildet ganz unvermeidlich den Anlaß zu gewis- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 73 sen Störungen. Die Dissonanz kann den Charakter des Frischen und Hoffnungsvollen, aber auch den von etwas Schmerzhaftem und Entsetzlichem annehmen. Bei den höheren Typen der psychischen Entfaltung prägen solche Dislozierungen ihren qualitativen Charakter der subjektiven Form mit besonderer Eindringlichkeit auf: was sie auslösen, ist lebhaftes Entgegenkommen oder entschlossener Widerstand. Die Weite der Zwecksetzungen ist ihrem Wesen nach schön, weil sie das Volumen unseres Erlebens größer macht. Sie vermehrt die Dimensionen der dem erlebenden Subjekt zugänglichen Erfahrung und verhilft ihm zu einem erweiterten Gesichtskreis. In solchen Fällen ist die Destruktion des sich un/mittelbar verwirklichen Wollenden im Hinblick auf weiterreichende Zwecke prima facie ein Opfer im Interesse der Harmonie. 464 II. Aber ungeachtet all dieser Vorbehalte und des Umstands, daß die Wahrheit manchmal ungelegen kommt, muß man feststellen, daß die Wahrheit im allgemeinen für das Herbeiführen der Schönheit von überwältigender Bedeutung ist. Wenn alles gesagt und erwogen worden ist, bleibt es bei dem Faktum, daß eine Wahrheitsbeziehung die einfachste und direkteste Verwirklichung einer Harmonie ist. Andere Verwirklichungsweisen der Harmonie sind indirekt, und das Indirekte ist immer den Zufällen seiner Umwelt ausgeliefert. Es ist etwas Direkt-Kraftvolles an der Wahrheit, das der subjektiven Form ihres Erfassens etwas der Reinlichkeit Verwandtes gibt – etwas, das an das Entfernen von Schmutz, von überflüssigem und Irrelevantem erinnert. Diese Direktheit, die die Wahrheit an sich hat, festigt und bestärkt die Beständigkeit des Individuellen, die für die Schönheit eines komplexen Ganzen so unumgänglich ist. Falschheit dagegen ist eine Form der Korrosion. 464f. Die Wahrheit ist ihrem Umfang, ihren Modifizierungen und ihrer Relevanz nach von höchst unterschiedlicher Beschaffenheit. Aber wenn ein erscheinendes Objekt mit einer Schönheit in unser Erleben eintritt, die die kühnsten Erwartungen unserer Vorstellungskraft übertrifft, verwirklicht sich in ihm mit unvergleichlicher Eindringlichkeit eine tiefe und verborgene Wahrheit. Die Art von Wahrheit, die sich in solchen höchsten Formen der Schönheit manifestiert, ist immer eine Entdeckung und nie eine Wiederholung. Und ihr liegt jene Wahrheitsbeziehung zugrunde, mit deren Hilfe die Erscheinung neue Reichtümer des Fühlens aus den Tiefen der Wirklichkeit zutage fördert. Es handelt sich hier um eine Wahrheit des Fühlens und nicht um eine Wahrheit der Verbalisation. 465 Die durch diese Wahrheitsbeziehungen miteinander verbundenen Elemente der Wirklichkeit müssen tiefer liegen als die schalgewordenen Grundvoraussetzungen des verbalen Denkens. Die Wahrheit der höchsten Schönheit geht über alle unsere Wörterbuchbedeutungen hinaus. Wenn zwischen Erscheinung und Wirklichkeit – in einem bedeutungsvoll direkten Sinne – eine Wahrheitsbeziehung besteht, hat die erreichte Schönheit irgendwie den Charakter des Gesicherten, gleichsam die Anmutung einer Zusage ihres künftigen Bestands. Dadurch, daß die Wahrheit diese Funktionen im Dienst der Schönheit ausübt, wird sie selber zu etwas, dessen Verwirklichung die Schönheit des Fühlens Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 74 fördert. Dem Bewußtsein mit seinem getrübten unsicheren Blick kann ein Faktor nur willkommen sein, der so allgemein auf der richtigen Seite steht und so habituell mit dem Notwendigen verbunden ist. Das Element der Antizipation in unserem Erleben wird unter dem Einfluß der Wahrheit in einem tiefen Sinn befriedigt und trägt dadurch zur Harmonie im unmittelbar Gegenwärtigen bei. Auf diese Weise wird also auch die Wahrheit – außer in den Fällen, wo besondere Gründe dagegensprechen – zu etwas, das sich selber rechtfertigt. Sie ruft das Empfinden hervor, daß es für sie in der fundamentalsten Harmonie einen Platz geben muß. Aber die Wahrheit erwirbt diese Fäh igkeit, sich durch sich selbst zu rechfertigen, erst durch die Dienste, die sie beim Hervorbringen der Schönheit leistet. Von der Schönheit abgelöst und für sich selbst betrachtet ist die Wahrheit weder gut noch schlecht. III: 465f. Kunst ist die zweckvolle Anpassung der Erscheinung an die Wirklichkeit. Und »zweckvolle Anpassung« impliziert, daß es einen Zweck gibt, der mit mehr oder weniger Erfolg verwirklicht werden kann. Der Zweck, der in der Kunst verfolgt wird, ist ein doppelter, nämlich Wahrheit und Schönheit. Die / vollkommene Kunst kennt nur ein Ziel, die von Wahrheit erfüllte Schönheit. Aber in gewissem Maße ist es auch schon ein Erfolg, wenn nur eins von beiden verwirklicht worden ist. Wo die Wahrheit fehlt, bleibt die Schönheit unweigerlich auf einem niederen Niveau, weil es ihr an Substanz fehlt. Und wo die Schönheit nicht erreicht worden ist, sinkt die Wahrheit auf das Niveau der Trivialität. Denn die Wahrheit ist nur wichtig, weil es die Schönheit gibt. 466 Das Verhältnis zwischen »Erscheinung« und »Wirklichkeit« ist so beschaffen, daß in der Schlußphase des Erlebens (der »Erfüllung« bzw. »Antizipation«) die subjektive Form, mit der die Wirklichkeit der Anfangsphase erfaßt wird, den Eindruck erweckt, als ob diese Wirklichkeit am qualitativen Charakter der »Erscheinung« teilhätte. Wenn das zutrifft, haben wir es mit einer erfüllten Wahrheitsbeziehung zu tun. Wenn es dagegen nicht zutrifft, spiegelt uns diese Beziehung etwas Falsches vor. 466f. Die Exemplifizierung der Schönheit in der Erscheinung involviert nicht notwendigerweise ein Erreichen der Wahrheit. Eine Erscheinung ist schön, wenn die qualitativen Objekte, aus denen sie besteht, so miteinander zu einem Muster von Kontrasten verflochten sind, daß die Teile im Erfassen des Ganzen sich zur größten möglichen Harmonie ergänzen. Das heißt, daß die qualitativen Charaktere des Ganzen und der Teile so in die subjektiven Formen der auf sie gerichteten Erfassensakte eingehen, daß das Ganze das Fühlen der Teile intensiviert, und umgekehrt auch die Teile das Fühlen des Ganzen intensivieren, und außerdem beide Arten des Fühlens sich wechselseitig aktivieren und durchdringen. Das ist die Harmonie des Fühlens, und mit der Harmonie des Fühlens ist auch der objektive Inhalt dieses Fühlens schön. 466f. Es ist klar, daß eine umfassendere Harmonie erreicht worden ist, wenn es in der Erscheinung neben der Schönheit auch die Wahrheit gibt, weil diese Harmonie dann auch das Verhältnis zwischen Erscheinung und Wirklichkeit umfaßt. Wenn also durch ein Anpassen der Erscheinung an die Wirk- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 75 lichkeit / eine von Wahrheit erfüllte Schönheit erreicht worden ist, haben wir ein vollkommenes Kunstwerk vor uns. Das heißt, wenn wir es dabei mit Kunst zu tun haben: denn es kann sich ja auch um etwas handeln, das das Ergebnis sich über lange Zeiträume erstreckender Naturprozesse ist. Es könnte dann das Resultat einer weitgespannten, vielleicht sogar universellen Zwecksetzung sein, aber jedenfalls nicht das Resultat einer raschen zweckvollen Anpassung, wie sie für endliche Geschöpfe typisch ist, eben der Art von Anpassung, die wir als Kunst zu bezeichnen pflegen. 467f. Das Gute ist das dritte Element der Trinität, durch die traditionellerweise das komplexe Endziel der Kunst charakterisiert worden ist: als das Gute, Wahre, Schöne. Aber unter dem hier eingenommenen Gesichtspunkt muß man dem Guten seinen Platz unter den Zielsetzungen der Kunst bestreiten. Denn das Gutsein ist eine Qualifikation, die die Konstitution der Wirklichkeit betrifft, in der jeder individuelle Realisierungsakt zum besseren oder schlechteren ausfallen kann. Beim Guten geht es ausschließlich um Beziehungen innerhalb der realen Welt; und diese wirkliche Welt ist gut, wenn sie schön ist. Die Kunst dagegen hat es wesentlich mit den Arten von Vollkommenheit zu tun, die durch eine zweckvolle Anpassung des Erscheinenden erreichbar sind. Unter einem weiteren Gesichtspunkt und bei einer tiefergreifenden Analyse könnte sich in bestimmten Fällen zeigen, daß die Vollkommenheit eines Kunstwerks das Gute vermindert, das sonst der als objektive Wirklichkeit in die Zukunft eingehenden Situation inhärent gewesen wäre. Ein Kunstwerk, das zur falschen Zeit kommt, läßt sich in gewisser Hinsicht mit einem unangebrachten Scherz vergleichen: beide können für sich genommen gut, aber am falschen Ort und bei der falschen Gelegenheit vorgebracht von Übel sein. Es ist recht merkwürdig, daß die Kunstliebhaber, die am hartnäckigsten auf der »art-pour-l'art«-Doktrin bestehen, so oft entrüstet sind, wenn ein Kunstwerk aus Rücksicht auf andere Interessen unterdrückt wird. Der Vorwurf der Unmoral ist nicht einfach dadurch zu widerlegen, / daß man auf die Vollkommenheit des angegriffenen Kunstwerks hinweist. Es stimmt natürlich, daß die Verteidigung der Moral immer das ideale Banner ist, unter dem sich die Dummheit zur Abwehr von etwas. Neuem sammeln kann. Vermutlich haben sich schon vor ungezählten Jahrtausenden die ehrbaren unter den Amöben geweigert, vom Wasser aufs trockene Land zu gehen – um dem vorauszusehenden Verfall der Sitten Einhalt zu gebieten. Ein beiläufiges Verdienst der Kunst um die Gesellschaft besteht darin, daß sie konstitutionell bereit zu Abenteuern ist. 468 IV. 468f. Es ist ein bemerkenswertes Zeichen für die Stärke, die den Drang nach Neuem rein als solchen auszeichnet, daß Veränderungen, die nur durch ihre Ausrichtung auf ein entferntes Ideal zu rechtfertigen sind, durch die Kunst vorangetrieben werden, die doch selber nur in einer Anpassung der unmittelbar gegenwärtigen Erscheinung an die Bedürfnisse einer unmittelbar zu realisierenden Schönheit besteht. Die Kunst selber vernachlässigt die Sicherung der Zukunft zugunsten des im Augenblick erreichbaren Gewinns; und dadurch kann es leicht geschehen, daß ihre Schönheit etwas dünn ausfällt. Aber schließlich und letztlich muß es auch etwas geben, das in Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 76 der Gegenwart Früchte trägt, und es ist undenkbar, daß man alles Gute in dieser Welt auf unbestimmte Zeit vertagen könnte. Es ist eine sehr wichtige Vorstellung, daß der Tag des Gerichts einmal kommen muß; aber in Wahrheit ist er ja schon immer da. Und es ist Sache der Kunst, sich um das zu kümmern, was hier und jetzt Früchte trägt, auch wenn sie dabei vielleicht gewisse Tiefen unausgeschöpft lassen muß. Es kommt darauf an, daß sie vor dem Tag des Gerichts besteht, der jetzt da ist. Welche Auswirkungen die Gegenwart auf die Zukunft haben wird, ist eine Frage der Moral. Und doch ist es gar nicht einfach, hier ganz klar zu trennen, weil die unvermeidliche Antizipation der / Zukunft ein qualitatives Element im Gegenwärtigen ist, das seine qualitative Harmonie in ihrer Gesamtheit affiziert. Dem paradoxen Moment an der Kunst läßt sich ein Paradox hinsichtlich der Moral an die Seite stellen. Die Moralität besteht im Abzielen auf das Ideale; und auf ihrem elementarsten Niveau geht es ihr um das Verhindern des Rückfalls in niedrigere Zustände, weshalb die Stagnation ein tödlicher Feind der Moralität sein muß. Und trotzdem sind in den meisten menschlichen Gesellschaften ausgerechnet die »Säulen der Moral« die entschiedensten Gegner aller neuen Ideale. Die Menschheit ist immer wieder von kleinkarierten Moralisten geplagt worden, die etwas gegen die Vertreibung aus dem Garten Eden hatten. Dabei haben sie auf ihre Weise nicht einmal so unrecht. Denn man kann sich ja kaum ein höheres Ziel setzen, solange man nicht auf dem festen Boden eines geläufigen Systems von Bräuchen – eben der schlichten mores – steht. Alle glücklichen Veränderungen kommen nur langsam und mit zögerndem Schritt voran – »Hand in hand, wich wand'ring steps and slow«. 469 V. Der Faktor unseres Erlebens, der so etwas wie Kunst möglich werden läßt, ist das Bewußtsein.13 Natürlich gilt für das Be- wußtsein – wie für alles übrige auch –, daß es in einem gewissen Sinne undefinierbar bleiben muß. Es ist es selbst und etwas, das man erlebt haben muß. Aber daneben ist es auch (und auch das gilt für alle Dinge) eine im Wesen einer bestimmten Konjunktion von Umständen auftauchende (emergent) Qualität, der qualitative Aspekt eben dieser Konjunktion. Und deshalb können wir versuchen, durch Analyse die Einzelheiten in den Griff zu bekommen, deren Konjunktion im Erleben zum Auftauchen des Bewußtseins führt. 469f. Das Bewußtsein ist diejenige Qualität, die im objektiven In/halt als das Ergebnis der Konjunktion eines Faktums mit einer Annahme (supposition) über dieses Faktum auftaucht. Es geht konform vom komplexen Objekt in die subjektive Form des Erfassens über. Es handelt sich bei ihm um eine Qualität, die dem Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit – d. h. zwischen den Produkten des physischen und des psychischen Pols im Erleben – inhärent ist. Wo dieser Kontrast im Erleben nur schwach ausgebildet ist, liegt ein Bewußtsein nur im Keim, als latent bleibende Fähigkeit vor. Wo aber dieser Kontrast deutlich artikuliert in den Vordergrund tritt, 13 Vgl. Kap. VII, Abschn. II im zweiten Teil von Process and Reality, und im dritten Teil die Kapitel II (Abschn. IV), IV und V. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 77 enthält das betreffende Erlebnis ein voll entfaltetes Bewußtsein. Der Teil des Erlebens, der vom Bewußtsein ausgeleuchtet wird, bildet jedoch immer nur einen Ausschnitt des Ganzen. Es handelt sich beim Bewußtsein also um einen Modus der Aufmerksamkeit, um ein Extrem des selektiven Hervorhebens. Die Spontaneität eines Vorgangs lebt sich hauptsächlich in der Richtung auf das Bewußtsein überhaupt und im Hervorbringen von Ideen aus, die in den Bereich der bewußten Aufmerksamkeit eintreten. Zwischen Bewußtsein, Spontaneität und Kunst besteht also ein enger Zusammenhang. Aber die Kunst, die ihren Ursprung in der völligen Klarheit des Bewußtseins hat, bildet nur einen Sonderfall innerhalb jenes umfassenderen Bereichs von Kunst, die den Dämmerzuständen des Bewußtseins oder den unbewußten Aktivitäten des Erlebens entspringt. 470f. Das Bewußtsein ist das Instrument, das das Moment der Künstlichkeit am Erlebensvorgang verstärkt. Es vergrößert die Bedeutung, die die den Vorgang abschließende Erscheinung gegenüber der anfänglich gegebenen Realität besitzt. Infolgedessen ist es die Erscheinung, die im Bewußtsein klar und distinkt ist, während die Details der im Dämmerlicht des Hintergrunds liegenden Wirklichkeit für das Bewußtsein kaum erkennbar sind. Was unmittelbar ins Bewußtsein eindringt, ist eine Masse von Vorannahmen (presuppositions) über die Wirklichkeit, aber nicht die Anschauung bzw. das intuitive Erfassen der Wirklichkeit selbst. Hier ist der Punkt, / wo die Möglichkeit des Irrtums ins Spiel kommt. Und deshalb müssen wir das, was das Bewußtsein uns klar und deutlich zeigt, der Kritik unterziehen, und zwar einer Kritik, die sich auf Elemente des Erlebens beruft, die nichts weniger als klar und deutlich sind, sondern im Gegenteil undeutlich, von kompakter Massivität und von schwerwiegender Bedeutung. Diese massiven und dunklen Elemente bilden den Grundton, von dem sich die Kunst tragen lassen muß, wenn ihre Effekte im einzelnen nicht rasch verblassen sollen. Die Art von Wahrheit, die in den von Menschen gemachten Kunstwerken angestrebt wird, besteht in einem Appell an die Aktivität dieses Hintergrunds, durch die diejenigen Objekte heimgesucht werden sollen, die sich sonst unbefangen in der Klarheit unseres Bewußtseins präsentieren. 471 VI. 471f. Die Leistung der Kunst für die Zivilisation beruht auf der. ihr eigentümlichen Künstlichkeit und Endlichkeit. Sie präsentiert dem Bewußtsein ein endliches Fragment menschlichen Strebens, das innerhalb der ihm gesetzten Grenzen sein eigenes Maß von Vollkommenheit erreicht. Was sonst bloß harte Arbeit ist, die nichts als den sklavischen Zweck kennt, das Leben zu verlängern, damit es mit noch mehr Arbeit angefüllt werden kann, und die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, schlägt angesichts der Kunst in das bewußte Wahrnehmen eines in sich selbst beschlossenen Zwecks um, der in der Zeit! selber zeitlos ist. Das Kunstwerk ist ein Stück Natur, das die Spuren einer endlichen schöpferischen Anstrengung an sich trägt und dadurch alleinsteht, ein Individuum, das von der vagen Unendlichkeit seines Hintergrunds abgehoben ist. Auf diese Weise steigert die Kunst das Gefühl dafür, was es heißt, ein Mensch zu sein. Sie vermittelt uns einen Aufschwung des Ge- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 78 fühls, der über die Grenzen des Natürlichen hinausgeht. Ein Sonnenuntergang kann von hinreißender Schönheit sein, aber er ist etwas, das den Menschen klein erscheinen läßt / und dem allgemeinen Naturgeschehen angehört. Eine Million von Sonnenuntergängen würde noch nichts dazu tun, die Menschen auf den Weg zur Zivilisation zu bringen. Es bedarf der Kunst, um das Bewußtsein die endlichen Vollkommenheiten erkennen zu lassen, die uns erreichbar sind und ihre Verwirklichung durch uns erwarten. 472 Das Bewußtsein selbst ist ein Produkt der Kunst in ihrer unscheinbarsten Form, weil es auf einem Einströmen der Idealität und der Herausbildung ihres Kontrasts mit der Realität beruht, einem Prozeß, der das Ziel hat, die Realität in eine endliche, unter gewissen Auswahlgesichtspunkten strukturierte Erscheinung zu verwandeln. Aber sobald das Bewußtsein selber aus dem Grund der Kunst hervorgetaucht ist, bringt es seinerseits – als eine speziellere Form – die Kunst der bewußten Tiere, vor allem also des Menschen hervor. In gewissem Sinne handelt es sich also bei der Kunst um eine morbide und hypertrophierte Form sehr tiefliegender natürlicher Funktionen. Das Wesen der Kunst besteht in ihrer Künstlichkeit. Aber im Zustand der Vollkommenheit kehrt sie zur Natur zurück, jedoch ohne den Charakter der Kunst zu verlieren. Mit einem Wort: Die Natur wird durch die Kunst erzogen. Also ist Kunst im weitesten Sinne des Worts das Gleiche wie Zivilisation. Denn die Zivilisation ist nichts weiter als das unablässige Streben nach den höheren Vollkommenheiten der Harmonie. VII. 472f. Der Körper des Menschen ist ein Instrument, das in seiner Seele Kunst hervorbringt. Auf diejenigen Elemente des menschlichen Erlebens, die für die bewußte Wahrnehmung ausgewählt worden sind, konzentriert er Intensitäten der subjektiven Form, die ursprünglich anderen, in den Hintergrund verdrängten Komponenten angehört haben; und auf diese Weise steigert er den Wert des Erscheinenden, das der Gegenstand der Kunst ist. So gesehen ist das Kunstwerk eine Bot/schaft aus dem Unbekannten. Es rührt Tiefen des Fühlens auf, die unterhalb der Grenze liegen, wo uns die Präzision des Bewußtseins im Stich läßt. Der Ausgangspunkt unserer hochentwickelten Kunstformen muß also unter den Antrieben und Bedürfnissen zu suchen sein, die die physiologischen Funktionen unseres Körpers produzieren. Der Ursprung der Kunst liegt in dem Bedürfnis nach WiederHolung (re-enaction). Wir haben ein Bedürfnis, durch persönliche Handlungen oder Wahrnehmungen im Modus der Wiederholung unser eigenes emotionales Leben und das unserer Vorfahren noch einmal zu erleben. Es gibt ein biologisches Gesetz - das man hier allerdings nicht überstrapazieren sollte nach dem der Embryo in einem gewissen, nicht allzu genau bestimmten Sinne während seiner Entwicklung im Mutterleib gewisse charakteristische Züge seiner Vorfahren aus längstvergangenen geologischen Epochen reproduziert. Entsprechend hat auch die Kunst ihren Ursprung in zeremoniellen Evolutionsvorgängen14, bei denen sich Formen des Spiels, des religiösen Rituals, des 14 Vgl. Religion in the Making, Kap. I, Abschn. III. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 79 Stammeszeremoniells, Tänze, Höhlenbilder, Poesie, Prosa und Musik herausbilden. In ihren einfachsten Formen verkörpert jede Kunstgattung auf dieser Liste den Versuch, einen besonders starken Eindruck im Erleben zu reproduzieren, der inmitten der Notwendigkeiten des Alltagslebens verloschen ist. Deren das Geheimnis der Kunst liegt in ihrer Freiheit: die Emotion und andere Elemente des ursprünglichen Erlebnisses werden noch einmal durchlebt aber diesmal ohne den Zwang der Notwendigkeit. Die ursprüngliche Anspannung ist verschwunden, aber die Freude an der Intensität des Fühlens ist zurückgeblieben. Ursprünglich entsprang diese Intensität des Fühlens dem Druck der Notwendigkeit; aber als Kunst hat sie diesen Ursprung im Zwang der Verhältnisse überlebt. Wenn Odysseus im Reich der Schatten Homer, den Sänger der Odyssee, getroffen haben sollte, war das für ihn die Gelegenheit, die Gefahren seiner Irrfahrten noch einmal, und / zwar in Freiheit und in der Freude des Erinnerns, zu durchleben. 474 Inzwischen lassen sich die Künste in unserer entwickelten Zivilisation auf die vielfältigsten physischen und imaginativen Ursprünge zurückverfolgen. Aber nach wie vor handelt es sich bei ihnen um Sublimationen – und Sublimationen dieser Sublimationen – des elementaren Bedürfnisses, die Lebendigkeit und Stärke der Eindrücke, die wir zuerst angesichts irgendwelcher Notwendigkeiten haben, noch einmal in Freiheit zu genießen. Bei einer nur ganz geringfügigen Verschiebung des Gesichtspunkts könnte man sagen, daß es sich bei der Kunst um eine psychopathische Reaktion des Menschen auf die Streßsituationen seiner Existenz handelt. So gesehen wäre dann Odysseus, der dem Gesang Homers zuhört, ein Mensch, der auf der Flucht vor den Furien ist. Dieses psychopathische Moment an der Kunst verliert sich, wenn es in ihr eine überzeugende Wahrheit gibt. Die Kunst hat im menschlichen Erleben eine heilende Funktion, wenn in ihr – wie in einem blitzartigen Aufleuchten – eine tiefe und absolute Wahrheit über die Natur der Dinge sichtbar wird; und diese Funktion kann durch eine triviale Wahrheitsgemäßheit im Detail nur behindert werden, weil sie durch kleinliche Konformitäten den Oberflächlichkeiten der Sinneswahrnehmung ein unzuträgliches Gewicht gibt. Die Kunst aber, die ihre heilende Funktion voll ausübt, gehört zum Wesen der Zivilisation. Mit ihr wächst das Abenteuer unseres Geisteslebens über die physische Basis unserer Existenz hinaus. 474f. Wissenschaft und Kunst bilden gemeinsam ein vom Bewußtsein gelenktes Streuen nach Wahrheit und Schönheit. In ihnen nimmt das endliche Bewußtsein des Menschen die Natur in ihrer unendlichen Fülle und Fruchtbarkeit als sein Eigentum in Anspruch. Und im Laufe dieser Bewegung des menschlichen Geistes entwickeln sich Institutionen und Professionen, Kirchen und Rituale, Klöster als Heimstätten für ein Leben der asketischen Aufopferung, Universitäten, an denen nach Erkenntnis gestrebt wird, die Heilkunst und das Rechtsund 7 Handelswesen – alles Ausdrucksformen jenes Strebens nach Zivilisation, durch das sich das bewußte Erleben der Menschheit den Zugang zu den Quellen der Harmonie zu erhalten sucht. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 475 80 XIX. Der Sinn für das Abenteuer I. Die Zivilisation ist ein schwieriger und verwirrender Begriff. Wir wissen alle, was mit ihm gemeint ist: es geht in ihm um ein gewisses Ideal des Lebens in dieser Welt, und dieses Ideal betrifft den Einzelnen ebensosehr wie die menschliche Gesellschaft. Ein Mensch kann zivilisiert sein, und eine Gesellschaft kann zivilisiert sein, obwohl der Sinn des Worts in diesen beiden Fällen etwas unterschiedlich ist. Auf alle Fälle handelt es sich hier um einen jener ganz allgemeinen Begriffe, die äußerst schwierig zu definieren sind. In der Regel tritt er in Urteilen auf, bei denen wir einen ganz bestimmten Fall im Auge haben. Wir sagen .»Dies ist zivilisiert, und das ist unzivilisiert«. Aber wenn wir ihn allgemein zu fassen suchen, gleitet dieser Begriff uns immer wieder aus den Händen. Und deshalb halten wir uns an Vorbilder. Die gesamte europäische Kultur hat sich während der letzten sechs Jahrhunderte von Vorbildern leiten lassen und die glanzvollsten Epochen der griechischen und römischen Geschichte als Maßstab der Zivilisation betrachtet. Wir haben danach gestrebt, die großen Leistungen dieser Gesellschaften zu reproduzieren – vor allem die des klassischen Athens. 475f. Diese Maßstäbe haben unseren westlichen Gesellschaften gute Dienste getan. Aber das Sichausrichten an Vorbildern hat auch seine Nachteile. Es handelt sich um ein Verfahren, bei dem man rückwärts blickt und auf einen bestimmten Typus sozialer Vollkommenheit beschränkt bleibt. Und gerade heute befindet sich die Welt im Übergang in ein ganz neues Stadium ihrer Existenz. Das wechselseitige Verhältnis aller Dinge hat / sich durch neue Erkenntnisse und neue Formen der Technik radikal verändert. Unter diesen Umständen aber ist ein Ideal, das am Vorbild der antiken Gesellschaft gewonnen worden ist, viel zu statisch und schließt ganze Bereiche von Möglichkeiten aus unserem Blickfeld aus. Faktisch reicht es nicht einmal aus, um uns auf das Beste, was in der Antike gesagt und getan worden ist, wirklich aufmerksam zu machen. Es kann deshalb in seinen Folgen nur zu statisch-repressiven Zuständen und degenerierten Denkgewohnheiten führen. 476 Man muß angesichts dessen wieder einmal daran erinnern, daß die Griechen selber weder rückblickend noch statisch waren. Wenn man sie mit ihren zeitgenössischen Nachbarn vergleicht, war ihre Einstellung sogar einzigartig unhistorisch. Sie war vielmehr spekulativ, abenteuerlustig und allem Neuen gegenüber lebhaft aufgeschlossen. Die Griechen zu kopieren ist so ungefähr das Ungriechischste, was man überhaupt tun kann. Denn was sie auch immer getan haben, das Ergebnis war niemals eine bloße Kopie. Eine weitere Gefahr, der wir bei der Herausbildung unserer Vorstellungen von Zivilisation ausgesetzt sind, ist die ausschließliche Konzentration auf passivkritische Qualitäten, die ihre eigentliche Heimat im Umgang mit den schönen Künsten haben. Diese Qualitäten spielen in jeder wirklich zivilisierten Gesellschaft zweifellos eine bedeutende Rolle. Aber zur Zivilisation gehört mehr als ein kultivierter Kunstgeschmack. Sie kann nicht einfach auf eine Enklave beschränkt werden, in denen es nur Museen und Studios gibt. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 81 Ich möchte hier die Zivilisation ganz allgemein so definieren; In jeder zivilisierten Gesellschaft müssen die fünf folgenden Qualitäten anzutreffen sein: Wahrheit, Schönheit, Sinn für Abenteuer, Kunst und Frieden. Dabei denke ich bei der letzten Qualität, dem Frieden, hier nicht an die politischen Verhältnisse, sondern an jene gelassene Zuversicht des Geistes, die von der Überzeugung getragen ist, daß das Beste an unserem Handeln seine Spur in der Natur der Dinge hinterläßt. 477 Es ist schlechthin unmöglich, all die Fragen, die sich angesichts dieser Begriffe stellen, in fünf kurzen Kapiteln ausreichend zu behandeln. Ich will deshalb in diesem Kapitel nur ein paar philosophische und historische Gesichtspunkte zur Sprache bringen, die ein gewisses Licht auf die vielfältigen Funktionen dieser fünf Zivilisationselemente werfen. II. Nehmen wir also einmal an, daß nach dieser kurzen Vorbemerkung über den Frieden und nach den drei vorausgegangenen Kapiteln unsere Vorstellungen über die Bedeutung von Wahrheit, Schönheit und Frieden fürs erste hinreichend deutlich sind, um uns auf Kunst und Abenteuer als notwendige Bestandteile der Zivilisation konzentrieren zu können; denn gerade wo es um diese beiden Elemente geht, haben die gängigen Vorstellungen vom Charakter der Zivilisation ihre schwächsten Punkte. Es gibt eine Einsicht, die jedem theoretischen Verständnis der menschlichen Gesellschaft – und das heißt letzten Endes: jedem Verständnis des menschlichen Lebens überhaupt – zugrundegelegt werden muß, nämlich die Einsicht, daß die statische Erhaltung eines Zustands der Vollkommenheit nicht möglich ist. Fortschritt oder Niedergang sind die einzigen Möglichkeiten, die der Menschheit offenstehen, weshalb übrigens der echte Konservative gegen die Natur des Universums selbst angeht. Das ist eine Auffassung, die ausführlicher begründet werden muß, nicht zuletzt deshalb, weil sie in einem gewissen Widerspruch zu der auf das antike Denken zurückgehenden gelehrten Tradition steht. 477f. Sie beruht auf drei metaphysischen Prinzipien, von denen das erste besagt, daß das Wesen der konkreten Wirklichkeit (of real actuality) d. h. das Wesen des ganz und gar Wirklichen, in seinem innersten Kern Prozeßcharakter hat. Jedes wirkliche Etwas kann nur insoweit verstanden werden, als es etwas ist, das entsteht und vergeht. Es gibt keinen Augenblick / des Stillstands, in dem das Wirkliche nichts weiter als ein statisches, mit sich selbst identisch bleibendes Etwas wäre, auf dessen Oberfläche ein akzidentielles Spiel der Eigenschaften stattfindet, das seinen Ursprung im Wandel der Umweltverhältnisse hat. Das genaue Gegenteil ist der Fall. 478f. Die statische Auffassung, gegen die ich mich hier wende, ist uns auf zwei Wegen aus dem antiken Denken überkommen. Platon hat sich am Anfang seines Philosophierens von der zwingenden Einsichtigkeit und der unveränderlichen Vollkommenheit der Mathematik dazu verführen lassen, eine überwelt ewig vollkommener und in ihren wechselseitigen Beziehungen ewig unveränderlicher Ideen anzunehmen. Er hat dieser Vorstellung später gelegentlich widersprochen, sie aber nie ausdrücklich aus seiner Philosophie verbannt. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 82 In seinen Spätdialogen geht es ihm vor allem um sieben Begriffe: die Ideen, die physischen Elemente, die Psyche, den Eros, die Harmonie, die mathematischen Beziehungen und das »Worin«. Ich habe sie hier noch einmal aufgezählt, weil ich glaube, daß die Philosophie in nichts anderem besteht als in dem Versuch, durch entsprechende Modifikationen dieser Begriffe zu einem in sich kohärenten System zu kommen. Wenn man sich um die Details ihrer Koordination nicht zu kümmern braucht, ist ihre allgemeine Bedeutung mehr oder weniger unmittelbar einleuchtend. Die Psyche ist natürlich nichts anderes als die Seele; der Eros ist der Drang zur Verwirklichung; der idealen Vollkommenheit. Vom »Worin« hat Platon selbst gesagt, daß es sich hier um einen sehr schwierigen Begriff handle, so daß wir getrost auf den Versuch verzichten können, eine einfache Erklärung für ihn zu finden. Meinem Verständnis nach wird in diesem Begriff die wesentliche Einlivit des Universums erfaßt, und zwar als etwas Wirkliches, (hn irgendwie frei ist von den Formen »des Lebens und der Bewegung«, an denen sonst alles Wirkliche mit Notweildiglerii teilhat. Wenn wir vom Wirken der Psyche und des Eros absehen, kommen wir zu einer statischen Welt. »Leben und Bewegung«, die im späteren Denken Platons eine so große / Rolle spielen, gehen auf das Wirken dieser beiden zurück. Aber Platon hat uns kein System der Metaphysik hinterlassen. 479 Wenn wir das – mit Hilfe entsprechend modernisierter Fassungen dieser sieben metaphysischen Grundbegriffe – nachholen wollen, bietet sich als Ausgangspunkt der Begriff der Wirklichkeit an, die ihrem Wesen nach ein Prozeß ist. Dieser Prozeß hat seine physische Seite, nämlich das Vergangene, das sich – eben indem es vergeht – in die Grundlage einer Neuschöpfung verwandelt. Er hat aber auch seine psychische Seite, nämlich die Seele, die Ideen erfaßt. Die Seele betätigt sich in einer Synthesis, durch die ein neues Faktum erschaffen wird, nämlich die Erscheinung, in der sich das Alte mit dem Neuen verwebt – zu einer Verbindung von Rezeption und Antizipation, die ihrerseits dann in die Zukunft hinübergeht. Das Ziel, dem die Seele durch den ihr innewohnenden Eros entgegengetrieben wird, ist die abschließende Synthese dieser drei Komplexe. Das Gute, das dabei verwirklicht werden kann, ist die Artikulation einer Mannigfaltigkeit von Gefühlen, die sich durch ihr Zusammenkommen in dieser neuen Einheit wechselseitig vertiefen und verstärken. Das Schlechte ist dann entsprechend ein Aufeinanderstoßen sich widersprechender Gefühle, die sich untereinander den Raum, den sie zu ihrer Entfaltung brauchten, streitig machen. Und die Verwirklichung des Trivialen besteht in der Anästhesie, dem einfachen Ausweichen vor dem Schlechten, das dazu führt, daß die zur Erscheinung kommenden Gefühle weniger zahlreich und wesentlich abgeschwächter sind. So gesehen ist das Schlechte so etwas wie eine Zwischenstation zwischen Vollkommenheit und Trivialität, weil es in ihm wenigstens noch um ein echtes Messen der Kräfte geht. Bei Aristoteles liegt die Wurzel der falschen statischen Betrachtungsweise in einem seiner Grundbegriffe, der in der gesamten nach ihm kommenden Philosophie eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat, nämlich in dem Begriff der »ersten Substanzen«, der Träger aller ihnen aufgeprägten Eigenschaften. 480 Im Bereich der neuzeitlichen Erkenntnistheorie findet sich ein analoger Begriff in Locker Auffassung vom menschlichen Bewußtsein als einer »leeren Tafel«, Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 83 die gleichsam erst noch mit der Wiedergabe unserer Sinneseindrücke vollzuschreiben ist. Was also bei Locke Realität hat, ist nicht der Prozeß, sondern das, was diesen Prozeß in statischer Beharrung aufnimmt. Und für beide Versionen – die von Aristoteles und die von Locke – gilt, daß eine »erste Substanz« nicht zu den Wesensbestandteilen einer anderen »ersten Substanz« gehören kann. Irgendwelche Beziehungen unter den »ersten Substanzen« können also auf keinen Fall die gleiche substantielle Realität haben wie diese »ersten Substanzen« selbst. Auf der Grundlage dieser Auffassung ist dann der Zusammenhang zwischen wirklichen Dingen in der gesamten modernen Philosophie immer wieder und unter allen möglichen Aspekten zum Problem geworden – für die Metaphysik ebenso wie für die Erkenntnistheorie. Das Vorurteil der aristotelischen Logik hat dazu geführt, daß sich unser gesamtes metaphysisches Denken ausschließlich an den Substantiven und Adjektiven orientiert hat, ohne daß man den Präpositionen und Konjunktionen auch nur einen Blick gegönnt hätte. Diese aristotelische Grundauffassung wird von mir in diesem Buch rundheraus bestritten. Der Prozeß selbst ist das, was wirklich ist; und er ist auf keinen schon vor ihm existierenden statischen Träger angewiesen. Und die vergangenen Prozesse werden im Vergehen selber als die komplexe Ausgangsbasis aller neuentstehenden Vorgänge wirksam. Der Prozeß besteht in einer – durch den schöpferischen Eros vorangetriebenen – Zusammenfassung des Vergangenen und der gegenwärtigen Ideale und Antizipationen in einer neuen Einheit. III. 480f. Ich komme jetzt zum zweiten der zu Anfang des vorigen Abschnitts genannten drei metaphysischen Prinzipien. Fs besagt, daß jeder reale Vorgang seiner Natur nach endlich ist, / und daß es keine Gesamtheit gibt, die eine Harmonie aller Vollkommenheiten in sich umfassen könnte. Alles, was in einem Erlebensvorgang verwirklicht wird, schließt mit Notwendigkeit eine Fülle mit ihm unverträglicher Möglichkeiten von der Verwirklichung aus. Es ist immer etwas denkbar, das es hätte geben können, das es aber nicht gibt. Und diese Endlichkeit ist nichts weniger als der Ausdruck eines übels oder einer Unvollkommenheit. Sie resultiert einfach aus dem Umstand, daß es Möglichkeiten der Harmonie gibt, die bei gemeinsamer Verwirklichung eine Dissonanz ergeben oder überhaupt nicht gemeinsam zu verwirklichen sind. Im Bereich der schönen Künste ist das nichts weiter als ein Gemeinplatz; und auch in der politischen Philosophie ist – oder sollte es ein Gemeinplatz sein. Die Geschichte jedenfalls kann man überhaupt nur verstehen, wenn man sie als eine Bühne betrachtet, auf der unterschiedliche Gruppen von Idealisten Ideale verfechten, deren gemeinsame Verwirklichung unmöglich ist. Man kann zu keinem historischen Urteil über Recht oder Unrecht kommen, wenn man immer nur eine dieser Gruppen betrachtet. Das übel liegt in ihrer Kombination. 481 Dieses Prinzip der inneren Unverträglichkeit hat wichtige Konsequenzen für unsere Vorstellung vom Wesen Gottes. Der Gedanke, daß es Unmögliches gibt, was selbst Gott nicht möglich machen kann, ist den Theologen schon seit Jahrhunderten geläufig. In der Tat dürfte es ohne diese Annahme ziemlich schwierig sein, sich überhaupt eine bestimmte Vorstellung vom Wesen Gottes zu machen. Aber merkwürdigerweise hat man – jedenfalls so weit ich weiß – Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 84 diesen Gedanken einer möglichen Unverträglichkeit nie auf die im Wesen Gottes verwirklichten Ideale angewandt. Sobald man dies tut, muß man sich den göttlichen Eros als ein aktives Gegenwärtighaben aller Ideale vorstellen, das von dem Drang begleitet wird, jedes von ihnen zu seiner Zeit in einer endlichen Form zu realisieren. Das Wesen Gottes ist nicht ohne einen solchen Prozeß vorstellbar, in dem seine Unendlichkeit zur endlichen Verwirklichung kommt. 482 Aber wir brauchen hier nicht weiter auf theologische Fragen einzugehen. Was wir von dieser Überlegung festhalten müssen, ist, daß ein begriffliches Erfassen von untereinander unverträglichen Dingen möglich ist, und ebenso das Anstellen begrifflicher Vergleiche unter ihnen. Daneben gibt es dann die Synthese des begrifflichen Erfassens mit der physischen Verwirklichung. Die begrifflich erfaßte Idee kann mit der Idee identisch sein, die sich im physischen Faktum exemplifiziert. Aber sie kann auch anders und dann mit der anderen verträglich oder unverträglich sein. Diese Synthesis zwischen Idealem und Realem ist genau das, was sich in jedem endlichen Vorgang vollzieht. Bei jeder Zivilisation, die ihren Höhepunkt erreicht hat, darf man deshalb erwarten, daß ein bestimmter Typ von Vollkommenheit in beträchtlichem Ausmaß verwirklicht worden ist, und zwar ein ziemlich komplexer Typ, der im Detail Variationen in der einen oder anderen Richtung zuläßt. Die Zivilisation kann sich auf der Höhe des von ihr Erreichten halten, solange es noch möglich ist, innerhalb des in ihr vorgegebenen Typs zu experimentieren. Aber wenn alle diese Variationen im Detail erschöpft sind, gibt es nur noch zwei Richtungen, die die weitere Entwicklung einschlagen kann. Möglicherweise fehlt es der Gesellschaft, um die es gerade geht, an Phantasie und Vorstellungsvermögen. Dann wird sie schal und verliert im Zyklus der Wiederholungen nach und nach das Gefühl für Originalität und Frische. Die Herrschaft der Konventionen wird in ihr allumfassend, und eine gelehrt(- Orthodoxie unterdrückt den Sinn für das Abenteuer. 482ff. Ein letztes Aufflackern von Originalität zeigt sich im überleben der Satire. Die Satire gedeiht nicht unbedingt nur in dekadenten Gesellschaften, auch wenn die obsoleten Züge des gesellschaftlichen Lebens ihren eigentlichen Nährboden bilden. Aber es ist immerhin typisch, daß gegen Ende des silbernen Zeitalters Roms, kurz nachdem der jüngere Plinius und Tacitus gestorben waren, der berühmte Spötter Lucian geboren wurde, und daß gegen Ende des silbernen Zeitalters der / Renaissancekultur, im achtzehnten Jahrhundert, Voltaire und Edward Gibbon ihre Formen der Satire bis zur Vollkommenheit entwickelt haben. Die Satire war die natürliche Ausdrucksform für eine Zeit, die sich dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der französischen Revolution und der industriellen Revolution näherte. Nach ihr kam eine neue Epoche, die Anfangsphase der modernen Industriegesellschaft, ein Aufschwung, der i 5o Jahre dauerte. Die Blütezeit dieser Epoche war die sogenannte viktorianische Ära. Innerhalb dieser Zeit haben die europäischen Völker neue Industrien entwickelt, Nordamerika bevölkert, den Handel mit den alten Zivilisationen Asiens ausgebaut, der Literatur und den anderen Künsten neue Anstöße gegeben und ihre Regierungsformen umgestaltet. Das neunzehnte Jahrhundert war eine Epoche des zivilisatorischen Fortschritts, eines humanitären, wissenschaftlichen, industriellen, literarischen und politischen Fortschritts. Aber zuletzt hatte es sich erschöpft. Der erste Weltkrieg markierte sein Ende und Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 85 gleichzeitig den entscheidenden Einschnitt, von dem an das Leben der Menschheit eine ganz neue Richtung eingeschlagen hat – eine Richtung, die wir bis heute noch nicht ganz verstehen. Aber gegen Ende dieser Epoche war ein deutliches Wiederaufleben der Satire zu erkennen – in England gab es Lytton Strachey, und in Amerika Sinclair Lewis. Die Satire ist ein letztes Aufflackern der Originalität in einer zu Ende gehenden Epoche, die vor sich nichts mehr außer Schalheft und Langeweile erkennen kann. Die Dinge haben ihre Frische verloren, und was zurückbleibt ist ein bitterer Geschmack. Wenn eine erschöpfte Lebensform sich über ihre Zeit hinaus erhält, kommt es zu einer langsamen Dekadenz, zu Wiederholungen, die keine Früchte von irgendwelchem Wert mehr tragen. Die überlebte Epoche kann noch eine erstaunliche Zähigkeit beweisen; denn die Dekadenz, die weder von originellen Geistern im Innern noch von äußeren Feinden bedroht wird, ist ein extrem langsam wirkender Verfallsprozeß. Aber dennoch schwinden die Werte des Lebens in ihr, nach und nach und / ganz unaufhaltsam. Was zurückbleibt, sind dann nur noch die Äußerlichkeiten der Zivilisation; von ihrer Realität ist nichts mehr vorhanden. 484 Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit als die des langsamen Verfalls. Es kann vorkommen, daß ein Volk (oder eine Gruppe von Völkern) die Formen einer bestimmten Zivilisation erschöpft hat, aber noch nicht die Quellen seiner eigenen schöpferischen Originalität. In diesem Falle kann es zu einer relativ kurzen Übergangsperiode kommen, die von weitgehenden Dislozierungen und einer Fülle menschlichen Elends begleitet wird – oder auch nicht. Solche Perioden hat es in Europa gegen Ende des Mittelalters gegeben, während der verhältnismäßig lange anhaltenden Reformationskämpfe und gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Wir wollen hoffen, daß es sich auch bei der Gegenwart um eine solche Übergangsperiode handelt, in der die Zivilisation eine neue Richtung einzuschlagen beginnt, und daß die zu erwartenden Dislozierungen nur ein Minimum an menschlichem Elend mit sich bringen werden. Obwohl man gewiß sagen kann, daß schon die Leiden des [ersten] Weltkriegs in ihrem Ausmaß für jede zu erwartende epochale Veränderung hätten genug sein müssen. 484f. Derart rasche Übergänge zu neuen Formen der Zivilisation sind nur dann möglich, wenn das Denken der Menschen den Gegebenheiten der bestehenden Zivilisation vorausgeeilt ist, wenn sich die Lebenskraft der betreffenden Völker in ein Abenteuer der Phantasie gestürzt hat, das die physischen Abenteuer der Exploration des Neuen antizipiert. Die Welt träumt dann von den Dingen, die kommen sollen; und wenn die Zeit reif ist, geht sie an ihre Verwirklichung. Es ist in der Tat immer so, daß dem physischen Abenteuer, das einen bestimmten Zweck verfolgt, ein Abenteuer des Denkens über Dinge, die noch nicht wirklich sind, vorausgegangen ist. Bevor Columbus die Segel setzte, um nach Amerika aufzubrechen, hat er vom Fernen Osten, von der Kugelgestalt der Erdv und von den Gefahren des grenzenlosen Ozeans geträumt. / Abenteurer erreichen selten das Ziel, das sie sich vorgenommen haben. Columbus ist nie in China angekommen; aber er hat Amerika entdeckt. 485 Manchmal hält sich das Abenteuer in bestimmten Grenzen, kann seine Ziele vorausberechnen und sie auch erreichen. Dies sind dann die Abenteuer, die wie ein Wellenzug kleinerer Veränderungen bestimmte Epochen einer Zivilisation durchlaufen und frischen Wind in die stagnierenden Zustände bringen. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 86 Aber der Sinn für das Abenteuer kann eine beträchtliche Kraft entfalten, und früher oder später wird die Einbildungskraft die sicheren Umzäunungen der bestehenden Verhältnisse und der erlernten Regeln des Geschmacks überspringen. Dann treten – begleitet von Dislozierungen und Wirren – neue Ideen auf, mit denen sich der Zivilisation neue Aufgaben stellen. Jede menschliche Gesellschaft ist im Vollbesitz ihrer Lebenskraft, solange es in ihr zu realen Kontrasten zwischen dem kommt, was gewesen ist, und dem, was sein könnte, und so- lange sie sich vom Sinn für das Abenteuer über die Grenzen des Gewohnten und Gesicherten hinausbewegen läßt. Eine Zivilisation, in der es keine Abenteuer mehr gibt, muß verfallen. 485f. Und das ist auch der Grund, warum die Definition der Kultur als einer Kenntnis des Besten, was in früheren Zeiten gesagt und getan worden ist, so gefährlich ist. In ihr kommt ein ganz entscheidender Umstand nicht zur Sprache, nämlich der Umstand, daß die großen Leistungen der Vergangenheit die großen Abenteuer der Vergangenheit gewesen sind. Nur wer selber noch Sinn für Abenteuer hat kann die Größe der Vergangenheit verstehen. Die klassische Literatur der Antike war zu ihrer eigenen Zeit ein Abenteuer; Aschylos, Sophokles und Euripides waren Abenteurer in der Welt des Denkens. Wenn man ihre Dramen liest, ohne ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie die Welt in ihnen auf eine neue Art verstanden und die Emotion auf eine neue Weise ausgekostet wird, verfehlt man das, was an ihnen lebendig ist und ihren eigentlichen Wert ausmacht. Aber Abenteuer sind etwas für Menschen, / die selber Sinn fürs Abenteuer haben. In der bloß passiven Kenntnis der Vergangenheit geht der ganze Wert dessen, was sie uns hinterlassen hat, verloren. Eine lebendige Zivilisation kommt ohne Gelehrsamkeit nicht aus, ist aber selber etwas, was weit über die Gelehrsamkeit hinausreicht. IV. 486f. Das dritte der eingangs von mir erwähnten metaphysischen Prinzipien könnte man als das Prinzip der Individualität bezeichnen. Es geht in ihm um das Wesen der Harmonie; und daß es bisher nicht zur Sprache gekommen ist, ist meiner Meinung nach der schwerwiegendste Mangel an den traditionellen Diskussionen dieses Themas. Infolge der Vorherrschaft der sensualistischen Wahrnehmungstheorie haben die Ansichten über das, was die Harmonie eines bedeutenden Erlebnisses ausmacht, inzwischen einen absoluten Tiefstand erreicht. Denn der sensualistische Standpunkt lenkt die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die qualitativen Harmonien innerhalb eines Erlebens, dem es an hinreichend signifikanten Objekten fehlt, Der Komplex, auf den der Ausdruck »Harmonie« angewendet werden soll, wird als ein rein raumzeitliches Muster von Sinnesqualitäten vorgestellt. Aber die Harmonie, die in solchen Komplexen entsteht, ist ein herabgekommener Typ – zahm, vage, ungenau in ihren Umrissen und Intentionen. Sie kann uns bestenfalls nur durch ein Gefühl exotischer Fremdheit erregen und wird im ungünstigeren Falle einfach zu etwas, das insignifikant ist. Es fehlt in ihr jenes starke und erregende Element, das imstande wäre, die Tiefen unseres Fühlens aufzurühren; denn die Sinneswahrnehmung gehört – ungeachtet der bedeutenden Rolle, die ihr im Bewußtsein zukommt – zu den oberflächlicheren Aspekten des Erlebens. Dies ist einer der Punkte, wo sich die aristotellsche Lehre von den »ersten Sub- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 87 stanzen« mit am schlimmsten ausgewirkt hat, weil es nach ihr unmöglich ist, daß eine »erste Substanz« in den Komplex von Objekten eingehen könnte, / die in einem Erlebensvorgang gegeben sind. Infolgedessen muß die Seele sich in ihren Inhalten auf Universalien beschränken. Unter dem Gesichtspunkt des metaphysischen Systems, das ich hier vertreten möchte, ist diese aristotelische Auffassung schlechthin falsch: Denn es sind gerade die individuellen realen Fakten der Vergangenheit, die die Grundlage unseres unmittelbar gegenwärtigen Erlebens bilden. Sie bilden die Wirklichkeit, aus der der jeweils gegenwärtige Erlebensvorgang entspringt, die seine Emotionen auslöst, ihm ihre Zwecksetzungen vererbt, und auf die er seine Leidenschaften richtet. Das Fundament des Erlebens besteht aus einer Vielfalt von Gefühlen, die sich von individuellen Wirklichkeiten ableiten oder auf sie richten. Und um zu einem kraftvollen Erleben zu kommen, müssen wir die Komponenten dieser Vielfalt unterscheiden und jede von ihnen als ein individuelles Es erkennen, das schon für sich signifikant ist. 487 Unser Leben wird von beständigen und dauerhaften Dingen beherrscht, von denen jedes als eine durch die Kraft der Vererbung zu einer Einheit verbundene Vielheit von Vorgängen erlebt wird. Und jedes dieser individuell dauernden Dinge versammelt in seiner Einheit die mehr oder minder flüchtigen Qualitäten der Vielheit von Vorgängen, aus denen es besteht. Vielleicht ist es ein Ding, das wir lieben, vielleicht auch ein Ding, das wir hassen; aber es ist da – ein bloßes Es, ein reales Faktum der Vergangenheit, das sich bis in die Gegenwart erstreckt und den ganzen Reichtum an Emotionen auf sich konzentriert, der aus der Vielzahl der es konstituierenden Vorgänge herstammt. Diese dauerhaften Individualitäten kontrollieren als Faktoren unseres Erlebens eine ungeheure Fülle von Gefühlen und Weite von Zwecksetzungen, und sie verfügen über eine regulative Kraft, die es ihnen gestattet, alle übrigen Dinge, die der Unermeßlichkeit der Vergangenheit angehören, in den Hintergrund zu drängen. Ganz gewiß ist es dies, was Descartes mit seiner realitas objectiva – die nach ihm mehr oder weniger unseren Wahrnehmungen zukommt – wirklich gemeint haben muß. 487 Ein komplexes Erlebnis, zu dem eine auf derart dauernde Individuen gerichtete bewußte Aufmerksamkeit gehört, löst sofort einen Reichtum von Gefühlen aus, der alles, was durch. bloße Muster von Sinnesqualitäten bewirkt werden kann, bei weitem übertrifft. Die wahrhaft große Harmonie ist eine Harmonie dauernder Individuen, die sich von der Einheit des Hintergrunds abheben. Das ist auch der Grund, warum der Begriff der Freiheit in allen höherentwickelten Zivilisationen eine so große Rolle spielt. Denn die Freiheit enthält – in allen Formen und Bedeutungen des Worts – einen Anspruch auf kräftige Selbstbehauptung. 488f. Wenn man nun den Prozeß betrachtet, der einen Erlebensvorgang konstituiert, wird klar, daß die Wahrnehmung dauernder Individuen dem Bereich der Erscheinung angehören muß, mit deren Auftreten der Vorgang abschließt. Denn in der Anfangsphase sind es ja gerade die einzeln wirksam werdenden individuellen Vorgänge der Vergangenheit, die den ganzen Prozeß in Bewegung bringen. Sie bilden die Realität, in der der neuentstehende Vorgang seinen Ursprung hat. Anschließend wird der Prozeß durch das Wirksamwerden des psychischen Pols weitergeführt, der die begrifflichen Elemente beisteuert, die eine Synthese mit der vergangenen Realität eingehen. Und dar- Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 88 aus geht dann schließlich die Erscheinung hervor, die auf der durch ihre Synthese mit den begrifflichen Wertungen transformierten Wirklichkeit besteht. Die Erscheinung ist eine durch eine Neuverteilung der Gewichte und das Eingehen neuer Kombinationen unter den Elementen des Erlebens bewirkte Vereinfachung. Und in ihr treten die dauern den Individuen mit ihrem Reichtum an emotionaler Signifikanz in den Vordergrund. Im Hintergrund bleibt eine Masse ununterschiedener Vorgänge zurück, die der Gesamtheit der Umwelt eine vage emotionale Tönung geben. Die Erscheinung ist – im allgemeinsten Sinne des Worts – ein Kunstwerk, das der ursprünglichen Wirklichkeit abgerungen ist. Insofern sie Zusammenhänge und Qualitäten herausstellt, die es in der Wirklichkeit faktisch gibt, steht sie in einem erfüllten Wahr/heitsverhältnis zur Wirklichkeit, ist – wie man sagen könnte – eine getreue Wiedergabe. Aber durch die Erscheinung können auch Zusammenhänge hergestellt und Qualitäten eingeführt worden sein, für die es in der Wirklichkeit kein Gegenstück gibt. Dann enthält der Erlebensvorgang in sich selbst eine Falschheit, nämlich die Disparatheit zwischen der in ihm auftretenden Erscheinung und der ihm zugrundeliegenden Realität. In jedem Falle aber bewirkt die Erscheinung eine Vereinfachung der Wirklichkeit, indem sie sie in 1 einen Vordergrund dauernder Individuen und einen Hintergrund ununterschiedener Vorgänge zerlegt. Die Sinneswahrnehmung gehört der Erscheinung an, und was sie uns zeigt, wird – wahrheitsgemäß oder nicht – als ein Aufweis dauernder Individuen interpretiert. 489 Die Basis für jedes starke und eindringliche Erleben einer Harmonie ist also eine Erscheinung, deren Vordergrund aus dauernden Individuen mit einer bestimmten Stärke der subjektiven Tönung besteht, die durch den Hintergrund in Zusammenhang und ins Relief gebracht werden. Ohne Zweifel besteht jede Harmonie letzten Endes aus einer Harmonie unter Qualitäten des Fühlens. Aber die Einführung der dauernden Individuen gewinnt der Realität eine Entfaltung schon harmonisierter Gefühle ab, die in ihrer Kraft durch die bloßen Oberflächengegebenheiten der Sinneswahrnehmung nie zu erreichen wäre. Das, worum es hier geht, ist keine Frage der intellektuellen Interpretation, sondern ein reales Zusammenkommen fundamentaler Fühlensströme. 489f. Die Zivilisation, deren unbestrittenes Ziel ja eine Verfeinerung unseres Fühlens ist, sollte also bestrebt sein, die Beziehungen ihrer Angehörigen untereinander und zu ihrer natürlichen Umwelt so einzurichten, daß in ihrem Erleben Erscheinungen evoziert werden, in denen die Harmonie kraftvoll-dauernder Dinge dominiert. Oder auch anders gewendet: die Kunst sollte immer bestrebt sein, den Details ihrer Kompositionen volle Individualität zu geben. Sie sollte sich auf keine Kompositionen einlassen, in denen es nichts als eine / Zusammenstellung von Qualitäten gibt, weil sie dabei nur zahm und fade werden kann. Sie muß selber schöpferisch wirksam bleiben, so daß im Erleben des Betrachters Individuen erscheinen, die durch ihren Appell an die tiefsten Schichten seines Fühlens gleichsam Unsterblichkeit gewinnen. Es ist deshalb kaum paradox, wenn man sagt, daß eine große und mit der Kunst eng verschmolzene Zivilisation die Welt ihren Angehörigen als durch die Erscheinung der Unsterblichkeit gefestigt präsentiert. Denn die Individuen, die sie in der Erscheinung auftreten läßt, gehören ja in Wahrheit allen Zeiten auf die gleiche Weise an. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 490 89 Genau das ist es, was uns in aller großen Kunst begegnet. In ihr wird jedes Detail der Komposition intensiv und aus eigenem Recht lebendig. jede Einzelheit erhebt Anspruch auf ihre eigene Individualität und leistet dennoch ihren Beitrag zu dem Ganzen. Auf jedes Detail fällt der Glanz des Ganzen, und dennoch manifestiert sich in ihm eine Individualität, die schon für sidi unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen darf. Betrachten wir z. B. nur einmal, wie sich bei einer gotischen Kathedrale – etwa der von Chartres – die Skulpturen, Pfeiler und die Aufgliederung des Mauerwerks in die Harmonie des Ganzen einfügen! Sie führen unseren Blick aufwärts zum Gewölbe und vorwärts, zu ihrem erhabensten Symbol, dem Altar. Jedes Detail ist so schön, daß es unsere Aufmerksamkeit voll in Anspruch nehmen könnte, und doch entzieht es sich ihr wieder, indem es unser Auge anleitet, die Bedeutung des Ganzen zu begreifen. Das aber könnten sie gar nicht, wenn nicht jeder dieser Teile ein Individuum aus eigenem Recht wäre, das eine Fülle von Gefühlen in uns wachruft. Jedes Detail darf für sich den Anspruch auf ein(- dauerhafte Existenz erheben; aber es gibt ihn wieder auf, um sich dem Ganzen einzuordnen. 490f. Aber auch der Wert, den Dissonanzen haben können, beruht auf der kraftvollen Individualität der widerstreitenden Details. Die Dissonanz hebt den Charakter des Ganzen, wenn / sie dazu beiträgt, der Individualität seiner Teile mehr Substanz zu geben. Sie vermittelt dann um so nachdrücklicher das Gefühl, daß jeder dieser Teile einen Anspruch auf eine Existenz aus eigenem Recht hat, und sie bewahrt das Ganze zumindest vor der Zahmheit einer bloß qualitativen Harmonie. 491 Und hier wird auch deutlich, wie wichtig die Wahrheit ist. Schon die Wahrheit unserer Überzeugungen ist, für sich genommen und in Anbetracht ihrer Konsequenzen, wichtig. Aber noch wichtiger ist die erfüllte Wahrheitsbeziehung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. In dem Maße, in dem es dem Verhältnis zwischen diesen beiden an Wahrheit fehlt, wird es schwerer, neue Kräfte des Fühlens im unausgeschöpften Hintergrund der Wirklichkeit zu mobilisieren. Der Falschheit fehlt jener Zauber, durch den eine weit über die Ausdruckskraft der Sprache hinausgehende Schönheit plötzlich — wie vom Stab einer Fee berührt — ins Dasein gerufen werden kann. Aus diesen Gründen muß eine zivilisierte Gesellschaft die Tugenden besitzen, durch die Wahrheit, Schönheit, Abenteuer und Kunst verwirklicht werden. XX. Der Frieden I. Wir haben hier die speziellen historischen Erscheinungsformen von sieben allgemeinen Begriffen, die sich bei Platon finden, diskutiert: die Ideen, die physischen Elemente, die Psyche, der Eros, die Harmonie, die mathematischen Beziehungen und das »Worin«. Die historischen Bezugspunkte sind dabei so ausgewählt und organisiert worden, daß der Einfluß spezieller Formen dieser sieben Begriffe auf das Wachstum der westeuropäischen Zivilisation so deutlich wie möglich sichtbar wurde. Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen 90 491f. Anschließend haben wir in diesem vierten und letzten Teil des Buchs die wesentlichen Qualitäten betrachtet, deren gemeinsame Verwirklichung im sozialen Leben den Kern der / Zivilisation ausmacht.