Morton Feldman und das alternative Ende der Ästhetik Alexander Al Doctoraalscriptie Universiteit Utrecht, juni 2007 Studentnummer 9941622 Begeleider: Prof. dr. Helga de la Motte-Haber (Technische Universität Berlin) Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG ............................................................................................................................................... 3 PRELUDE: FELDMANS MARGINAL INTERSECTION UND DAS SPIEL DER ILLUSIONEN ..... 4 ERSTER TEIL: DREI ÄSTHETISCHE MODELLE .............................................................................. 8 DIE ROMANTISCHE MUSIKÄSTHETIK: MIßLUNGENE EMANZIPATION?....................................................... 8 EDUARD HANSLICK UND DIE TRADITIONELLE ÄSTHETIK ........................................................................... 9 JANKÉLÉVITCH UND DAS BEINAHE-NICHTS ............................................................................................... 13 ZWEITER TEIL DAS KLINGEN DES ANDEREN: FELDMANS KONZEPT DER ABSTRAKTEN ERFAHRUNG ................................................................................................................. 19 DER SOUND DES BEINAHE-NICHTS .............................................................................................................. 19 DIE ABSTRAKTE ERFAHRUNG ...................................................................................................................... 20 ABSTRAKTE EXPRESSION IN DER MALEREI................................................................................................ 21 SERIALISMUS ................................................................................................................................................ 23 DIE ANGST VOR DER KUNST ........................................................................................................................ 24 MORTON FELDMAN UND DIE BUDDHA-NATUR CAGES .............................................................................. 26 BETWEEN CATEGORIES ............................................................................................................................... 27 DRITTER TEIL: FELDMANS SPÄTE WERKE UND DER HORIZONT DER ÄSTHETISCHEN INTERPRETATION .................................................................................................. 28 SAKRALE SEHNSUCHT .................................................................................................................................. 28 DAS DING ALS REALE .................................................................................................................................. 29 DIE MUSIK FELDMANS ALS DESINTEGRATION ........................................................................................... 30 MODERNISMUS: FELDMAN UND BECKETT.................................................................................................. 31 POSTMODERNISMUS ..................................................................................................................................... 31 EINE POSTMODERNE INTERPRETATION FELDMANS .................................................................................. 33 POSTMODERNE PERFOMATIVITÄT .............................................................................................................. 34 MODERNE PERFORMATIVITÄT .................................................................................................................... 35 MODERNISMUS UND POSTMODERNISMUS ALS DOUBLEBIND ..................................................................... 36 VIERTER TEIL: DAS ALTERNATIVE ENDE DER ÄSTHETIK ............................................... 38 EINLEITUNG.................................................................................................................................................. 38 VERLUST UND TRANSFERENZ ...................................................................................................................... 39 SCHRITT EINS: RETROAKTIVE PERFORMATIVITÄT ................................................................................... 39 RESULTAT: DAS SUBJEKT ALS LEERE FORM .............................................................................................. 40 SCHRITT ZWEI: DAS OBJEKT KLEINE A ....................................................................................................... 40 OBJEKT A ALS ABSOLUTER ZUFALL ............................................................................................................ 41 IMAGINÄRE UND SYMBOLISCHE KONSISTENZ DES SUBJEKTS IN DER LACANSCHEN PSYCHOANALYSE . 41 DIE IMMANENZ DER ZWEI ........................................................................................................................... 42 FELDMAN HÖREN ......................................................................................................................................... 42 LITERATUR ............................................................................................................................................... 44 2 Einleitung Die Kunst, insbesondere die Musik, gewann am Ende des 18. Jahrhunderts erheblich an Status. Kunst war nicht länger funktionell – als Begleiter sozialer und religiöser Aktivitäten – ihr wurde jetzt selbst ein Sinn zugesprochen. Die neue philosophische Richtung der Ästhetik musste sich als autonome Disziplin verbinden mit der Ethik. Man musste die Frage beantworten, was aus ästhetischer Sichtweise eine sinnvolle Aktivität wäre – eine Akitivität, die unserem Leben Sinn verleiht. Keine der ästhetischen Strömungen, auch nicht die einer l’art pour l’art Attitüde, entgeht seitdem dieser Frage. Der Komponist Morton Feldman (1926-1987) hat sich ausführlich mit dieser Frage auseinandergesetzt, auf einer sehr expliziten Weise: in seinen Essays und Vorlesungen spielen die ethischen Voraussetzungen der Kunst eine Schlüsselrolle. Seine Antwort auf die Frage is nicht nur unentbehrlich für ein tieferes Verständnis seiner Musik, sondern sie klärt auch seine ästhetische Position zu seinen Gegner. Die Erklärung der ästhetischen Position Feldmans ist das erste Ziel dieser Arbeit. Wir werden im ersten Teil der Arbeit drei wichtige ästhetische Positionen besprechen: neben der romantischen “extatischen” Ästhetik werden die traditionelle Ästhetik – mit ihrem musikalischen Befürworter Eduard Hanslick und sein exemplarisches Werk Vom musikalisch-Schönen – und die Ästhetik von Vladimir Jankélévitch ausführlich analysiert. Im zweiten Teil wird gezeigt, dass Feldmans ästhetische Position im Grunde völlig mit den Ideen Jankélévitchs übereinstimmt. Jetzt kann auch Feldmans Beziehung zu den anderen Ästhetiken geklärt worden. Es ist dabei wichtig zu bemerken, dass Feldman der Meinung ist, dass die zwei genannten Ästhetiken ein entscheidendes Element gemein haben: die Idee der Kunst als das Erreichen-Wollen einer ideellen Einheit und der Versuch, diese durch eine extatische Erfahrung und/oder eine rationelle Struktur zu erreichen. Der dritte Teil fängt an mit zwei Interpretationen der späten Werke Feldmans von Marion Saxer und Herman Sabbe, deren Deutungen als modernistisch beziehungsweise postmodernistisch einzustufen sind. Das zweite Ziel dieser Arbeit ist, diese Interpretationsweisen kritisch zu analysieren. Wir werden behaupten, dass diese zwei Positionen einen gemeinsamen Kern besitzen: sie entnehmen ihren Sinn an einem unerreichbaren Punkt, den wir in dieser Arbeit mit dem Kantischen Begriff des “Ding-an-sich” andeuten. Es wird also gezeigt, dass der Gegensatz zwischen Modernismus und Postmodernismus schliesslich kein wesentlicher ist. Daraus würde sich einerseits eine Unterstützung der These einiger Musikwissenschaftler ergeben, die behaupten, dass Feldmans Ästhetik letztendlich im Rahmen der herkömmlichen Ästhetik bleibt. Anderseits aber versuchen wir im vierten und letzten Teil zu zeigen, wie das Spätwerk Feldmans neu interpretiert werden kann, wenn das Ding nicht länger der zentrale Punkt unserer ästh-ethischen Bemühungen ist, dank Feldmans Fokussierung auf die subjektive Attitude anstatt auf die abstrakte Erfahrung des Dings. Mit Hilfe von Konzepten des psychoanalytikers Jacques Lacan und dessen Ideen der fundamentellen Phantasie und des Objektes petit a wird es möglich, einen anderen Rahmen für eine sinnvolle musikalische Erfahrung zu schaffen, der sich dem Ding entzieht. Diese Theorie bildet eine Alternative zum üblichen Ende der Kunst und der Ästhetik. Dies ist das dritte und letzte Ziel dieser Arbeit. 3 Prelude: Feldmans Marginal Intersection und das Spiel der Illusionen In Marginal Intersection, ein Stück, das Feldman 1951 komponierte, entdecken wir eine Merkwürdigkeit, die besonders dazu geeignet ist, uns das Hauptproblem des Feldmanschen ästhetischen Denkens zu illustrieren. Feldmans Wahl für das Instrumentarium scheint teilweise unkonventionell für sein gesamtes Schaffen, aber könnte auf dem ersten Blick leicht erklärt werden, wenn wir das Instrumentarium mit der experimentellen Musik zweier seiner Freunden verbinden, nämlich John Cage und Edgar Varese. Neben der Benutzung der üblichen Orchesterinstrumenten fügt Feldman eine ausgebreitete Schlagzeugbesetzung zu: “The percussionists employ a large battery of wood, metal objects and any other material which can produce a variety of glasslike sounds”1. Die Benutzung solcher Klänge ist nicht neu, wenn man die Musik John Cages kennt, der Feldman 1949 traf und ihn in die New Yorker Kunstszene einführte. Auch brauchen wir uns nicht zu verwundern über die Anwesenheit von “sound-effects recording of a riveting machine”. Solche Experimente erinnern an Edgar Varèse, den der junge Feldman wöchentlich traf. Wie Cage träumte Varèse von neuen Instrumenten, die neue Klänge schaffen würden jenseits der üblichen Klänge des Symphonieorchesters. Auch die Anwesenheit von zwei Oszillatoren in Marginal Intersection deutet auf den Einfluß Varèses. Sebastian Claren sieht die Benutzung dieser Instrumenten folglich als eine Hommage an Varèse2. Varèse beabsichtigte mit seinen Experimenten nicht nur das Schaffen neuer Klangfarben, sondern auch bisher unerreichbaren Klanghöhen des experimentellen Instrumentariums. Eine Aufnahme der Marginal Intersection des Barton Workshops3 interpretiert die Anwesenheit der Oszillatoren auf Varèsischer Weise und läßt sie auf Tonhöhen spielen, die hörbar, aber durch ihre Höhe oder Tiefe nicht mehr identifizierbar sind. Aber wieso gebietet Feldman in seinen Anweisungen, dass die beiden Töne der Oszillatoren nicht gehört werden sollten? “The score […] calls for […] two oscillators, one low and the other high (These cannot be heard, but are ‘felt’) ”4. Was könnte gemeint sein mit dieser Bemerkung, dass man die Töne nicht hören, sondern fühlen sollte? Dass man Musik “fühlen” sollte, war schon ein Anliegen der romantischen Musikästhetik. Aber Feldman geht anscheinend über diese Gefühlsästhetik hinaus: wie kann man Musik fühlen, ohne sie zu hören? Möglicherweise kommt eine physiologische Erklärung in Betracht. Wir kennen alle das direkte Gefühl, das durch eine beträchtliche Lautstärke entsteht, zum Beispiel, wenn ein schwerer Lastwagen vorbeifährt oder in einem Club ein Baß von 130 dB aus den Lautsprechern schallt, der duch den ganzen Körper fließt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass Feldman dieses Effekt nachgestrebt hätte: nicht nur darf in Marginal Intersection die Dyamik frei gewählt werden (“Dynamics are … freely chosen”5); auch würde man die Töne natürlich auch hören und nicht nur fühlen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Töne sich jenseits der absoluten Wahrnehmungschwelle befinden, das heißt zu hoch oder tief sind, dass man sie gesamtkörperlich wahrnehmen kann, ohne sie wirklich zu hören. Aber wir interessieren uns hier für eine andere Erklärung: was, wenn wir nur unsselbst fühlen? Wir werden diese Möglichkeit erläutern mit einer von John Cage beschriebenen Erfahrung. Im selben Jahr, in dem Feldman Marginal Intersection komponierte, besuchte John Cage den anechoischen Raum der Harvard-Universität. Beim Eintreten des tonlosen Raums, der völlig von den Geräuschen der Außenwelt abgeschlossen war, hatte Cage eine totale Stille erwartet, aber er hörte doch ein höhes und ein tiefes Geräusch. Als er einen Mitarbeiter des Raums fragte, was er gerade gehörte habe, antwortete der, das er keine Geräusche von Außen wahrgenommen hatte, sondern seinen eigenen Körper: der hohe Ton war das Geräusch seines Nervensystems; der tiefe Ton seines Blutkreislaufs. 1 Feldman, Morton; Friedman, B.H. (hrsg.): Give my regards to Eighth Street : collected writings of Morton Feldman. Cambridge : Exact Change 2000, S. 11. 2 Claren, Sebastian: Neither. Die Musik Morton Feldmans. Hofheim : Wolke 2000. . -Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1996, S. 55. 3 Barton Workshop: Composing by Numbers. The Graphic Scores 1950-67. Feldman edition 9, Mode, cd nr 146. 4 Feldman 2000, S. 11. 5 Idem, S.11. 4 Cage hatte ein Geräusch gehört, das er nicht der Außenwelt zuschreiben konnte, sondern sich selbst. Wenn wir uns erinnern, dass die zwei Oszillatoren in Marginal Intersection einen hohen und einen tiefen Ton produzieren sollten, die man aber fühlen sollte, liegt unsere nächste Frage ziemlich nahe: Ist es nicht möglich, dass wir als Zuhörer auch meinen könnten, die Oszillatoren würden das hohe und das tiefe Geräusch produzieren? Würden wir unsere Selbstwahrnehmung auf die Außenwelt projizieren, so wie Cage? Auf dieser Weise wäre es tatsächlich möglich, dass ein Zuhörer meinen könnte, er höre die Oszillatoren, obwohl sie vielleicht gar nicht spielen... Ja, wir könnten meinen, die Oszillatoren zu “fühlen”, obwohl jemand den Stecker der Oszillatoren aus der Steckdose herausgezogen hat… Aus der Erfahrung des lautstillen Raums der Harvard-Univerität könnten wir also eine Schlussfolgerung ziehen, die sich wesentlich von der Schlussfolgerung Cages unterscheiden würde. Cage konkludierte nämlich, dass Stille, empirisch betrachet, nicht existiert, weil es immer etwas zu hören gibt (den eigenen Körper, zum Beispiel). In der Welt der ungetrübten Sinnen würde es also keine Stille geben. Die Bedeutung des Begriffs der Stille hängt bei Cage zusammen mit der menschlichen Interpretation der Klänge. Cage betrachtete die übliche Interpretation der Stille als eine Sache der (Fehl-)Interpretation, der Bewertung mit Hilfe eines musikalischen Systems. Es ist uns unterrichtet worden, den Klang der Geige als musikalisch zu bezeichnen, aber alles was nicht dieser Konventionen angehört als Geräusch oder Lärm oder sogar als gar nichts – Stille – zu bezeichnen. Die Erfahrung im anechoischen Raum schärfte also Cages Gefühl für die psychologischen Hürden für eine “objektive” Bewertung der (bloß empirischen) Klänge. Die nichtmusikalischen Klänge sollten emanzipiert werden. Deswegen forderte Cage zu Stille auf, nicht auf musikalischer (physiologischer), sondern auf psychologischer / interpretativer Ebene: nicht die Klänge, sondern die Vorurteile der Menschen sollten schweigen. Diese “interpretative” Stille hatte zum Ziel “to sober and quiet the mind, thus make it suspectible for divine influences”6. Zusammengefaßt ist für Cage das Konzept der Stille eine Illusion. Aber wäre aufgrund der Marginal Intersection nicht eine andere Schlußfolgerung möglich – ist hier nicht der Schall eine Illusion, wenn wir meinen, dass die schweigende Oszillatoren klingen, obwohl wir eigentlich nur uns selber hören? Wo Cage der klingende Körper schließlich als Teil der klingenden Umwelt interpretiert, der wie alle Klänge gleich bewertet werden sollte, liegt der Körper bei der Wahrnehmung der Oszillatoren uns in der Quere. In dieser Sichtweise ist der anechoische Raum der Harvard-Universität ganz entschieden ein stiller Raum, bis der Mensch eintritt und sich selbst (und sein eigener Lärm) mitbringt. Ohne es zu wissen ist er sein eigener physiologischer Störsender – und nicht (nur) ein psychologisch/interpretativer. Aber die Illusion hat einen wichtigen Nebeneffekt: es schafft Sinn. Es ist nicht unvorstellbar, dass Rezipienten der Marginal Intersection, die aufmerksam zuhören, sich auf die schweigenden Oszillatoren richten und ihre Töne erwarten, in der Tat am meisten fasziniert sind von den zwei Oszillatoren, die inmitten der “Lärm” der anderen (Schlagzeug-)Instrumenten nur schweigend zusehen und ihre “Töne” ins Publikum schreien. Das Publikum könnte meinen, diese Töne direkter wahrzunehmen als alle andere Töne, sie wirklich zu fühlen, weil diese Wahrnehmung eigentlich eine Selbstwahrnehmung ist: das körperliche Nebeneffekt jeder Wahrnehmung – sozusagen die Wahrnehmung des eigenen Wahrnehmungsgeräusches. Wir müssen unsere Behauptung, der Schall sei eine Illusion, ein wenig präzisieren: es ensteht erstens eine physiologische Illusion. Obwohl es also keine direkte Ursache-Folge-Beziehung gibt zwischen der Wahrnehmung der zwei Töne und den Oszillatoren, haben die Oszillatoren eine wichtige Funktion: sie ermöglichen eine Selbstwahrnehmung, die gerade durch die Antiziptation des Rezipienten – sie erwarten, die Oszillatoren wahrzunehmen und nicht sich selbst – entstehen kann. Diese physiologische Illusion ist also im Wesen ein Paradox: die unmittelbarste Erfahrung, von der man glaubt sie zu fühlen statt nur bloß wahrzunehmen, braucht eine Art Vermittler – die Oszillatoren, die diese Erfahrung überhaupt ermöglichen, sind in Wirklichkeit nur eine “Quasi-Ursache” für eine solche Erfahrung. Es gibt aber ein anderes Element dieser Illusion, die Fragen aufruft: inwiefern ist eine Selbstwahrnehmung ein Fühlen? Wir könnten meinen, die Oszillatoren zu fühlen statt zu hören (wie Feldman es formuliert hat in der Einführung zum Werk), aber genau genommen hören wir uns selbst – die Erfahrung bleibt von der Empirie abhängig, sie ist nur indirekt mit den (schweigenden) Oszillatoren verbunden. Warum sollten wir denn diese Wahrnehmung als Fühlen beschreiben – eine viel undeutlichere Beschreibung dieser Erfahrung, die viele andere Assoziationen aufruft? 6 Cage in Pritchett, James: The music of John Cage. Cambridge : Univ. Press 1993, S. 37. 5 Ein Grund wäre, das man eine (ganz-)körperliche Bestätigung nachstrebt, der für sinnvoll gehalten werden kann. Eine bloße auditive Selbstwahrnehmung wird also sinnvoll, wenn sie mit dem ganzen Körper identifiziert werden kann und so ihren bloß auditiv-empirischen Gehalt übersteigt. Es ist diese Erfahrung, die Feldman als “total sensuousness”7 beschreibt. Er beschreibt 1984 im Rahmen eines Seminars eine ähnliche Erfahrung während einer Tanzaufführung: “One of the most beautiful things I’ve ever seen was a woman from Chicago, a contemporary Martha Graham. Her name was Sybil Shearer. Sybil Shearer would come and stand on one leg and then move something like this, and then just stand, put her leg down and stand there. She would create where you have an afterimage. Even though something is standing still, you are looking, you are having some kind of kinetic hocus-pocus. Nothing is happening, she is just standing like this. But because of what she does you are seeing the changes. In other words, when she stands still, you cannot believe she is standing still”8. Feldman beschreibt das visuelle Äquivalent unserer Beschreibung der Wahrnehmung der Oszillatoren: auch hier passiert nichts, aber der Zuhörer antizipiert ihre Töne – seine Erfahrung ist ein auditives “hocus-pocus”. Vergleiche hierzu Feldmans Beschreibung der Tanzaufführung: “Actually she is not standing still, because she is standing in an anticipating way, which you already are living out, the suggestions and the possibilities of some kind of kinetic movement, hallucinatory”9. Diese physiologische Illusion ist eine empirische: das Auge “erwartet” bestimmte Bewegungen, die aber eingestellt werden. Es entsteht eine Art Stasis: die Tänzerin bewegt, obwohl sie einfach dasteht. Der Begriff Stasis ist für das Verständnis von Feldmans Musik von entscheidender Bedeutung, wie wir in dieser Arbeit sehen werden. Aber Feldman geht weiter und interpretiert die Erfahrung nicht nur empirisch. “I said to / Cage – he took me – I said, ‘How does she do that?’ And Cage said, ‘She’s concentrating. You are into her concentration’. You see, just like we are into someone’s concentration”10. Und so wie ein Rezipient laut Feldman in der Konzentration des Ausführenden gerät, reagiert auch ein Ausführender auf das Publikum: “Why is it that the performer goes on the stage and feels the audience and the change of the audience throughout the whole performance? It’s not magic, it communicates. They don’t have to go, ‘Boo’. He hears the vibes, as we say”11. Feldman behauptet, dass ein Ausführender und das Publikum auf einer geteilten Ebene miteinander kommunizieren, die aber mit einer üblichen Weise der Kommunikation nichts zu tun hat. Diese Ebene ist die “Konzentration” des Ausführenden, aber sie wird von Feldman auch die “vibes” genannt, also Wellen, die der Ausführende “hört” und damit das Publikum “fühlen” kann. Feldman konkludiert, dass es hier um eine Selbsterfahrung handelt – “[I]f someone is staying on the stage doing nothing and we are sitting there, we are going to be watching our person”12– aber diese Erfahrung hat Kontakt zu etwas größeren, etwas unbekanntes, das “kommuniziert”. Feldman zitiert als Argumentation für die Wichtigkeit der Selbsterfahrung seinen Freund, den Maler Philip Guston: “Philip Guston said something fantastic. He says, ‘The problem with most art is, they don’t know that everything is revealed on the canvas’ […] Everything is revealed. It’s the same thing with everything else, you see. Just like everything is revealed in art, everything is revealed by people that look at art”13 . Die Selbsterfahrung wird hier mit einem ähnlich rätselhafter Begriff, “Alles”, verbunden, der wohl mit den “vibes” zusammenhängt. Die Beschreibung Feldmans der bloß physiologische Erfahrung der Tänzerin, hat sich während einer Seite zu einer mysteriösen, wellenden Erfahrung eines “Alles” entwickelt, der laut Feldman schwierig wahrzunehmen ist, aber dafür gefühlt werden kann. Nachdem er Philip Guston zitiert hat, spricht er von derselben Erfahrung bei den Gemälden Mark Rothkos und spricht er auch über sein eigenes Werk, insbesondere über seine Opera Neither und das Libretto Samuel Becketts, in dem der Begriff des Schattens (shadow) eine wichtige Rolle spielt. Ein Auszug aus dem Libretto: “To and fro in shadow from inner to outer shadow / from impenetrable self to impenetrable unself by way of neither / as between two lit refuges whose doors once neared gently close, once turned away from gently part again […]”14. Der Begriff des Schattens ist laut Feldman “the subject of the Beckett opera […]. The subject of the Beckett opera is that our life is framed in shadow all around us, we cannot see into the shadow. Being that we cannot see into the shadows, our life is framed in shadow all around us, we cannot see into the shadow. Being that we cannot 7 Feldman 2000, S. 187. Idem, S. 177. 9 Idem, S. 177 10 Idem, S. 177f. 11 Idem, S. 178; Kursivdruck AA 12 Idem, S. 178. 13 Idem, S. 178. 14 In Claren 2000, S. 22. 8 6 see into the shadows, our existence is only this much and we are fluctuating the shadows of life and death”15. Was Feldman genau meint mit diesen Aussagen und diese auf dem ersten Blick ziemlich willkürliche Aneinanderreihung mannigfaltigster Künstler und Begriffe, werden wir im zweiten Teil dieser Arbeit untersuchen. Jetzt ist wichtig, dass wir aus der Denkart Feldmans eine zweite Art Illusion benennen können. Das Werk Marginal Intersection provozierte wie gesagt die Frage, inwiefern wir hier von einer physiologischen Illusion sprechen konnten – der Rezipient meinte, etwas wahrzunehmen, obwohl er das Effekt der Wahrnehmung selbst produzierte. Er hat sich also im Objekt geirrt: nicht die Oszillatoren, sondern er selbst produzierte den hohen und den tiefen Ton. Wir können aber eine zweite Illusion auf einer anderen Ebene wahrnehmen. Auch diese Illusion wird gekennzeichnet von einer Ursache und einer Folge, die nicht ganz zusammengehören. Die phänomenale (Selbst-)Erfahrung wird von Feldman verbunden mit einer einheitlichen Erfahrung eines Etwas (“it”), das kommuniziert, das fluktuiert zwischen Leben und Tod. Aber was denn ist die eigentliche Verbindung zwischen diesen Erfahrungen? Hatten wir es zunächst mit einer physiologischen Illusion zu tun, so könnten wir hier eine psychologische Illusion thematisieren: eine bloß phemonenale Erfahrung wird zu einer existentiellen Erfahrung. Anders als die psychologische / interpretative Illusion, die Cage vermeiden wollte, wird eine bloß fenomenale Erfahrung wichtig für unser Leben, obwohl wir auch hier von einer gestörten Kausalitätskette sprechen können. Warum ist eine Erfahrung von zwei bloßen Oszillatoren, von Sybill Shearer oder einem Gemälde Gustons bedeutungsvoll? Wie könnte man das behaupten von einem Körper einer Tänzerin, von einem beschmutzten Leinwand oder van klingenden Tönen? Wir stehen hier vielleicht am Abgrund: irren wir uns nicht in dem Sinn dieser Objekte? Wie behaupten wir uns in dieser Illusion? Wir kommen zum Hauptproblem der Ästhetik. Schon seit dem Beginn der Ästhetik bei Baumgarten ist die Verbindung zwischen der Kunst und einem sinnvollen Leben äußerst wichtig. Bloße Töne bleiben bloße Töne, bis sie einen Sinn bekommen – sonst würden wir nicht zuhören. Jede Ästhetik is also mit der Ethik verbunden – selbst wenn Künstler eine l’art pour l’art befürworten. Aber wie hängt die Musik mit seinem Sinn zusammen? Wie schafft die Ästhetik diese “unmögliche” Verbindung zwischen den beiden Bereichen? Im ersten Teil dieser Arbeit werden drei ästhetische Modelle präsentiert, die den Sinn der Musik unterschiedlich interpretieren. Wir besprechen, neben der romantischen Musikästhetik, vor allem die Position der traditionellen Ästhetik des Schönen und ihren wichtigsten musikwissenschaftlichen Befürworter, Eduard Hanslick, und die (Musik-)Ästhetik des Vladimir Jankélévitch. Die Übereinkunft der ästhetischen Gedanken Jankélévitchs und Feldmans ist treffend; im zweiten Teil werden wir uns mit dieser Übereinkunft auseinandersetzen. Es wird jetzt deutlich, wie Feldmans ästhetisches Denken die unterschiedlichsten Künstler wie Sybil Shearer, Philip Guston, Mark Rothko und Samuel Beckett miteinander verbinden kann. Es wird auch möglich, Feldmans Position in der ästhetischen Debatte seiner Zeit zu bestimmen. Aber im dritten Teil werden wir die ästhetischen Positionen erneut kritisch untersuchen. Im Hintergrund spielt die genannte psychologische Illusion eine Schlüsselrolle: die Verbindung zwischen dem bloßen Ton und dem Sinn der Musik, zwischen Empirie und (transzedentaler oder immanenter) Bedeutung, zwischen ästhetischer Wahrnehmung und ethischem Sinn, also zwischen Ursache und Folge ist immer brüchig. Im dritten Teil werden wir weiter untersuchen, wie die verschiedenen Ästhetiken ihren Sinn legitimieren – wir werden behaupten, dass die Weisen, worauf sie diesen Sinn definieren, einander ziemlich ähnlich sind… 15 Feldman 2000, S. 178. 7 Erster Teil: Drei ästhetische Modelle Die romantische Musikästhetik: mißlungene Emanzipation? Die musikalische Sprache im 18. Jahrhundert war durchdrungen von sozialen Konventionen. So sollte die Musik repräsentativ sein für eine soziale Klasse, die adliche Elite zum Beispiel, die sich seine eigene Werte wie Ehre und Gnade in der Musik (als Gegenstand der Libretti, als musikalische Gattung usw.) repräsentiert sehen wünschte. Diese Repräsentativität änderte sich durch die französische Revolution, da die Selbstverständlichkeit der bisherigen sozialen Struktur verschwand. Die soziale Revolution eröffnete der Musik neue Möglichkeiten: eine Abweichung von der musikalischen Sprache des 18. Jahrhunderts wurde von bürgerlichen Intellektuellen als bahnbrechend gefeiert. Beethoven explorierte die Löcher der bisherigen musikalischen Sprache; Gebiete, die noch nicht von konventionellen Werten besetzt wurden und so eine romantische Idee der musikalischen Autonomie ermöglichten – logischerweise war sie schliesslich eine bürgerliche Idee. Die Bruchstellen der Musik, mit den Beethoven seine Musik dramatisierte, bekamen eine entscheidende Beduetung und die sich ausbreitende musikalische Abstraktion war nicht nur erlaubt, sondern konnte im Rahmen eines emanzipatorischen Projekts – als Ausdruck universeller (bürgerlicher) Werten, die nicht länger das Privileg einer bestimmten sozialen Klasse waren – interpretiert und bewertet werden. Die von ETA Hoffmann verherrlichte Instrumentalmusik Beethovens ist das klassische Beispiel einer solchen Bewertung. Aber als der Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts die Musik ermöglichte, emanzipatorische Ziele nachzustreben, entstand ein merkwürdiges Verhältnis zwischen dem bürgerlichen Publikum und der Musik, das gekennzeichnet wurde von einem Kultus, der Musik als eine Kunstreligion verehrte. Dieser Kultus erreichte erst mit Wagner einen Höhepunkt – war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts noch das Zeitalter Beethovens und Rossinis, so war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jeder Komponist, ob Freund oder Feind, fast gezwungen, sich mit der Musik Wagners auseinanderzusetzen. En masse übergab das bürgerliche Publikum der Musik Wagners seine emanzipatorische Kraft, da diese Musik anscheinend diese Emanzipation am besten Ausdruck verleihen konnte. Der Rausch, den die Rezipienten erfuhren, und die höhere Wahrheit, welche sie dieser Musik zusprachen, führte schliesslich zur Annahme der von Wagner eingeführte Konzertpraxis, die die Löschung des Lichtes im Saal forderte und versuchte, die ganze Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Es war nicht länger möglich (und nicht länger erwünscht) im Konzertsaal wie üblich miteinander zu reden und Karten zu spielen; der Saal änderte in einer Kirche mit streng vorgeschriebenen Verhaltensregeln. Die Bürgerei schien ihre emanzipatorischen Ziele bei der Garderobe abzugeben und in ihrem selbsterschaffenen Ritual, das heißt in ihrer eigenen Passivität zu beharren. Die Musikästhetiken, die wir in diesem Teil zusätzlich besprechen werden, haben gemeinsam, dass sie diese selbstgewählte Passivität zutiefst verurteilen. In seinem einflußreichen Werk Vom MusikalischSchönen (1854) beschrieb Eduard Hanslick (1825-1904) das Verhalten dieses Publikums als pathologisch und verhöhnte ihre Attitüde als “ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und Bangen in klingendem Nichts… eine unmotivierte und darum desto eindringlichere Totalempfindung wird in Bausch und Bogen eingesaugt”16. Auch Vladimir Jankélévitch (1903-1985), ein bedeutender französischer Philosoph und Ästhetiker, verurteilte diese Passivität und sah sie als beschämend: “By means of massive irruptions, music takes up residence in our intimate self and seemingly elects to make its home there. The man inhabited and possessed by this intruder, the man robbed of a self, is no longer himself: he has become nothing more than a vibrating string, a sounding pipe. He trembles madly under the bow or the fingers of the instrumentalist; and just as Apollo fills the Pythia’s lungs, so the organ’s powerful voice and the harp’s 16 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen : ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Wiesbaden : Härtel, 197518, S. 121f. 8 gentle accents take possession of the listener. This process, at once irrational and shameful, takes place on the margins of truth, and thus borders more on magic than on empirical science”17 (Kursivdruck AA). Sowohl Hanslick wie Jankelevich wollen den Zuhörer zur Aktivität anregen: es ist erwünscht, dass die musikalische Aktivität auch eine aktive Teilnahme der Zuhörer motivieren sollte, statt einen Zustand der Selbstvergessenheit nachzustreben. Wir werden jetzt untersuchen, welche Art von Aktivität beide Ästhetiker nachstreben. Eduard Hanslick und die traditionelle Ästhetik Das Wort Ästhetik geht aus dem griechischen aisthesis hervor, einem Begriff, der sowohl Wahrnehmung als Empfindung bedeutet: “Als Wahrnehmung richtet sich die aisthesis auf die genuinen Sinnesqualitäten wie Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche. Sie dient deren Erkenntnis. Als Empfindung hingegen verfolgt sie eine Gefühlsperspektive. Sie bewertet Sinnenhaftes im Horizont von Lust und Unlust”18. Das Ziel der traditionellen Ästhetik ist die Betonung der Erkenntnis der Wahrnehmung gegenüber der Empfindung und ihre Gefühle der Lust und Unlust. Sie enthällt eine “elevatorische Imperativ”, die wie folgt formuliert werden kann: “Folge nicht nur der primär-vitalen Lust, sondern praktiziere auch die höhere, die eigentümlich ästhetische Lust eines reflexiven Wohlgefallens!”19. Die traditionelle Ästhetik – wir nennen sie traditionell, weil sie sich mit der traditionellen Ethik des Guten verbindet – verpflichtet den Menschen sich über den Mensch als ‘Lebewesen’ (als zweifüßliches Saugetier) zu erheben. Das ist nur möglich mit Hilfe einer Erkenntnis des Guten: “[A]nfänglich, als Empfindung, diente die aisthesis insgesamt vitalen Interessen. Sie diente dem Leben, dem Sich-am-Leben-erhalten und Überleben (zen, soteria) – nur noch nicht dem guten Leben (eu zen). […] So hat es beispielsweise Aristoteles beschrieben: die Tiere kennen nur das Nützliche und Schädliche, und dafür sind Lust und Schmerz ausreichende und verläßliche Indikatoren. Die Menschen aber kennen auch höhere Prädikate wie gut und schlecht, recht und unrecht, und diese erfordern mehr als sinnliche Gewißheit, sie verlangen die Fähigkeit der Reflexion und Kommunikation”20. Das Ziel ist also ein denkendes Wahnehmen, dass von subjektiven Empfindungen gesaubert ist; sie ist jetzt eine autonome Handlung und “richtet sich nun auf objektive Qualitäten, nicht mehr auf empfindungsgebundene Aspekte der Gegenstände”21. Aber sie ist trotzdem sinnvoll: die reflexive Erkenntnis der Wahrnehmung ersetzt in der traditionellen Ästhetik die Empfindung als Bewerter des “Sinnenhaften im Horizont von Lust und Unlust”. Anders gesagt: nicht länger soll die Lust oder die Unlust den Sinn der Erfahrung bestimmen, sondern die Erkenntnis der Wahrnehmung. Damit wird aber nicht gemeint, dass die Lust aus der Ästhetik verbannt wird – nur die Unlust. Die ästhetische Lust hat nichts mehr mit Empfindung zu tun, sondern ist eine zivilisierte, domestizierte Empfindung im Rahmen der reflexiven Wahrnehmung geworden: “Über dem Erdgeschoß der vitalsinnlichen Lust entsteht das piano nobile einer neuartigen Lust: der Lust eines rein reflexiven Wohlgefallens oder Mißfallens. Dies ist die Geburtstätte des spezifisch ästhetischen Sinns: des Geschmacks”22. Kant stellt dieses “Reflexionsgeschmack” über das “Sinnengeschmack”23. Die Liebe für Musik geht sozusagen nicht durch den Unterbauch, sondern durch den Kopf – und diese Liebe schenkt den Rezipient eine eigentümliche Befriedigung, eine sanfte, ausgeglichene, “gute” Lust. Eduard Hanslick folgt dasselbe Ziel wie die traditionelle Ästhetik. Er kehrt sich gegen die romantische Gefühlsästhetik: gegen das Publikum, das die Empfindungen betont, und gegen die Komponisten seiner Zeit, die diese einseitig sinnliche Weise der Wahrnehmung stimulieren, wie “Liszts Programm-Symphonien […], welche vollständiger, als es bisher gelungen ist, die selbständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben”24, und “Richard Wagners ‘Tristan’, ‘Nibelungenring’ und seine Lehre von der unendlichen Melodie’, d.h. die zum Prinzip erhobene Formlosigkeit, den gesungenen und gegeigten Opiumrausch, für dessen Kultus ja in Bayreuth ein eigener 17 Jankélévitch, Vladimir: Music and the ineffable. Princeton [u.a.] : Princeton Univ. Press, 2003, S.1. Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart : Reclam 1996 (Universal-Bibliothek ; 9612), S. 109. 19 Idem, S. 112. 20 Idem, S. 113. 21 Idem, S. 110. 22 Idem, S. 112. 23 Kant in idem, S. 112. 24 Hanslick, S. VII. 18 9 Tempel eröffnet worden ist”25. Hanslick befürwortet dagegen eine Wahrnehmung des “reinen Schauens”26, ein “Schauen mit Verstand”27. Nur auf dieser Weise wäre die spezifische musikalische Erfahrung, die Erfahrung des Schönen, möglich. Dazu solle man nicht mit dem Gefühl wahrnehmen: “Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als die Tätigkeit des reinen Schauens”28. Für Hanslick ist die Wahrnehmung ursprünglicher als das Gefühl, das nur Wert hat, wenn es dem ästhetischen Gefallen dient: “Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Die Empfindung ist Anfang und Bedingung des ästhetischen Gefallens und bildet erst die Basis des Gefühls […]”29. Das Schöne ist also keine Zivilisierung der Empfindung: die Empfindung ist eine Abweichung der Originalzustand des Schönen. Das schöne Genießen ist, wie in der traditioneller Ästhetik, ein ausgeglichenes Genießen, das sich noch von der Empfindung, noch nur vom Verstand leiten läßt: “Ausschließliche Betätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich gerade pathologisch”30. Die richtige Weise der Wahrnehmung nennt Hanslick “geistig”; sie verspricht dem Rezipient einen sinnvollen Kunstgenuss, aber ohne Unlust: “Wir setzen [den] pathologischen Ergriffenwerden das bewußte reine Anschauen eines Tonwerks entgegen. Diese kontemplative [Anschauung] ist die einzig künstlerische, wahre Form des Hörens, ihr gegenüber fällt der rohe Affekt des Wilden und der schwärmende des Musik-Enthusiasten in Eine Klasse. Dem Schönen entspricht ein Genießen, kein Erleiden, wie ja das Wort ‘Kunstgenuß’ sinnig ausdrückt. […] Freudigen Geistes, in affektlosem, doch innig-hingebendem Genießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen und feiner erkennend, was Schelling so schön ‘die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen’ nennt. Dieses Sich-Erfreuen mit wachem Geiste ist die würdigste, heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu hören”31. Hanslick behauptet in Vom Musikalisch-Schönen nicht nur, die Gefühlsästhetik sei wissenschaftlich unmöglich – weil in der Musik bestimmte Gefühle nicht kausal mit bestimmten musikalischen Wendungen verbunden sind, kann eine solche Analyse nicht objektiv sein – sondern es darf klar sein, dass sie auch ethisch unerwünscht ist. An Hand der Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von Friedrich Schiller können wir zwei wichtige Kennzeichnen dieser ästhetischen Position beschreiben sowie die Weise, wie Schiller diese Kennzeichen zum Äußersten durchführt – bis sie, wie Wolfgang Welsch kritisch bemerkt, zu “Absolutismen” werden32. Die elevatorische Imperativ der traditionellen Ästhetik führt zu zwei Konsequenzen. Die erste ist die Bedeutung der Formen. Wenn der Mensch sich wirklich über die Natur erheben will, soll er diese Wirklichkeit in seinen eigenen Formen fassen: er soll, laut Schiller, “den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen”. Das “eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters” besteht darin, “daß er den Stoff durch die Form vertilgt”33, damit sich alles “durch Formarbeit in einem humanen Bestand verwandeln” kann. Bei Hanslick spielt die Formarbeit in der Musik eine entscheidene Rolle. Das musikalische Werk sei die Verkörperung dieser Formarbeit; es seien nicht die Gefühle, die Seelesgeschichte und die Leidenschaften des Komponisten, die den Inhalt der Musik bestimmen: ”Ein unbestimmtes Fühlen als solches ist kein Inhalt, soll eine Kunst sich dessen bemächtigen, so kommt alles darauf an, wie es geformt wird”34. Die Formen sind also selbst der Inhalt: “Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen”35. Wie gesagt sind die schönen Formen laut Hanslick ursprünglicher als das Gefühl. Die Formen seien nämlich abhängig von einem “Naturgesetz”, eine “primitive, geheimnisvolle Macht”36, die Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung ist. Die Betonung dieses Naturgesetzes ermöglicht Hanslick, einen zwingenden Zusammenhang zwischen den musikalischen Elementen zu postulieren: “Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in 25 Hanslick, S. VII. Idem, S. 7. 27 Idem, S. 8. 28 Idem, S. 7. 29 Idem, S. 7. 30 Idem, S. 8. 31 Idem, S. 132. 32 Welsch 1996, S. 118. 33 Schiller in idem, S. 119. 34 Hanslick, S. 44. 35 Hanslick, S. 59. 36 Idem, S. 86. 26 10 geheimen, auf Naturgesetze gegründenten Verbindungen und Wahlverwandtschaften”37. So ist das “Urelement” der Musik “Wohllaut”, das “Wesen” der Musik den Rhythmus und die “Grundgestalt” die Melodie38. Wenn der Rezipient den tönend bewegten Formen der Musik folgt, erfährt er die “negative, innere Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze innewohnt”. Nur die Angleichung von natürlicher und menschlicher Vernünftigkeit ermöglicht uns, eine “Fähigkeit zur Aufnahme positiven Schönheitsgehalts”39 zu entwickeln. Obwohl Hanslick die innere Vernünftigkeit – oder Zweckmäßigkeit (Kant) – eines schönen Kunstwerks als Naturgesetz betrachtet, sind diese Gesetzen insofern “unnatürlich”, da sie gerade menschliche FormKriterien sind für das Schöne – der Begriff der Natur bei Hanslick, so behaupten wir, ist schon vom Menschenhand geformt worden. Es soll die Idee der Autonomie – der inneren Vernünftigkeit, der Zweckmäßigkeit ohne Zweck (Kant) – legitimieren, welche eine harmonische Beziehung zwischen Teil und Ganzes betont: “Jede Kunsttätigkeit besteht […] im Individualisieren, in dem Prägen des Bestimmten aus dem Unbestimmten, des Besondern aus dem Allgemeinen”40. Das Ganze des Werkes wird laut Hanslick bestimmt vom Hauptthema: “[V]on diesem Hauptthema ausgehend und sich stets darauf beziehend, [stellt er] es im allen seinen Beziehungen [dar]”41. Ein schönes Werk funktioniere wie ein Organismus 42und erwecke den Eindruck, dass der Wissenschaftler sich fragen muss, “warum das Werk gefällt und weshalb gerade in dieser und keiner anderen Weise” 43 und beweisen muss, dass ”dieser Melodie mit dieser Harmonie zugleich erdacht werden [mußte], mit diesen Rhythmus und dieser Klanggestaltung”44. Die Zweckmäßigkeit des Schönen grenzt schliesslich an Determinismus und die Erfahrung der Musik als eine Einheit. Hanslick beschreibt den talentierten Komponisten wie folgt: seine Arbeit ist “die Subsumierung der spezifisch musikalischen Eigen- / schaften unter allgemeine ästheische Kategorien und dieser unter Ein oberstes Prinzip […] Der Geist ist Eins und die musikalische Erfindung eines Künstlers gleichfalls. Melodie und Harmonie eines Themas entspringen zugleich in einer Rüstung aus dem Haupt des Tondichters”45. Es ist die Aufgabe des Rezipienten, diese Zweckmäßigkeit zu folgen, als Ausdruck der Geistigkeit des Werkes. Diese Aktivität ermöglicht eine schöne Erfahrung und bewirkt eine “geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den Absichten des Komponisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen Vermutungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden”46. Das Schöne ist jedoch nicht nur eine Erfahrung des Schönen: das Werk ist auch schön, wenn niemand es erfährt: “Als Schöpfung eines denkenden und fühlenden Geistes hat demnach eine musikalische Komposition in hohem Grade die Fähigkeit, selbst geist- und gefühlvoll zu sein”47. Es hat sozusagen die Potenz, schön zu wirken, muss aber nicht erfahren werden, um tatsächlich schön zu sein: “Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird, also zwar nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjekts, aber nicht durch dasselbe”48. Diese Auffassung illustriert für uns den Versuch des Ästhetikers, die Macht über die Musik zu erhalten. Nicht nur formt er das Chaos (und den Naturbegriff) nach seinen eigenen Gesetzen, so wie Schiller es befürwortete, sondern ist imstande, das Gefühl zu hintergehen, indem er betont, man müsse die Musik gar erst nicht spielen. Die Praxis der “autonomen” Musikanalyse schafft also eine Möglichkeit, einen klaren Kopf zu behalten gegen die Macht der Musik. Die Zivilisierung der Wahrnehmung durch Formarbeit läuft laut Welsch das Risiko, die Ästhetik zu “einem Spiel des Subjekts bei geschlossenen Türen” 49zu reduzieren. Seine Kritik lautet, dass letztendlich nur ein vernünftiges Werk als sinnvoll bewertet wird, aber “keine Vorgegebenheit, keine Exteriorität, keine Widerständigkeit, keine Andersheit wird anerkannt, geachtet, gewahrt. Für Ästhetiken dieses Typs ist von ihrem Ansatz her dergelichen wie Mimesis, Hingabe an das Material, Erfahrung eines Verändertwerdens, Aufbrechung des Panzers der Subjektivität ausgeschlossen”50. 37 Idem, S. 64. Idem, S. 58. 39 Idem, S. 65. 40 Idem, S. 44f. 41 Idem, S. 66. 42 Idem, S. 70. 43 Idem, S. 11. 44 Idem, S. 72. 45 Idem, S. 70f. 46 Idem, S. 133. 47 Idem, S. 65. 48 Idem, S. 5. 49 Welsch 1996, S. 119. 50 Welsch 1996, S. 119 38 11 Die zweite Konsequenz der traditionellen Ästhetik ist die Souveräniteitsanspruch dieser Ästhetik. Schiller behauptet, dass nur die Ästhetik als die wahre “Lebenskunst” gilt und nur sie wirklich etwas ändern kann, im Gegensatz zu einer politischen Lösung wie die (mißlungene) franzözische Revolution. Diese Idee lebte im deutschen Idealismus (vielleicht aufgrund der politischen und militärischen Unmacht der deutschen Staaten während dieser Zeit). Im Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, mit dem jungen Hegel als wichtigste Koautor, wurde verkündet: “Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muss eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie”51. Es ist klar, dass damit “die modern mit [der Ästhetik] konkurrierenden Instanzen – Wissenschaft und Moral – […] von ihr systematisch degradiert [werden]”52. Welsch nannte das Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus ein Projekt, “[daß mit] einer Ethik beginnt, um mit der ästhetischen Absorption des Ethischen wie des Kognitiven zu enden”53. Die ästhetische Erhebung des Menschen ist nicht nur ein Prinzip, sondern ist auch unmittelbar vom Subjekt ausführbar, unabhängig (autonom) von der politischen Situation oder der sozialethischen Regeln und Verboten: das elevatorische Prinzip ermöglicht eine elevatorische Attitüde als unmittelbare subjektive Aktivität. Die ästhetische Haltung besitzt dank seiner Performativität eine transformative Kraft, und ein ästhetisches Subjekt kann das Chaos der Welt auf jedem Moment zu seinen eigenen Gesetzen formen. Es ist gerade diese Immanenz der ästhetischen Haltung, die Hanslick betont: “Ohne geistige Tätigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß. Der Musik aber ist diese Form von Geistestätigkeit darum vorzüglich eigen, weil ihre Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen, sondern sich suksessiv am Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein, ein beliebiges Verweilen und Unterbrechen zulassendes Betrachten, sondern ein in schärfster Wachsamkeit unermüdliches Begleiten fordern”54. Wir betonen, dass es also zu einfach wäre, Hanslick als bloßer Formalist darzustellen, der nur die Wichtigkeit des vernünftigen Kunstwerks betont; er hebt gerade die performative Kraft der musikalischen Erfahrung hervor – und ihre Einzigartigkeit bezüglich der anderen Künste. Der Immanenz der geistigen Wahrnehmung des Schönen setzt er die Transzedenz der Gefühlsästhetik gegenüber: “Unsere Ansicht über den Sitz des Geistes und Gefühls einer Komposition ver-/ hält sich zu der gewöhnlichen Meinung wie die Begriffe Immanenz und Transcedenz55“. Laut Hanslick kann die Musik keine transzedenten Ideen oder moralischen Werte ausdrucken56, sie drückt aber die Bewegung selbst aus: “welches Moment dieser Ideen ist’s denn also, dessen die Musik sich in der Tat so wirksam zu bemächtigen weiß? Es ist die Bewegung (natürlich in dem weiteren Sinne, der auch das Anschwellen und Abschwächen des einzelnen Tones oder Akkordes als ‘Bewegung’ auffaßt)”57. Es sind schliesslich die tönend bewegte Formen, die eine schöne Erfahrung ermöglichen. Der ästhetische Mensch läßt sich nicht länger von großen Ideen und Leidschaften überwältigen – er ist jetzt selbser ein aktiver Teilnehmer geworden, der performativ die Welt nach seinen Prinzipien gestaltet ohne ein Gefühl von menschlicher Unmacht – anders gesagt: die (politische, transzedentale) Enttäuchung wird hintergangen und die Unlust beseitigt von der musikalischen Bewegung der schönen Formen, die wir unserer geistigen Aufmerksamkeit widmen. Nur durch unsere kontrollierte, geformte und formende Wahrnehmung schaffen wir Gutes – dies schliesslich ist das elevatorische Prinzip der traditionellen Ästhetik, das auch von Hanslick betont wird. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich u.a., “Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus”. In: Jamme, Christoph; Schneider, Helmut (hrsg.): ”Mythologie der Vernunft. Hegels ‘ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus. Frankfurt aM: Suhrkamp 1984, S.12. 52 Welsch 1996, S. 120. 53 Idem, S. 120. 54 Hanslick, S. 133. 55 Idem, S. 56. 56 Vgl. Hanslick, S. 36. 57 Idem, S. 27. 51 12 Jankélévitch und das Beinahe-Nichts Vladimir Jankélévitch (1903-1985) war ein franzözischer Philosoph und Ästhetiker, der außerhalb Frankreichs relativ unbekannt geblieben ist. Seine Ästhetik dient in dieser Arbeit als Gegengewicht zur traditionellen Ästhetik. Seine Denkart stimmt großenteils mit der Morton Feldmans überein. Wir müssen dabei betonen, dass es keine direkte Beziehung zwischen Feldman und den Schriften des Jankélévitch gibt. Das Denken des franzözischen Philosophen wird hier als eine Denkart analysiert, deren Struktur häufig im abendländischen Denken auftaucht und sich auf einen fundamentellen Punkt vom Ansatzpunkt der traditionellen Ästhetik unterscheidet. Wir werden versuchen, das Muster dieser ästhetischen Struktur zu erklären. Jankélévitch verurteilt, wie Hanslick, alle Musik, die einen ekstatischen Selbstverlust nachstrebt. Er beschreibt dazu Nietzsches Kritik an der Musik Wagners: laut Nietzsche ist seine Musik “a sterile malaise that enervates and smothers conscience: as lullaby, putting it to sleep, as elegy, making it soft” 58. Die Erklärung Nietzsches für den Grund, warum Rezipienten diese Extase nachtstreben wollen, beschreibt Jankélévitch wie folgt: “[I]n music in general Nietzsche sees the means of expression of nondialectical consiences and of apolitical peoples. The former, in love with twilight dreams, with inexplicable thoughts and reverie, sink gratefully into the swamp of solitude; the latter, reduced to inaction and boredom by autocracy, take refuge in the inoffensive compensations and the consolations of music. Music, the decadent art, is the bad conscience of an introverted populace, which finds a substitute for their need to take civic action in works that are merely instrumental or vocal”59. Wir erkennen in dieser Kritik, neben der Kritik Hanslicks an der Schwärmerei der Wagner- und Listzt-Rezipienten, auch die politische Enttäuschung, die vielleicht das Gewicht des Idealismus und ihre ästhetische Attitüde erklären dürfte. Eine elegische Musik ist geeignet für die Weiterführung einer inaktive Attitüde der Schwärmer und Enttäuschten: “Music does not allow the discursive, reciprocal communiction of meaning but rather an immediate and ineffable communication; and this can only take place in the penumbra of melancholia, unilaterally, from hypnotist to the hypnotized”60. Er beschreibt, wie Nietzsche sich deswegen von Wagner abkehrte und in Dem Fall Wagner Bizet (oder genau gesagt: das Schöne) vorzog: “[H]e famously saw in Bizet’s music a means of detoxification, music able to restore joy, cleanliness, and virility to the mind”61. Wie Hanslick behauptet auch Jankélévitch, dass eine metaphysische Annäherung der Musik zu kurz greift: “The metaphysics of music is not constructed without recourse to many analogies and metaphorical transpositions”62. Ein Beispiel ist die Behauptung, dass “the polarity of major and minor corresponds to that of the two great ‘ethoi’ of subjective mood, serenity and depression […] By such means, the philosophy of music reduces itself in part to a metaphorical psychology of desire” 63. Aber Jankélévitch kritisiert auch räumliche Analogien in der Musik: “When music is involved, the graphical and spatial transcription of sound successions greatly facilitates this extensions of the psychological drama. Melodic lines ascend and descend – on staff paper, but not in the world of sound, which has neither ‘up’ or ‘down’ […] The realm of supersensible music itself […] ends by appearing to be situated ‘beyond’ the most stratospheric high regions of audible music; the ultraphysics of the metamusical thus takes on a naively topographical sense”64. Jankélévitch attackiert nicht nur die psychologische Interpretation der tönend bewegten Formen, sondern behauptet auch, dass eine Betonung der Bewegungen der Formen selbst “naively topographical” sei. Im Gegensatz zu Hanslick weist Jankélévitch eine auf Naturgesetze stützenden innere Zweckmäßigkeit des musikalischen Werkes zurück. Laut ihn kennzeichnet die Musik sich gerade durch “its absence of any systematic unity”. Die Essenz der Musik ist “less the rational synthesis of opposites than the irrational symbiosis of the heterogeneous […] Music, like movement or duration, is a continuous miracle that with every step accomplishes the impossible”65.Wir erinnern uns, dass die tönend bewegten Formen bei 58 Jankelevitch, Music and the Ineffable, S. 8. Idem, S. 8. 60 Idem, S. 9. 61 Idem, S. 9. 62 Idem, S. 13. 63 Idem, S. 13. 64 Idem, S. 13f. 65 Idem, S. 18f. 59 13 Hanslick innerhalb einer dialektischen Beziehung funktionieren, von Teil und Ganzen, aber auch von Erwartung und Täuschung: “Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den Absichten des Komponisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen Vermutungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden”66 (Kursivdruck AA). Eine schöne Art der Täuschung reißt uns nicht vom Hocker, sondern ist noch immer eine Abweichung innerhalb des geformten Werkes – wie eine rhetorische These und seine Antithese wechseln sie einander ab und reizen den “musikalischen Sinn […], [den] immer neue symmetrische Bildungen [verlangt]”67. Jankélévitch agiert jedoch gegen die Idee einer geschlossenen Struktur der menschlichen Formen: “The sounding material does not simply tag along after the human mind and is not just something at the disposition of our whims. It is recalcitrant. Sometimes it refuses to take us where we would like to go”68. Der Inhalt der Musik befindet sich also nicht ganz in (die immamente Begleitung ihrer) Formen, wie Hanslick behauptet, sondern “[the] musical language in general suggests […] a meaning that it was not specifically our intention to communicate. Far from being amenable to the winds of our desire, this servant of intention will make use of its own master”69. Diese Täuschung der Struktur ist nicht länger angenehm, sonder widerspenstig – und da sie nicht unter unserer Kontrolle fällt, wäre unsere Erfahrung der Musik nicht länger die einer “ästhetischen Lust des reflexiven Wohlgefallens”70, sondern schafft die Widerspenstigkeit der Musik wieder Raum für eine “anti-ästhetischen” Unlust. Es ist weder die angenehme Lust der traditionellen Ästhetik, noch ein Untergehen in einer schwärmischen Lust oder einer Unlust der Enttäuschung, sondern diese bestimmte “Unlust”, die laut Jankélévitch den Sinn der musikalischen Erfahrung ausmacht: es ist die mysteriöse Erfahrung des Beinahe-Nichts. Jankélévitch reicht uns in seinem Absatz Das ‘Beinahe-Nichts ein musikalisches Beispiel an, die diese Erfahrung für uns verdeutlichen kann: “[U]m eine Metapher zu riskieren in einem Bereich, in dem man nicht umhin kann, es häufig zu tun (denn man weiß nicht, wovon man spricht) – man könnte das Pianissimo am Ende eines Crescendo oder am Anfang eines Crescendo, wenn der Ton anschwillt oder abschwillt, sich steigert oder abnimmt – und das ist hier die nebelhafte Welt des Zwischenraums und der genetistischen Approximation – einem Pianissimo des Mysteriums gegenüberstellen, das tatsächlich auf der Schwelle zum Schweigen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine akustische Differenz zwischen dem Pianissimo von Debussy und dem skalaren Pianissimo gibt, doch sicher ist, daß uns Debussy eine geheimnisvolle Botschaft übermittelt: Da nun einmal das Pianissimo nicht als die letzte Stufe, als der äußerste Ausdruck eines Decrescendo wahrgenommen wird und ebensowenig als der minimale Beginn eines Crescendo, sondern als die Schwelle zu etwas anderem, kündigt es wahrhaftig das Jenseits der Übernatur, das heißt das Mysterium an. Es ist ein Pianissimo, dem man sich sogleich widmet, selbst wenn es am Beginn eines Aufstiegs zum Licht steht, wie zum Beispiel in La Mer von Debussy”71. Jankélévitch behauptet, dass das pianissimo von Debussy eine Erfahrung ermöglicht, die keine direkte Beziehung zur Dynamik hat: sie ist laut Jankélévitch nicht “skalar” und also nicht nur durch ein willkürliches Pianissimo zu erreichen oder von einem bloßen Decrescendo anzunähern – Jankélévitch weist eine solche Annährung, eine “genetistische Approximation” des Beinahe-Nichts ab. Die bestimmte Erfahrung des Beinahe-Nichts hat offenbar einen anempirischen Komponenten: Jankélévitch schreibt, dass er zweifelt, ob es überhaupt “eine akustische Differenz zwischen dem Pianissimo von Debussy und dem skalaren Pianissimo gibt”. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen dem musikalische Material und dem Effekt desselben – hierin unterscheidet sich das Pianissimo des Beinahe-Nichts vom piano nobile der traditionellen Ästhetik. Ein ähnlicher Bruch zwischen empirische Wahrmehmung und Erfahrung haben wir schon in Feldmans Marginal Intersection beobachtet. Zur Erinnerung: hier war der angeblich empirische (hörbare, fühlbare) Klang der schweigenden Oszillatoren schliesslich ermöglicht durch eine phyiologische Illusion: die Selbsterfahrung wurde mit dem antizipierten Klang der Oszillatoren verwechselt – wie auch Cage im anechoischen Raum keine Geräsuche von außen hörte, sondern sichselber. Es ist die Stille, das Schweigen der Oszillatoren sowie das Pianissimo Debussys, das “auf der Schwelle zum Schweigen ist […], die Schwelle zu etwas anderem”, die diese phänomenale Selbsterfahrung ermöglicht. 66 Hanslick, S. 133. Idem, S. 84. 68 Jankelevitch, S. 28. 69 Idem, S. 28. 70 Welsch 1996, S. 112. 71 Jankélévitch, Vladimir, “Das ‘Beinahe-Nichts’ ”. In: Jankélévitch, Vladimir; Konersmann, Ralf (hrsg.): Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt aM. : Suhrkamp 2003, S. 167f. 67 14 Wir haben aber vorher festgestellt, dass Feldman diese Erfahrung als mysteriöse “vibes” und “shadows” beschrieben hat. Auch Jankélévitch sieht diese Erfahrung als eine mysteriöse Erfahrung: er bezeichnet es als die Erfahrung eines Beinahe-Nichts, die er eine “konkrete Erfahrung” nennt72, oder eine Erfahrung eines Quods: “Dieses Je-ne-sais-quoi ist eine Grenze, die wir nicht erfassen können, die jedoch paradoxerweise im privilegierten Augenblick der reinen Quoddität [quoddité] erlebt werden muß, das heißt in der Effektivität des reinen Unvermuteten, unabhängig von der Zeit, vom Raum und sogar von der Position in der Zeit und im Raum”73 Diese Erfahrung des Beinahe-Nichts taucht laut Jankélévitch auf in einem Augenblick: ”[D]as Beinahe-Nichts [ist] […] ein Nichts an Dauer. Das Beinahe-Nichts ist nur beinahe, weil es nicht dauert, und indem es einsetzt, beinahe nicht existiert! […] Das BN ist einzig ein Nichts an Dauer, doch dieses Nichts wird im Bruch des Augenblicks erfahren”74. Der Begriff des Augenblicks erweckt anscheinend den Eindruck, dass er einen Punkt in der Zeit ist, aber laut Jankélévitch existiert ein Augenblick nicht mal in der Zeit, in Gegensatz zum “Moment”. Der Moment “ist wohl Negation der Zeit, doch nicht der Position in der Zeit, da er ja das Datum festsetzt; der Moment negiert, wie der Punkt, den Raum; doch überdies negiert der Moment den Punkt, das heißt die Position im Raum, so wie er die Zeit und den Raum negiert; andererseits setzt er das Datum in der Zeit”75. Der Augenblick negiert jedoch schliesslich den Datum und entbehrt sogar einer empirischen Existenz: “[der Augenblick] negiert beinahe alles, er negiert alles außer … außer dem nicht greifbaren Geschehnis [fait], das zu erreichen unwägbar ist”76. Die Erfahrung des Augenblicks “ist keine Erfahrung im empirischen Sinn des Ausdrucks, denn sie läßt sich keine Zeit”77. Weil sie aber erfahrbar ist, spricht Jankélévitch von einer “anempirischen Empirie”78. Obwohl der Augenblick anscheinend nur Raum und Zeit negiert, betont Jankélévitch das Positive dieser Erfahrung: der Augenblick ist ein “Aufblitzen” von “Energie”79, eine “Virtualität”80, die diese Erfahrung sinnvoll macht. Das endliche menschliche Leben wäre nur ein Intervall innerhalb der alltäglichen Zeit und Raum, “wäre wie nichts, wenn es nicht den virtuellen Augenblick in seiner Masse gäbe…[man] entdeckt in der Masse des Intervalls ein Gewimmel von virtuellen Augenblicken, die sich unendlich aktualisieren können und die demnach wie mikroskopische, in der Fortdauer eingeschlossene Energiezentren sind; das Werden an sich wird nur durch diese Milliarden von unbemerkt vorübergehenden Brüchen, die der Kontinuität zur Dauer verhelfen”81. Nicht eine Erfahrung einer inneren Vernünftigkeit, sondern die Erfahrung der Brüchigkeit dieser Vernünftigkeit führt zu einer sinnvollen Erfahrung. Die Erfahrung des Augenblicks ist dabei keine Erfahrung eines jenseitigen “Nichts”, aber eine immanente Anwesenheit an der Schwelle des Nichts. Sie ist sozusagen beinahe eine Erfahrung eines Nichts, das die empirische Welt virtualisiert: “Es ist diese gefangene Energie, die das Werden werden läßt und die Dauer zum Abschluß bringt; ihretwegen wird Dasselbe ein Anderes. Die Augenblicke sind wie die innere Lüftung, welche die Dauer porös macht und ihr zu atmen erlaubt”82. Anläßlich der Ästhetik Jankélévitchs werden wir erstens das Konzept des Beinahe-Nichts näher untersuchen. Inwiefern kann die Ästhetik Jankélévitchs die magische Stille der schweigenden Oszillatoren erklären anhand der Erfahrung des Beinahe-Nichts? Und (inwiefern) haben wir es laut Jankélévitch mit einer empirischen Erfahrung zu tun? – Wir haben nämlich bei Feldmans Beschreibung der Tanzaufführung Sybil Shearers festgestellt, dass Feldman die Erfahrung als empirisch beschreibt, aber später diese Erfahrung mystifiziert und als anempirisch (als “vibes” und “shadows” ) beschreibt. Wie löst Jankélévitch also dieses Problem der brüchigen Verbindung zwischen empirische Erfahrung und sinnvoller Erfahrung? Zweitens werden wir untersuchen, wie oder inwiefern die Ästhetik Jankélévitchs die Aktivität des Subjektes bevorzügt. In der traditionellen Ästhetik wurde die Aktivität des Subjekts, wie wir beschrieben haben, mit dem formlichen begleitenden Wahrnehmen des Subjekts und der inneren Zweckmäßigkeit des Werkes verbunden – aber kann ein Subjekt, der sich mit einem widerspenstigen Beinahe-Nichts Jankélévitch, Vladimir, “Das ‘Beinahe-Nichts’ ”. In: Jankélévitch, Vladimir; Konersmann, Ralf (hrsg.): Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt aM. : Suhrkamp 2003, S. 161. 73 Idem, S. 174. 74 Idem, S. 173. 75 Idem, S. 173. 76 Idem, S. 173f. 77 Idem, S. 183. 78 Idem, S. 183. 79 Idem, S. 174. 80 Idem, S. 175. 81 Idem, S. 176. 82 Idem, S. 177. 72 15 konfrontiert sieht und deshalbe keine völlige Kontrolle über seine eigene Erfahrung hat, noch aktiv sein? Ist das ästhetische Subjekt bei Jankélévitch nicht zu einer passiven Haltung gezwungen im Bezug auf den außerempirischen Augenblick, der sich seiner Kontrolle (und, so mann will, seine Autonomie und seine Freiheit) entzieht? Für die Beantwortung der ersten Frage ist es einleuchtend, die Hauptpunkte des Kapitels Music and Silence aus Jankélévitchs musikästhetischen Werk Music and the Ineffable zu besprechen, in dem er die möglichen Beziehungen zwischen Musik und Stille beschreibt. Zuerst versucht Jankélévitch die Beziehung zwischen Musik/Geräusch und Stille als eine einfache Dichotomie zu beschreiben. Die Stille wäre dann ein “Nichts”, von dem sich der lebendige Mensch zu unterscheiden versucht: “Noise […] is connected to human presence, which […] is a sigh barely audible in the eternal silence of infinite space. This presence, like civilization itself, must affirm and reaffirm itself withoud end, by constant vigilance and self defense, to resist the invasion of nothingness”83. Der Mensch (oder das Sein) sollte sich, laut dieser Dichotomie, vom Chaos (des Nichts) unterscheiden. Jankélévitch bevorzügt aber anscheinend ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Geräusch und Stille: “Noise is not suspended silence, but silence is noise that has ended, and the suspension of continuity. Previously, it was change itself – living, increasing diversity – that stood out from boredom’s uniform oceanography and that troubled a preexisting and subterranean continuousness. Silence was the backdrop suspended under Being. But now, it is noise that constitutes a sonorous foundation, suspended under silence”84. Nicht die Stille, sondern das ewige Geräusch, ein “perpetual din”85, formt das Fundament. Musik unterscheidet sich von diesem Geräusch, weil es eine bestimmte Art von Stille innehat: es ist offensichtlich, dass Jankélévitch seinen Begriff von Stille nicht bloß akustisch auffasst (also Stille als ein Nicht-existieren von Geräusch interpretiert), sondern mit der Erfahrung des Beinahe-Nichts verbindet. “As an interruption, a momentary lacuna that mars the noisy animation of Becoming, silence blossoms through voids that interrupt a perpetual din”86. Musik schafft Leerräume (voids) durch die die Stille “aufblühen” kann. “[S]ilence is no longer analogous to nothingness, or a source of anguish, but is a haven where contemplation co-exists with total quiet […] [S]ilence is no longer the limitless ocean or the unformed grayness of the infinite; rather, it delimits a well-circumscribed zone within the universal din”87. Die Beziehung zwischen Stille und Musik/Geräusch ist bei Jankélévitch also schwieriger als eine bloße dichotome Beziehung. Auch weicht sie ab von Cages Sichtweise auf dieser Beziehung, die wir schon in der Prelude besprochen haben: Cage verwirft die akustische Existenz der Stille und will das Subjekt sich von den Geräuschen des “perpetual din” bewußtmachen – die “divine influences” die wahrnehmbar werden, wenn man das urteilende Bewußtsein zum Schweigen bringt. Stille ist laut Jankélévitch eine energische Anwesenheit, ein “potential not being”88, die die Musik wirklich lebendig macht, es zum Atmen bringt: “[M]usic can only breathe when it has the oxygen of silence”89. Das Auftauchen der Stille funktioniert wie der Augenblick, der Jankélévitch bereits beschrieben hat: “Die Augenblicke sind wie die innere Lüftung, welche die Dauer porös macht und ihr zu atmen erlaubt”90. Es ist deutlich, dass die Stille bei Jankélévitch eine musikalische Übersetzung der Erfahrung des Beinahe-Nichts ist. Wie Jankélévitch selbst schreibt: “[S]ilence is […] a relative or partial nothingness […]” 91 Auf welcher Weise erfahren wir diese Stille (oder das Beinahe-Nichts)? Jankélévitch ist hier nicht eindeutig. So beschreibt er das Atmen der Stille als eine synästhetische Erfahrung: die Stille ist nicht hörbar, aber durchaus von den anderen menschlichen Sinnen erfahrbar: “[N]othingness is not the simultaneous negation of all qualities perceptible to the senses; rather, it excluedes only a single category of sensation, that of physiological hearing”92. Jankélévitch nennt vor allem eine Verbindung zwischen Ohr und Auge: “The most characteristic form of silence is silence brightly 83 Jankélévitch, Music and the Ineffable, S. 131. Idem, S. 134. 85 Idem, S. 135. 86 Idem, S. 135. 87 Idem, S. 135. 88 Idem, S. 137. 89 Idem, S. 136. 90 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 177. 91 Jankélévitch, Music and the Ineffable, S. 137 (Kursivdruck AA) 92 Idem, S. 138. 84 16 illuminated”93; “The silence of noon, which is the nonexistence of the auditory contrasted with a plenitude of optical existence, takes the paradox to its extreme”94. Aber trotzdem beschreibt Jankélévitch an anderer Stelle diese Erfahrung als eine auditive Erfahrung – “Human beings in a contemplative state can hear in silence”95 – , obwohl sie nicht empirisch ist: “It is silence that allows us to hear another voice, a voice speaking another language, a voice that comes from elsewhere”96. Auch spricht er vom “noise of silence” und eine “deafening silence”97. Und am Ende des Kapitels behauptet Jankélévitch, die Stille sei eine Selbsterfahrung: “[M]usic and the silence that envelops it are of this world. Yet if this enigmatic voice is not disclosing the secrets of the Beyond, it may nonetheless remind us of the mystery that we bear within ourselves”98. Wie Feldman hat auch Jankélévitch Mühe, eine kohärente Kausalität zwischen Erfahrung und Herfunkt derselben zu postulieren – und durch dieses Verfehlen kommt die Mystifizierung ins Spiel: die andere Stimme der Stille stammt von einem unbekannten, mysteriösen Ort… Das bringt uns zur Beantwortung der zweiten Frage: ist das Subjekt in der Ästhetik Jankélévitchs genauso unfrei und passiv wie das betäubte Subjekt der romantischen Musikästhetik, wenn es sich mit einer unerreichbaren Punkt konfrontiert sieht? Jankélévitch selbst beschreibt die Erfahrung des Augenblicks interessanterweise als aktiv: diese Erfahrung geschieht mithilfe der “Intuition”, die Jankélévitch als ein “Akt des Denkens” definiert99. Er vergleicht dieses Denken mit dem Begriff der Weisheit des Henri Bergson: “Irgendwo definiert Bergson die Weisheit als die Synthese von Denken und Handlung; in diesem Fall würden wir sagen, daß die Intuition eine Weisheit des augenblickshaften Bruchs ist, eine entstehend-sterbende Weisheit wie der Funke. Exoterisch erscheint die Intuition wie eine Unterbrechung oder Aussetzung des Denkens ; nun ist es aber das suspendierte Denken, das hier das tiefgründigste Denken ist, und dieser Gedanken-Blitz [pensée-éclair] ist überdies ein schneidender Akt, der gordische und gleichzeitig zutiefst zweideutige Akt, durch den derselbe Gedanke, der Gedanken-Funke [pensée-étincelle], zugleich geboren wird und stirbt”100. Wie die romantische Ästhetik sieht auch Jankélévitch ein Suspendieren des Denkens als tiefgründig und verbindet diese Tiefe mit einer Erfahrung eines Außen / Exoterischen. Bei Jankélévitch ist jedoch nicht die Rede von einem extatischen Versenkung in einer Einheit: die Erfahrung ist ein “zutiefst zweideutige Akt”, der schon verschwunden ist, wenn er auftaucht. Wir werden versuchen, diese Zweideutigkeit zu erklären. Wir erinnern uns, dass Nietzsche zwei typische romantischen Rezipienten unterschieden hat: die Schwärmer und die Enttäuschten. Diese zwei Typen sind tatsächlich zwei Seiten derselben Münze: für jeden Schwärmer ist der Rausch endlich und wird die imaginäre Einheit zerrissen. Entzückung und Enttäuschung folgen aufeinander. In unserer Enttäuschung können wir uns als machtlos empfinden (wie Schopenhauer) oder versuchen, eine andere Attitüde anzunehmen. Die Ästhetik des Schönen versucht dem unangenehmen Gefühl der Enttäuschung entweder eine “erhabene Gleichgültigkeit” oder eine ironische Haltung entgegenzutreten. Jankélévitch teilt den Vorzug der Ironie101, aber er wehrt die Unlust nicht ganz aus der Attitüde des Rezipienten. Er schreibt: “To seek silence is to seek a meta-empirical Beyond, a supersensory realm more essential by far than the realm occupied by existence […] This quest gets us ready – if not to recognize thruth, then at least to receive it. The chimera of the Beyond will survive all disappointment”. Es gibt auch hier kein Erkenntnis der “Wahrheit”, wir können sie nur empfangen – aber das reicht trotzdem zur Bekämpfung der Enttäuschung. Aber wie? Wir könnten Jankélévitchs Erfahrung des Beinahe-Nichts als eine Beschleunigung der aufeinanderfolgenden Entzückung und Enttäuschung betrachten: es gleicht ein romantisches prestissimo. Die Momenten der Entzückung und der Entäuschung folgen wie ein Blitz aufeinander: wenn wir erfassen wollen, was passiert ist, ist sie schon vorüber. Jankélévitch betont nämlich, dass das Beinahe-Nichts in dieser Welt erfahren wird und wir es aktiv wahrnehmen können – wie ein Blitz, der leuchtet und sofort wieder verschwindet. In der von Jankélévitch präsentierten intuitiven Erfahrung folgen diese Ereignisse so schnell aufeinander, mit Lichtgeschwindigkeit, dass man gar keine Zeit hat für Melancholie. Statt die 93 Idem, S. 138. Idem, S. 138, Kursivdruck AA. 95 Idem, S. 150. 96 Idem, S. 151. 97 Idem, S. 154. 98 Idem, S. 154. 99 Jankélévitch, Beinahe-Nicts, S.181. 100 Idem, S. 181. 101 Jankélévitch betont in Music and the Ineffable die Humor, die Haltung des understatements sowie der Leichtsinn (S. 4250 und 64-70). Auch in der idealistischen Ästhetik spielt die Haltung der Ironie eine bedeutende Rolle, z.B. bei Schlegel. 94 17 Entzückung und die Enttäuschung getrennt zu erfassen, als zwei Intervalle, ist der Augenblick des BeinaheNichts eine äußerste Verdichtung dieser Bewegung; sie formt fast eine (immer zweideutige) Einheit – der Augenblick setzt immerhin den Raum und die Zeit, also die Kausalität, außer Kraft. Die augenblickshaft erfaßte Quoddität erscheint im Gegensteil “wie ein Bankrott, der ein Erfolg ist: Mißerfolg, weil er ohne Morgen ist und sich nicht fortsetzen kann, außer für den, der den Engel spielt… ohne ein Engel zu sein. […] Schließlich ist das also der Optimismus unseres Pessimismus, die Kompensation der Hoffnungslosigkeit unserer Erwartung: Das verschwindende Erscheinen ist wohl ein Verschwinden, da es nun einmal alsbald am dunklen Himmel verlöscht, doch ich präge mir vor allen Dingen das Geschehnis ein, das es einmal ist, als das es eines Tages erschienen ist. […] Dieses Geschehnis ist das plötzliche Auftauchen, welches das Herz schlagen läßt und ohne welches weder das Leben noch das Werden ihr Aroma besäßen”102. Auf dieser Weise bleibt die Passivität, wie auch ein Funken der Enttäuschung des Subjekts, anwesend, aber wird eine aktive Haltung des Subjekts gewährt: er soll ständig diesen Funken nachjagen, um so bis zur Erfahrung dieses Beinahe-Nichts zu gelangen. Diese sich wiederholende Erfahrung des mysterium prestissimum ist laut Jankélévitch “der einzige metaphysische Erfolg, dem ein Mensch nachstreben kann”103– und das wird nur möglich, wenn man auf kluger Weise die Niederlage mit dem Sieg zusammenfallen läßt. Im nächsten Teil dieser Arbeit werden wir die Verbundenheit zwischen Jankélévitch und der Ästhetik Feldmans nachweisen. Feldman erklärt nämlich eine sehr ähnliche Erfahrung zur Ziel der Kunst. Anschließend werden wir die von Feldman geführter ästhetischer Debatte beschreiben, in der er vor allem die Ästhetik des Schönen angreift. In den letzten Teilen werden wir versuchen, die beschriebenen ästhetischen Alternativen auf unserer eigenen Weise zu beurteilen. 102 103 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 183f. Idem, S. 183. 18 Zweiter Teil Das Klingen des Anderen: Feldmans Konzept der abstrakten Erfahrung Der sound des Beinahe-Nichts In seinem Essay Sound – Noise – Varèse – Boulez underscheidet Feldman zwischen zwei Klangarten, die er sound und noise nennt. Damit ist nicht gemeint, Musik sei sound und noise sei Lärm. Der wichtigste Unterschied liegt für Feldman in der Wirkung dieser Klangarten. Noise bewirkt laut Feldman einen Wahrheitseffekt: “[I]t is noise that we really understand. It is only noise which we secretly want, because the greatest truth usually lies behind the greatest resistance […] It bores like granite into granite”104. Wenn wir noise hören, meinen wir, dass eine Wahrheit auf uns zukommt, aber sound bewirkt laut Feldman einen dämonischen Effekt, da wir diese Wirkung nicht mit einer greifbaren Wahrheit verbinden können: “It is unfortunate that when this sensuality [of sound, AA] is pursued we find that the world of music is not round, and that there do exist demonic vastnesses when this world leaves off”105 […] ”[S]ound is comprehensible in that it evokes a sentiment, though the sentiment itself may be incomprehensible and far reaching”106. Der Mensch denkt, laut Feldman, dass er noise versteht und kontrollieren kann, während sound ein “dämonisches” Rätsel aufwirft, das wir nicht lösen können. Feldman nennt die Musik Beethovens als Beispiel für noise – “[Noise] is physical, very exciting, and when organized it can have the impact and grandeur of Beethoven”107– währenddessen die Musik Edgar Varèses die Idee des sound verkörpert. Feldman sieht einen Streit zwischen den zwei Klangarten: “The struggle is between this sensuousness which is elegance [of sound] and the newer, easier to arrive at, excitement [of noise]”108. Das Zitat enthält anscheinend keinen direkten Vorzug für eine der Klangarten, aber auf indirekter Weise macht Feldman klar, dass er sound bevorzügt: er nennt noise nicht nur “einfacher zu erreichen”, sondern auch “neuer”. Mit dieser Bemerkung meint Feldman nicht, dass noise als Klangart historisch gesehen jünger wäre als sound – Feldman hat schon aufgemerkt, dass er die “ältere” Musik Beethovens mit noise verbindet und die “jüngere” Musik Varèses mit sound109. Wir können das Wort “newer” jedoch als “authentischer” übersetzen. Im Essay behauptet Feldman nämlich, die Klangart sound stehe den Mensch näher als noise, wenn er über die Wirkung der Musik Varèses erzählt: “And those moments when one loses control, and sound like crystals forms its own planes, and with a thrust, there is no sound, no tone, no sentiment, nothing left but the significance of our first breath – such is the music of Varèse. He alone has given us this elegance, this physical reality, this impression that the music is writing about mankind rather than being composed”110. Es ist wichtig zu erkennen, dass Feldman auf einer ähnlichen Weise von einem “first breath” spricht, wie Jankélévitch von einer Stille gesprochen hat, die die Musik “atmen” läßt. Nur wenn wir diese Denkart in Betracht ziehen, können wir den scheinbaren Widerspruch im Zitat erklären: Feldman schließt nämlich anscheinend sound aus (“no sound”), obwohl er die Musik Varèses “elegant” nennt – ein Begriff, der er im Essay mit sound verbindet. Der Begriff sound ist auch bei Feldman zweideutig, weil der Klang sich für die Stille öffnen muss, damit die Musik atmen kann. Nicht der direkte Wahrheitseffekt des noise, sondern die “dämonische” Wirkung des sound schenkt uns diese authentische Erfahrung. 104 Feldman 2000, S. 2. Idem, S. 1. 106 Idem, S. 2. 107 Idem, S. 1. 108 Idem, S. 1; Kursivdruck AA. 109 Feldman verbindet übrigens nicht nur Varèse und die Komponisten der “New York School” (John Cage, Christian Wolff und Earl Brown) mit sound, sondern auch “klassische” Komponisten wie Byrd, Mozart, Schubert, Debussy und Satie. 110 Idem, S. 2. 105 19 Die abstrakte Erfahrung Unsere Behauptung, dass Feldmans Begriff des sound und die Erfahrung der Stille des Beinahe-Nichts bei Jankélévitch relatiert sind, können wir anhand weiterer Zitaten Feldmans erklären. Feldman benutzt für die Erfahrung des Beinahe-Nichts einen anderen Begriff: er nennt sie die abstrakte Erfahrung (abstract experience). Die Abstraktion dieser Erfahrung ist nicht nur negativ bezogen auf “positiven” Begriffen wie Rationalität, Intentionalität und so weiter, aber sie hat eine positive Bedeutung wegen der einzigartigen Erfahrung, die sie hervorruft. Feldman betont den Wert dieses “Nichts”: “’Nothing’ is not a strange alternative in art. We are continually faced with it while working. In actual life, this experience hardly exists”111. Feldman beschreibt die abstrakte Erfahrung wie folgt: “The abstract in the sense I use the term has appeared in art all through the history of art – an emotion the philosophers have failed to categorize. To make it perfectly clear that it is this uncategorized emotion that I wish to describe, we had better call it the Abstract Experience”112. Feldman unterscheidet diese Erfahrung von der Phantasie (imagination): “[W]e must constantly separate [the abstract experience] from the imagination, or rather, that aspect of the imagination that is in the world of the fanciful. In my own work I feel the constant pull of ideas. On the one hand, there is the inconclusive abstract emotion. On the other, when you do something, you want to do it in a concrete, tangible way. There is a real fear of the abstract because one does not know its function. The imagination is so many things; it can go so many ways. The abstract, or rather the Abstract Experience, is only one thing – a unity that leaves one perpetually speculating. The imagination builds its speculative fantasy on known facts. Facts that have their basis in a very real, a very literary world. Even when it is irrational, it can be measured in terms of the rational – like Surrealism. The imagination provides answers without a metaphor. The Abstract Experience is a metaphor without an answer […] [T]he Abstract Experience reveals itself constantly as a unified emotion”113. Wir kennen den Begriff der Phantasie schon aus unserer Analyse der Musikästhetik Hanslicks; den Begriff interpretiert Feldman auf ähnlicher Weise, er verbindet die Phantasie mit dem fanciful . In gewisser Weise gleicht joedoch die Kritik Feldmans die Kritik Welsches, der warnte für ein ”Spiel des Subjekts bei geschlossenen Türen”114: auch Feldman behauptet, dass die Phantasie nur “known facts” erfasst: sie bleibt, mit anderen Worten, innerhalb der Grenzen einer Rationalität, einem selbstgewählten Gefängnis. In der Middelburg Lecture illustriert Feldman dieses Problem der Form der typischen niederländischen Wohnungen: “Holland ist es niemals in den Sinn gekommen, daß jemand einen Konzert-Steinway im Haus brauchen könnte. Können Sie sich vorstellen, in ein vier Fuß großes Zimmer zu gehen und einen neun Fuß großen Bechstein im Zimmer zu sehen? Was kann man in das Zimmer stellen? Das is Form […] Form ist eine Kontrolle, die einen auf einem bestimmten Typus von Lebensstil beschränkt, der von irgendjemandem nicht in Frage gestellt wird”115. Die Phantasie hat schon eine Antwort parat, hat in gewissen Weise ihre Mauern schon aufgezogen und die (Haus)Türe geschlossen, während die abstrakte Erfahrung eine Frage auslöst – obwohl sie als Einheit postuliert wird, ist sie laut Feldman “a unity that leaves one perpetually speculating”. Die Phantasie kann die abstrakte Erfahrung nicht erfassen, weil “the Abstract Experience cannot be represented”116. Sie fällt aus den Rahmen der Erkenntnis und kann nur empfunden werden. Feldman betont also die Empfindung als sinnvoll und nicht die Erkenntnis als “ästhetische Lust eines reflexiven Wohlgefallens”117: die abstrakte Erfahrung “is […] there – felt”118. 111 Idem, S. 37. Idem, S. 74f. 113 Idem, S. 75f. 114 Welsch 1996, S. 118. 115 Feldman, Middelburg Lecture 1986, S. 62. 116 Feldman 2000, S. 76. 117 Welsch 1996, S. 112. 118 Feldman 2000, S. 76. 112 20 Abstrakte Expression in der Malerei Feldmans Idee der abstrakten Erfahrung wurde beeinflusst vom Denken einer vielfarbigen Gruppe von Malern, die sich ab den 40. Jahren in New York niederlaß und die Name “Abstrakter Expressionismus” bekam. Feldman wurde 1949 von John Cage in diesem Künstlerkreis introduziert und traf sich seitdem häufiger mit Maler als mit Musiker – bis er 1972 Musikprofessor wurde und nach Buffalo zog. In seinen Essays schrieb er überwiegend über die Malerei; diese Essays erschienen gelegentlich in Musikzeitschiften, aber meistens in Kunstzeitschriften, wie zum Beispiel Kulchur, eine an den Autoren der Beat-Generation verbundene Zeitschrift. Die Name “abstrakte Expressionisten” erklärt einen wichtigen Punkt, der die Maler miteinander verband: gerade die Abstraktion wurde einer besonderen Expressivität zugesprochen. Weil diese Abstraktion Aufmerksamkeit erregen sollte, widersetzten die Maler sich gegen einer Überherrschung der Symbolen, Formarbeit, Systemen und anderen Weisen, die diese Erfahrung absperren könnten. Im allgemeinen können wir zwei Strömungen des abstrakten Expressionismus unterscheiden. Jede Richtung betont seine Weise, die die abstrakte Erfahrung aufscheinen läßt. Die erste Strömung wird häufig gesture painting genannt und wird gekennzeichnet von der Abwesentheit einer dreidimensionalen Raumordnung im Gemälde. Hierdurch verschwindet eine zwingende visuelle Zusammenhang der Elementen im Gemälde – ihre innere Vernünftigkeit. Das hat zur Folge, dass man nicht länger von einem eindeutigen Unterschied zwischen Vordergrund und Hintergrund sprechen kann. Ein berühmtes Beispiel ist das Werk des gesture painters Jackson Pollock (1912-1956), der in den späten 40. Jahren Furore machte mit seinen dripping paintings. Der “Vordergrund” dieser Gemälden besteht aus einem Durcheinander von auf der Leinwand getropften Farbe. Dieses Durcheinander enthält einen beispiellosen Maß an Bewegung (gestures), aber führt nicht zu einer integrativen Idee des Raums – es ist eher die Leinwand selbst, die als Hintergrund in Betracht kommt. Die Beziehung zwischen Vordergrund und Hintergrund ist schwierig integrierbar für das menschliche Auge; wir könnten glauben. die wimmelnde Bewegungen auf dem Vordergrund würden auf der Leinwand “schweben”. Und trotz alle Bewegung scheint einen undefinierbaren, statischen Raum diese Bewegungen auf ihren Platz zu halten. Die Werke Philip Guston, ein enger Vertraute Feldmans in den 60. Jahren, erzeugen einen ählichen Effekt. Die zweite Strömung wird color field painting genannt. Sie spielt wie die gesture painting ein ähnliches Spiel mit den räumlichen Parameter des Gemäldes, aber benutzt dazu eine andere Weise der Verwirring der Vorder- und Hintergrund: bestimmte Tiefe-Wirkungen, die mit Farben und Anstrichweisen erzeugt werden. Wie die gestures ist die Autonomisierung der Farbe eine Möglichkeit, Symbolen und Figurativität im Gemälde zu vermeiden. Der wichtigste color field painter avant la lettre war ungezweifelt Piet Mondrian (1872-1944), ein Künstler, den Feldman sehr schätzte. Seine bekanntesten Werke, die er in den 20. und 30. Jahren des vorigen Jahrhunderts malte, kennzeichnen sich durch einen weißen “Hintergrund”, der von schwarzen Linien in verschiedenen Rechtecken und Vierecken aufgeteilt ist; einigen von ihnen sind gefärbt. Das visuelle Resultat ist jedoch nicht zweidimensional, wie man meinen könnte: es gibt nämlich keinen weißen Gesamthintergrund. Die weiße Farbe wird auf verschiedenen Weisen gemalt. Durch verschiedene Anstrichtechniken erzeugt Mondrian Tiefewirkungen, die er pro Fläche abwechseln kann. Die Anschaaung eines Gemälde Mondrian erzeugt also keine zweidimensionale Wirkung, sondern schafft Tiefstellen im Gemälde, ohne dass man von einem räumlichen Hintergrund sprechen könnte. In den späten 60. Jahren war Feldman mit dem color field painter Mark Rothko (1903-1970) befreundet. Wie Mondrian hob auch Rothko die konventionelle Struktur des Raums auf mit Hilfe von Tiefewirkungen. Oft finden wir in seinen Gemälden zwei Rechtecken, die in keiner räumlichen Beziehung zueinanderstehen. Rothko schafft jedoch eine Tiefewirkung dieser Rechtecken. Ein Beispiel seiner Technik ist die drückende Wirkung, die er schwarze Fläche geben konnte. Laut Feldman ahmte Rothko mit dieser Tiefenwirkung Rembrandt nach: “I once went to the Metropolitan with Mark Rothko, and we’d look at a Rembrandt painting and the way Rembrandt bleeds to the edges. Take a look at Rothko, the way he bleeds to the edges”119. Das “Blüten” der schwarzen Farbe in den Gemälden Rothkos schafft eine Bewegung in einem anscheinend zweidimensionalen Gemälde. Beide Strömungen zielen auf einer paradoxaler Wirkung, die Feldman stasis nennt: aus Stillstand wird die Illusion der Bewegung bewirkt (wie bei der Tänzerin Sybil Shearer) oder umgekehrt wird aus Bewegung die Illusion des Stillstands bewirkt. So schafft das Wirren der Farbtropfen bei Pollock einen stationären, “non-dimensionalen” Hintergrund, während Mondrians anscheinend schlichte weiße Flächen das Auge des 119 Feldman, Morton; Zimmermann, Walter (hrsg.): Morton Feldman Essays. Kerpen : Beginner Press 1985, S. 190. 21 Betrachters keine Ruhe geben. Feldman erklärt den Wert des stasis für seinen Werk: “Stasis, as it is utilized in painting, is not traditionally part of the apparatus of music. Music can achieve aspects of immobility, or the illusion of it: the Magritte-like world Satie evokes, or the ‘floating sculpture’ of Varèse. The degrees of stasis, found in a Rothko or a Guston, were perhaps the most significant elements that I brought to my music from painting”120. Das Verfahren des stasis verwirrt nämlich die innere Vernünftigkeit eines Kunstwerks: stasis “[has] put the whole question of symmetry and asymmetry in abeyance”: ihre Wirkung ist der Beweis, dass “the sum of the parts does not equal the whole”121. Für Feldman und die abstrakten Expressionisten sind diese visuellen Effekte, die unsere Augen verwirren, mehr als eine sinnliche Erfahrung. Laut ihnen ist es zwar der Künstler, der dies Wirkung technisch nachstrebt, aber die Wirkung selbst ist nicht der direkte Effekt des künstlerischen Schaffens. Der Künstler hat als Aufgabe, das Beinahe-Nichts erscheinen zu lassen – deswegen erscheint seine Aktivität als ein Paradox. Jankélévitch umschrieb die Aktivität des genialen Künstlers als “ein Wort, das der Homo poeticus oder Homo faber an präexistente Wesenheiten richtet, um sie sich machen zu lassen”122. Es ist diese Suche, die die mannigfaltige Künstler des abstrakten Expressionismus verbindet: die Suche nach Möglichkeiten, das Abtrakte erscheinen zu lassen und erfahrbar zu machen, weil sie die einzig wirklich spekulative Erfahrung ist. Nur sie macht die Kunst letztendlich bedeutend und stimuliert Künstler, diese Erfahrung aufzusuchen, obwohl man sie nicht versteht. Diese Überzeugung verdeutlicht Feldmans Beschreibung der Kunst der 50. Jahren: “What was great about the fifties is that for one brief moment – maybe, say, six weeks – nobody understood art. That’s why it all happened”123. Feldman beschreibt diese Erfahrung des stasis in der Malerei auf verschiedenen Weisen. Er erfährt die Tiefewirkung der Werke Mondrians wie folgt: “Can we really say it is just a reductive, simplistic image Mondrian gives us? How can we think so, when we feel we are entering it?”124– es scheint, die Tiefwirkung “saugt” uns ins Gemälde. Stasis kann auch zu anderen, ähnlichen Erfahrungen führen: Feldman beschreibt, wie er das Gefühl hat, wie ein statisches Gemälde ihm anschaut: “[A] certain sensation begins to emerge: a sensation that we are not looking at the painting, but the painting is looking at us. The reason for this is that this kind of painting is not conceived as a spatial reality”125. In seinem Essay Philip Guston: the last painter beschreibt er einen Besuch an der Studio Gustons und beschreibt seine Gemälde sogar als lebende Wesen: “The paintings were like sleeping giants, hardly breathing. As the others were leaving I turned for a last look, then said to him, ‘There they are. They’re up’. They were already engulfing the room”126. Wie wir schon beobachtet haben, ist die abstrakte Erfahrung für Feldman nicht nur phänomenologisch zu erklären, sondern steht in Verbindung mit dem Leben überhaupt. Nicht nur die Gemälden sind lebendig (sie atmen, schlafen, schauen dich an) – über die “Lebendigkeit” des sound sagt er folgendes: “When you are involved with a sound as a sound, as a limited yet infinite thought to borrow Einsteins’s phrase, new ideas suggest themselves, need defining, exploring, need a mind that knows it is entering a living world not a dead one. When you set out for a living world you don’t know what to take with you because you don’t know where you’re going”127. Auch benutzt er Begriffe wie Atem und Luft, genau wie Jankélévitch, als Beschreibung der authentischen Wirkung dieser Kunst – so sind Gustons Gemälden “sleeping giants, hardly breathing”. Dieser Hauch von Leben ist für Feldman der wichtigste, weil unmittelbarste Aspekt der Kunst, im Vergleich zu mittelbare Kunst, die eine “literäre” (symbolische) Botschaft hat. Eine solche Sichtweise auf der Kunst kann rasch zu Missverständnissen führen, wie Feldman selbst berichtet: “Some years ago a good friend who was a painter asked me to write the foreword to his new show. One of the things I remember writing was that he was the kind of artist who was content just to ‘breathe on the canvas’. Which actually means that he was a beautiful artist with a very modest statement. As a result of this remark, my relations with this friend cooled considerably, and, needless to say, my article did not appear in the catalog of his show”128. 120 Feldman 2000, S. 148. Idem, S. 149. 122 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 178. 123 Feldman 2000,S. 101. 124 Idem, S. 66. 125 Idem, S. 79. 126 Idem, S. 40. 127 Idem, S. 60. 128 Idem, S. 81. 121 22 Die Frage, die wir uns im nächtsten Abschnitt stellen, ist zu zeigen, wie Feldman seine Musik von anderen Musiken unterscheidet. Er setzt sich ab gegen die romantische Tradition sowie die Strömung, die in seiner Zeit maßgebend wurde: der Serialismus. Serialismus Genau wie Jankélévitch sieht Feldman den Hang zur Schwärmerei in der romantischen Musikästhetik nicht als ein irrationelles Streben, sondern als ein Streben, das sogar rationelle Wurzeln hat. Sowohl Jankélévitch wie Feldman behaupten, dass, im Vergleich der abstrakten Erfahrung des Beinahe-Nichts, diese “verhexte” Musik (Jankélévitch) nicht von einer anderen Welt stammt, sondern menschlich, allzumenschlich ist. Feldman: “We are taught to think of music as an abstract language – not realizing how functional it is, how related to that other spirit, whether it be literary or a literary metaphor of technique…”129. Laut Feldman fördert die Natur der Musik als “öffentliche Kunst”, wegen der zentralen Anwesenheit des Interprets im Kommunikationsprozeß zwischen Komponist und Rezipient, eine theatrale Übertreibung: “[C]omposers instinctively gear themselves to this rhetorical, almost theatrical element of projection in music”130. Auch der Übergang zur formalen und serialisten Methoden hat dieses rhetorische Element – anders gesagt: das Wahrheitseffekt des noise – nicht ausgelöscht: “Though tonality has long been abandoned, and atonality, I understand, has also seen its day, the same gesture of the instrumental attack remains. The result is an aural plane that has hardly changed since Beethoven and in many ways is primitive“131. Das hat zur Folge, dass der theatralische Komponist sichselber einem Zwang zur Differenzierung auflegt – aber die Ebene des sound wird nicht erreicht, weil laut Feldman die musikalische Leinwand (aural plane) unverändert bleibt, sie sozusagen nicht zum Atmen kommt: “Naturally, if the instrumental attack in music always creates the same aural plane, something must be done to activate, to vary it. It must be propped up to make it more interesting. That is why music is so involved with differentiation”132. Es darf klar sein, dass Feldman nicht nur die Gefühlsästhetik abweist, sondern auch die Formarbeit, die Hanslick und die traditionelle Ästhetik befürworten: die Formarbeit ist Feldman zufolge selbst eine Mythologie: “As the old myhology dies away, as music no longer extols the same subject matter it once did, a new mystique arises. The mystique of its own making, of its own construction“133. Wo die traditionelle Ästhetik das Verfolgen der musikalischen Struktur als eine autonome und sinnvolle Aktivität propagiert, betont Feldman, dass diese musikalische Sinngebung eine Illusion, denn selbst ein Konstrukt ist. Es ist die Struktur selbst, die sich der Wahrnehmung aneignet und sich verwandelt in “a control in control of its master”, wie Feldman es formuliert. Er nennt die Große Fuge Beethovens als typisches Beispiel: “Do I dare to suggest here that whatever transcedental quality this work possessess might be just because of this fact? Just because what we have here, in its most volcanic and pathetic way, is a control in control of its master?”134. Nur die spekulative, abstrakte Erfahrung ist laut Feldman sinnvoll, aber nicht die Erfahrung der Großen Fuge, da hier alles schon von der Struktur der tonalen Sprache festgelegt ist: die Wirkung wird von einer rationellen Benutzung des Materials erzeugt und nicht von einer Berührung eines “Anderen” oder “Höheren”. Dem Siegeszug der ”formalen” Musik steht Feldman deshalb sehr kritisch gegenüber: “I, for one, listening to so much of the music of the past twenty years, must admit I still find the controls somewhat intimidating…What composers apparently seek today is an infallible technical postition. Although they claim to be so selective, so responsible for their choices, what they really choose is a system or a method that, with the precision of a machine, chooses for them”135. Er kritisiert den Serialismus, sowohl die europäische als die amerikanische Variante. Letztere wird in Boola Boola besprochen, einem Essay, in dem Feldman die Anwesenheit des Serialismus auf den amerikanischen Universitäten verurteilt. Die Musik der “akademischen Avant-Garde” ist laut Feldman “a criticism of Webern and Schoenberg. To take another man’s idea, to develop it, expand it, to impose on its logic a superlogic; this does imply an element of 129 Idem, S. 74 Idem, S. 24. 131 Idem, S. 24. 132 Idem, S. 24. 133 Idem, S. 26. 134 Idem, S. 27. 135 Idem, S. 26. 130 23 criticism”136. Die akademische Avantgarde und die Ausdrucksästhetik haben Feldman zufolge denselben Ursprung, nämlich die deutsche musikalische Tradition – “This music […] [has] a decided German accent” 137– , weil die Idee hinter dieser Musik, nach einem Zitat Hermann Weyls, “ ‘the rational subjugation of the unbounded’ ” sei138. Der Anspruch der akademischen Avantgarde auf Autonomie ist laut Feldman ein Gedankengang, der selbst im Kreis läuft: “Academic freedom seems to be the comfort of knowing one is free to be academic”139. Wie Welsch schon behauptet hat, behauptet Feldman, das die Freiheit des Serialismus sein eigener Gefängnis ist, weil der Komponist verantwortlich sein muss für die strukturelle Integrität seiner Musik, das heißt ihre superlogic, die er mithilfe der Analyse vorzeigen muss. Die kompositorischen Modelle die er benutzt, können auf dieser Weise bewiesen, wieder verwendet und unterrichtet werden – aber da Feldman nur die spekulative Erfahrung des Abstrakten für sinnvoll hält, kritisiert er den Mangel an Originalität der Serialisten: “[T]o these fellows, music is not an art. It is a process of teaching teachers to teach teachers”140. Die mangelnde Originalität des Serialismus bedeutet für Feldman nicht nur die völlige Kontrolle des Komponisten über dem musikalischen Material, sondern auch die Macht der Struktur über der Musik. Er nennt Boulez als Beispiel: “Boulez wrote a letter to John Cage in 1951. There was a line in that letter I will never forget. ‘I must know everything in order to step off the carpet’. And for what purpose did he want to step off the carpet? Only to realize the perennial Frenchman’s dream…to crown himself Emperor. Was it love of knowlegde, love of music, that obsessed our distinguished young provincial in 1951? It was love of analysis – an analysis he will pursue and use as an instrument of power”141. Die Angst vor der Kunst Es ist für uns sehr wichtig zu erkennen, dass Feldman die Schlussfolgerung zieht, dass sowohl die Gefühlsästhetik wie der Serialismus aus der “deutschen” musikalischen Tradition stammen. Tatsächlich wirft er beide Ästhetiken vor, auf der Suche nach einer unzweideutigen Einheit zu sein. Diese Suche ist für ihn die Knote, die den modernistischen Serialismus, als eine Weiterführung der traditionellen Formästhetik, mit der romantischen Gefühlsästhetik verbindet. Während eines Seminars antwortete er deshalb auf einer Bemerkung eines Studenten der behauptete, er wäre in seiner Musik zu sehr auf seinen Instinkt, im Gegensatz zu Analyse als kompositorisches Instrument, fixiert: “Ich glaube, es ist das Gegenteil. Ich glaube, Instinkt ist Analyse […] Denken Sie darüber nach! […] Wenn ich hier sitze, sitze ich nicht wie ein Idiot da, wenn ich ein Stück schreibe. Ich folge nicht irgendwelchen Instinkten. Welche Art von Instinkten? Wenn ich irgendwelchen Instinkten folgen würde, würde ich die Note dann auf diese Weise herausfinden [zieht die Nase hoch]? In meinen Augen benutzten Sie die Nase, wenn Sie auf Beutesuche sind, wenn Sie irgendeine Art von Beutesuchen nachstellen”142. Für Feldman sind also der Komponist, der sein Publikum einzuschüchtern versucht mit einem Appell an höherer Mächten und der Serialist, der tadellose Strukturen komponiert, die (nur) logisch zu erklären sind, zwei Seiten derselben Münze. Das ist der Grund, weil Feldman nicht nur den (deutschen) Kanon des 19. Jahrhunderts mit der Idee der Kunstreligion verbindet, sondern auch die formalistischen und serialistischen Komponisten, weil er beide eine ritualisierte Sehnsucht nach Einheit, die ersehnte “Beute”, vorwirft: “This obsessive emphasis on a ritual which has become identical with the belief it symbolizes, leads us to only one conclusion – that music must be some kind of religion. The mission of music is evidently to propagate the tenets of this religion. Schoenberg, Stravinsky, Webern, Boulez – their fame is because they did exactly this”143. Aber wie können wir Feldmans Beschreibungen der abstrakten Erfahrung interpretieren, bei den er selbst nicht vor religiösen Metaphern zurückschreckt? Auch Feldman bescheibt die shadows und vibes der abstrakten Erfahrung mit Metaphern des Göttlichen. Von seiner Musik sagt er: “If I want my music to demonstrate anything, it is that ‘nature and human nature are one’ . Unlike Stockhausen, I don’t feel called upon to forcefully ‘mediate’ between the two. 136 Idem, S. 46, Kursivdruck AA. Idem, S. 46. 138 Idem, S. 46. 139 Idem, S. 47. 140 Idem, S. 47. 141 Idem, S. 60f. 142 Feldman in Claren, S. 516) 143 Idem, S. 28. 137 24 Stockhausen believes in Hegel; I believe in God. It is as simple as that”144. Er behauptet, dass die abstrakte Erfahrung die einzig wirkliche religiöse Erfahrung bewirkt: “[W]hereas the literary kind of art, the kind we are close to, is involved in the polemic we associate with religion, the Abstract Experience is really far closer to the religious. It deals with the same mystery – reality – whatever you choose to call it”145. Der entscheidene Punkt ist, dass die Einheit bei Feldman immer unerreichbar bleibt und, wie die Quoddität des Jankélévitch, immer aufblitzt und wieder verschwindet. Die Einheit Feldmans, sowie seine eigene Idee des Religiösen, ist wie gesagt spekulativer Natur: es gibt immer ein Loch im Ganzen – und es ist dieser “Kitzel des Abgrunds”, an dem Feldman, genau im Geiste des Jankélévitch, interessiert ist. Zu diesem Kitzel sagt er: “Ist es nicht so, daß wir – Komponisten und Zuhörer – in Wahrheit einen statischen Zustand anstreben? Mit Gewalt einem Abgrund zugestoßen zu werden? Das Gefühl, daß die Erde flach ist, und daß wir in einen von Dämonen bewohnten Abgrund stürzen könnten? Genau dieser Aspekt bei Varèse – die Tatsache, daß ‘er mich in den Zusammenbruch treibt’ – ist es, den ich so aufregend finde. Varèse hat mich gelehrt, daß die Technik die Fähigkeit ist, das zu erkennen, was mir zum ‘ich-selbst-sein’ fehlt”146. Feldman wiederholt hier in gewisser Weise sein Plädoyer für die “dämonische” Wirkung des sound und für den spekulativen Zustand des stasis. Mit Hilfe derselben Gedankenganges geht Feldman von einem Subjekt aus, das nicht-Ganz ist, ohne eine unzweideutige Synthese nachzustreben. Die Einheit ist, wie bei Jankélévitch, eine unmögliche Einheit zwischen zwei Gegenpolen – und diese spekulative Einheit macht auch seinen Begriff der Kunst aus: “The only criterion for his kind of art is, how truly personal, how truly omniscient is it”147; “ ‘nature and human nature are one’ […] I don’t feel called upon to forcefully ‘mediate’ between the two”148. In einer Anekdote underscheidet er auf derselben Weise den christlichen und den jüdischen Gottesbegriff: “Maybe it’s because I’m Jewish; actually, the Christian point of view is that there was God and then there was the world and the Jewish point of view is almost as if there was the universe in order to have a God. It’s a little different. In other words I’m not creating music, it’s already there, and I have this conversation with my material, you see”149. Feldman spielt also seine Rolle als Schaffender herunter, im Geiste des Jankélévitch, der die Genialität eines Künstlers umschrieben hat als “ein Wort, das der Homo poeticus oder Homo faber an präexistente Wesenheiten richtet, um sie sich machen zu lassen”150. Diese Passivität gegeüber dem Abstrakten sieht Feldman als seine Sichtweise: “You know there is a very funny conversation. Stockhausen asked for my secret, ‘What’s your secret?’ And I said: ‘I don’t have any secret, but I do have a point of view, it’s that sounds are very much like people. And if you / push them, they push you back. So, if I have a secret: don’t push the sounds around”151. Dieser Abstand zum unbekannten “Blitz” erklärt auch die auf dem ersten Blick überraschende Erklärung Feldmans, dass er in seinen graphischen Partituren, in den er die Kontrolle eines (oder mehreren) musikalischen Parameters “freiläßt”, ganz entschieden eine gewisse Kontrolle nachstrebt: “[I] don’t want to give up control”152. Er unterscheidet diese Art der Kontrolle von der Kontrolle der Formarbeit oder des Materials: “Control of the material is not really control. It is merely a device that brings us the psychological benefits of process – just as relinquishing control brings us nothing more than the psychological benefits of a nonsystematic approach. In both cases, all we have gained is the intellectual comfort of having made a decision – the psychological comfort of having arrived at a point of view. The question at hand, the real question, is whether we will control the materials or choose instead to control the experience”153. Der Komponist soll den Raum öffnen für die abstrakte Erfahrung, er soll diese Erfahrung “machen lassen”. Die Kontrolle hat bei Feldman sowohl ein aktives wie ein passives Element – und genau wie bei den unbestimmten Partituren Cages ist es nicht das Ziel Feldmans, den Interpreten völlige Freiheit zu schenken. Das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität betrachtet Feldman als entscheidend für seine kompositorische “Aktivität”: “The question continually on my mind all these years is: to what degree does one give up control, and still keep that last vestige where one can call the work one’s own?”154. Eine Antwort auf dieser Frage ist Feldmans Konzept des “Im-Material-Seins” des Künstlers – ein Konzept, das 144 Idem, S. 18. Idem, S. 75. 146 Feldman 1985, S. 45. 147 Feldman 2000, S. 66. 148 Idem, S. 18. 149 Idem, S. 157. 150 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 178. 151 Feldman 2000, S. 157f. 152 Idem, S. 65. 153 Idem, S. 66. 154 Idem, S. 30. 145 25 von Varèse stammt: “Varèse expressed the […] idea […] when he said of himself and another man that he wanted to be in the material, while the other man wanted to remain outside”155. Feldman verbindet also die abstrakte Erfahrung, z.B. die Lebendigkeit der Gemälden Gustons, direkt mit dem Leben des Künstlers, der im Material erfahrbar wird – und nicht als eine figurative Darstellung von Lebendigkeit oder eines Künstlers. Es wundert daher nicht, dass Feldman den berühmten Spruch der abstrakten Expressionisten – “down with the masterpiece, up with art”156 – umarmen konnte: nicht die innere Vernünftigkeit des Meisterwerks, sondern Kunst als (abstrakte) Erfahrung sollte betont werden. Das Abstrakte sollte sich zeigen – und dazu sollte die Kontrolle des Künstlers über seinem Material (teilweise) mißlingen: “For art to succeed , its creator must fail”. Wer aber dennoch eine unzweideutige, fehlerlose Einheit nachstrebt, versucht laut Feldman, diese fundamentelle Angst vor der Kunst (anxiety of art) zu vermeiden. Wer eine Einheit sucht, versucht einen Halt zu finden, der es nicht gibt – und laut Feldman gibt es mannigfaltige Möglichkeiten, sich dennoch diese Einheit vorzuspielen. Deshalb hechelt Feldman den Serialismus als einen illusionären Versuch, eine Musik ohne Fehler zu schaffen. Aus demselben Grund kritisiert Feldman die Rolle der Musikgeschichte, die der Serialismus historisch legitimieren sollte, obwohl laut ihn nur die ahistorische abstrakte Erfahrung sinnvoll ist: “[T]he fact that a thing happened, that it exists in history, gives it an authority over us that has nothing to do with its actual value or meaning”157. Die Musikgeschichte sei für viele Künstler ein “Masterplan”, der Sicherheit bietet. Deshalb hat die Musikgeschichte “an irresistible attraction for him, in that it offers him known goals, the illusion of safety in his work, the tempting knowlegde that nothing succeeds in art – like someone else’s succes. In a word, because it relieves the anxiety of art”158. Morton Feldman und die Buddha-Natur Cages Mit Hilfe der skizzierten Ausgangspunkten seines ästhetischen Denkens können wir vielleicht auch Feldmans ambivalente Beziehung mit der Ästhetik John Cages erklären. Wie gesagt wurde Feldman von Cage in der New Yorker Künstlerwelt eingeführt; außerdem war er einer der wichtigsten Gesprächspartner Feldmans. Es ist jedoch interessant, den Grund zu finden, warum er ihn während seiner Karriere sowohl gepriesen wie kritisiert hat. Einerseits ist er zum Beispiel der Meinung, dass die Musik nach Cage und ihm nie dieselbe sein wird, weil man “nicht mehr darüber diskutieren [kann], was im hierarchischen Sinne eine Komposition ist”159; andererseits glaubt er, Cage sei “naiv”, weil er “das Kind mit den Bade [ausgeschüttet hat]” 160– an anderer Stelle behauptet er: “The more interested I got in Cage’s music, the more detached I became from his ideas” 161. Feldman interessierte sich sehr für die experimentelle Seite der Musik Cages, weil Cage die Funktion der Formarbeit radikal neuinterpretiert. Die ästhetische Position Cages können wir auffassen als eine radikale Interpretation der Ästhetik des Schönen. Wir haben zwei Kennzeichnen des elevatorichen Prinzips besprochen: die Formarbeit und die Souveränität der ästhetisierenden Attitüde. In gewisser Weise betont Cage ausschliesslich die Souveränität und bekommt die Formarbeit eine negative Funktion. Die Form ist nicht länger Inhalt der Musik, sie macht nicht länger ihren Sinn aus. Nicht die Form oder das schöne “Werk” ist sinnvoll, sondern nur die reine Anschaung de Subjekts. Die Aktivität des Subjekts ist zwar abhängig von seriellen Strukturen, aber anders als in der Tradition Hanslicks bestimmt die Struktur nicht die Integrität des Werkes (und zeigt so die Integrität des Komponisten und des Zuhörers, die diese Integrität hörend begleitet), sondern sie soll eine unbestimmte Erfahrung fördern. Die Struktur ist also negativ auf sichselber bezogen: sie hat für sich keinen Sinn, sie hat nur eine Funktion im Bezug auf die Souveränität. Das ist schliesslich ihr einziges Ziel: die Ermöglichung neuer Klänge ohne den Bezug auf bekannten, musikalischen Systemen und Gemeinplätze – aber auch nicht auf der eigenen Struktur... Die von Hanslick geförderte Immanenz der subjektiven Aktivität bleibt übrig als die einzige Instanz, die den Sinn eines Klanges bestimmen kann: die bloße Aktivität – oder Akzeptanz, Zustimmung – des Subjekts wird als 155 Idem, S. 66. Idem, S. 50. 157 Idem, S. 21. 158 Idem, S, 21. 159 Feldman, Middelburg Lecture, S. 37. 160 Idem, S. 23. 161 Feldman 2000, S. 96. 156 26 autonom gesetzt ohne Rückzug auf irgendwelcher (formalen) Kriterien für diese Aktivität. Diese sinnvolle Haltung kann, aus dem Blickwinkel des westlichen Denkens, als affirmativ gesehen werden, weil sie jedem Klang einen Wert zuschreiben kann; aber auch kann sie, aus dem Blickwinkel des östlichen Denkens, als neutral oder tolerant betrachtet werden: man läßt dem Klang ihren eigenen Wert. In gewisser Weise fallen aktive Bewertung und passive Neutralität ineinander. Dieser Wiederspruch wird auch von Feldman besprochen. Er beobachtet, dass “not since Tolstoy has there been an artistic figure who has made such an impression on the youth”162; der Grund für diese Popularität sei jedoch, dass die ästhetische Position Cages nicht weniger “religiös” ist als die Ästhetik der Serialisten: “If art is selfeffacement to begin with, what Cage achieves is self-abolishment” und durch diese Haltung wird man konfroniert mit “the end of the world, the end of art. That is the paradox. That this very self-abolishment mirrors its opposite – an omniscient dogma of final things. It does suggest, it does have an aura, of art’s final revelation”163. Feldman kritisiert Cages Ästhetik, da sie erneut eine Einheit nachstrebt, ein “omniscient dogma of final things”. Anders gesagt: Cage sieht das aktive Subjekt im Rahmen einer einheitsstiftenden Aktivität und widersetzt sich gegen dieser anderen Idee der Einheit, die Struktur und ihre logische oder Geschmacksregeln – diese Auffassung Cages führt jedoch zu “a type of resignation. What he has to teach is that just as there is no way to arrive at art, there is also no way not to […] ‘Everything is music’”164. Feldman kritisiert die gleiche Struktur des Sinns der beiden Einheiten: “Just as there is an implied decision in a precise and selective art, there is an equally implied decision allowing everything to be art”165. Seine eigene Stellungnahme gegenüber Cage ist leicht zu erklären mit Bezug auf Feldmans Ästhetik der abstrakten Erfahrung. Laut ihn ist Cage zu weit gegangen, weil er die abstrakte Erfahrung negiert: “We said earlier that the painter’s mastery consists in stepping aside and letting things be themselves. Cage stepped aside to such a degree that we really see the end of the world, the end of art”166. Es ist wichtig, dass in den Augen Feldmans die Dinge nur “lebendig” sein können, wenn die abstrakte Erfahrung anwesend ist – und wir haben gesehen, dass man dazu bestimmte Techniken braucht, die eine statische Wirkung erzeugen können. Diese spekulative Erfahrung ist bei Cage jedoch nicht (länger) die einzige sinnvolle Erfahrung; er hebt die Zweideutigkeit diser Erfahrung auf. Dieser fundamentelle Unterschied zwischen dem Denken Feldmans und Cages illustriert Feldman ausgerechnet mit einem Verweis auf Zen: “There is a Zen riddle that replies to its own question: ‘Does a dog have the Buddha nature?’ the riddle asks. ‘Answer either way and you lose your own Buddha nature’. Faced with a mystery about divinity, according to the riddle, we must always hover, uncertain, between the two possible answers. Never, on pain of losing our own divinity, are we allowed to decide. My quarrel with Cage is that he decided. A briljant student of Zen, he has somehow missed this subtle point”167. Between Categories Wir werden in dieser Arbeit keine theoretische Analysen der Musik Feldmans vorzeigen. Wir hoffen jedoch verdeutlicht zu haben, dass Feldman Idee der abstrakten Erfahrung den Ausgangspunkt ist für seine musikalische Fragen. Er versucht während seiner Karriere, diese Erfahrung in den “konventionellen” Parameter einfließen zu lassen: es ist seine Aufgaben, den sound, die Zeit und schliesslich die Form atmen zu lassen und geht auf der Suche nach sound statt noise, Plastizität des Rhythmus und “Time Undisturbed” statt einer rigiden aural plane des instrumentalen Attaques; sowie scale statt Form in seinen späten Werken, in den Feldman auch das Verfahren der reiteration (statt Variation) der Pattern (statt eines Themas) vorzeigt. Mit diesen Begriffen versucht Feldman also, die abstrakte Erfahrung auf verschiedenen Ebenen “sich machen zu lassen”, wie Jankélévitch es ausdrückte. Feldmans Begriffe haben allen zum Ziel, die “buddhistische” Erfahrung “zwischen den Kategorien” zu ermöglichen. 162 Feldman 2000, S. 28. Idem, S. 28f. 164 Idem, S. 29. 165 Idem, S. 29. 166 Idem, S. 28. 167 Idem, S. 28f. 163 27 Dritter Teil: Feldmans späte Werke und der Horizont der ästhetischen Interpretation Sakrale Sehnsucht Der Musikwissenschaftler Peter Niklas Wilson veröffentlichte 1992 in Musiktexte einen Aufsatz, der zu einem stürmischen Protest einiger Leser und sogar zu einer “schriftlichen Androhung von Tätlichkeiten eines der im Text Zitierten” führte168. In seinem Aufsatz versuchte Wilson die Frage zu beantworten, warum Komponisten wie Luigi Nono und Morton Feldman in den 80. Jahren auf einer beträchtlichen Anhängerschaft rechnen konnten. Er beobachtete, dass Menschen mit einem New Age Hintergrund für diese Musik empfänglich schienen. Diese Beobachtung, die keineswegs Wilsons persönliche Meinung widerspiegelte, löste eine heftige Debatte aus: einige Leser fühlten sich von Wilson beleidigt, nicht nur, weil man den Vergleich zwischen den distinguierten Werken der beiden Komponisten und dritträngigen New Age Musik als geschmackslos empfand, sondern auch, weil ein solcher Vergleich das kritische Potential der Musik vernächlässigen würde. In einem späteren Aufsatz Sakrale Sehnsüchte beschreibt Wilson die geäußerte Kritik und fasst diese Meinung zusammen: für die Kritiker ist “diese Musik […] ganz im Gegenteil eine eminent politische, da sie in ihrer Sensibilisierung für die feinsten Nuancen des Klingenden zum Politikum werde, zum Einspruch und zur bestimmten Negatium gegen die Abstumpfung der Sinne in der kapitalistischen Medienkultur”169. Interessant ist jedoch, dass Wilson diese Politisierung der Musik Feldmans in Rahmen einer Beobachtung des “sakralen Sehnsuchts” des Publikums bespricht – und damit sind nicht nur die New Age Rezipienten, sondern auch ihre Kritiker gemeint. Die Kritiker des New Age haben vielleicht Recht, wenn sie eine solche Erfahrungsweise verurteilen – wahrscheinlich war Feldmans selbst derselbe Meinung, weil er das schwärmische Nachstreben einer unzweideutigen Einheit ablehnte. Es geht aber nicht nur um die Sensibilisierung der Hörerschaft, sondern um dem Sinn dieser Erfahrung, die philosophisch kommentiert wird. Wilson zitiert den Musikkritiker Heinz-Klaus Metzger, der behauptet, dass Feldman sich in seinem ersten Streichquartett beschäftigt mit der “Exploration eines spekulativen Zwischenbereichs […] zwischen Etwas und Nichts”, mit als Ziel “die Ontologie insgesamt aus den Angeln zu heben”170. Solche Auffassungen sind laut Wilson den Grund für ein fast religiöses Ritual, das bei einer Aufführung der Werke des späten Feldmans (und Nonos) stattfindet: “Das Hören von Feldmans extrem langen und extrem leisen Stücken der letzten Jahre im Konzertsaal – das ist ganz offenkundig kein allein ästhetischer Akt, sondern ein rituelles Exerzitium, eine Iniationszeremonie, ja, ein Martyrium, dem sich der Feldman-Hörige in der Hoffnung auf Besserung seines Seelenheils mit flagellantischer Freude aussetzt […] [F]eldmanPropagandisten [schildern] regelmäßig mit unüberhörbarer Genugtuung, wie das ‘heilige’ Werk die Ungläubigen aus dem Konzertsaal jagt und somit die engere Gemeinde zum hörenden Dienst an der klanglichen Offenbarung sammelt”171. Wo Wilson beobachtet, fragen wir weiter. Warum soll diese Erfahrung überhaupt sinnvoll sein? – Das ist die Frage, die jeder Zuhörer während eines der endlosen späten Werke Feldmans sich mal gefragt hat. Warum sollten wir durchhalten? – eine Frage, die auch ein Fan wie Walter Zimmermann nicht ausweichen kann172. Natürlich sind vergleichbaren Frage in den anderen Künsten zu finden – wie auch andere Lösungen. Nehmen wir die notorische Solo-Performance Lips of Thomas (1975) von Marina Abramovich, in der sie sich nackt auszog und anfing sichselbst zu quälen: sie aß langsam ein Kilo-Glas Honig und trank dazu eine ganze Flasche Rotwein; danach entstellte sie auch ihren auswendigen Körper auf verschiedenen Weisen, Wilson, Peter Niklas, “Sakrale Sehnsüchte. Über den ‘unstillbaren ontologischen Durst’ in der Musik der Gegenwart”. In: de la Motte-Haber, Helga: Musik und Religion. Laaber : Laaber-Verl. 1995, S. 266. 169 Idem, S. 262. 170 Idem, S. 263. 171 Idem, S. 264. 172 Vgl. Idem, S. 264. 168 28 bis zum Bluten. (Erst) nach zwei Stunden konnten (nur) einige Zuschauer es nicht länger vertragen und ergriffen die Künstlerin und trugen sie weg. So endeten sie also die Performance… aber warum hat das Feldman-Publikum nie auf dieser Weise eingegriffen? Warum haben sie nicht, nach zwei Stunden, die gequälte Interpreten von ihren Podest befreit und aus den Raum weggetragen? Oder die Zuhörer dieser Musik? Was nutzt es, diese Stunden auszusitzen, was macht aus ihr eine fast religiöse Erfahrung? Das Ding als Reale Um diese religiöse Erfahrung einsichtlich zu machen, werden wir zuerst eine Erfahrung besprechen, die Kant das Erhabene genannt hat. In seiner Kritik der Urteilskraft setzt Kant das Erhabenen gegenüber dem Schönen. Das Schöne begrenzt sich zu einem universellen Geschmack in den Künsten, während Kant das Erhabene nicht mit Kunst, sondern mit der Gewalt der Natur verbindet: das Erleben einer schrecklichen Sturm oder die Konfrontation mit den endlosen Gewässer der Ozeanen verursachen ein überwaltigendes Gefühl: gegenüber diesen elemetarischen Mächte sind wir winzig und stehen wir machtlos. Die Essenz dieser Macht nennt Kant das Ding-an-sich. Dieses Ding ist nicht empirisch wahrnehmbar, aber durch die Erfahrung des Erhabenen können wir sie in der phänomenalen Welt wahrnehmen, in negativer Form. Diese Negativität verursacht das Gefühl der Unlust: sie läßt uns erahnen, wie unerreichbar diese Macht ist – und der Anblick dieser einheitlichen Macht schafft auch Lust, dass es eine solche Macht gibt. Diese Form des Erhabenen ist also weit entfernt von einer Form der metaphysischen Schwärmerei oder eines New AgeDenkens, die nur Lust und keine Unlust kennt, Das Erhabene bricht die imaginierte Einheit, wie auch die Kontrolle des Menschen über die Welt. Das zeigt sich laut Kant nicht nur im “dynamisch-Erhabenen” des Sturms, sondern auch im “mathematisch-Erhabenen” der Mathematik – zum Beispiel die Unmöglichkeit, die unendliche Zahl auszudrücken. Wir können die Ursache dieses Bruchs jedoch nicht nur in der Naturgewalt oder dem Weltall, sondern in unserer eigenen Nähe betrachten. In der Theorie des Psychoanalytikers Jacques Lacan, ein vielbesprochener Nachfolger Freuds, wird das Ding als die Ebene des Realen beschrieben. Mit dem Realen ist nicht die alltägliche Realität gemeint, es hat daher nichts mit dem Freudschen Realitätsprinzip zu tun. Mit dem Realen meint Lacan gerade den Bruch im Alltag, die Desintegration einer Einheit. Diese Erfahrung des Realen ist laut Lacan ständig anwesend in den anderen zwei Ebenen, die imaginäre und die symbolische Ebene. Die imaginäre Ebene ist ganz besonders die Ebene, die ein extatisches Genießen nachstrebt – aber sie wird immer mit seiner Unmöglichkeit konfrontiert, vom Einbruch des Realen entnüchtert. Die symbolische Ebene zielt auf reibungslosen, geschlossenen Systemen, in den Teil und Ganzen zusammenstimmen, wie eine organisierte Gesellschaft oder eine Sprache, in der die Bedeutung der Worte genau festliegt, in der Signifikat und Signifikant übereinstimmen. Wäre diese Systeme tatsächlich geschlossen, so gäbe es keinen Grund mehr zu Unlust, aber wären die Menschen im System völlig desubjektiviert wie Automaten. Für Lacan ist das Reale auch den Bruch im symbolischen Netzwerk, das es nicht gelingt, identisch mit sichselbst zu sein. Die Ursache dieses Bruches findet den Psycho-Analytiker bei dem Mensch selbst. Das Reale ist nichts anderes als die eigene Zerrissenheit des Subjekts und gerade diese Zerrissenheit is die “Form” des Subjekts. Wir werden noch ausführlich auf Lacan zurückkommen. Es ist jetzt wichtig zu untersuchen, wie der Mensch versucht, eine befriedigende Beziehung zu diesem Realen aufzubauen: Er ist aber besonders dazu geneigt, den Bruch des Realen zu heilen und sich wieder in einer imaginären oder symbolischen Einheit zu orientieren. Das leitet dazu, diesen Bruch eine religiöse Bedeutung zu geben. In diesem Fall wäre das Dingan-sich einfach ein Stellvertreter für einen Gott. Wir müssen uns an Nietzsches Gedanken zum Tod Gottes erinnern: obwohl Gott tot ist, hat das Christentum diesen Tod überlebt. Man glaubt nicht mehr an Gott, aber das Glauben ist iht verschwunden – der Gott als “Inhalt” ist verschwunden, aber die religiöse “Form” als “sakrale Sehnsucht” ist geblieben173. Und die Suche nach einer Einheit treibt uns voran. Mit Kants Begriff des Erhabenen fängt den avantgardischen Aufmarsch der modernen Kunst an als einen wahrheitssuchenden Diskurs – eine Entwicklung, die Kant nicht vorausgesehen hat. Das Problem der Avantgarde ist natürlich, dass sie dazu begrenzt ist, nur eine negative Darstellung zu geben. Der Gedanke, Musik sei eine Möglichkeit, Kontakt mit einer Einheit, einer Fülle zu bekommen, ist ein Thema, das nahezu unendlich variiert wird. Ein Beispiel: “Musik schließt den Gefühlen der Entwurzlung 173 Zupancic, Alenka: The Shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two. London ua.: MIT Press 2003, S. 35. 29 und Verwirrung, der Zerbrechlichkeit und Unvollendetheit. Wer sich nicht ganz zuhause fühlt auf unserer Erde, sich nirgendwo niederläßt sondern immer unterwegs ist wie ein Pilger, der findet Trost in einem Lied […] Musik bringt Leben in einer endlichen Existenz. Sie kann dir helfen, gerade dank einer klaren Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, nicht wie ein toter Mensch inmitten des Lebens zu stehen […] Die plötzliche Empfindung der Musik, diese Empfindung einer Fülle des Lebens die auch dir überreicht wird, berührt den Nerv unserer Existenz, die, unausgesprochen oder sehr bewußt, uns ringen läßt mit der Sterblichkeit und mit Gebrochenheit, Zerbrechlichkeit, mit einem unausweichbaren Mangel unserer menschlichen Existenz”174. Das Zitat ist entnommen aus einem Buch über Rockmusik). Die Musik ist also entweder eine unerreichbare Fülle, die zurückholen kann, was der Mensch anscheinend verloren hat, oder sie ist die Erkenntnis dieser Unerreichbarkeit. Die Musik Feldmans als Desintegration Marion Saxer zieht anscheinend dieselbe Schlussfolgerung, wenn sie in ihren Essay Irdische Längen die späte Werke Feldmans rezipiert: “Was Feldmans Patternkompositionen für Fehlinterpretationen so anfällig macht, ist die Tatsache, dass er den rituellen Aspekt von Kunst nicht vollständig negiert, sondern integriert und in das Paradox eines Rituals der Desintegration umdeutet”175. Saxer beschreibt in ihrem Essay, wie diese Desintegration aus der “Spaltung des Selbstbewusstseins” hervorgeht, die die Individualisering ab dem 19. Jahrhundert begleitete. Die Idee der In-Dividualität, die Un-Teilbarhet des Menschen, die in der Philosophie Fichtes und Novalis postuliert wurde, wurde verlassen. Kierkegaard, ein Philosoph, dessen Gedanken auch in den Geschriften Feldmans auftauchen, sprach inmitten des 19. Jahrhunderts nicht länger von einer absoluten Subjektivität, sondern von einem absoluten Zweifel. Das Ziel der Kunst wurde geändert: nicht länger sei sie ein Ausdruck der In-dividualität des Menschen, die Kunst solle jetzt auf der Bewußtmaching dieser Spaltung zielen. In dieser Hinsicht steht die Musik Feldmans laut Saxer einem “Aberglauben einer Klangontologie, für die den Klang selbst bereits ein an sich Seiendes oder gar Heiliges verkörpert…”176 kritisch gegenüber. Beim Publikum sieht Saxer jedoch, dass auf dem Prozeß der Individualisierung eine paradoxale Entwicklung folgt: “Paradoxerweise führte gerade die Höherbewertung des Individuellen zu jener die Öffentlichkeit prägenden Figur des passiven Beobachters […] Während sich in der nun individualisierten und psychologisierten sozialen Interaktion die Empfindungen zu verwirren drohten und an Stabilität verloren, bot die passive Beobachtersituation Schutz, ja es ließ sich aus ihr heraus eine Intensivierung der Empfindungen erhoffen”177. Wir können hinzufügen, dass die Erwartung des Publikums nach (einer neuen) Stabilität also vor allem von imaginärer Art ist – was laut Feldman zu einem unlösbaren Problem führt. In einer Anekdote beschreibt er die unersättliche Erwartung eines Künstlerpublikums: “[A]s you remember Orpheus was a popular poet. He is like Frank Sinatra. He is in modern dress and he’s walking, down Paris streets and a girl stops him for an autograph and he goes tot the avant-garde café and asks an elderly artist there what he is lacking. Why do all the other artists ignore him when he comes in? What’s wrong with his work? And the old man hands him a book and says this is the latest rage. He picks up the book and he’s looking at empty pages, you see, and he is out of it somewhat, and he hands the book back to the old man who looks over and says to him, ‘Astonish us!’ ”178. In einem anderen Absatz erkennt Feldman die Ursache für diese paradoxe Forderung des Neuen, diesmal bei dem Konzertpublikum: “The audience feels the loss in change more crucially than the artist, because it loves art with the passionate love one gives a thing one can never really possess. What it incessantly demands of the artist is for him to make up for this loss. But it is very hard for the artist. He feels the audience is suffocating art with its love and concern. He doesn’t understand the nature of their love, or the nature of their loss”179. Die Forderung nach dem Neuen (auf der symbolischen Ebene) hängt also mit der Forderung eines Verlorenes (die Einheit auf der imaginären Ebene) zusammen. 174 Koenot, Jan: Voorbij de woorden. Essay over Rock, Cultuur en Religie. Averbode: Ten Have 1996, S. 21f; Übersetzung aus dem Holländischen (AA). 175 Saxer, Marion, “Irdischen Längen. Zur Rezeption der späten Werke Morton Feldmans”. In: Barthelmes, Barbara (hrsg.): Musik und Ritual. Fünf Kongreßbeiträge und ein Seminarbericht. Mainz [u.a.] : Schott 1999, S. 40. 176 Idem, S. 40. 177 Idem, S. 35. 178 Feldman 2000, S. 157. 179 Idem, S. 31. 30 Saxer vergleicht die paradoxe Erwartung des Publikum mit dem Ziel, den Feldman laut ihr nachstrebt: “Nur indem Feldman seine Klangkonstellationen dem Prozess des ständigen neuen Fokussierens als einem Prozess permanenter Desintegration unterwirft, kann er – seiner Überzeugung nach – etwas von der Realität des Klanges erfahrbar machen. Feldmans Denken im Klang hat demnach mit dem Aberglauben einer Klangontologie, für die der Klang selbst bereits ein an sich Seiendes oder gar Heiliges verkörpert, nichts zu tun”. Was diese “Realität des Klanges” beinhaltet, erklärt Saxer nicht direkt, aber sie verbindet das künstlerische Ziel Feldmans mit dem Samuel Becketts. Wie aus dem Beckett-Zitat Saxers klar wird, ist Beckett noch immer auf der Suche nach einem möglichen positiven Erscheinung des Dings, auch wenn es anscheinend unerreichbar ist: “[…] darum…sage ich es geduldig variierend, versuchend zu variieren, denn man kann nie wissen, es handelt sich vielleicht nur darum, auf das richtige Aggregat zu stoßen. Um endlich nicht mehr hier zu sein […]”180. Aber bis wir auf dem richtigen Aggregat gestoßen sind, müssen wir als Rezipient den Ritual der Desintegration aussitzen. Modernismus: Feldman und Beckett Die Verbindung Beckett-Feldman wird oft benutzt um Feldman als ein später Modernist zu beschreiben, wessen Wahrheit nur noch die negative Erscheinung des Dings ist. Laut Feldman hat der Künstler nur eine Aufgabe: “To me, the artist has only one duty, only one duty and no thing other than that, and that one duty is to strip away illusions about things” (Diese Worte sprach Feldman 1987 in Middelburg; sie sind das Motto des Buches Neither von Sebastian Claren), damit man am Ende nur noch mit dem “Kitzel des Abgrunds”181 konfrontiert wird. Aber Feldman scheint radikaler vorzugehen als Beckett. Im vorgenannten Zitat äußerte Beckett die Hoffnung, einst ein “richtiges Aggregat” zu finden, während Feldman lieber im Negativen verweilt. Während Feldman seine Ähnlichkeiten mit Beckett betont, vergißt er nicht auf einem Unterschied zwischen beiden zu weisen: “Aber ich muß etwas über mein Treffen mit Beckett erzählen [anläßlich der Oper Neither, AA] und über das Gespräch, weil es sowohl witzig wie interessant in Bezug auf mein Vorgehen ist, und weil ich mich sklavisch an seine Gefühle ebenso wie an meine halten wollte. Dennoch gab es keinen Kompromiß, denn wir waren uns über sehr viele Dinge vollständig einig”182. Ein möglicher Grund für die Unvereinbarkeit der “sklavischen” Gefühle gibt Feldman leider nicht, aber er kritisiert in einem anderen Interview die gängige Verbindung zwischen Beckett und Existentialismus: “It's beyond Existentialism, you see, because Existentialism is always looking for a way out, you know. If they feel that God is dead, then long live humanity. Kind of Camus and Sartre. I mean, there's always a substitute to save you in Existentialism. And I feel that Beckett is not involved with that, because there's nothing saving him. For example […]: The subject [of the opera Neither] essentially is: whether you're in the shadows of understanding or non-understanding. I mean, finally you're in the shadows. You're not going to arrive at any understanding at all; you're just left there holding this -- the hot potato which is life. Now getting back to my feeling about Beckett: I never liked any one else's approach to Beckett. I felt it was a little too easy; it was a little too-- Again, they're treating him as if he's an Existentialist hero, rather than a Tragic hero”183. Möglicherweise hat Feldman, während seinem Treffen mit Beckett, ein “sklavisches” Glauben Becketts an einem richtigen Aggregat verurteilt… keine unmögliche Gedanke, da Feldman anscheinend einen modernen Sehnsucht wie Becketts vermißt – einer der Kennzeichnen der Ästhetik Feldmans, die als postmodern beurteilt sind. Postmodernismus In den Jahren, in den Feldman seine späte Werke schrieb, entbrannte eine Debatte um den erhabenen Kern des Modernismus. Nach den enttäuschenden Resultaten der “großen Geschichten” und anderen utopischen 180 Beckett in Saxer 1999, S. 38. Feldman 1985, S. 44. 182 Feldman in Saxer 1998, S. 241. 183 Feldman, Morton; Frost, Everett [Int]: The Note Man and the Word Man. An Interview with Morton Feldman about Composing the Music for Samuel Beckett's Radio Play, Words and Music. http://www.cnvill.net/mfefrost.htm 181 31 Ziele der Moderne, waren es die sogenannte Postmodernisten, die die Desintegration dieser Geschichten als befreiend interpretierten. Niet länger sollte man nach einer Einheit streben oder die Unerreichbarkeit der modernen Ziele beweinen, sondern man rief dazu auf, die Pluralität der Meinungen zu genießen. Eine höhere, durch allen geteilte Wahrheit gab es immerhin nicht mehr, die Welt war nur eine Sammlung von aus Geschichte und Kultur gewachsenen Diskursen, die nicht selbstverständlich waren, sondern erlernt. Die Postmoderne, in ihren verschiedenen Formen, fing am Anfang der 80. Jahren die Wind in den Flügeln, weil die revolutionäre Geist der vergangenen Jahrzehnte, sowohl politisch als auch in der Kunst der Avantgarde, verflogen war. Darum waren die Postmodernen schnell dazu bereit, die modernistische Ziele der Kunst fallen zu lassen. Sie rief die Modernisten auf, “mit dem Pluralismus leben zu lernen”184. Wolfgang Welsch zufolge ist die Postmoderne jedoch nicht entstanden aus dem Scheitern der Kunst, sondern aus dessen Triumph. In seinem Essay Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst behauptet er, dass das experimentelle Charakter der modernen Kunst seine logische Konsequenz fand in einer postmodernen Welt, in der jeder auf kreativer Weise seine eigene Meinung bestimmt: die ästhetische Kreativiteit verbreitete sich im Zeitalter der Postmoderne über die ganze Gesellschaft, statt nur im Rahmen der Kunst eine Rolle zu spielen. Diese Betonung der Souveränität des Ästhetischen bekam historischer Unterstützung, als am Ende der achtziger Jahren das kommunistische Gesellschaftsidee von der Realität überholt wurde und die liberale westliche Demokratien ohne Blutvergießen den ideologischen Krieg gewannen. Dieser Triumph über diese Ideologie, die sich so lange als die Große Geschichte der Menschheit gesehen hatte, verstärkte das Gefühl von einer Ende der Geschichte (Fukuyama) und gab den Prefix “post” noch mehr Gewicht. Als Kennzeichnen des Postmodernismus nennt Welsch in seinem Essay die Kritik am Anthropozentrismus, Logozentrismus, Monosemie (das heißt die “Monokultur des Sinns”) und am Visualprimat (das heißt die “Prävalenz des Sehens) 185 – eine Kritik, die laut Welsch am besten von François Lyotard fomuliert sei. Positiv beobachtet definiert der Postmodernismus sich laut Welsch durch fünf Begriffe. Der erste Begriff ist Dekomposition. Lyotard beobachtete das Ziel der Malerei gerade als ihre Auflösung. Mit dieser “Auflösung der Malerei” meinte er nicht einen Niedergang der Kunst, sondern die Auflösung der inneren Grenzen der Kunst. Nicht länger war Kunst “nur” Kunst, sondern sie beschäftigte sich mehr und mehr mit philosophischen Fragen. Lyotard behauptet, dass die moderne Kunst entstand aus dem Scheitern der Philosophie, oder wie Adorno sagte, dass “Schönberg und Beckett” wichtige Figuren wurden “aufgrund von Hegels Erbenlosigkeit”186. Die Dekomposition der Kunst wurde also möglich durch den reflexiven Gehalt der modernen Kunst: nicht länger hatte sie nur zum Ziel die Wirklichkeit darzustellen, aber ihre eigene Legitimation und Ziele zu hinterfragen: “[D]ie dramatische Erfahrung einer ‘geborstenen Realität’ [bildet] den Ausgangspunkt der künstlerischen Experimente. Das Zerplatzen der Wirklichkeit war ihre Initialzündung. Wenn die moderne Malerei sich noch einmal auf Wirklichkeit bezieht, dann gerade, um zu zeigen, wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist, anders gesagt: um Nietzsches Lektion vom FiktionsCharakter alles Wirklichen bis in ihre äußersten Konsequenzen auszutragen”187. Deswegen nehmt auch bei Lyotard das Erhabene einen wichtigen Platz ein, als Erfahrung des Realen. Nicht das “bloße Sehen” oder das “bloß sinnlichen Wahrnehmen”188, sondern das Unsichtbare und Unerreichbare des Erhabenen, mit der man sich reflexiv auseinandersetzen kann, wird betont. “Durch diesen Zug zum Denken und durch die Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare wird diese Kunst – zumindest tendentiell – zu einer Kunst des Erhabenen, [welches] die ‘Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns’ bedeutet, welches die Fähigkeiten der Einbildungskraft prinzipiell überschreitet”189. Lyotard betont daher das Erhabene als “das paradoxe ästhetische Gefühl eines Anästhetischen”190. Diese Erfahrung des Erhabenen formt den Basis für das Experiment. Hier betont Welsch einen Unterschied zwischen den modernen und postmodernen Begriffen des Erhabenen: “[E]s geht wohlgemerkt nicht um die Darstellung einer Entität namens Undarstellbares, sondern um die Erfahrung, daß keine Darstellung hinreichend, endgültig, definitiv ist […] Lyotard bemüht sich – so hat es Christine Pries formuliert – nicht um das Metaphysisch-, sondern um das Kritisch-Erhabene. Lyotard vertritt keine Metaphysik der Ein Kapitel aus Arthur C. Dantos Buch Kunst nach dem Ende der Kunst (1996) trägt den Titel: “Mit dem Pluralismus leben lernen”. 185 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart : Reclam 19985 (Universal-Bibliothek ; 8681), S. 82. 186 Adorno in Welsch 1998, S. 86. 187 Welsch 1998, S. 87. 188 Idem, S. 88. 189 Idem, S. 88f. 190 Idem, S. 89. 184 32 Transzedenz, sondern eine Ontologie der unabsehbaren Möglichkeiten, und das Erhabene ist nicht vertikal, sondern horizontal zu deklinieren und gewinnt genau dadurch kritische Funktion”191. Die Postmoderne betont nicht sosehr die Unerreichbarkeit des Erhabenen, sondern das Erhabene als einen imaginären Raum der unbegrenzten Möglichkeiten, den man verteidigen soll: “Alle Gestaltung bewegt sich vielmehr auf einem ‘Boden’ von Nihilismus und in einem Raum unabschließbarer Potentialität. Diese Verfassung gilt es gegen alle Kurzschlüsse zu bezeugen und zu verteidigen. Dies und nichs anderes meint das Erhabene im postmodernen Sinne”192. Lyotard sieht das Ding als ein Vielheitsoption und nicht im Rahmen einer Einheitssehnsucht. Welsch zufolge hat Lyotard “seinen ästhetischen Entwurf als affirmative Ästhetik bezeichnet – in Absetzung von der negativen Ästhetik Adornos”193. Eine postmoderne Kunst ist letztendlich nicht inhaltlich von einer modernistischen Kunst zu unterscheiden; wir müssen sie vor allem als eine veränderte Attitüde definieren, wie wir später in diesem Teil behaupten werden. Eine postmoderne Interpretation Feldmans Sabbe versucht, die Musik Feldmans auf den Punkt zu bringen. Er fängt an mit der Beobachtung, dass die späten Werke Feldmans strukturell organisiert sind, aber nicht auf der “üblichen” Weise (der traditionellen Formästhetik): sie ist nicht motivisch, “at least not in the original, etymological sense of ‘motif’ as a cause for motion, i.e. for immediate univocally, directed action”194. Laut Sabbe ist “the fundamental Feldman paradox: Each and every element of Feldman’s music is quite definite, whereas the constitution of fixed significations through the establishment of relationships among those elements is being indefinitely deferred (‘differ’ed)“195. Anders gesagt: die Identität der einzelnen Teilen wird nicht von einem vernünftigen Ganzen bestimmt. Aber wie kann man in diesem Fall von einer Integrität des Werkes reden? Sabbe versucht diese Paradox zu lösen, indem er die Musik Feldmans im Rahmen von Derridas Metaphysik-Kritik analysiert. Diese Theorie könnte erklären, wie die einzelnen Pattern in einem Werk eine Identität haben können, ohne in einem Ganzen aufgehen zu müssen. “Just as Derrida questions the one-toone relationship between the (verbal) notational sign and the definite mental content it would ‘express’ or ‘represent’ […] , Feldman’s music, to my mind, refuses the ultimate identification of idealised (sound) objects”196. In dieser Beschreibung erkennen wir das postmoderne Erhabene als Vielheitsoption, als unbegrenzte Potentialität. Sabbes Bemerkungen wecken sogar den Eindruck, dass er diese Potentialität eine größere Bedeutung zudichtet als die musikalische Verwirklichung in Pattern: Feldmans Musik ist “a chain of differences, not a system of (reciprocally related) oppositions of fixed, constituted, essentialised meanings… The chain of differences is, in principle, unending […] The 6-hour quartet is but an excerpt – albeit an exemplary one – of that ongoing, illimited chain of signifying differences” 197. Die Tatsache, dass diese Musik “[is] not mediated through namebles […], is not naming and not naming itself – certainly not as an emanation of self” erhebt die Musik als “an art of immediacy” 198. Diese Unmittelbarkeit ermöglicht sound: “the positive fullness of sound and the continual glimmering through of nothingness […] are [a] simultaneous and interdependent feature of [the music]”199: die von Welsch beschriebenen “Boden des Nihilismus” ermöglicht diese Fülle des sound und formt als Ganzes den Hintergrund für Teile, die nicht vernünftig zusammenhangen müssen. Wichtig ist, dass Sabbe auch die ethische Haltung des Postmodernismus in Feldman erkennt: “[Feldman] has made [the sounds] associate, made them resonate to each other. He has most stringently restricted their freedom: free to be there and to stay as long as the one is not in the way of the other. And that has to be arranged! … He has not ‘set the sounds free’. He may have contributed to freeing listening, though. His anti-consumptive, noise reducing art – in which each successive sound or sound configuration is the outcome of a decision, an art of 191 Idem, S. 90f. Idem, S. 91. 193 Idem, S. 95. 194 Sabbe, Herman, “The Feldman Paradoxes. A Deconstructionist View of Musical Aesthetics”. In: Thomas DeLio (hrsg): The music of Morton Feldman. New York : Excelsior Music 1996, S. 10. 195 Idem, S. 11. 196 Idem, S. 12. 197 Idem, S. 11. 198 Idem, S. 12. 199 Idem, S. 13. 192 33 invention – embodies on of the great lessons in morality given in this century though the metaphorics of music: the pairing of liberty and responsibility, of caring, longing attention and the disposition for loneliness, of tolerance and the virtue of ‘patientia’ ”200. Feldman ist laut Feldman ein Beispiel eines postmodernen Komponisten, die die Potentialität des Erhabenen verteidigt: “Feldman’s is certainly one of the hardest achievements in human action: creating sense without establishing direction, in other words: thoughtful action not directed, not dictated, not dependent on an outer cause […] [Feldman] has […] given [man] a new responsibility and thus restored him to a new dignity”201. Mit der Betonung der ethischen Haltung Feldmans darf es klar sein, dass Sabbes Idee des Postmodernen von einer “anything goes”-Attitüde fernliegt. Laut Sabbe kann von einer völlig indeterminierten Musik kann bei Feldman nicht die Rede sein: “[F]eldman does not leave anything to chance. What through his music he endeavors to impart to us is not a sense of chance, but one of causation of a circular nature”202. Diese zirkuläre Kausalität ist natürlich die Umkreisung des Dings-an-Sich (oder die sich wiederholende Erfahrung des Beinahe-Nichts als eine Variation der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen usw.) Es ist diese zirkuläre Kausalität, die als authentisch eingestuft wird: “The immediacy, the im-mediate presence of each single and unique sonority or sound event […] is absolute and unique. It cannot be repeated (‘repetitioned’). It irreversibly belongs to a present that has been”203. Postmoderne Perfomativität Sabbe versucht, einen Unterscheid zu machen zwischen der aktiven Haltung Feldmans und der passiven Haltung Cages: “Unlike Cage, Feldman who, like Cage, has replaced man as a creature of nature in nature, does not leave him there in tutelage, powerless, condemned to utter silence; he has also given him a new responsibility and thus restored him to a new dignity”204. Aber gibt es eigentlich überhaupt ein besseres Beispiel der postmodernen Performativität wenn nicht John Cage? Wo Cage ab den 50. Jahren die indeterminierten “Strukturen” im Dienste der Emanzipation neuer musikalischen Möglichkeiten stellte, findet am Anfang der siebziger Jahre eine Verlagerung im Denken Cages statt. Cage schreibt in seinem bedeutenden Essay The Future of Music (1974): “For many years I’ve noticed that music – as an activity separated from the rest of life – doesn’t enter my mind. Strictly musical questions are no longer serious questions. It wasn’t always that way. When I was setting out to devote my life to music, there still were battles to win within the field of music”205 . In der Musik sei jedoch den Schlacht gewonnen; “anything goes”206. Die Musik hat dadurch einen Vorsprung genommen im Bezug auf den von Cage gewünschten gesellschaftlichen Entwicklungen: “The openmindedness among composers (which has affected performers and listeners too) is comparable and kin to the religious spirit. The religious spirit must now become social so that all Mankind is seen as Family, Earth as Home. Music’s ancient purpose – to sober and quiet the mind, thus making it suspectible to divine influences – is now to be practiced in relation to the Mind of which through technological extension we all are part, a Mind, these days, confused, disturbed, and split. Music has already taken steps in this direction, towards social interaction, the nonpolitical togetherness of people”207. Weil die openmindedness in der Kunst so weit entwickelt ist, sollte die Kunst die richtige Attitüde zeigen, die Musik “has to do with changing minds and spirits”208 . Die ästhetische Passivität, die in den vergangenen Jahrzehnten die musikalische Experimenten Cages ermöglichten, soll jetzt Gegenstand der Kompositionen werden, in der die Musik als Metapher für die richtige Aktivität benutzt wird. ”By making musical situations which are analogies to desirable social circumstances which we do not yet have, we make music suggestive and relevant to the serious questions which face Mankind”209. Diese “musikalische Situationen” sollen keine direkte Kritik üben, sondern selbst die richtige Attitüde zeigen – deshalb kritisiert Cage im Essay die kritische Musik Cardews, während er die “performative” Musik Christian Wolffs preist. 200 Idem, S. 13. Idem, S. 13-14; Kursivdruck AA. 202 Idem, S. 10. 203 Idem, S. 11. 204 Idem, S. 14f. 205 Cage, John. Empty Words.Writings '73-'78. Middletown : Wesleyan Univ. Pr. 1979, S. 177-178. 206 Idem, S. 178. 207 Idem, S. 181. 208 Idem, S. 187. 201 209 Idem, S. 183. 34 Cage komponiert ab den 70. Jahren Werke, die James Pritchett als “program music” bezeichnet hat210. Wo die romantische Programmmusik eine Idee ausbilden versuchte, soll die Cagesche Programmmusik die Attitüde veranschaulichen. Ein Beispiel dieser Programmmusik ist zum Beispiel Ryoanji (1983-1985), die eine kontemplative Attitüde “ausbilden” soll, wie auch die “Number Pieces” der 80. Jahren. Ein anderes Beispiel sind die Freeman Etudes und die Etudes Australes, deren Komplexität das Arbeiten (“work”) zeigen soll: “Cage saw in musical virtuosity a chance for optimism”211. Cage selbst sagt über den Freeman Etudes: “These are intentionally as difficult as I can make them, because I think we’re now surrounded by very serious problems in the society, and we tend to think that the situation is hopeless and that it’s just impossible to do something that will make everything turn out properly. So I think that this music, which is almost impossible, gives an instance of the practibility of the impossible”. Sowohl die Attitüde Feldmans wie die Attitüde Cages ist darauf gericht, die virtuelle Mannigfaltigkeit des Erhabenen zu aktualisieren in einer endlosen Signifikantenketten – und beide betonen mit ihren Musik die Attitüde, dies zu erreichen. Moderne Performativität Die moderne Performativität wird gekennzeichnet von der Unerreichbarkeit des Dings. Diese Performativität ist notwendig, weil man sonst mit dem Realen des Dings konfrontiert würde. Sowohl Marion Saxer wie Sebastian Claren verbinden Feldmans späten Werke mit dieser Art von Performativität – und bei beiden spielt den Vergleich zwischen Feldman und Beckett eine entscheidene Rolle. Claren erklärt seine Interpretation Feldmans anhand des Beckettschen Theaterstück Footfalls. Er beschreibt die Handlungen der Hauptperson Mary auf der Bühne: “Durch die Bewegung des Hin- und Hergehens und insbesondere durch das Geräusch der auftreffenden Füße versichert sich May ihre Existenz, die in dem Moment, in deim ‘kein Laut’ mehr zu hören ist, zusätzlich in Frage gestellt ist”212. Durch diese Handlungen sichert Mary ihre Existenz – ohne diese Aktivität würde sie verschwinden. Diese Thematik begegnet Claren auch in dem Beckettschen Libretto der Oper Neither: “Genauso wie May sich durch den Klang ihrer Tritte ihrer Existenz versichert und selbst verschwindet, wenn ihre Tritte verlöschen, gibt auch die ausgesparte Person von Neither im gleichen Moment, in dem ihre ‘Tritte’ als ‘einziger Laut’ verschwinden und ‘kein Laut’ übrigbleibt, nicht nur ihr Ringen um ‘Selbst’ und ‘Unselbst’, sondern zugleich ihre eigene Existenz auf. Das ‘Weder’ als ‘unaussprechliches Heim’ am Ende von Neither ist also Becketts Metapher für den Tod”213. Das Libretto von Neither ist laut Claren eine “poetisch-philosophische Formulierung”, die “im wesentlichen darauf hinweist, daß es nur ein ‘Dazwischen’ als ‘Weder’ ohne die Möglichkeit eines endgültigen Verständnisses der zugrundeliegenden Gegensätze gibt”214. Claren verbindet Feldman mit dieser Haltung, weil auch er versucht, sich between categories aufzuhalten. Bei Claren hat den Begriff Neither zwei Seiten. Einerseits ist sie ein Nichts und wird sie mit dem Tod in Verbindung gebracht, andererseits ist das Neither ein Dazwischen, das gekennzeichnet wird von einer “Verwirrung zwischen Material und Konstruktion und einer Verschmelzung von Methode und Anwendung”. Die absolute Negativität des Realen soll immer vermieden werden, dazu soll das Subjekt immer Aktivität entwickeln, wie das Hin- und Herlaufen von May, das vielleicht nutzlos scheint, aber den Abgrund fernhält. Die Spuren dieser Bewegung haben an sich keine Bedeutung; nur die Bewegung selbst zählt, weil die Spuren schliesslich ausgelöscht werden – ein Gedanke, die auch im franzözischen (Post)Strukturalismus geäußert wurde, zum Beispiel (den von Sabbe genannten) Jacques Derrida und seine Idee einer unendlichen Signifikantenketten, sowie Michel Foucaults “Tod des Menschen”. Auch Marion Saxer vergleicht Feldman mit Beckett: “Den Kompositionen Feldmans liegt der gleiche Selbstbewußtseinsbegriff, dem sich die Beckettschen Werke verdanken, zu Grunde… Wie Beckett artikuliert auch Feldman das Selbst als prozessuales Geschehen” 215. Dieses Prozes ist die unendliche Annäherung am Ding: “[D]as Selbst [kann sich] nur in diesem unabschließbaren Auseinanderfalten zu einer unintegrierbaren Bilderfolge als wirklich erfahren. Denn es ist, nach Iser, ‘der Ausweis des Wirklichen, daß es sich der Integration widersetzt. Das auf sich selbst gerichtete Bewußtsein wird zur 210 Pritchett, S. 189. Idem, S. 188. 212 Claren, S. 38. 213 Idem, S. 39. Claren zitiert hier aus Footfalls en Neither. 214 Idem, S. 517. 215 Saxer, Marion, “Individuelle Mythologien und die Wahrheit des Materials. Meditative Musikformen”. In: de La MotteHaber, Helga: Musik des 20. Jahrhunderts 1975-2000. Laaber 2000 (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 4). S. 250. 211 35 Möglichkeit, dieses zu entdecken’ ”216. Darum sollen laut Saxer die “permanent sich erneuernden Klangsituationen bzw. –muster [der Musik Feldmans] das Selbst als Prozeß vergegenwärtigen”217 . Diese Form der Individualität unterscheidet sich von der “traditionellen, idealistischen Auffassung des Selbstbewußtseins”, da die traditionelle Auffasung (und damit die traditionelle Ästhetik) auf die Idee einer inneren Vernünftigkeit stützt: “In einem klassischen Werk kann ein abstraktes thematisches Substrat nur dann als musikalisches Zeichen von Selbstbewußtsein gelten, wenn es die Integration funktional unterschiedener und in der Unterscheidung aufeinander bezogener Teile zu leisten vermag. Die Einheit in der Mannigfaltigkeit muß stets doppelt begründet sein: zum einen in der thematischen Substanz, aus deren Differenzierung durch entwikkelnde Variation der Gestaltenreichtum eines Satzes hervorgeht, und zum andren in der Form des Ganzen, die sich durch die Integration funktional unterschiedener und in der Unterscheidung aufeinander bezogener Teile ergibt”218. Bei Feldman spiele aber die Performativität, die Akt eine entscheidene Rolle: “Nicht der gesetzten musikalischen Gestalt kommt eine substantielle Bedeutung innerhalb [der Werke Feldmans] zu, sondern dem Akt des Wiederholens und Veränderns. Weil die einzelnen Klangsituationen als gesetzte niemals eine adäquate Repräsentation des Selbst zu leisten vermögen, ist das kompositorische Bewußtsein dazu gezwungen, sie beständig zu modifizieren. Nur indem der Komponist diesen Prozeß des Modifizierens in der Komposition selbst offenlegt, vermag er etwas von der eigenen Wahrheit zu vergegenwärtigen”219. Ein Pattern ist also kein Teil eines Ganzen, sondern “eine individuelle Spur seines Lebens […] Der Prozeß der Modifikationen der Pattern enthält die Chance seines Wirklichwerdens, deshalb muß Feldman weitermachen. Hieraus erklärt sich die außenordentliche Länge seiner späten Werke”220. Modernismus und Postmodernismus als doublebind Wir behaupten, dass der Prefix “post” des Postmodernismus wishful thinking gewesen ist. Der Postmodernismus folgt nicht den Modernismus auf, sondern ist in gewisser Weise eine Variation des elevatorischen Prinzips der traditionellen Ästhetik: das Subjekt sollte aktiv seine Welt gestalten, aber wo die traditionelle Ästhetik dazu die Formarbeit als geeignetes Mittel sah, betonte der Postmodernismus eine aktive Attitüde gegenüber dem Erhabenen als Vielheit, Potentialität, Virtualität, Mannigfaltigkeit oder unendliche Signifikantenketten, in dem sich das Subjekt aktiv und “rhizomatisch” seinen Weg finden kann. Das Subjekt schafft nur Wert im Bezug auf die Vielheit selbst, die laut Lyotard verteidigt werden muss; alle anderen Erscheinungen haben nur historischer oder kultureller Bedeutung. Was zählt ist ein Glauben an dieser Einheit als Vielheit. Das Problem ist aber, das auch hier das Reale einbricht und diese Cagesche Akzeptanz des Geschehens nur in einer Monotomie der Andersheit resultiert, die das Subjekt die Möglichkeit entnimmt, ein Subjekt zu sein statt nur einer desubjektivierten Attitüde. Wo der Postmoderne einen Einklang zwischen Vielheit und Subjekt propagiert, stützt der raison d’être der Modernisten auf die wiederholte Erkenntnis des Realen, die unerreichbare Einheit des Dings. Die Interpretation einer körperlichen Erfahrung als eine Erkenntnis dieses Dings spielte in Marginal Intersection sowie in Feldmans abstrakte Erfahrung eine entscheidene Rolle. Die wiederholte Selbstbehauptung dem Realen gegenüber, die wir bei Feldman und Beckett besprochen haben und die das Publikum während einer Ausführung ritualisiert, leidet bei Peter Niklas Wilson nicht ohne Grund zur Verdacht des Religiösen. Sowohl Modernismus wie Postmodernismus bestimmen schliesslich den Wert der Musik – das heißt, der Sinn der Musik für uns – anhand des Dings (als postmoderne Fülle der Virtualität oder als modernes Verfehlen des ersehnten Dings). Deswegen behaupten wir, dass Modernismus und Postmodernismus ein doublebind sind, das heißt zwei Seiten derselben Münze sind. Sie können nicht nur beide aufeinanderfolgen (auch der Modernismus kann eine Nachfolge des “Post”-modernismus sein, wenn jemand sich enttaüscht von der postmodernen Monotonie der Andersheit abwendet), sondern sie haben auch den gleichen Kern, dieselbe Legitimation ihres Sinns: das Ding als Reale. Dieses Reale bestimmt in gewisser Maßen das Endpunkt der Ästhetik, da es für den einheitssuchenden Menschen keine andere sinnvolle Erfahrung geben wird. 216 Idem, S. 249. Idem, S. 250. 218 Idem, S. 250. 219 Idem, S. 251. 220 Idem, S. 252. 217 36 Trotzdem werden wir im letzen Teil dieser Arbeit versuchen, ein alternatives Ende der Ästhetik vorzuschlagen, die nicht mehr an einem transzedenten oder virtuellen Ding verknüpft ist – wir untersuchen die Möglichkeit einer athetischen Ästhetik. 37 Vierter Teil: Das alternative Ende der Ästhetik Einleitung Wir werden eine Alternative beschreiben, die vielleicht der Obsession für das Reale entlaufen könnte. Wir werden dazu die Grundlinien einer Theorie vorschlagen, die von Slavoj Zizek, ein Lacanscher Philosoph, entwickelt wurde. Zizek greift dabei auch gern zurück auf Hegel, der laut ihn auf einer überraschenden Weise über die Philosophie Kants hinausgeht. Wir kehren zurück zu Kants Begriff des Erhabenen, um diesen Unterschied zwischen den zwei Philosophen aufzuklären. Zizek nennt die Philosophie Kants eine “Ökonomie des Obsessionellen”. Das Wort Obsession ist hier in seiner psychoanalytischen Bedeutung gemeint, und nicht in seiner alltäglicher Bedeutung: normalerweise nennt man jemand obsediert, der völlig in einem Gegenstand oder Person aufgeht, während Lacan hinzufügt, dass diese Obsession zum Ziel hat, das begehrte Ziel zu vermeiden. Wo Kant seine Philosophie als Einleitung zu einer wirklich allumfassenden Wissenschaft betrachtet, interpretiert auch Hegel, dass Kant nicht die letzte Hürde nehmen will und deswegen diese Suche selbst inszeniert, damit er die Hürde vermeiden kann: “Hegel grows furious precisely because Kant was already there, within the speculative principle, yet radically misrecognized the true dimension of his own act, and espoused the worst metaphysical prejudices”221. Wir kehren zum Erhabene zurück: was ist die Beziehung zwischen Kant und Hegel und auf welcher Weise geht Hegel über Kant hinaus? Viele Philisophen sind der Meinung, dass Hegel ein Schritt zuweit gegangen ist, weil er beabsichtigen würde, den Riß des Kantischen Dings-an-sich auf einer totalitären Weise wieder zu schließen. Es wundert deshalb nicht, dass sowohl Modernisten wie (vor allem) Postmodernisten die Philophie Hegels im Allgemeinen mit Argusaugen betrachten und man oft zu Kant zurückgreift (nicht nur der postmoderne Philosoph Lyotard, sondern auch Modernisten wie Jürgen Habermas und Ullrich Beck greifen auf Kant zurück). Aber laut Zizek ist diese Interpretation Hegels zu einfach – die Synthese Hegels sei viel radikaler: er behauptet nämlich, dass “das Übersinnliche […] die Erscheinung als Erscheinung” ist222. Lacan verdeutlicht die Problematik dieser Erscheinung mit Hilfe der Geschichte über die Maler Zeuxis und Parrhasius aus der griechischen Mythologie: “Zeuxis and Parrhasius, painters of Ephesus in the 5th century BC, are reported in the Naturalis Historia of Pliny the Elder to have staged a contest to determine which of the two was the greater artist. When Zeuxis unveiled his painting of grapes, they appeared so luscious and inviting that birds flew down from the sky to peck at them. Zeuxis then asked Parrhasius to pull aside the curtain from his painting. When it was discovered that the curtain itself was Parrhasius' painting, Zeuxis was forced to concede defeat, for while his work had managed to fool the eyes of birds, Parrhasius had deceived the eyes of an artist“223. Parrhasius gewinnt den Duell, weil er die menschliche Eigenschaft ausnützt, die immer etwas jenseits des Scheins sucht. Zizek sagt dazu: “Die Illusion, daß es hinter dem Vorgang etwas Verborgenes gäbe, ist reflexiv: Was sich hinter der Erscheinung verbirgt, ist die Möglichkeit eben dieser Illusion; hinter dem Vorgang gibt es nichts, außer dem Glauben des Subjekts an die Existenz oder Präsenz von etwas. Die Illusion, als ‘falsche’, befindet sich aber tatsächlich in einem leeren Raum jenseits des Vorhangs. Sie hatte einen Ort eröffnet, an dem sie möglich war, einen leeren Ort, den sie ausfüllte (etwa mit dem, was man das ‘Heilige’ nennt), an dem sich eine illusorische Realität aufbauen konnte. ‘Wir’ können sehen, daß es dort, wo das Bewußtsein etwas zu sehen glaubte, nichts gibt, aber unser Wissen konnte nur von dieser Illusion produziert werden, sie ist dessen inneres Moment. Löst sich diese Illusion auf, so bleibt trotzdem der leere Ort, an dem sie möglich war: Es gibt nichts jenseits der Erscheinung, außer diesem Nichts – und dies ist das Subjekt […] [D]as Subjekt (das 221 222 223 Zizek, Slavoj: The metastases of Enjoyment. On Women and Causality. London-New York: Verso 20052, S. 187. Zizek, Slavoj: Der erhabenste aller Hysteriker. Lacans Rückkehr zu Hegel. Turia: Kant 1991, S. 118. http://en.wikipedia.org/wiki/Zeuxis 38 Bewußtsein) möchte das Geheimnis hinter dem Vorgang ergründen, aber seine Bemühungen scheitern, da es hinter dem Vorgang nichts gibt, ein Nichts, welches das Subjekt ist”224. Verlust und Transferenz Anders gesagt: unsere Immanenz bringt die Illusion einer Transzedenz hervor. Und vielleicht bietet uns diese Erkenntnis auch eine Erklärung der Entstehung der Musik. Dieses Ereignis hat angefangen mit dem menschlichen “Fall aus dem Paradies”. Dieser “Fall” war in gewisser Weise kein Verlust, aber ein Moment, an dem der Mensch ein Zu-viel wurde: als die Gehirnmasse sich entwickelte und der Mensch sozusagen eine Gehirnzelle zuviel bekam, so daß er imstande war, seine Existenz zu hinterfragen und über seinen automatischen, instinktuellen Funktionen (fight-flight-food-fuck) hinauszugehen. In dem Moment, als wir denken konnten, waren wir schon “verloren” – und dieser Verlust ist konstitutiv für den Menschen. Das menschliche Zu-viel erzeugte ein Gefühl von Mangel, ein Verlust, das von einer transzendenten Wahrheit aufgefüllt werden musste. Musik bekam eine wichtige Funktion in der Kommunikation mit den Göttern, die Bewohner dieser transzedenten Ebene. In den zivilisierten Gesellschaften wurde diese Kunst eine eigenständige Kunstform, die noch immer mit der transzedente Ebene verbunden werden konnte, aber eine Eigenname bekam (μουσική). Auf dieser Weise wurde Musik zu einer Äußerung des Jenseits. Ihr Sinn bekam sie durch die menschliche Neigung zur Transferenz. Dieser Lacanscher Begriff bedeutet, dass man annehmt, dass man die Fülle der Transzedenz, das “pure Genießen” (Lacan), in einem anderen Objekt finden kann: so gibt es Subjekte, dem man unterstellt (“pur”) zu wissen/glauben/begehren. Auf derselber Weise passt das Subjekt diese Transferenz auf die Musik zu: sie ist eine Kunst, der man unterstellt transzedental zu sein. Das Ziel der modernen (und postmodernen) Kunst war, Auge im Auge zu stehen mit dem Ding in reinster Form, hier und jetzt. Man könnte dieses Zeitalter der Kunst als ein “Purifizierungsversuch” darstellen. Wir erinnern uns den reflexiven Charakter der (post)modernen Kunst, die sich die Frage nach ihrer eigenen Identität stellte. Was ist zum Beispiel Musik? Eine Antwort wäre: eine bestimmtes “Aura”, denn alle materielle, “inhaltliche” Eigenschaften der Kunst sind einwechselbar und bestimmen nicht ihre Essenz. Denken wir dabei wieder an Marginal Intersection: auch wenn die Oszillatoren nicht spielen würden, könnten wir sie trotzdem hören: selbst wenn es keine Musik gibt, sie nicht materiell anwesend ist, gibt es dennoch Sinn… und in gewisser Weise definiert Cage die Bedeutung der Kunst nur auf dem Gebiet des Sinns, die am reinsten in der alleinigen Aktivität des Subjektes zu finden ist. Das Subjekt braucht nur die reine Anschauung; seine eigene Performativität schafft “Musik”. Aber was würde passieren, wenn diese transzedente Ebene verschwindet, wir die Neigung zur Transzedenz aufheben? Wenn die Musik ihre Bedeutung dieser transzedenten Versprechen verdankt, wie wäre sie noch länger sinnvoll, wenn sie nicht mit dem Verlust verbunden ist? Schritt Eins: Retroaktive Performativität Laut Zizek weicht Hegel das Erhabene aus, indem er ein Konzept der retroaktiven Performativät entwickelt225. Diese Performativität ist retroaktiv, weil sie zwei Gedankenbewegungen ausführt. Wir gehen zuerst die Illusion der Transzedenz (These), darauf findet eine Negation dieser Transzedenz statt (Antithese), die nicht zu einer Synthese führt, sondern uns züruck zum Anfangspunkt bringt, den wir erst nach dieser Bewegung auf einer neuen Weise betrachten können. Unsere Zerrissenheit zwischen Geist und Körper zwang uns, nach einer Synthese zu suchen, aber am Ende werden wir den Bruch zwischen beiden anerkennen müssen. Im Vergleich zu einer Suche nach einer (imaginären oder symbolischen) Einheit ist die retroaktive Performativität substraktif: der Gedanke, dass der Mensch seine authentische Einheit verloren hat, wird beseitigt. Wir können dieses wichtige Ziel deshalb umschreiben als das Verlieren des Verlustes226. Hegel geht auf dieser Weise über das Kantische Erhabene hinaus, das noch immer diesen Verlust einer transzedente Position zuschreibt, sowie über die ästhetische Position Feldmans: eine Hegelsche Kritik dieser Ästhetik wäre, dass die abstrakte Erfahrung nicht abstrakt genug ist, da sie noch immer am Realen orientiert. Hegels Bewegung der retroaktiven Performativität hat nichts mit einer Erfahrung des Beinahe224 Zizek 1991, S. 119. Idem, S. 38. 226 Idem, S. 25f. 225 39 Nichts zu tun: retroaktiv gesehen erreicht sie sogar weniger als nichts, weil sie zur Anfangssituation zurückkehrt ohne die Illusion der Transzedenz. Resultat: Das Subjekt als leere Form Wie gesagt konfrontiert diese retroaktive Performativität das Subjekt mit seinem leeren Ort. Das Subjekt wird in der Philosophie Hegels zu einem formalen Raum des Nichts. Bevor wir erklären, was damit gemeint ist, ist es wichtig aufzumerken, dass diese Sichtweise auf das Subjekt auf radikaler Weise von einer Subjekt der “Substanz”. Diese Sichtweise geht aus von einer subjektiven Kontakt zur Realen – anders gesagt: sie vertritt die Meinung eines “tieferen Selbst”, das man empfinden (fühlen) kann während einer extatischen Erfahrung, wenn man “mit sichselbst in Einklang ist”. Obwohl sowohl die Ästhetik des Schönen wie die Ästhetik des Erhabenen diese Extase verurteilen, haben sie mit dieser Gefühlsästhetik gemein, dass sie eine Empfindung des Realen nachstreben, ein “pures Genießen”, das man jedoch versucht zu kontrollieren, weil ein direktes Kontakt mit dem Realen zu einer Desubjektivierung und zu Passivität führt, wie diese Ästhetiken im Bezug auf der Musik Wagners kritisiert haben. Aber auch die traditionelle Ästhetik des Schönen sowie die modernistische Ästhetik des Erhabenen halten an einer religiösen Bedeutung dieser Empfindung fest – wie auch Feldman, der eine körperliche Empfindung der Sinnen als eine “abstrakte Erfahrung” interpretiert, die er einer religiösen Bedeutung beimißt: diese Erfahrung ist nicht nur “truly personal”, sondern auch “truly omniescient”. In gewisser Weise versuchen diese Ästhetiken das Unmögliche, nämlich die Kontrolle über die Empfindung zu gelangen – und damit rationelle Kontrolle über Lust und Unlust, besser gesagt: über den Sinn. Sie versuchen, die Reale Empfindung zu zähmen und den Sinn zu postulieren mit einer imäginaren oder einer symbolischer Ebene, die die Desintegration des Realen verdecken will. Das elevatorische Prinzip der traditionellen Ästhetik umfasst beide Ebenen: die symbolische Formarbeit sowie die imaginäre Souveränität der ästhetischen Erfahrung. Aber es ist klar geworden, dass beide Ebenen von einem Riß des Realen bedroht werden, eine Konfrontation mit ihren “Fall aus dem Paradies” und ihre Sinnlosigkeit. Eine menschliche Performativität kann keinen Sinn schaffen, sie schafft nur kognitiven Dissonanzen: sie versucht, sich zufrieden zu stellen mit einer zivilisierten Erfahrung des Realen, aber mißt diese “verkleinerte” Erfahrung an der Fülle eben dieses Realen. Mit Bezug auf der Idee der Fülle dieser Erfahrung “verliert” das Subjekt immer und ist es immer ein Zu-Wenig. Laut Hegel/Zizek ist das Subjekt aber kein Subjekt der (kontrollierten) Substanz. Das Subjekt ist nichts anders als ein leerer Ort, das aufgefüllt werden muss – das Subjekt selbst kann konzeptionalisiert werden als eine Form. Die Idee eines inneren Kerns des Genießens wird verworfen; das Subjekt wird formal “entäußert”. Zizek ruft auf zu einer subjektiven Destitution; damit meint er folgendes: “Yes, we do have to renounce the secret treasure in ourselves, the agalma that confers on us our innermost dignity – all those things so dear to personalism […] ”227. Das formale Subjekt als leere Form wird nicht länger ausgefühlt von einem (Verlangen nach dem) puren Genießen des Realen, sondern von einem Objekt, das sowohl ein Schatz wie ein Stück Dreck sei. In Lacanscher Terminologie heißt dieses Objekt das objet petit a, die Objekt-Ursache des Begehrens. Schritt zwei: das Objekt kleine a Was ist dieses Objekt kleine a? Es ist ein phänomenologisches Objekt, im breitesten Sinne des Wortes, das von einer spezifischen Person höher bewertet wird als andere Objekte. Für Musikliebhaber ist dieses Objekt natürlich Musik, aber dieses Objekt kann auch ein Partner sein, Briefmarken, Malerei, alte Uhren und so weiter. Der Grund, warum ein Objekt a mehr geliebt wird als andere Objekte, ist nicht auf rationeller Weise zu erklären – sie ist schliesslich unabhängig von ihren Eigenschaften. Es hat unbewußt und anscheinend zufällig einen Wert bekommen. Wir Musikliebhaber haben nicht nach langen Denken entschlossen, das wir Musik lieben: wir erinnern uns nur, dass wir schon mit dieser Liebe zur Musik kontrontiert sahen, bevor wir diese Liebe reflektieren konnten – man denkt immer zu spät, wenn “es” schon passiert hat. Wir können hinterher verschiedene Ursachen bedenken, die aber verhüllen, dass wir es eigentlich nicht wissen. Das Objekt kleine a wird in der Lacanschen Psychoanalyse auch mit den Begriffen Trauma und Symptom verbunden. Die Lacansche Interpretation dieser Begriffe weicht von der klassischen, Freudschen 227 Zizek 2005, S. 168. 40 Bedeutung ab: das Trauma oder Symptom ist nicht ein Zeichen oder ein (sexuelles) Ereignis aus der Vergangenheit, die der Psycho-Analytiker deuten muss, wenn er die Problemen des Subjekts lösen will. Das Objekt a hat nämlich keinen Grund; es ist nicht die Botschaft für etwas anderes. Es dankt seinen Sinn an der Stelle, die es im leeren Raum des Subjekts einnimmt. Objekt a als absoluter Zufall Es ist wichtig aufzumerken, dass hier den Sinn nicht von einer Performativität des bewußten Subjekts abhängig ist: das Subjekt ist nicht “frei”, diese Objekten zu wählen – wir haben zwar die Möglichkeit, uns für bestimmte Sachen zu interessieren, aber wir können nicht bewußt wählen, welche Objekte uns faszinieren, wie wir zum Beispiel nicht bewußt entschließen können, uns in jemandem zu verlieben. Unser Subjekt dankt seine Konsistenz an einer zufälligen Teil, das für das Subjekt sinnvoll ist. Hegel spricht von einem absoluten Zufall gegenüber das Zufällige: “Der Zufall, nicht das Zufällige sei notwendig, und damit sei das bestimmte Zufällige kein Gegsntand eines substantiellen Interesses”228. Das Zufällige könnte man vergleichen mit der postmodernen, kreativen Weltsicht; Hegel nimmt selbst die Natur als Beispiel: “Die Herrschaft des Zufalls schlichthin ist die Natur. Daß es 122 und nicht 123 Hunderassen gibt usw., ist Zufall – hier überschwemmt der nicht-begriffliche Zufall die logische Notwendigkeit […] Die unaufhörliche Überschwemmung […], die unaufhörliche Produktion von Bastarde, die Kreuzungen zwischen den unterschiedlichen Spezien, dies alles drückt keineswegs die kreative Macht der Natur aus, sondern gerade ihre radikale Ohnmacht”229. Eine Cagesche ästhetische Akzeptanz dieser Mannigfaltigkeit führt daher zu Sinnlosigkeit. Deswegen setzte schon Hegel dieses Zufällige als gleichgültig: das chaotische Zufällige, das vom Subjekt der traditionellen Ästhetik vertilgt, gebändigt und geformt werden sollte, oder von Cage einfach akzeptiert werden sollte, ist bei Hegel “kein Gegenstand eines substantiellen Interesses”: einer postmodernen Verehrung des Erhabenen als Potentialität, als Mannigfaltigkeit, als unendliche Signifikantenketten, steht die Hegelsche Position fern. Laut Zizek betont Hegel die Abhängigkeit der menschlichen “Struktur” von einem Zufall: “Nur durch ein kontingentes Element, durch dessen materielle, leblose, positive Gegebenheit, kann sich die formelle Struktur verwirklichen”230. Dieses Element ist das Objekt kleine a der Psychoanalyse: sie ist materiell und eine positive Gegenheit, auch oder gerade weil sie “leblos” ist, sie also nicht in Verbindung steht mit einer angeblich empfundenen Einheit: das Objekt soll zum Beispiel nicht das Beinahe-Nichts “atmen”, sie kommt ohne die Illusion einer Elan vital aus. Imaginäre und symbolische Konsistenz des Subjekts in der Lacanschen Psychoanalyse Die Objekten a eines Subjekt – Objekten, die wir unbewußt auserwählt haben – stiften nicht nur Sinn ohne einen Hang zu einem Jenseits; sie schaffen auch eine Konsistenz im Begehren des Subjekts, die von einem ewigen Nachjagen des Realen nicht erreicht werden kann: das Objekt a ist einen “partikularen ’pathologischen’ Tick, der letztendlich die einzige Stütze [unsereres] Daseins bildet”231 . Laut Zizek erscheint das Reale (R) jetzt nicht im eigenen Gestalt, als Bruch einer Einheit, sondern findet man es zurück in der imaginären-phänomenalen Ebene, als Objekt a (RI), und in der symbolischstrukturellen Ebene, als die Struktur des Begehrens des Subjekts (RS). Das Objekt a (RI) bekommt seine Bedeutung, weil es sich in der Struktur des Subjekts (RS) aufhält. Das Subjekt ist also nicht substantiell definiert, er hat keinen Elan vital mit dem er bewußt Sinn schaffen könnte. Die Lacansche Psychoanalyse hat also nichts zu tun mit der modernen und postmodernen Performativität, die gezwungen sind, ständig Sinn zu schaffen im Bezug auf dem sinns-destruktiven Realen: weil einige faszinierende Objekte für ein Subjekt eine einzigartige Bedeutung bekommen, ist er auch imstande, die andere “zufällige” Objekte als nur interessant oder sogar gleichgütltig abzutun. In gewisser Weise findet eine Umkehrung der romantischen Ästhetik statt: nicht länger ist es das Ziel des Subjekts, die alltägliche Problemen zu entfliehen in der zeitweiligen Extase der Musik, die dieses Problem zeitlich (er-)löst – es ist jetzt gerade die 228 Henrich in Zizek 1991, S. 37. Idem, S. 36. 230 Idem, S. 42f. 231 Zizek 1990, S. 27. 229 41 alltägliche Welt, die höchtens “interessant” ist, während die Musik den Status eines faszinierenden Problems gekommen hat. Das Lacansche Subjekt erwartet also keine Erlösung mit Hilfe der Musik, er strebt auch keine moderne Erkenntnis der Unmöglichkeit dieser Erlösung nach, noch feiert er das Zufällige der postmodernen Potentialität des Realen oder leidet er unter einer Obsession der performativen Sinngebung. Sowohl RI wie RS schaffen das Subjekt aber eine sinnvolle Konsistenz: die Real-Symbolische Ebene zeigt uns die universellen Struktur vom Begehren des Menschen, das heißt, wie sie begehren; was wir begehren, sind die Objekte kleine a als konsistenten Objekt-Ursachen unseres Begehrens, da. Der Sinn für ein Subjekt ist also auf zwei Weisen “entäußert”: im Objekt und in der asubjektiven, nonsubstantiellen Struktur. Die Immanenz der Zwei Das Objekt a ist, wenn wir die Worten Hegels benutzten, “die Erscheinung als Erscheinung”232 . Es dürfte klar sein, das hiermit eine Erscheinung ohne die Illusion des Scheins gemeint ist: die Erscheinung ist nur immanent, ohne die Illusion der Transzedenz. Aber wir meinen mit dieser Erscheinung als Erscheinung auch nicht das Objekt in bloß materieller Hinsicht: die Erscheinung des Objekten a ist natürlich phänomenologisch/empirisch, sondern wird für uns verdoppelt, weil wir sie auch eine Erscheinung einer Wert betrachten. Wenn wir retroaktiv-performativ unsere Erfahrung der Musik als Objekt a beschreiben, fängen wir bei der Ausgangsposition an: die Musik ist eigentlich nur ein empirisches Phänomen – es sind bloß Schallwellen, aber wir haben den Gefühl, dass etwas “Heiliges” hinter diesen Schallwellen steckt. Diese Illusion der Transzedenz wird beseitigt und wir finden uns retroaktiv wieder in der Ausgangslage, in der die Schallwellen noch immer ein empirisches Phänonem sind, aber noch immer einer besonderen Wert zugesprochen werden, die aber nicht länger transzedent sein kann. Der Lacanianer Alain Badiou spricht deswegen von einer “Immanenz der Zwei”233: die zwei Erscheinungen der Musik, als materielle und als sinnvolle Erscheinung, befinden sich auf derselber Ebene, ohne ein Hinweis auf einem außermusikalischen Höheren. Es gibt also keine substantielle Synthese zwischen Subjekt und Objekt a: das Subjekt wird konfrontiert von zwei Erscheinungen desselben Objekts: das Objekt in seiner blöden, “leblose” materiellen Existenz und in seinem wertvollen Erscheinung. Deswegen müssen wir laut Zizek dieses wertvolle Objekt nicht als eine Fülle sehen, sondern auch als bloße Empirie – oder, wie Zizek es formuliert: wir sollten es in einem Stück Drecl verwandeln: “Yes, we do have to renounce the secret treasure in ourselves, the agalma that confers on us our innermost dignity – all those things so dear to personalism; we do have to undergo the conversion of this treasure into a ‘piece of shit’ , into a stinking excrement, and identify with it”234. Feldman hören Der Zuhörer eines endlosen Werkes Feldmans erzeugt einen Sinn dieser Erfahrung anhand seiner ästhetischen Gesinnung: man könnte das Stück strukturell hören, auf der Weise des begleitenden Hörens der Ästhetik Hanslicks; man könnte es als einen Teil der endlosen Signifikantenketten hören oder als Ritual der Desintegration. Aber wir können Feldmans Musik auch im Sinne Lacans hören, besonders, weil diese Musik den Sinn des Musikhörens ernsthaft in Frage stellt. Die Musik, als Immanenz der Zwei, verdoppelt durch den Feldmanschen Technik der scale. Die Schönheit der nonfunktionalen Harmonie der Musik Feldmans ändert sich nicht, aber nach mehreren Stunden stellt man dieselbe Klänge, die vorher noch schön waren, im Frage, da sie jetzt auch Unlust erschaffen. Die Verdopplung hat zu Folge, dass die "treasure" der Musik sich in einem " 'piece of shit, into a stinking excrement' verwandelt. Die Musik Feldmans durchquert die Phantasie der Musik auf der Weise, die wir in diesem Teil beschrieben haben. Während der endlosen Musik wird uns klar, dass es keine Schlussfolgerung, keine Einheit geben wird – dies wird bewirkt von der scale der Länge sowie die Patternstruktur, die die Illusion der Transzedenz vereitelt. Die Aufhebung der Illusion der Transzedenz geschieht also anscheinend äußerst undramatisch; die Taktik Feldmans ist eine subtraktive. Der zweite Schritt macht uns aber deutlich, dass die 232 Zizek 1991, S. 118. Vgl Zupancic, S. 168. 234 Zizek 2005, S. 168. 233 42 Desintegration, der Bruch in der erwünschten Einheit der Musik, schon das Subjekt selbst ist: es ist die Veräußerung des Subjekts in einem wertvollen Objekts, dem Objekt kleine a, das den leeren Ort des Subjekts auffüllt. Wir müssen uns für eine Angst vor der Kunst nicht fürchten – unsere Bindung an Musik als Objekt a reicht dafür aus. Feldmans Musik zeigt die Verdopplung der Erscheinung und demonstriert die retroaktive Performativität des Subjekts. Der Bruch in der Musik ist schon das Subjekt selbst und schafft schon ihren Sinn. Wenn Musik unser Objekt petit a ist, werden wir nicht aufhören können, diese Musik zu hinterfragen und experimentelle Versuchen zu unternehmen, weil Musik die Konsistenz unserer Existenz bildet, weil sie uns definiert, statt wir die Musik. Sie ist nicht länger souverän für alle; die Wahrheit liegt nicht einer allgemeinen elevatorische Attitüde, sondern bei den Objekten, die wichtig für uns sind. Nicht die Musik ist universell – sie ist als Objekt kleine a nur subjektiv – sondern die Struktur des Subjekts, die von diesen Objekten a abhängig ist, wenn sie sich nicht dem Realen aussetzen will. Auch für den Komponisten bedeutet es, dass er eine unendliche experimentelle Attitüde einnimmt gegenüber dem Musik, die er nicht "erreichen" will, sondern die schon seinen Objekt kleine a ist. Feldman selbst nennt sich ein Abenteurer im Rahmen seinem Objektes, der Musik: "Freud's great remark: he never referred to himself as a scientist. He always called himself an adventurer. I always liked that. Because I'm a adventurer"235 Vielleicht ist nur eine solche Ästhetik eine wirklich atheistische Ästhetik – und ein alternatives Ende der Ästhetik. 235 Feldman 1985, S. 196. 43 Literatur Cage, John. Empty Words.Writings '73-'78. Middletown : Wesleyan Univ. Pr. 1979. Claren, Sebastian: Neither. Die Musik Morton Feldmans. Hofheim : Wolke 2000. . -Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1996. Feldman, Morton; Friedman, B.H. (hrsg.): Give my regards to Eighth Street : collected writings of Morton Feldman. Cambridge : Exact Change 2000. Feldman, Morton; Zimmermann, Walter (hrsg.): Morton Feldman Essays. Kerpen : Beginner Press 1985. 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