Der letzte Faden

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Der letzte Faden
Überlegungen zur Komposition des Wozzeck
A. Der Fall Wozzeck
Er sieht immer so verhetzt aus. Da fragt sich ein anständiger Bürger, was
dahintersteckt. Er ist ja eigentlich ein guter Mensch, aber diese Getriebenheit
macht einen doch wahnsinnig, denkt sich sein Vorgesetzter, der es gern
gemütlich hat. Wozzeck hat es ungemütlich und das sieht man und das greift
einen nervlich an. Auch wenn er wahrscheinlich nichts dafür kann. Er hat keinen
Boden unter seinen Füßen, wie ein in Ohmacht Fallender. „Er macht mir ganz
schwindlich!“ singt der Hauptmann.
Geschichte
“Er ist ein Phänomen, dieser Wozzeck!” ruft ihm auch der Doktor hinterher. Der
Fall W. war ein historischer Gerichtsfall aus dem Jahr 1821, aber dadurch, dass
der unbestechliche Büchner sich seiner angenommen hat, ist daraus ein
allgemeiner Fall geworden. Büchner interessierte der Mensch hinter dem
Einzelfall. Was er fand, war eine mythische Figur der Moderne, der Antiheld
existentiell erlittener Ohnmacht.
Weil Büchner früh starb und das Drama nicht vollenden und herausgeben
konnte, dauerte es lange, bis es das erste Mal im Theater aufgeführt
wurde. Das war in München, November 1913, am Residenztheater. Alban Berg
sah die Aufführung ein paar Monate später in Wien. Er war gewiss nicht der
Einzige, der den ungeheuren “Stimmungsgehalt” (Berg) und die mythische
Prägnanz dieser Figur sofort wahrnahm, aber er war besonders geeignet, daraus
eine große Oper in der mythologischen Tradition der europäischen
Operngeschichte zu machen – vielleicht die letzte?
Motiv
Der Fall Woyzeck ist ein Fall im wörtlichen Sinne: ein Fallen aus der
Gesellschaft, in die bodenlose Tiefe der Isolation. In Büchners Version ist es das
Gleiche, Beziehungen zu verlieren oder den Verstand. Wer sozial aus dem
Koordinatensystem fällt, fällt auch psychisch. Alban Berg hat genau das vertont.
Gespeist aus eigenen Erfahrungen, schrieb er die vegetative
Klangspur einer latent schwindelerregenden Panik, in die der Einzelne fallen
kann, wenn der destruktive Druck von außen zu groß wird. Für einen
feinsinnigen Menschen wie Alban Berg hielt der Waffendienst im Ersten
Weltkrieg demütigende Erfahrungen in einem Umfeld bereit, in dem nicht die Sache
das Gesetz schöpft, sondern die Willkür. Das hat ihn sicherlich in seinem Plan
gestärkt. Da steckt, gut sublimiert, auch Wut in dieser Partitur.
Material
Einen Fallenden zu sehen greift an. Wie schnell rutscht man selbst aus auf dem
Parkett der fremdgesteuerten Standards, wenn man aus irgendeinem Grund
abhängig geworden ist. Wozzeck tut weh, weil seine Situation in der Tiefe jeden
betrifft. Die Symptome der Demütigung stoßen ab. „Man schneidet sich an ihm.“
In der Wahrnehmung des Hauptmanns, läuft Wozzeck „wie ein offenes
Rasiermesser“ durch die Gegend.
Berg greift die Situation musikalisch auf, in die der fallende Mann geraten ist.
Streicherglissandi, gläserne und knochige Xylophonakkorde, chromatisch
schillernde Melodien und ein ständiger, blitzschneller Perspektivenwechsel, der
wie ein Wind aus „Süd-Nord“ wirkt. Die Komposition gestaltet den Verlust der
Fassung aus, statt ihn zu psychologisieren, sie physikalisiert den Fall Wozzeck.
Genre
Berg schuf mehr als die Illustration einer Lebenssituation. Er schrieb
eine Oper über den Verlust der Tonalität, in die er alle denkbaren und
undenkbaren Mittel des nicht-tonalen Zusammenhalts einflocht. Der Verlust der
Tonalität ist selbst ein Fall, der Fall in einen schwerelosen Klangkosmos ohne
organisierendes harmonisches Zentrum.
Auch der heroische Ansatz des starken Komponierens, der Schöpfung
erbaulicher sinfonischer Architekturen, fällt nach Mahler in sich zusammen wie
der Turm von Babel. Der noch übrigbleibende Schritt in der europäischen
Musikkultur um 1914 ist die mehr oder weniger systematische Vermeidung der
althergebrachten musikalischen „Sprache“. Jedes Werk wird fortan seine eigene
Sprache sprechen.
Gerade weil der zehn Jahre nach dieser Zeitenwende uraufgeführte Wozzeck
dennoch tonale Elemente enthält, kann er als eine Oper über die Auflösung der
Tonalität betrachtet werden. Um die Auflösung der tonalen Beziehungen erzählen
zu können, sind die Mittel dessen, was sich da auflöst, nötig. So kommt der
eigenartig schillernde Charakter des Werkes zustande. Es ist auf einem Grat der
Musikgeschichte angesiedelt, der auch im 21. Jahrhundert noch das Musikleben
zerteilt und wahrscheinlich immer zerteilen wird. Hier die kollektiv
nachvollziehbare, klassische Form, die immer vom ersten Ton an wie Öl durch
unser Gehirn und unsere Nerven fließt. Dort die fragmentierte Sprache des
einzelnen Werks, die man erst zu verstehen anfängt, wenn es ausgesprochen
hat. Nur wenige Werke sind dazwischen angesiedelt.
Das Werk Wozzeck hängt an einem letzten Faden und sein Protagonist
genauso. Er ist „verhetzt“ wie ein Teilchen ohne jegliche Verknüpfung mit
anderen Teilchen, ein Geisterfahrermolekül in den Bahnen der Gesellschaft. Aus
der Isolation entstehen Panik, Schwindel, Hirngespinste. Klänge. Der Wahn wird
materialisiert, wie es sich für eine Oper gehört. Das ist weniger „soziales Mitleid“,
wie oft gesagt wurde, als die gekonnt präzise Abbildung nervlicher Zustände und kreist damit nach wie vor um das gleiche handwerkliche Thema wie die
sogenannte Affektenlehre, die den Anfang der Operngeschichte begleitete. Berg
vermeidet damit die moralische Bewertung des Falles Wozzeck. Den Zustand,
aus dem heraus ein Kriminalfall entstand, gestaltet er musikalisch, und zwar
mit den authentischen Mitteln seiner persönlichen Musiksprache. Das ist kein
Zufall, sondern danach hat Berg sich den Stoff ausgesucht: dass es keinen
Unterschied gäbe zwischen dem mythischen Drama und dem musikalischen. Nur
dann kann die Partitur der Literatur etwas hinzufügen und aus Literatur Oper
machen. Berg wollte nicht auf Umwegen eine Symphonie schreiben oder eine
Orchesterstudie mit Gesang. Seine Definition von Oper ist die strengste die es
gibt: das Genre, in dem sich Drama und Musik nicht unterscheiden lassen.
Koinzidenz
Wie Schubert in Wilhelm Müllers Gedichten über eine Winterreise eine Methode fand,
seine ureigene Musik in Form von treuester Vertonung des Inhalts zu schreiben, so
stieß Berg mit 29 Jahren auf die richtige Folie, um seine ureigene und zugleich
historisch folgerichtige Musik zu schreiben.
Dazu gehört einerseits das Glück, auf so einen Text zu stoßen, beziehungsweise
das Glück im Unglück, dass dessen Editionsgeschichte ihn solange konservierte,
bis einer wie Berg bereit stand; aber andererseits die Fähigkeit, sich als
Komponist so einen Text anzueignen, ohne jemals aus musikalischer Trägheit
die Führung zu übernehmen. Die Einsicht, dass einen die souveräne
Unterwerfung unter einen erwählten Text zum eigenen Werk führen kann, mehr
sogar als die völlige Freiheit von außermusikalischen Bezugspunkten, kann zu
der dienenden Hingabe führen, wie sie im „Wozzeck“ zu sehen ist.
Einige Grundmotive könnten Berg verführt haben, sich diesem Text zu verschreiben:
Der Protagonist beziehungsweise das Protagonistenpaar ist in der gleichen
Situation, in der sich die Musik als solche befindet, als Berg anfängt, seine
Sprache auszubilden: Die Isolation des einzelnen Tones beziehungsweise
Menschen. Beziehungen ohne verbindende Grundlage, kein Halt in Sicht, unter
sich schwindelerregende Abgründe der Willkür und Kontingenz.
Zugleich enthält diese Literatur schon in sich den Hinweis über sich selbst
hinaus, das heißt die Grenzen der Sprache als Kommunikationsmittel werden
thematisiert und das lädt die Musik als ergänzende Form geradezu ein, weil sie
dort einspringen kann, wo die Sprache bewusst an ihre Grenze geführt wurde.
Der Autor scheint außerdem auf ähnliche Weise die Auseinandersetzung mit dem Tod
mit der ästhetischen Forderung nach Lebendigkeit im Werk in Verbindung zu
bringen, als ginge das eine nicht ohne das andere.
Aesthetik
Bergs Partitur gibt der Lebendigkeit Vorrang vor der durchkomponierten,
symphonischen Einheitlichkeit, oder der absoluten mathematischen Konsequenz.
Lebendigkeit sei das „einzige Kriterium in Kunstsachen“, erklärt auch Büchner in
seinem Lenz. Beide Autoren verbindet die oberste Priorität, dem Leben einen
Raum zu schaffen, Figuren oder Gefühle im Werk leben zu lassen, die im realen
Leben unerträglicherweise verdrängt werden.
Da die Musik geradezu hautnah oder subkutan die Perspektiven der
auftretenden Menschen mitverfolgt, gerinnt sie nie zu einer klassischen
musikalischen „Form“. Sie wächst so unvorhersehbar linear und doch organisch
wie das Drama selbst. Zugleich gelingt Berg das Kunststück, die einzelnen
szenischen Momente in sich gerundet abzuschließen. Jeder Abschluss ist zugleich ein
Übergang in etwas Neues, so wie auch die letzte Szene direkt wieder in den
Anfang der Oper übergehen könnte. So wird selbst das Fragmentarische dieses
Textes in der Komposition zum Kontinuum.
So genau Berg all die einheitsstiftenden Prinzipien seiner Komposition erklärt hat,
ist doch beim Hören ihre Offenheit und Heterogenität auffälliger, die kinetische
und kinematographische Qualität der Musik, die stetige Bewegung, das stetige
Weiterleben, wenn auch auf den Tod hin. Ohne diesen Zielpunkt wäre das Leben
kein Leben, und diese Einsicht, dass formale Geschlossenheit und linearnarrative
Offenheit keinen Widerspruch bilden, macht die Lebendigkeit dieser
Musik aus. Sie gerinnt nicht.
Dadurch kommt sie den inneren Vorgängen des einsamen Menschen näher, als
die Sprache es kann. Das Verhältnis von innen und außen, von erfahrenem
Gefühl und kollektiv behaupteter Normalität, wird in der Musik aufgegriffen,
indem sie die Seelenvorgänge der Protagonisten in der Tat als Vorgänge verfolgt.
Dabei gelingt es Berg, mehrere Personen gleichzeitig abzubilden, indem er das
Orchester nach Gruppen aufteilt. Das Orchester wird nicht als „Apparat“ behandelt,
sondern als Organismus mit vielen Gliedern, die gleichzeitig verschiedene Bewegungen
vollziehen können. Während die Streicher mit Wozzeck fiebern, schnattern die Bläser
dem Doktor nach. Das Orchester springt zeitweise zwischen den nervlichen Zuständen
der Dialogpartner hin und her wie zwei Filmkameras; oder es kombiniert zwei Zustände
zu einem Klangknäuel; oder es spaltet sich regelrecht auf in zwei Lager und sagt damit
auch sehr viel. Insgesamt ist dadurch die Partitur sehr vielfarbig und lebendig, mal wie
ein dicht leuchtendes Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner, mal wie ein gestochener
Kandinsky und mal wie ein wüster Pollock von extremer formaler Klarheit auf den
zweiten Blick. Aber immer der Wozzeck, als zeitloses Gemeinschaftwerk von Büchner
und Berg. Und als solches doch ein historischer Einzelfall. ?
Mythos
Parallel zu Bergs Arbeit am Wozzeck hat Schönberg bekanntlich ein neues
kompliziertes Muster als Ersatz für die Tonalität geflochten. Doch Berg interessierte sich
weniger für die Kraft eines neuen Musters an der Stelle des alten, als für die
Zerbrechlichkeit und zugleich unberechenbare Gewalt eines sich auflösenden
Bezugssystems. Genau darum geht es in Georg Büchners Text. Dennoch war Berg
sich mit Schönberg in einem anderen wichtigen Punkt einig, nämlich der
unbedingten Überzeugung, dass Musik nicht mehr nach den symmetrischen
Prinzipien der klassisch-romantischen Musik aufgebaut werden sollte.
Schönberg prägte den Begriff der „musikalischen Prosa“, um
damit die lineare Erzählweise an die Stelle der zyklischen, „poetischen“, liedhaft
geordneten des 19. Jahrhunderts zu setzen. Das Leben ist nicht vorhersehbar
und überschaubar, die Musik sollte es daher auch nicht sein. Damit schuf er
noch effektiver die Grundlage für die Neue Musik, als mit der Entwicklung der 12Ton-Komposition und der Reihentechnik, denn diese stellte ein neues Korsett an
die Stelle des alten, das Prinzip der stabilisierenden Wiederholung wird eigentlich
nur sublimiert, aber nicht verlassen. Kritische nachfolgende Komponisten wie
Morton Feldman haben darin eine wesentliche Schwachstelle der durch
Schönberg ausgelösten Musikkultur inklusive des Serialismus ausgemacht.
?
Berg als engster Vertrauter von Schönberg ist dieser kritischen Haltung eigentlich
erstaunlich nah. Berg hingegen schrieb Musik am Abgrund der Tonsprache ohne das
Sicherheitsnetz eines Ersatzsystems, um des höchsten ästhetischen Wertes
willen, der Lebendigkeit. Wen interessiert ein Tongeflecht, das stabiler ist, als das
psycho-soziale Netz? Eine Gesellschaft hat so viel Würde wie ihr schwächstes
Glied. So verband Berg den aktuellen Stand der Kompositionsmittel auf seine
Weise mit der Erfahrung, dass jeder in kürzester Zeit in eine entwürdigende
soziale Position geraten kann - es braucht dafür lediglich einen Weltkrieg oder
einen wirtschaftlichen Zusammenbruch. Der verhetzte Wozzeck ist für Berg
zu Recht der Status Quo der Gesellschaft, der Mythos schlechthin für die
Beziehungslosigkeit, und damit großer Opernstoff.
B. Die Oper
I. Fünf Charakterstücke
Die fünf Charaktere, mit denen der Soldat Wozzeck zu tun hat, werden im I. Akt
Szene für Szene in „fünf Charakterstücken“ vorgestellt. Jeder Begegnung ist eine
eigene musikalische Form zugeeignet, ohne dass man das direkt hören könnte.
Sie bilden eine organisierende Folie für das wendige und reaktionsschnelle
Komponieren am Text entlang, ohne dabei als formgebende Kraft stärker als
dieser zu werden.
1. Zimmer des Hauptmanns. Frühmorgens.
Der erste Akkord besteht eigentlich aus zwei Akkorden. Die Hände der Streicher gleiten
über das Griffbrett von einem Ton zum anderen, eingefärbt von einem leisen Wirbel auf
dem Tamburin. Wir befinden uns im militärischen Milieu - und etwas entgleitet. Das
dauert circa anderthalb Sekunden und ist doch Kern für das Weitere. Von diesem ersten
Akkord an treffen sich musikalische Technik und das innerste Thema des Dramas.
Jeder Ton hat seinen Grund in dieser Koinzidenz. Die Komposition hält sich an keiner
Stelle des Dramas länger auf als hier. Wozzeck ist eine urbane Oper, man kommt
schnell zum Punkt.
Das Glissando der Streicher ist der Zustand, in den der Hauptmann von
Wozzeck versetzt wird. Wozzeck selbst ist schwindlig vor Überlebensdruck. Sein
Leben ist ein Drahtseilakt ohne Netz geworden. Der einzige Draht, den er noch
hat, ist der zu Marie, die er seit drei Jahren kennt und mit der er ein Kind hat.
Eine Ehe kommt offenbar nicht in Frage. Ein nicht sehr stabiler Draht, an dem
sein Leben hängt. Der Mann verhetzt, die Frau voller Sehnsucht nach einem
anderen Leben. Dennoch eine relativ geschützte Privatsphäre abseits der
sozialen Widersprüche – scheinbar. Wozzeck merkt überall, dass mehr von ihm
verlangt wird, als er erfüllen kann, er spürt dabei eine gesellschaftliche
Verlogenheit, ohne sie als solche zu erkennen, er weiß nicht, wie er den
Widerspruch aufllösen soll und wird darüber langsam verrückt. Einzig das Vertrauen in
Marie bewahrt ihn vor dem endgültigen Absturz in den Strudel dieses sozialen Drucks.
Der Hauptmann ist von Wozzecks innerem Stress angestrengt, er würde sich
einen ausgeglicheneren Charakter als Barbier wünschen. „Langsam, Wozzeck,
langsam. Er macht mir ganz schwindlich!“ Die Streicher unterstreichen sein
letztes Wort, indem sie von Akkord zu Akkord gleitend an jedem harmonischen
Halt abrutschen. Nirgendwo ist Festland unter den Füßen. Die Tonalität, die sich
über vierzig Generationen verfeinert hat, kann künstlerisch nicht mehr
durchgreifen. Der Hauptmann will davon nichts wissen, für ihn zählt die alte
Ordnung, denn sie stabilisiert seine sichere Ruheposition. Jede Lebendigkeit
bedroht ihn.
Er ist es nicht gewöhnt, dass ihm etwas unkontrollierbar aus der
Hand gleitet. Alles Selbstbewegte macht ihn nervös. Sogar die Vorstellung, dass
die Erde sich dreht. Ein Wind draußen auf der Straße macht ihm „den Effekt von
einer Maus“. Wie hysterisch das ist, daran lässt Berg keinen Zweifel. Bei dem
Wort Maus landet der Hauptmann auf dem zweigestrichenen a mit notiertem
Tremolo.
Wozzeck dagegen ist von Winden und Stürmen aus allen Richtungen umtost. Als
der Hauptmann ihn spöttisch fragt, ob der Wind heute aus „Süd-Nord“ komme,
bemerkt Wozzeck die Falle nicht, weil ein Wind aus Süd-Nord für ihn längst
durchaus plausibel wäre.
Wozzeck fällt das Sprechen schwer, weil die Wirklichkeit vor seinen Augen
verschwimmt. Was in ihm und um ihn vorgeht, kriegt der Strauchelnde nicht zu
fassen, weder in Worte, noch in eine andere Sprache. Alban Berg jedoch hat es
komponiert. Die Musik kommt, durch ihre objektivierende Kraft als mythische
Instanz, der Kreatur am Abgrund zur Hilfe.
2. Freies Feld, die Stadt in der Ferne.
Spätnachmittag.
Sein Gegenüber in der zweiten Szene ist der Kamerad Andres, also diesmal eine
Begegnung auf Augenhöhe. Das Orchester jedoch springt zwischen extrem
unterschiedlichen Stimmungen hin und her. Wenn die Musik Wozzecks Verfassung
zeigt, ist sie geprägt von großer Spannung und weit geöffneten Sinnen, sie plausibilisert
seine Angstvisionen und vollzieht körperlich nach, was er den anderen mitzuteilen
versucht. Wenn Wozzeck bei Büchner sagt: „Hörst du, es wandert was mit uns da
unten“, fügt Berg dumpfe Basspizzicati hinzu, die unter der Erde hervorklingen und
immer
schneller werden. Die Posaunen im Text kommen ebenfalls in der Partitur vor,
auch der angehaltene Atem, usw.
Die andere Stimmung des Orchesters zeigt die Dimension, innerhalb derer sein
Kamerad auf ihn eingehen kann. Er versucht die Stimmung durch Jagdlieder
aufzulockern. Wie so oft in dieser Oper nimmt das Volkslied eine
beschwichtigende Funktion ein, die misslingt. Es wird mit jeder Strophe jämmerlicher
und verzerrter.
Dass sich Wozzeck nicht beschwichtigen lässt, macht zu wesentlichen Teilen die
mythologische Kraft dieses Antihelden aus. Er hat nicht die Mittel zum
Widerstand, aber er lässt sich auch nicht mehr beschwichtigen. Das Streben
nach irgendeiner Autonomie und Erklärung findet seine letzte Nische in
Phantasien, die für Normalisierungsversuche und folkloristische, also
einhegende Beschwichtigungen nicht mehr erreichbar sind.
Wozzeck bebt der Boden unter den Füßen, während in der Stadt die
Militärkapelle aufmarschiert. Vielleicht hört er einfach nur die Trommeln von
weitem und ahnt die Gefahr, die sie für sein Leben bedeuten. Die Szene klingt
sehr leise aus, als ob Berg hier endlich mal einen Augenblick der Ruhe einschieben
wollte, wie einen persönlichen Kommentar zu Andres' letzten Worten: „Nacht! Wir
müssen heim!“ Die Komposition überhöht den Satz zu einer Metapher, die dem
Geschehen vorgreift, jedenfalls die Assoziation einer schwermütigen Perspektive auf die
irdischen Auseinandersetzungen wirft.
3. Mariens Stube
Abends
An Maries Fenster zieht die prachtvolle Marschmusik vorbei. Komplementär zu
Wozzecks Haltlosigkeit entwickelt Marie Sehnsucht nach Halt und ist entsprechend
empfänglich für die ordnende Kraft der militärischen Parade, der choreopraphischen
Tautologie aus Rhythmus und Bewegung – ein Effekt, der von den Nazis eingesetzt
wurde und tatsächlich oft als ein Grund für ihre anfängliche Überzeugungskraft in den
Wirren der Weimarer Republik beschrieben
wurde. Insbesondere der Anführer der Rhythmusgruppe, der sogenannte
Tambourmajor, der mit seinem Taktstock auf ansteckende Weise den Laden
zusammenhält, ist ein Magnet für die Blicke. „Er steht auf seinen Füßen wie ein
Löwe!“ So etwas würde sie über Wozzeck niemals sagen.
Ein Tambourmajor gehört soziologisch eher in den Bereich von Marie und
Wozzeck als in den des Doktors und des Hauptmanns; er hat trotz
seines Namens mit dem Dienstrang des Majors nichts zu tun; aber er hat im
Krieg und an Feiertagen eine wirkungsvolle Rolle als taktschlagender Anführer
der Trommelgarde. Und ihm ist vor allem nicht schwindlig, sein Taktstock scheint
die Lebensordnung zusammenzuhalten.
Kein Wunder, dass Marie sich über ihre Wirkung auf ihn freut. Ihre Nachbarin bekommt
es mit und beleidigt sie bösartig. „Sie guckt sieben Paar lederne Hosen durch! Das weiß
jeder...“ Die Militärmusik wird abrupt unterbrochen. Die fiktive Gemeinschaft der Guten
und Normalen wird – wie schon vom Hauptmann – eingesetzt, um Druck auf die
Außenseiterin auszuüben. Das Orchester vollzieht – mit der Genauigkeit eines
Filmschnitts dem präzisen Text folgend, aber zugleich musikalisch bereichernd als
gestische Dissonanz - den Wechsel in Maries Innenleben, wobei Bergs erweiterte
Regieanweisung mit Hilfe von Pfeilen genauso präzise in den Notentext platziert ist, wie
der Einsatz eines Instrumentes.
Marie: Luder! (schlägt das Fenster zu; bleibt allein mit dem Kind; die Militärmusik ist
plötzlich – als
Folge des zugeschlagenen Fensters – unhörbar geworden)
Die Musik erwirkt den Bruch zwischen Innenwelt und Außenwelt schneller und
effektiver, als jeder Bühnenumbau dazu in der Lage wäre, ohne auf musikalische
Schlüssigkeit zu verzichten. Die erste gemeinsame Szene von Marie und Wozzeck ist
also schon durch einen
doppelten Bruch vorbereitet. Wozzecks verzerrte Wahrnehmung der
Naturgewalten steckt ihm noch in den Knochen, er weiß aber nichts anderes
darüber zu sagen als ein verzweifeltes und sich nach Trost sehnendes „Ach!
Marie...“ In diesem Fall ist die Sprache nicht nur begrenzt, sondern sie trennt
mehr, als sie verbinden kann. Wozzeck scheitert, wenn er versucht Marie seine
Visionen zu beschreiben. Aber es erklärt, warum gesungen wird.
4. Studierstube des Doktors
Sonniger Nachmittag
In den ersten drei Szenen jagt Wozzeck erst dem Hauptmann, dann Andres,
dann Marie Angst ein. Dem Hauptmann wird schwindlig, Andres wird furchtsam
und Marie schauert es. Nur der Doktor freut sich in der anschließenden
Begegnung eiskalt über den medizinischen Fall eines psychisch labilen,
übernächtigten und überforderten Erwachsenen, der von fremden Dämonen der
Moral terrorisiert wird und sich mit einem radikalem Eigensinn zu wehren
versucht, der sich bereits verselbständigt hat.
Der Doktor sieht den Fall, nicht den Menschen. Wozzeck hängt
währenddessen noch nach, dass Marie ihn nicht verstehen konnte: „Ach, Marie,
wenn es finster ist...“ Dass sie nicht anwesend ist, spielt keine Rolle, er
kommt sowieso nicht mehr durch mit seinen Worten. „Ach, Marie!“ singt er
daraufhin noch einmal, als ob er das Unglück ahnt, das beiden droht. Halte zu
mir, halte mich, ich rutsche ab. Weder Marie noch der Doktor können ihn halten.
5. Straße vor Mariens Tür
Abenddämmerung
Nach dieser Passacaglia, formal in der Art einer langweiligen Medizin-Vorlesung
in 21 Variationen das gleiche Thema wiederkäuend, wird endlich Wozzecks ungleicher
Rivale mit einem Andante Affetuoso von nahem vorgestellt. Die Szene ist kurz und fatal.
Der derbe Tambourmajor, der gekommen ist, Marie zu erobern, wird
als eitel und kleingeistig dargestellt, er ist stolz auf seine weißen Handschuhe
und den Federnbusch und das Kompliment seines Vorgesetzten, der ihn „einen
Kerl“ nennt. Er will mit Marie eine „Zucht von Tambourmajors“ anlegen.
Marie findet das zwar lächerlich, aber mit den Worten „Es ist alles eins!“ gibt sie
sich ihm hin. Ihre Resignation ist dramatisch. Wozzeck ist von ihrer Treue
abhängig, seine Ohnmacht wird durch ihre Ohnmacht verstärkt. Die folgenreiche
Verführung ist bei Büchner konsequenterweise sehr lakonisch beschrieben, Berg
fügt hier der Sprache mit seiner Musik einiges Explizite hinzu.
II. Symphonie in fünf Sätzen
Mariens Stube. Vormittag, Sonnenschein.
Nach der Exposition aller Beteiligten durch die „fünf Charakterstücke“ wird deren
dramatische Verstrickung in Form einer fünfsätzigen Symphonie durchgeführt. Auch
hier hört man nicht, dass der II. Akt als „Symphonie“ organisiert ist und dennoch
begegnen sich dadurch musikalische und dramatische Interessen besser.
Sonatensatz
Der Strudel hat nun auch Marie erfasst, auch ihre hoffnungslosen
Autonomieversuche entfalten ihre Eigendynamik. Der Komponist nimmt sich ein
paar Takte Vorspiel heraus, die man sich als Filmmusik für Hitchcocks „Vertigo“
vorstellen könnte. Doch der Dramaturg Alban Berg drängt zur Szene, ohne
ausschweifende Orchestergenüsse.
Das Hauptthema des Sonatensatzes wird vom Orchester vorgestellt, bevor
Marie singend mit sich selbst spricht. Berg zeigt hier, wie virtuos er Farben oder Gesten
in nur wenigen Sekunden etablieren kann, um etwa das Glitzern der Ohrringe, die Marie
vom Tambourmajor bekommen hat, zu untermalen. Solch eine Untermalung ist aber
immer an motivische Verdichtung gekoppelt. Das Motiv der Marie glitzert eben
einen Moment lang durch die hohen Register der Geigen. Doch sofort gibt Büchners
lakonischer Text wieder das Tempo vor. Für kontemplative Arien, die nonchalant die
Handlung unterbrechen, ist hier keine Zeit. Das Kind wacht auf und verlangt
Aufmerksamkeit. Im
Orchestergraben wechselt augenblicklich der Wind vom Hauptthema zum energischen
Überleitungsthema und ein paar Takte später landen wir beim Seitenthema, wenn Marie
von ihren Drohungen übergeht in ein „Schlaflied“, ein Opium-für-das-Volkslied (sehr
kühnes Wortspiel!!!;) ). („Mädel, mach's Lädel zu, 's kommt ein Zigeunerbu', Führt Dich
an seiner Hand Fort ins Zigeunerland!“)
Das Volkslied kommt auch hier in beschwichtigender Funktion vor. Als das Kind
wenig später wieder aufwacht, müssen die Drohungen noch stärker ausfallen,
damit es endlich schläft: „Still! Bub! Die Augen zu! Das Schlafengelchen, wie's an der
Wand
läuft! Mach die Augen zu! Oder es sieht Dir hinein, dass Du blind wirst...“ So perpetuiert
die
Mutter die Grundlage ihrer eigenen Ergebenheit in ihr soziales Schicksal mehr
oder weniger freiwillig in der Erziehung ihres Kindes, indem sie schon früh das
Prinzip der Ohnmacht gegenüber höheren Mächten als unhinterfragt installiert.
Wozzeck betritt wie immer unvermittelt die Szene und wir sind in der
Durchführung des Sonatensatzes. Das Orchester verschmelzt die
Perspektiven von Wozzeck und Marie und beschreibt damit in seinem
Gesamtgestus die Beziehung zwischen den beiden. Noch. Wozzeck drängt den
in ihm aufkeimenden Argwohn zurück und fasst stattdessen mit jenen drei
Worten, die wir schon kennen, alles zusammen, was er an Problemen vorfindet fremde Ohrringe, ausweichende Erklärungen Maries und das albträumende Kind
- , indem er den Refrain der Oper aus tiefem Herzen intoniert: „Wir arme Leut“.
Das Orchester unterstützt den Seufzer nach Kräften, dem komplexen Zustand
hinter dieser einfachen Aussage folgend.
nach Wozzecks Abgang, erklingen die Streicher bei der zweiten Reprise anders
als beim Hauptthema am Anfang der Szene, sie greifen eine jenseitsbezogene
Stimmung voraus, die Marie im III. Akt gänzlich erfasst haben wird. Sie erkennt die
Illusion hinter ihrem scheinbar autonomen Eroberungserfolg, die verzweifelte
Einsamkeit.
„Ach! was Welt! Geht doch Alles zum Teufel:
Mann und Weib und Kind!“ ))
Hab' sonst nichts auf dieser Welt!
Als zweiter Satz der „Symphonie“ folgt nun die eigentliche Buffo-Szene.
Die Melodien in dieser Szene sind so dem Gestus der entsprechenden
Sprechmelodie nachempfunden, dass sie überaus verständlich und trotz ihrer
freitonalen Grundlage eben natürlich wirken; dadurch kommt der pointierte Text
besser zur Geltung. Die Stimme kann auch innerhalb weniger Worte zwischen
Sprechgesang und reinem Gesang wechseln, immer unter dem absoluten
Primat, dem Text zu dienen. Berg hat seine Bearbeitung des Dramas als
Inszenierung verstanden. Der Sprachduktus und damit die inszenatorische
Interpretation, sowie die psychologische Arbeit an den Figuren ist schon
ausgearbeitet und vorgegeben.
Lieber ein Messer in den Leib
Der Mittelsatz, das Largo, ist das Scharnier der ganzen Oper. Vorher sieben
Szenen, hinterher sieben. Doch dort, wo in Wagners Tristan das Liebesduett
untergebracht ist, passiert hier genau das Gegenteil. Der Faden reißt.
Aus der verzweifelten, hilflosen Wehmut des „Ach, Marie...!“ im ersten Akt wird
nun ein zerstörerischer Sog. Ihm bleibt nur noch eine Illusion autonomen
Handelns übrig: Das letzte, was zu ihm gehörte, zu vernichten. „Der Mensch ist
ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut... Mich
schwindelt...“.
Der Faden zerreißt sowohl psychologisch als auch musikalisch in dem Moment,
wo die letzte Beziehung zerstört ist, die Wozzeck noch zu irgendeiner
Gemeinschaft blieb. Um das orchestral zu verdeutlichen, gebraucht Berg ein
Mittel, das ungewöhnlich war: er zerteilt das Orchester in zwei räumlich getrennte
Gruppen, eine für Wozzeck und eine für Marie. Zwei auseinandergeschnittene
Seelen begegenen sich. Der fatale Riss durch ihr Leben wird endgültig in Maries
Geständnis vollzogen: „Und wenn auch!“ Wozzeck geht auf Marie los, aber sie flüstert
ihm seine letzte Tat und damit ihr eigenes Schicksal ein: „Rühr mich nicht an! Lieber
ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich.“ Eine radikalere Abweisung ist
kaum vorstellbar. Zugleich wird Wozzeck klar, dass damit der letzte Spielraum in
seinem Leben definiert ist.
Ab hier spult sich das Schicksal gnadenlos ab, die Würfel sind gefallen. Vorher
sieben Szenen, nachher sieben Szenen. Wenn man Bergs Methoden kennt, wird
man keinen Zufall vermuten in dieser Architektonik. Er konnte nicht genug
heimlich bindende Elemente in seine Kompositionen einflechten. Aber seine
festigende Architektonik hält die fließende, heterogene Komposition unhörbar oder ideell - zusammen; sie ist kein kompositorischer Alleingang, sondern Mittel
zur Darstellung des Dramas.
Immerzu, immerzu!
Die vierte Szene der Peripetie ist ein Scherzo. Wieder drängt sich eine
cineastische Perspektive auf. Nach einem Orchestervorspiel mit Ländler, das
nach einem italienischen Film aus den 1960er Jahren klingt, landen wir in einer
fellinesken Wirtshausszene.
Ein trauriger Gesell, vom Alkohol nicht getröstet, singt über den Ennui des
Lebens: „Meine Seele stinkt nach Branntewein.“ Auch die folkloristische Musik
kann wieder nicht trösten. Sie muss ohne jegliche subversive Kraft
auskommen, weil sie ja dem Beschwichtigen dient und wird daher als solche
musikalisch dekonstruiert zu einer spukigen, hohlen Tanzmusik.
Auch hier taucht natürlich in der Wahrnehmung des handfest ausgestoßenen
Außenseiters das ohnmächtige Schwindelgefühl wieder auf. „Alles dreht sich,
wälzt sich übereinander.“ Der Ekel überkommt Wozzeck, als er Marie
engumschlugen mit dem Trommler tanzen sieht. Sein Leben hat hier ganz
nüchtern gesehen bereits seinen „Sinn“ verloren: der Schwindel ist anstelle eines
Richtungssinns getreten.
Die musikalische Maßnahme, die nun erfolgt, ist ähnlich auffällig wie die räumliche
Aufteilung des Orchesters in der vorhergehenden Scharnierszene.
Eine angsteinflössende rhythmische Passage stoppt abrupt und die vier
Bühnenmusiker der Wirtshausszene fangen an, ihre Instrumente zu stimmen.
Dieses Stimmen ist komplett ausnotiert. Währenddessen setzt sich der Narr zu
Wozzeck, eine Figur aus dem Nichts, die in dem Dramenfragment eigentlich
keine klare Rolle hat. Aber da die Musiker ihre Instrumente stimmen, darf er
auftauchen, in einer kurzen Pause der Oper.
Dem Narr ist bereits das Spaßen vergangen. Während die Burschen und
Soldaten singen „Ja lustig ist die Jägerei ...“ drängt er sich an Wozzeck heran.
„Lustig, lustig... Aber er riecht... - Ich riech' Blut!“ Die Instrumente sind inzwischen
umgestimmt, aus Geigen sind Fiedeln geworden, einen Ton höher gezogen, und
die Bühnenkapelle spielt nun parallel zum Orchester die Tanzmusik in einer
anderen Stimmung weiter, zu der alle wieder tanzen, auch Marie und der
Tambourmajor. Der Narr taucht auf und verschwindet wieder, aber auch er
treibt das Drama voran auf den Mord zu, wenn er geht, klingen die Fiedeln noch
einen Tick schärfer.
Der Schluss des Scherzos bildet den Nervenzustand Wozzecks ab. Fetzen der
eben leidvoll gehörten Tanzmusik, als Inbegriff der Isolation, mischen sich mit
schwindelerregenden Figuren. Das Ganze endet aber wie immer früher als
erwartet und übergangslos, in einem leisen, unheimlichen Chor.
Einer nach dem Andern!
Wozzeck kann nicht schlafen. In der Isolation bleibt nur die Anrufung
Gottes, übrigens fast in jeder Szene. Im Gegensatz zu dem moralisierenden
Potential, das der Hauptmann aus der Religion zieht, wird in der Art der Anrufung
Gottes, wie sie bei Marie und Wozzeck in ihren einsamsten Momenten zu sehen
ist, der existentielle Zugang zur Transzendenz deutlich, als dem in jeder Hinsicht
letzten Dialog.
Die letzte Demütigung wartet zum Zeitpunkt seines letzten Hilferufs noch auf ihn.
Marie tanzt die ganze Nacht begeistert mit ihrem neuen Schwarm. Als der
betrunken in den Schlafssal der Kaserne kommt und laut von den körperlichen
Vorzügen seiner neuen Eroberung prahlt, bleibt Wozzeck auch die Niederlage im
Nahkampf nicht erspart. Blutend, schlaflos und isoliert sitzt er auf seinem Bett,
verlassen von Marie und damit auch endgültig von allen Geistern.
Hier taucht ganz leise der Ton H auf, der im III. Akt eine große Rolle spielen wird.
Finster fasst Wozzeck einen Entschluss.
Wozzeck: Einer nach dem Andern!
(Er bleibt sitzen und starrt vor sich hin.
Die anderen Soldaten, die sich während des Ringkampfes etwas aufgerichtet hatten,
haben sich nach dem Abgang des Tambourmajors – einer nach dem andern –
niedergelegt ... und schlafen nunmehr alle wieder.)
III. Sechs Inventionen
Dass der „Wozzeck“ auch eine Oper über musikalische Fragen mit Hilfe einer
Textvorlage über den Verlust menschlicher Beziehungen ist, zeigt sich
im III. Akt besonders deutlich. Seine fünf Szenen verarbeiten verschiedene
musikalische Grundelemente, die ihre Selbstverständlichkeit verloren haben: das
musikalische Thema, den Ton, den Rhythmus, den Akkord, die Tonart und die
gleichmäßige Achtelbewegung. Auch das Scharnier zwischen Text und Musik - der
Gesang, wird in seinen verschiedenen bereits aufgetauchten Formen nochmals
durchgeführt: kunstvoll-melodiös in der zweiten Szene, folkloristisch in der dritten, in den
verschiedenen Formen des Sprechgesangs in der vierten.
1. Mariens Stube
Es ist Nacht. Kerzenlicht
Das „Thema“ ist das erste musikalische Grundelement, das verarbeitet wird.
Nach zwei Takten Generalpause (zwischen abgeschlossener Peripetie und
anrollender Katastrophe) setzt der III. Akt mit einem neuen und auffallend
„schönen“ Thema ein. Die berührende Trauer dieser Bratschenfigur wird
verstärkt durch ihre Komplementarität zu Wozzecks gerade erlebter
Verzweiflung und Erniedrigung. Das ist ein erzählerischer Effekt,
aber auch ein emotionaler, auf den Berg als Schönberg-Schüler aus rein
musikalischen Materialgründen verzichten hätte müssen. Er war autonom genug,
den Unterschied der Oper zur abstrakten Instrumentalkomposition zu erkennen.
Die richtige dramaturgische Einbindung legitimiert eine traditionell funktionierende
Melodie auch für strengste Tonsetzer der Neuen Musik. So provoziert sie kein
abgeschmacktes Schwelgen, sondern den lebendigen Schmerz. Emotion ist
selbstverständlich legitim bei Berg, wenn sie als etwas verdrängtes Lebendiges einen
Raum im Werk findet, auch in seinen Instrumentalkompositionen.
2. Waldweg am Teich
Es dunkelt
Das Schicksal formiert sich unterdessen in Form eines Tones, der immer
präsenter wird, als Zielton von melodiösen Figuren, als subtiler Orgelpunkt. Die
zweite Szene benennt ihn: „Invention über einen Ton (H)“. Gegen ihn ist kein
Ankommen mehr. Nach ihren einsamen Dialogen mit Gott sind beide ein
letztes Mal zusammen. Aber das seltene Glück, dem Schicksal noch eine Wendung
geben zu können, ist dem Paar nicht gegeben. Das H steht sowohl für den Entschluss
Wozzecks, der sich mehr und mehr verdichtet, indem es in der Partitur immer
dichter vorkommt; als auch für den Tod Maries, die Endgültigkeit, das Schicksal.
Wenn Wozzeck Marie ermordet, hat man durch die kompositorische Deutung das
Gefühl, ein zu scharfes Bild zu sehen. Während sich einerseits thematische
Rückgriffe auf das bisher Gehörte zusammenballen, setzt sich andererseits der
eine Ton immer mehr durch. Die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod, von
vielschichtiger, variierender Entwicklung und eindeutiger Endgültigkeit, auf die
das Leben hinausläuft, ist hier zusammenkomponiert. Die Motive, die bisher an
Marie gezerrt haben, das Wiegenlied, die Ohrringe, Wozzeck, der Tambourmajor,
sind im Sterben, dem Berg vier Takte einräumt, zu einem undurchhörbaren
Knäuel verbunden. Dadurch entsteht weniger ein erzählerischer Effekt
klassischer Leitmotivik, als ein unmittelbarer gestischer Effekt, der aber in der
Tiefe die organisierende Funktion des Leitmotivs vollzieht.
Auch das gläserne Xylophon kehrt wieder wie eine Erinnerung an das unerbittlich
ablaufende Schicksal eines sozialen Strudels, der die Nerven in einen
Extremzustand versetzt. Dann meldet sich das Schicksal zu Wort wie ein Gott
vom Olymp, indem das gesamte Orchester einen einzigen Ton spielt, der zu
einer physikalischen Gewalt anwächst.
Wozzeck: Tot!
(Er richtet sich scheu auf und stürzt geräuschlos davon.)
(Orchester-Überleitung über den Ton H)
Nacht, schwaches Licht
Leitmotive verknüpfen bei Berg meist noch subtilere Bedeutungsschichten als bei dem
Paten der leitmotivischen Musikdramaturgie, Richard Wagner. Nicht Personen werden
verbunden, sondern Zustände, zum Beispiel die ängstliche Stimmung auf dem freien
Feld mit der schlaflosen Nacht in der Kaserne. Auf der Oberfläche oft kaum
wahrnehmbar, dienen solche Verknüpfungen musikalisch und narrativ als festigender
Halt im Hintergrund, ähnlich wie der Einsatz von tonalen Strukturen, klassischen Formen
und Volksliedern, oder die Illustration dramatischer Vorgänge durch das Orchester. Berg
bezieht die künstlerische Aussage nicht alleine aus dem innermusikalischen Material,
sondern aus der gestischen Summe, die auf der Bühne des Musiktheaters entsteht. Er
verlässt sich auf die Wahrheit, die er in Büchners Figuren gefunden hat. Oper ist für ihn
Erzählung mit musikalischen Mitteln und nicht Musik ergänzt um erzählerische Mittel.
Mondnacht wie vorher
So ist auch der orchestrale Epilog in d-Moll (sic) zu sehen, der sich an die
vorletzte Szene anschließt. Die Perspektive dreht sich nach oben wie die
Kamera, die von einem großen Kran in die Vogelperspektive geschwenkt wird.
Das Orchester zieht ein Résumée, das stellenweise stark an Wagners
Götterdämmerung erinnert, dann aber wieder in das angespannte 20.
Jahrhundert zurücktaumelt, schmetternde Bläserfetzen, Trommelwirbel, Pauken,
alles erhebt sich zum letzten Thema, um noch einmal deutlich zu machen, dass
es hier um etwas Großes geht. Die Posaunen posaunen es heraus: Wir arme
Leut.
Heller Morgen. Sonnenschein
Nach dem Résumée ist noch nicht Schluss. Büchner soll das letzte Wort
behalten, beziehungsweise die Kinder. Erstmals im gesamten dritten Akt ist es
nicht dunkel. Die Lebendigkeit entspringt dem Tod, Berg Die kurze abschließende
Invention über eine gleichmäßige Achtelbewegung reflektiert den Kreislauf und zeigt
zugleich seine Gebrochenheit. Sie stellt dabei einen musikalischen Raum her, was
immer etwas Utopisches ist, ein Nicht-Ort, aber trotzdem eine physikalische und
gestalthafte Realität.
Die Nachricht von Maries Tod dringt zu den spielenden Kindern, unter anderem dem
Waisenkind, dem eigentlichen Verlierer. Vielleicht hat es die Chance, selbst zu
entscheiden, ob es Außenseiter sein wird oder nicht. In jedem Ende wohnt ein Anfang.
Die Musik endet dünn, offen, lakonisch. Der Anfang der Oper, darauf hat Berg selbst
hingewiesen, ließe sich musikalisch übergangslos an das Ende anschließen. Die
narrative Linie ist in einen musikalischen Kreis zurückgebogen. Doch was man
hört ist nicht der geschlossene Kreis, sondern die Offenheit, der Raum für das
unerträglicherweise aus dem sozialen Leben Verdrängte.
Moritz Gagern
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