Ö 1-KLASSIKER BERG MEDIENBEGLEITHEFT zur CD Alban Berg (1885-1935) »Wozzeck«, Oper in drei Akten (nach dem Drama »Woyzeck« von Georg Büchner) Erster Akt, 33.35 Minuten Zweiter Akt, 32.45 Minuten Dritter Akt, 22.29 Minuten Konzert für Violine und Orchester »Dem Andenken eines Engels«, 25.34 Minuten 12141 Ö 1-KLASSIKER: ALBAN BERG Das vorliegende Heft ist die weitgehend vollständige Kopie des Begleitheftes zur CD Konzept der Zusammenstellung von Dr. Haide Tenner, Dr. Bogdan Roscic, Lukas Barwinski Executive Producer: Martin Kienzl Musik Redaktion: Dr. Gustav Danzinger, Dr. Robert Werba, Albert Hosp, Mag. Alfred Solder Text: Eleonore Kratochwil Lektorat: Michael Blees Grafikdesign: vektorama. Fotorecherche: Österreichische Nationalbibliothek/ Mag. Eva Farnberger Fotos: ORF, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Herausgeber der CDs und der Begleithefte: Universal Music GmbH, Austria 2007 Besonderen Dank an: Prof. Alfred Treiber, Mag. Ruth Gotthardt, Dr. Johanna Rachinger, Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Medieninhaber und Herausgeber des vorliegenden Heftes: Medienservice des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur 1014 Wien, Minoritenplatz 5 Bestellungen: Tel. 01/982 13 22-310, Fax. 01/982 13 22-311 E-Mail: [email protected] 2 Ö1-KLASSIKER, VOLUME 41 BERG ALBAN BERG: WOZZECK »Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl! Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und der anderen Welt! Ich glaub', wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen!« Die Worte sind bekannt: Wozzeck, wie er leibt und lebt. Sein ganzes Wesen ist in diesen wenigen Worten bereits enthalten; die ganzen unausweichlichen Ver- und Entwicklungen, die nun folgen werden, auch. Die nackte Hilflosigkeit der »armen Leut'«, mit der sie auf ein tragisches Ende zusteuern, als ob es ihnen schon in die Wiege gelegt ist, dieses Ende, dem man nicht entkommt, das von scheinbar unsichtbaren Gesetzlichkeiten des Lebens bestimmt ist. Franz Grundheber weiß das, wenn er in der Figur des Wozzeck in kantablen Deklamationen (nach Schönbergschem Vorbild) zum Grübeln anhebt und damit bereits ganz zu Beginn des Stücks zum unausweichlichen Selbstvernichtungsschlag Wozzecks ausholt. Der Hauptmann, den Wozzeck in der ersten Szene des Werks rasiert, beleidigt und quält den armen Soldaten mit Vorwürfen, weil er ein uneheliches Kind mit Marie hat. »Langsam, Wozzeck, langsam!«, singt Heinz Zednik als Hauptmann, und lässt den Soldaten ständig seine Macht und dessen Ohnmacht spüren. Der starken Beanspruchung, der die Stimmen in Bergs Werk ausgesetzt sind, wenn sie zu unmäßigen Sprüngen gezwungen werden, begegnet Zednik dabei mit scheinbarer Mühelosigkeit. In der zweiten Szene »Auf dem Feld«, wo Wozzeck bei Sonnenuntergang mit dem Soldaten Andres Stöcke aus Büschen schneidet, offenbaren sich Wozzecks Ängste und Wahnvorstellungen. Die Sonne erscheint ihm wie ein Feuerball, der die Welt in Brand setzen wird (»Du, der Platz ist verflucht«). Andres kann ihn gerade noch an der Flucht hindern. In Grundhebers weichem, beinahe sanftem Bariton schwingen gleichzeitig die depressiven und verstörten Nuancen mit, die den Bergschen Anti-Helden so treffend charakterisieren. Doch nicht nur Grundheber dient in dieser überaus gelungenen Aufnahme von 1987 ganz dem Geist der Oper, in der Drama und Musik zu einem einzigen Ausdruck verschmelzen: Mit ihrem erzählenden, äußerst verwandlungsfähigen Sopran trifft Hildegard Behrens schon in der dritten Szene (»Tschin Bum ...! Hörst Bub? Da kommen sie!«) haargenau die ganze unstete Leidenschaft der Marie. Deren Bewunderung für den strammen Tambourmajor – »ein Mann wie ein Baum!« – ist groß. Ihm gibt sie sich, nachdem Wozzeck vorbeikommt, ihr und dem Buben aber in seiner Verwirrtheit kaum Beachtung schenkt und sie, zum Doktor eilend (»Was erleb' ich, Wozzeck?«), in ihrer Einsamkeit wieder zurücklässt, in der letzten Szene des ersten Aktes hin (»Geh einmal vor dich hin ...«). Obwohl Wozzeck das Geschenk des Tambourmajors an Marie, zwei glänzende Ohrringe (»Was die Steine glänzen«), sieht, glaubt er ihr, als sie ihm erzählt, dass sie diese nur gefunden habe. Erst als ihn der Hauptmann und der Doktor (»Wohin so eilig, geehrtester Herr Sargnagel«) mit Andeutungen über die Affäre Maries hänseln, eilt Wozzeck zu Marie (»Guten Tag, Franz«) und stellt die Ungetreue zur Rede. Als er sie schlagen möchte, rutschen ihr die schicksalshaften Worte »Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich« über die Lippen. 3 Im Wirtshaus singen und tanzen die Handwerksburschen. Berg stellt in dieser Szene (»Ich hab' ein Hemdlein an, das ist nicht mein ...«) nach dem Vorbild von Schrekers ZigeunerMusik aus »Der ferne Klang« eine lebendige Heurigenmusik auf die Bühne. Unter den vielen Leuten sieht man auch Marie und den Tambourmajor. Wozzeck erträgt alles, aber als der Narr gegen Ende der Szene meint, dass es nach Blut rieche, rastet er aus. In der Nacht (»Oh! Oh! Andres! Ich kann nicht schlafen«) kommt es in der Kaserne schließlich zu einem Kampf zwischen dem betrunkenen Major und Wozzeck, der diesem unterliegt. Josef Hermann und Karl Dönch als Wozzeck und Doktor in Bergs »Wozzeck«, Wiener Staatsoper im Theater an der Wien, 1952 Gunnar Graarud und Rose Pauly als Tambourmajor und Marie (Wiener Staatsoper 1930) Der letzte Akt beginnt mit Marie, die die Bibelstelle von der Ehebrecherin liest. Sie wird von Gewissensbissen geplagt (»Und kniet hin zu seinen Füßen«). Endlich läuft sie in die Dunkelheit hinaus und sucht nach dem vor Eifersucht rasenden Wozzeck. Sie findet ihn am Teich, doch als sie ihn zurückholen will (»Dort links geht's in die Stadt«), ersticht er sie. Verwirrt eilt Wozzeck in die Stadt. Im Wirtshaus fällt er Margret, der Nachbarin von Marie, um den Hals (»Tanzt alle; tanzt nur zu«), die Blutflecken an seinen Händen entdeckt. Wozzeck hastet daraufhin zum Teich, um nach dem Messer zu suchen (»Das Messer? Wo ist das Messer?«). Dieses wirft er weit in den Teich, doch als er sich die Hände waschen will, gerät er immer tiefer ins Wasser, das ihn schließlich verschluckt. Von den Kindern des Dorfes erfährt Wozzecks Bub nun, dass seine Mutter tot ist (»Ringel, Ringel, Rosenkranz, Ringelreih'n«). Auf einem Steckenpferd reitet das Kind den anderen hinterher. Ob mit der »psychographischen« Untermalung der dramatischen Dialoge oder in den vielen Zwischenaktmusiken – die Wiener Philharmoniker feierten bei der vorliegenden Aufnahme unter Claudio Abbados musikalischer Leitung (damals gerade musikalischer Direktor des Hauses am Ring) und mit der damaligen Inszenierung des Werks durch Adolf Dresens einen ihrer größten Erfolge. Der manchmal innige, dann wieder donnernde Klang des Orchesters berührt und quält zugleich. Obwohl Berg selbst bei der Komposition seines Werkes nicht die Absicht gehabt hatte, ein revolutionäres Werk zu schaffen, gilt die Oper doch als wichtigstes Musikdrama des Expressionismus und aber auch als das repräsentativste Werk der modernen Musik überhaupt. Die Uraufführung am 14. Dezember1925 in Berlin hatte trotz hochkarätiger Besetzung – Erich Kleiber als Dirigent neben Leo Schützendorf als Wozzeck und Sigrid Johanson als Marie – einen riesigen Skandal hervorgerufen. Die realistische Aussage der Oper 4 erschreckte den Durchschnittshörer. Neben den üblichen höhnischen Zwischenrufen war es bei laufender Aufführung sogar zu Handgreiflichkeiten im Publikum gekommen. Während sich die damals rechtsgerichtete Presse ebenfalls in polemisch abfälligen Äußerungen erging, und Bergs Musik als »kriminell« und das »Gestotter in der Staatsoper« als »Kapitalverbrechen« kritisierte, gab es doch auch eine Reihe positiver Stimmen. So schreibt etwa Adolf Weißmann in der Berliner Zeitung vom 16.12.1925: »[...] wir atmen bei Berg völlig andere Luft. So sehr wir den Sieg des ordnenden Geistes schätzen: das Wesentliche ist die Atmosphäre, die hier klingt. Es ist dem Durchschnittshörer nicht zuzumuten, dass er jeden Augenblick die auf Papier doppelt staunenswerte Gekonntheit dieser Musik bewundert; er sieht sie nicht, er hört sie. Und er muss hören, wie die Handlung sich naturalistisch auslebt; aber auch, wie die Luft bebt, wie die Seele zittert, wie Hintergründiges erklingt, kurz wie das Tragische der Wozzeckgestalt, des Wozzeckschicksals ergreifende Musik wird.« Mit der »doppelt staunenswerten Gekonntheit« verweist Weißmann auf die Durchstrukturierung des Werks einerseits und die gegenseitige Durchdringung von symmetrischer Struktur und symbolträchtigem Inhalt des Werks andererseits. Berg verbindet gekonnt die historischen und ideologischen Verwicklungen des Büchnerschen sozialen Dramas mit einer »zeitlosen« musikalischen Sprache. Dennoch ist das Werk nicht rein atonal. Die hochexpressive Musik Bergs, aus der die dumpfe Seele Wozzecks und die Gewissensqualen Maries entströmen, ist unter Heranziehung traditioneller musikalischer Formen entstanden. So besteht der erste Akt aus einer Suite, einer Rhapsodie, einem Marsch und einem Wiegenlied, einer Passacaglia und einem Andante affettuoso, der zweite Akt aus einer fünfsätzigen Symphonie und der dritte Akt aus einer Reihe von Inventionen. Berg war bei der Entscheidung für solche reine musikalische Formen von einer inneren Notwendigkeit getrieben gewesen: »Schon die Notwendigkeit, von den 26 losen, teils fragmentarischen Szenen Büchners eine Auswahl für mein Opernbuch zu treffen, hiebei Wiederholungen, soweit sie musikalisch nicht variationsfähig waren, zu vermeiden, weiter diese Szenen eventuell zusammenzuziehen und aneinanderzureihen und sie gruppenweise in Akte zusammenzufassen, stellte mich – ob ich wollte oder nicht – vor eine mehr musikalische als literarische Aufgabe, also vor eine Aufgabe, die nur mit den Gesetzen der musikalischen Architektonik zu lösen war und nicht mit denen der Dramaturgie.« »Die durch eine solche Auswahl und Zusammenziehung erübrigten 15 Szenen nun aber abwechslungsreich zu gestalten, wodurch allein ihre musikalische Eindeutigkeit und Einprägsamkeit gewährleistet erscheint, verbot aber erst recht, so wie dies häufig üblich ist, sie lediglich auf ihren literarischen Inhalt hin fortlaufend >durchzukomponieren<. Eine absolute, in der Struktur noch so reiche, das dramatische Geschehen noch so treffend illustrierende Musik hätte nicht verhindern können, dass sich schon nach einer kleinen Anzahl von auf diese Weise komponierten Szenen das Gefühl musikalischer Monotonie bemerkbar gemacht hätte [...]. Und Langeweile ist doch das letzte, was man im Theater empfinden darf!« Berg hatte Georg Büchners Dramenfragment »Woyzeck« im Mai 1914 in Wien mit Albert Steinrück in der Titelrolle gesehen. Sofort fasste er den Entschluss, eine Oper zu schreiben, doch die Niederschrift des Librettos sollte drei Jahre dauern: Im August 1915 war Berg zum Militärdienst einberufen worden. Das Kasernenleben, die demütigenden Handlungen, 5 Georg Büchner die vielen kleineren und größeren Ungerechtigkeiten, die er während seines Dienstes erleben musste, bestärkten ihn in der Absicht, dieses Stück über die Leidensgeschichte eines einfachen Proletariers zu schreiben. Alma Mahler um 1909 Alban Berg, 1909 1917 hatte Berg schließlich mit der Komposition des Stücks begonnen. Er widmete die Oper Alma Maria Mahler, mit der ihn eine tiefe Freundschaft verband und die Berg auch finanziell unterstützte. Nach der Herstellung eines Klavierauszuges 1922 verschickte Berg sein Werk an verschiedene Opernhäuser, jedoch ohne Erfolg. Erst der umstrittene Musikdirektor Max von Schillings, unter dessen Leitung sich die Lindenoper im Besonderen der Neuen Musik zugewandt hatte, nahm das Werk an, dessen Premiere oft in Zusammenhang mit Schillings fristloser Entlassung im November 1925 gesehen wird. Der Komponist hatte seine Musik unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges niedergeschrieben, doch die Aussage des Werks gemahnt bereits an die Leiden und Schrecken des Krieges, der bald folgen würde, unter anderem dann, wenn Wozzeck die Worte sagt: »Der Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut.« Und dennoch: Jenseits der depressiven Spannung und der sozialen Anklage, entsteht der Eindruck, dass es selbst im Elend noch Poesie gibt. So hat selbst ein tragisches Leben, wie dasjenige Wozzecks, eine sinnhafte, Einheit schaffende Gestalt, und zwar aufgrund der zyklischen Bewegung, die in der Entfaltung dieses Lebens und seinem Vergehen entsteht. Bergs Faszination für dieses Prinzip bogenhafter Symmetrie sollte sich in der letzten Lebensphase schlussendlich noch verstärken. ALBAN BERG: KONZERT FÜR VIOLINE UND ORCHESTER »DEM ANDENKEN EINES ENGELS« Im Violinkonzert, das Berg in seinem letzten Lebensjahr vollendete, verwirklicht er dieses Prinzip in voller Konsequenz. Nicht nur, dass der Gesamtplan einen das ganze Werk übergreifenden Bogen nachzeichnet, der von einer Symmetrieachse zwischen den beiden Teilen gehalten wird; auf allen Ebenen, auf jener der Sätze, der Abschnitte, der Figuren und 6 Motive, selbst in der Tempokurve der Sätze, vom Andante über das Allegretto hin zum Allegro und zurück zum Adagio, trifft man auf ebenso viele Bogenformen. Unterstützt wird diese Struktur durch Bergs durchgängige Verwendung einer Zwölftonreihe – ein Vorgehen, mit dem Berg übrigens zum Vorreiter wurde, da das Violinkonzert das erste Solowerk darstellt, auf welches eine solche Reihe konsequent angewendet wird. Oft entsteht die »Spiegelform« hier nun durch die Verbindung eines Reihengebildes mit dessen anschließender Umkehrung, wie das bereits im ersten Takt des Werkes so deutlich zutage tritt. Schon die ersten sieben Reihentöne, die das Andante einleiten, präsentieren das gesamte Programm des Werks. Das Klanggebilde, das durch die leeren Saiten der Solo-Violine entsteht, erinnert dabei weniger an eine dodekaphonische Reihe, als an Dur- und Molldreiklänge. Berg hatte aus der Erkenntnis der »geringeren direkten gehörsmäßigen Erfassbarkeit dodekaphonischer Musik im Vergleich zur tonalen Sprache« den Schluss gezogen, dass man, um die Expressivität zu steigern, unterschiedlichste – tonale und atonale – Mittel einsetzen muss. Ein Zitat Cocteaus bringt Bergs Bekenntnis zur expressiven Schreibweise auf den Punkt: »Alban Berg weiß ganz genau, bis wohin er zu weit gehen darf.« Wichtiger als die Reihe erschien dem Komponisten daher auch in seinem Violinkonzert der unmittelbare Ausdruck, war doch der Anlass zur Niederschrift dieses Werkes ebenfalls ein unmittelbarer gewesen. Berg hatte im Februar 1935 vom amerikanischen Geiger Louis Krasner den Auftrag für ein Violinwerk bekommen. Vorarbeiten waren bald vorhanden, doch zeigten sich zu jener Zeit – Berg war gerade im Begriff die Orchestrierung seiner zweiten Oper »Lulu« zu beenden – Anzeichen körperlicher wie auch kreativer Erschöpfung. Nur ein Ereignis wie der plötzliche Tod der achtzehnjährigen Manon Gropius, der Tochter von Alma Mahler-Gropius-Werfel, der das Ehepaar Berg innig verbunden gewesen war, hatte neue Kräfte für die Ausführung von Krasners Auftrag zu mobilisieren vermocht. Manon Gropius Manon war am 22. April durch eine Lähmung des Zentralnervensystems verstorben. Hastig hatte Berg nun zu schreiben begonnen. Geleitet wurde er durch den Gedanken, dass er bei der Komposition versuchen würde, die »Wesenszüge des jungen Mädchens in musikalische Charaktere umzusetzen«. Am 23. Juli war das Particell fertig; am 11. August vollendete er die Partiturreinschrift und widmete das Werk »Dem Andenken eines Engels«. Dass das Werk der thematischen Absicht eines Requiems folgt, zeigt sich unter anderem auch dadurch, dass es aus zwei Teilen besteht, die durch verschiedene Tempi unterteilt sind. Der erste Teil scheint dabei Manons kurzes Leben nachzuzeichnen. Bei dem tonalen Zitat, das Berg in das Allegretto, aber auch am Ende des zweiten Werkteiles, einbaut, handelt es sich um die Kärntner Volksweise »Der Vogel auf dem Zwetschgenbaum«. 7 Dieses Lied steht vermutlich im Zusammenhang mit einer Erinnerung Bergs an die Mutter seiner einzigen Tochter, an Marie Scheuchl. Das Motiv erinnert aber auch an die glückliche Kindheit von Manon. Ihm steht im zweiten Werkteil Bachs trauriger Choral »Es ist genug« – ein weiteres tonales Motiv des Violinkonzertes – gegenüber: Es ist eine Musik des Sterbens. Dieser Choral aus der Kantate »O Ewigkeit, du Donnerwort« (BWV 60) weist durch seine Seufzerfiguren und aufgrund der Übereinstimmung der Schlussphrase mit der Volksmelodie eine Verwandtschaft mit dem ersten Zitat auf. Die vielen Bezüge, zu Manons Schicksal, zu Bergs eigener Jugend und zu späteren Erlebnissen, aber auch die in der Musik bereits spürbare Vorahnung auf die kommende politische Katastrophe einerseits, auf das Zuendegehen von Bergs eigenem Leben andererseits – all das macht das Violinkonzert zu einem unglaublich komplexen Werk. Berg erlebte die Uraufführung seiner Komposition durch Krasner unter Hermann Scherchen im April 1936 nicht mehr; noch im Dezember des Vorjahres erlag er einer Blutvergiftung. Die absolute Hingabe und der Dienst an der Musik zeigt sich auch in folgenden Schlussbemerkungen Alban Bergs zu seiner Oper »Wozzeck«: »Mag einem noch so viel davon bekannt sein, was sich im Rahmen dieser Oper an musikalischen Formen findet, wie das alles streng und logisch >gearbeitet< ist, welche Kunstfertigkeit selbst in allen Einzelheiten steckt von dem Augenblick an, wo sich der Vorhang öffnet, bis zu dem, wo er sich zum letzten Mal schließt, darf es im Publikum keinen geben, [...] der von etwas anderem erfüllt ist als von der weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper. Und das – glaube ich – ist mir gelungen!« Alban Bergs Wohnung, Wien XIII. 8