Odette Toulemonde - Pathé Films AG Zürich

Werbung
eine Produktion von
Bel Ombre Films, Antigone Cinéma, Pathé Renn Production,
TF1 Films Production, Les Films de l'Étang, RTBF
Zurich Film Festival 2007
Gala Premiere
ODETTE TOULEMONDE
Ein Film von
Eric-Emmanuel Schmitt
Mit
Catherine Frot
Albert Dupontel
Kinostart: 18. Oktober 2007
Dauer: 100 min.
www.odettetoulemonde-lefilm.com
www.eric-emmanuel-schmitt.com
FILMVERLEIH
MONOPOLE PATHÉ FILMS AG
Neugasse 6, Postfach, 8031 Zürich
T 044 277 70 83 F 044 277 70 89
[email protected]
MEDIENBETREUUNG
Esther Bühlmann
Niederdorfstrasse 54, 8001 Zürich
T 044 261 08 57 F 044 261 08 64
[email protected]
www.pathefilms.chKURZINHALT
Was würde es nützen zu jammern? Also macht Odette Toulemonde (Catherine Frot) das Beste aus ihrem
bescheidenen, kleinen Leben: Stets gut gelaunt und wie aus dem Ei gepellt, wirkt sie rundum zufrieden.
Tagsüber steht sie sich zwar in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses die Beine in den Bauch und in
ihrer kleinen Mietwohnung drängeln sich ihr liebenswerter schwuler Sohn, ihre picklige, arbeitslose
Tochter und deren ordinärer Freund. Aber es gibt etwas Grösseres, Berührendes in ihrem Leben: die
Romane des Schriftstellers Balthazar Balsan (Albert Dupontel). Doch der verwöhnte Mann interessiert
sich nicht für seinen treuesten Fan. Als die Kritiker sein neues Buch zerfetzen, verfällt der verschmähte
Künstler in eine Depression und braucht dringend Trost – Odettes grosse Chance ist gekommen…
INHALT
Jammern würde nichts nützen. Denn das Schicksal lässt sich weder in die Karten sehen noch in die
Hand nehmen, das steht nun einmal fest. Konsequenterweise macht Odette Toulemonde (Catherine
Frot) das Beste aus ihrem bescheidenen, kleinen Leben: Immer gut gelaunt und wie aus dem Ei
gepellt, stöckelt sie durch die Gegend, wirkt rundum zufrieden und völlig eins mit sich und der Welt.
Dabei hätte sie Grund genug, unzufrieden und griesgrämig zu sein. Tagsüber steht sich die
verwitwete Mittvierzigerin in der Kosmetik-Abteilung eines Provinz-Kaufhauses die Beine in den
Bauch, nach Feierabend näht sie Pailletten auf die Kostüme von Pariser Revuetänzerinnen. In ihrer
kleinen Mietwohnung drängeln sich ihr liebenswerter schwuler Sohn, ihre picklige, arbeitslose Tochter
und deren ordinärer Freund. Zwangsläufig sind Zoff und Ärger an der Tagesordnung.
Doch es gibt Besseres, Berührendes in ihrem Leben: die Romane des Schriftstellers Balthazar Balsan
(Albert Dupontel). Bei der Lektüre – ob im Bus oder im Bett – entflieht Odette ihrem tristen Alltag.
Darum ist es nur allzu verständlich, dass ihr grösster Wunsch darin besteht, ihrem Lieblingsautor
persönlich danken zu können. Denn ihm und seinen Büchern, davon ist sie überzeugt, verdankt sie
ihren Optimismus. Balsan wiederum – klug, erfolgreich, attraktiv – hat alles, um glücklich zu sein,
hadert aber mit sich und seiner Existenz. Ohne es zu ahnen, erfüllt er Odette den Traum ihres
Lebens, als er eines Tages nicht nur völlig unerwartet vor ihrer Wohnungstür steht, sondern
tatsächlich Einlass begehrt.
Der Beginn einer tragikomischen Romanze zwischen zwei Sonderlingen, die Welten trennen...
PRESSENOTIZ
Liebe, Hoffnung, Glück, Einsamkeit – von diesen Gefühlen leben all seine Bücher. „Monsieur Ibrahim und
die Blumen des Koran“, „Die Schule der Egoisten“, „Mein Leben mit Mozart“ – kaum ein anderer
französischer Schriftsteller der jüngeren Vergangenheit hat so viele internationale Bestseller geschrieben
wie Eric-Emmanuel Schmitt. Jetzt präsentiert er seinen ersten mit Spannung erwarteten Film. In „Odette
Toulemonde“ erzählt Schmitt auf gewohnt humanistische und unterhaltsame Art die phantasievolle,
zärtliche, elegante Geschichte von zwei Aussenseitern, in der Humor und Ernst im Gleichgewicht bleiben,
kurz: Wellness-Urlaub für die Seele.
Mit den französischen Stars Catherine Frot („La tourneuse de pages“) und Albert Dupontel („Fauteuils
d'orchestre“) fand Eric-Emmanuel Schmitt zwei grossartige Interpreten, die seinen kauzigen Helden auf
wunderbar leichte Weise Gewicht und ein breitgefächertes, bewegendes Innenleben verleihen. Mit
hintergründigem Witz und Detailverliebtheit ist „Odette Toulemonde“ ein typischer Eric-Emmanuel Schmitt
geworden, nur diesmal eben auf Zelluloid. In Frankreich haben sich über 900.000 Kinozuschauer von
Odette verzaubern lassen.
INTERVIEWS
2
Interview mit Eric-Emmanuel Schmitt
Obwohl Sie es stets ablehnten, Ihre eigenen Bühnenstücke zu inszenieren, haben Sie das
Abenteuer Kino mit „Odette Toulemonde“ gewagt. Erfüllen Sie sich damit einen langgehegten
Wunsch?
Als ich zehn war und man mich fragte, was ich später werden will, antwortete ich: „Walt Disney!“ Diese
Antwort erklärt sich damit, dass ich damals nur Zeichentrickfilme sah, aber gemeint war natürlich
Filmemacher. Leider habe ich dieser Leidenschaft nicht früher nachgegeben, warum, weiss ich nicht.
Vielleicht, weil ich insgeheim der Meinung war, dass meine Fähigkeiten nicht ausreichen.
Welche Filme und Regisseure spielten in Ihrem Leben eine wichtige Rolle?
Ich war 15, als mir bewusst wurde, dass das Kino eine Kunstform ist, denn ich hatte gerade „Orpheus“
von Jean Cocteau gesehen. Dieser Film hat mich dermassen fasziniert, dass ich ihn mir immer wieder
ansah. Ich mochte die metaphysische und poetische Geschichte, aber ich bewunderte auch die
Spezialeffekte. An diesem Tag erwachte meine Leidenschaft fürs Kino, für Filmautoren wie Cocteau
und die grossen Komödien-Regisseure. Ich mochte Ophüls, Lubitsch... „Sein oder Nichtsein“ ist ein
Film, den ich auswendig kenne. Unter den zeitgenössischen Regisseuren bewundere ich Jaco Van
Dormael sehr. „Toto le héro“ und „Le huitième jour“ sind echte Meisterwerke. Ich denke, meine
Bewunderung für so viele Regisseure hat mich davon abgehalten, selbst Filme zu drehen. Ich war
überzeugt, dass ich keiner bin.
Was hat sie schliesslich doch veranlasst, sich ans Filmemachen zu wagen?
Das habe ich meinem Kollegen Yann Moix zu verdanken. Er stand kurz vor Beginn der Dreharbeiten
zu „Podium“, und ganz ehrlich, ich war weder eifersüchtig noch neidisch, sondern freute mich einfach
für ihn, dass er seinen Film macht. Eines Tages fragte er mich: „Warum drehst du eigentlich keine
Filme?“ Und ich sagte: „Weil ich das nicht kann.“ Darauf antwortete er mir mit dem Satz: „Also, wenn
es einen Menschen gibt, der sich in der Welt des Eric-Emmanuel Schmitt auskennt, dann ist es EricEmmanuel Schmitt.“ Es klingt lächerlich, aber diese Worte haben etwas in mir ausgelöst. Ich sagte
mir: Es stimmt, wenn sich jemand in meiner Welt auskennt, dann ich. Offen gestanden war ich
manchmal nicht so recht zufrieden mit den Inszenierungen meiner Bühnenstücke oder den
Verfilmungen meiner Bücher, weil sie in meinen Augen nicht ganz stimmig wirkten. Kein Wunder, dass
ich während der Dreharbeiten besessen davon war, dass alles stimmig wird: stimmige Kamerafahrten,
stimmige Betonungen, stimmiges Schweigen...
Hatten Sie die Geschichte von „Odette Toulemonde“ bereits im Kopf, bevor Sie überhaupt nur
einen Gedanken ans Regieführen verschwendeten?
Ehrlich gesagt sind die Grundzüge dieser Geschichte autobiographisch. Während einer Lesetour
durch Deutschland, es war irgendwo an der Ostsee, hatte ich eine Signierstunde und später eine
Lesung in einem ausverkauften Theater, und trotzdem war ich deprimiert. Es war mein Geburtstag,
keiner wusste davon, und ich war weit weg von zu Hause. Eine Leserin überreichte mir einen Brief.
Sie trug ihr bestes Sonntagskostüm und wirkte für diesen Anlass viel zu aufgerüscht. Durch den
Umschlag hindurch konnte ich fühlen, dass sich ein Schaumstoffherz darin befand, was sich später
bestätigte. Obwohl ich mich natürlich bedankte, war ich auch verstimmt – weil ihr Geschenk so
kitschig war, und weil diese Frau einen so gänzlich anderen Geschmack hatte als ich. Ich konnte nicht
nachvollziehen, dass ausgerechnet sie meine Bücher mochte. Offen gestanden habe ich mich fast
geschämt, eine solche Bewunderin zu haben.
In einem ähnlichen Dilemma steckt Balthazar Balsan, der von sich sagt, dass er für
Kassiererinnen und Friseusen schreibt.
Genau! Diese Leserin konnte ihre Zuneigung nur mit kitschigen Mitteln ausdrücken, und prompt sah
ich bloss den Kitsch, ohne die Grosszügigkeit und Menschlichkeit zu erkennen, die sich dahinter
verbargen. Damals habe ich wie ein typisch engstirniger Franzose reagiert, nämlich mit einer
gewissen Verachtung für den Geschmack der anderen. Eine Stunde später sass ich allein in meinem
Hotelzimmer, traurig und melancholisch, und öffnete den Brief. Es war ein sehr schöner Brief, und
dieses Schaumstoffherz, das ich zunächst so lächerlich gefunden hatte, habe ich dann an meine Brust
gedrückt, fast die ganze Nacht.
3
Haben Sie diese Leserin auch besucht?
Nein, die Geschichte endet hier. Aber an jenem Tag ist mir klar geworden, dass nur die Ehrlichkeit der
Gefühle zählt. Als ich wieder zu Hause war, fiel mir auf, dass es sich um einen interessanten Anfang
für eine Geschichte handelte. Statt diese Geschichte selbst zu erleben, habe ich sie also erfunden und
aufgeschrieben.
Wie kamen Sie auf den Namen Odette Toulemonde?
Das war eine spontane Eingebung. Als ich Gaspard de Chavagnac, dem Produzenten, und Bruno
Metzger, meinem künstlerischen Leiter, erzählte, dass die Heldin Odette Toulemonde heissen könnte,
haben sie dermassen gelacht, dass ich mir schwor, bei dem Namen zu bleiben. Toulemonde (auf
deutsch etwa: Jedermann) ist ein geläufiger Name in Nordfrankreich und Belgien.
Wie würden Sie Odette beschreiben?
Sie ist eine Frau, die bildlich gesprochen eine Jazzband in sich trägt, denn sie ist ein fröhlicher
Mensch. Diese Fröhlichkeit hilft ihr, das Leben zu meistern und Schmerzhaftes zu vergessen – oder
zu glauben, dass sie es vergessen kann. Seit dem Tod ihres Mannes hat sie ihren Körper
ausgeblendet. Man könnte sagen, dass Odette dem Autor Balthazar seine Seele zurückgibt und er ihr
im Gegenzug ihren Körper. Von diesem Tausch handelt der Film. Deshalb wird aus den beiden am
Ende ein Paar. Sie verschmelzen sowohl in der Liebe als auch in der Welt ihrer Gedanken.
Ihre Kinder betrachtet sie mit nüchternen Augen...
Ja, sie findet es schlimm, eine chronisch schlecht gelaunte Tochter zu haben, aber nicht, dass ihr
Sohn homosexuell ist. Odette weiss, was zählt: So lange ihr Sohn glücklich ist, ist sie es auch; aber
weil sie spürt, dass ihre Tochter unglücklich ist, sorgt sie sich um sie und versucht, sanft in ihr Leben
einzugreifen.
Odettes Alltag ist nicht gerade berauschend.
Trotzdem sieht sie im täglichen Einerlei nur das Schöne, lässt sich immer wieder überraschen und
verzaubern. Sie begegnet ihren Mitmenschen voller Aufmerksamkeit, was man gleich in der ersten
Szene mit der misshandelten Kundin sieht, die später noch einmal auftaucht. Dabei ist ihr Leben kein
Zuckerschlecken, viel Geld verdient sie schliesslich nicht. Sie hat sogar zwei Berufe: Tagsüber
arbeitet sie als Verkäuferin in der Kosmetik-Abteilung eines Kaufhauses, abends näht sie Federn auf
die Kostüme von Revuetänzerinnen.
Warum ausgerechnet Federn?
Weil der Film von der Begegnung zwischen einem Mann der Feder und einer federleichten Frau
handelt! Im Ernst, dieser Beruf fasziniert mich sehr, wie viele andere Handwerksberufe übrigens auch.
Er ist äusserst selten, in Paris gibt es nur noch zwei Frauen, die ihn ausüben. Die Tatsache, dass
Odette Federn annäht und prunkvolle Kostüme herstellt, ermöglicht ihr kleine Fluchten. Tief in ihrem
Innern klingt diese Lebensfreude nach, die von Joséphine Baker verkörpert wird, deren Lieder sie
kennt und die ein wenig wie ihre innere Stimme ist.
Und doch ist es ein Schriftsteller, der sie glücklich macht: Balthazar Balsan.
Ich glaube, dass sie das Geheimnis des Glücks in sich selbst trägt, aber Odette ist überzeugt, dass sie
es diesem Mann verdankt, dessen Romane ihr einfach gut tun. Während sie um ihren Gatten trauerte,
waren es seine Bücher, die ihr halfen, den Kontakt zur Aussenwelt aufrechtzuerhalten. Odette ist
über- zeugt, dass sie in Balthazars Schuld steht und es ihre Pflicht ist, ihm das zu sagen.
Schlussendlich löst sie ihre Schuld auf eine Weise ein, die alles übertrifft, was sie sich ausgemalt
hatte.
Kennen Sie derartige Beziehungen zu Lesern aus eigener Erfahrung?
Ja, solche Dankesbezeigungen habe ich schon oft erlebt, und sie rühren mich zutiefst. Anderen etwas
Gutes tun – davon wagt man beim Schreiben nicht mal zu träumen. Doch manche Leser bestätigen es
einem mit grossartigen Briefen, die zu Herzen gehen, wieder andere zeigen es auf amüsante Weise.
Wie neulich diese Dame in Brüssel, die eine Buchhandlung betrat, in der ich gerade Bücher signierte,
und sagte: „Wenn ich mal wieder meinen Moralischen habe, gönne ich mir einen Schmitt. Übrigens
schmitte ich auch meine Freundinnen regelmässig auf.“ Bei Büchern wie „Oscar und die Dame in
4
Rosa“ loben mich die Leute nicht, für die bedanken sie sich. Das ist die schönste Belohnung für einen
Schriftsteller. Weil es bedeutet, dass man in einen Bereich vorgedrungen ist, wo man vielleicht zu
etwas nütze ist, dass man jene Grenze überschritten hat, wo sich alles nur um narzisstische
Befriedigung dreht.
Beschreiben Sie den Schriftsteller Balthazar Balsan.
Also, sein Narzissmus ist definitiv sehr ausgeprägt!
Er ist ein Erfolgsautor, der seine Beliebtheit nicht zu schätzen weiss.
Man unterstellt ja immer, Bestseller-Autoren hätten es auf den Erfolg abgesehen. Dabei sind sie nur
für ihre Bücher verantwortlich, nicht für den Erfolg. Die Leser sind es, die den Erfolg machen. Wenn
man einen Autor bezichtigt, beim Schreiben auf den Erfolg zu schielen, wird es kritisch. Auf dem
Höhepunkt seines Lebens verlässt Balthazar Balsan das Selbstvertrauen, und das, obwohl er so
beliebt ist. Er verliert die Orientierung. Obwohl seine Bücher keine Klischees enthalten, finden sich in
seinem Leben um so mehr davon. Glücks-Klischees, die er sich quasi ausgeliehen hat, ohne sie zu
hinterfragen.
Was meinen Sie mit Glücks-Klischees?
Reichtum, Erfolg, ein grosses Appartement in Paris, ein schickes Auto, eine schöne Vorzeige-Frau,
die man überallhin mitnehmen kann. Er hat die äusseren Anzeichen des Erfolgs gesammelt, aber in
Wahrheit ist er gescheitert: Nichts von alledem entspricht seiner wahren Identität. Wenn man im Film
erfährt, dass er aus einfachen Verhältnissen stammt und sogar ein Waisenkind ist, begreift man, dass
er sich eine Identität geschaffen hat, die auf gesellschaftlichen Aufstieg ausgerichtet ist. Dazu hat er
sich der üblichen Modelle von Glück und Erfolg bedient, um seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.
In Wahrheit ist es Odette, die ihm helfen wird, sein wahres Zentrum zu finden und nach dem zu
suchen, was ihn wirklich glücklich macht. Das Paradoxe daran ist, dass die Frau, die ihn glücklich
machen wird, nicht gerade die schönste und erotischste aller Frauen ist. Gewiss, Odette ist hübsch,
anmutig und bewegt sich göttlich, aber im Grunde genommen gibt es schönere, jüngere Frauen, die
einen Mann mehr schmücken würden. Trotzdem hat sie zum Schluss den Fisch an der Angel. Aber
Balthasar muss erst durch die Hölle gehen, um das zu begreifen. Mein Film erzählt die Geschichte
einer Frau, die einen Ertrinkenden gerade noch rechtzeitig wieder an Land zieht.
In einer Szene sagt Balthazar: „Ich verbringe mehr Zeit beim Signieren als beim Schreiben
meiner Bücher.“ Enthält dieser Satz eine Botschaft?
Ein Geständnis! Ich habe Lesereisen durch viele Länder gemacht, und bei den Signierstunden
warteten die Leute manchmal anderthalb Stunden in der Schlange, um ein Autogramm zu bekommen.
Irgendwann stehen sie dann völlig erschöpft vor einem und haben nicht mal 15 Sekunden Zeit. Das ist
für beide Seiten frustrierend.
Gibt es viele Schnittpunkte zwischen Balthazar Balsan und Eric-Emmanuel Schmitt?
Ich fühle mich Odette genau so nah wie Balthazar. Das Glück, das ich beim Drehen dieses Films
empfunden habe, resultiert vermutlich daraus, dass ich meiner Lebensfreude Ausdruck geben konnte.
Hin und wieder ist es mir gelungen, sie in philosophischer und metaphysischer Form auszudrücken,
aber bis dato niemals mit Bild, Ton und Bewegung. Der Begegnung mit Catherine Frot, die meiner
Figur Leben einhauchte, und den Möglichkeiten des Kinos verdanke ich es, dass ich viel mehr ich
selbst sein konnte. Dieser Film hat deutlich mehr mit mir zu tun als viele Dinge, die ich zuvor gemacht
habe, weil ich meine Lebensfreude bislang nicht auf diese Weise ausdrücken konnte. Einerseits bin
ich so naiv und arglos wie Odette, andererseits so depressiv und ehrgeizig wie Balthazar.
Die Begegnung zwischen Odette und Balthazar spielt sich in mehreren Etappen ab.
Erst einmal fand ich es amüsant zu zeigen, dass die beiden einander begegnen, ohne sich wirklich zu
begegnen. Sie sehen sich etliche Male, bevor er sie überhaupt richtig wahrnimmt. Denn sie gehört
nicht zu den Frauen, die er normalerweise beachtet und zu denen er sich sexuell hingezogen fühlt.
Diesen Impuls löst Odette nicht in ihm aus. Er braucht lange, um zu bemerken, dass sie hübsch ist
und dass er sie küssen möchte. Sie liebt ihn bedingungslos, aber ohne sexuelle Hintergedanken. Sie
ist vor Bewunderung wie versteinert, ist fasziniert von ihm, und sie kennt ihn von Grund auf. Für ihn
gilt das nicht. Dieses Missverhältnis ist mir häufig aufgefallen, wenn ich meine Leser treffe. Sie kennen
5
mich in- und auswendig, weil sie meine Bücher gelesen haben, während sie mir völlig fremd sind.
Dieses Ungleichgewicht sorgt dafür, dass es ihnen leichter fällt, mit mir zu reden, als mir mit ihnen.
Wie kamen Sie auf Catherine Frot und Albert Dupontel?
Als ich das Drehbuch beendet hatte, stellte sich mir die Frage: Wer soll meine Helden spielen? Sofort
hatte ich Dupontel vor Augen. Er war mir erstmals in dem Film „Un héros très discret“ aufgefallen. Ich
schätze ihn sehr, denn er ist unverwechselbar, kann alles spielen und strahlt Masslosigkeit und
Erfindungsgabe aus. Dupontel ist ein Schauspieler, der mich fasziniert. Ich wollte ihn einen traurigen
Clown spielen lassen, weil er das noch nicht getan hatte und ich ahnte, dass er dazu fähig sein würde.
Albert ist für mich eine echte Kino-Kreatur, von welcher Seite man ihn auch filmt – von hinten, von
vorn, von der Seite, von oben oder von unten –, immer wirkt er ausdrucksstark, er spielt mit seinem
ganzen Körper, so wie es die grossen Hollywood-Stars tun. Unser erstes Treffen verlief recht
amüsant. Denn er war überzeugt, dass ich ihn kaum kannte, und ich dachte das gleiche von ihm. Es
stellte sich dann heraus, dass ich die meisten seiner Filme gesehen und er die meisten meiner Bücher
gelesen hatte. Man könnte sagen, dass wir uns klammheimlich nach dem anderen gesehnt haben. Es
war mutig von ihm, sich in meine Hände zu begeben und in Gefilde wie Zerbrechlichkeit, fassungslose
Verliebtheit und Naivität hinabzusteigen, was Männern ja grundsätzlich schwer fällt. Doch unsere
Zusammenarbeit verlief sehr harmonisch.
Und Catherine Frot?
Auf sie bin ich gekommen, weil sie die Lösung einer Gleichung war: Ich träumte davon, dass Odette
attraktiv und witzig zugleich ist. Allerdings sollte man nicht über sie lachen, sondern mit ihr, deshalb
kam eine lupenreine Komikerin nicht in Frage, die hätte das Spiel womöglich ins Lächerliche gezogen.
Und was Attraktivität angeht, so sind die wenigsten attraktiven Schauspielerinnen witzig. All diese
Überlegungen haben mich zwangsläufig zu Catherine geführt. Glücklicherweise gab sie mir keinen
Korb, denn sie hat mich rundum begeistert. Bei den Dreharbeiten waren wir beide verblüfft, wie nahtlos sie mit Odette verschmolz. Mit ihrer lebhaften, fröhlichen, anrührenden, anmutigen und irgendwie
tollkühnen Art hat Catherine uns alle verzaubert. Ausserdem bedankte sie sich einmal wöchentlich bei
mir, weil ich ihr diese Rolle anvertraut hatte. Glauben Sie mir, so etwas macht gute Laune.
Was für ein Gefühl hatten Sie, wenn Sie Catherine Frot Ihre Odette spielen sahen?
Sie war grossartiger, als ich es mir vorgestellt hatte. Catherine – das ist eine Mischung aus Poesie
und Ironie. Es gibt nur wenige Schauspielerinnen, die es wagen, so verträumt zu gucken und dabei
diese Naivität und Energie an den Tag zu legen. Sie erinnert mich an einen weiblichen Jacques
Villeret. Man liebt die beiden, weil sie immer haarscharf an der Lächerlichkeit vorbeischrammen, aber
nie lächerlich wirken. Ich bedaure sehr, dass ich erst jetzt mit der Filmerei angefangen habe – zu spät,
um noch mit Jacques Villeret arbeiten zu können.
Was ist das Schöne daran, Schauspieler anzuleiten?
Man leitet Schauspieler nicht an. Man begründet sein Vorhaben, bevor es mit dem Spielen losgeht,
man motiviert, indem man erklärt, dass der Text nicht umsonst so verfasst wurde, und dann
beobachtet man seine Darsteller voller Zärtlichkeit und hofft das Beste. Beispielsweise hatte ich jeden
kleinen Seufzer in der Ohrfeigenszene aufgeschrieben. Am Set wurde nichts improvisiert, alles war
messerscharf geregelt. Anleiten, das heisst vor allem: Zuversicht geben. Wenn man Schauspieler mit
einem kritischen und dennoch wohlwollenden Auge betrachtet, sind sie bereit, für einen durchs Feuer
zu gehen.
Wenn Odette glücklich ist, beginnt sie zu schweben – das ergibt ein paar traumhafte
Sequenzen. War das eine optische Idee, die Sie von Anfang an hatten?
Genau genommen war es eine Idee des Schriftstellers. Sämtliche Metaphern und Bilder, die ich
aufgeschrieben hatte, wurden hinterher zu Kinobildern. Wenn Odette glücklich ist, schwebt sie davon.
Wenn sie ein Bad nimmt und sich vorstellt, im Dschungel zu sein, erscheint dieser Urwald. Ich habe
eine Menge solcher Phantasien gedreht, aber beim Schnitt musste ich mich auf einige wenige
beschränken, sonst hätte die Glaubwürdigkeit der Geschichte gelitten.
Machte Ihnen der technische Aspekt des Filmemachens Angst?
6
Nein, denn ich war von einer sehr konzentrierten, geduldigen Mannschaft umgeben. Weil ich Debütant
war, hatte mein Produzent gemeinsam mit Pathé ein fabelhaftes Casting für mich zusammengestellt.
So traf ich etliche Kameramänner, Ausstatter, Regieassistenten... Meine Wahl wurde letztlich nicht
von ihrem Können beeinflusst – es handelte sich ausnahmslos um die Besten ihrer Zunft –, sondern
von ihren menschlichen Qualitäten. Mir war klar, dass wir sechs Monate miteinander verbringen
würden. Also entschied ich mich für diejenigen, die der Gedanke begeisterte, am ersten Film eines
Schriftstellers mitzuwirken. Das Ergebnis war eine effiziente, tatkräftige und kreative Mannschaft.
Die Musik nimmt einen grossen Stellenwert in Ihrem Film ein. Welche Vorgaben haben Sie
Nicola Piovani gemacht, damit er Ihnen diese federleichte Musik komponiert, die so perfekt
harmoniert?
Ich wusste, wenn ich jemals einen Film drehe, würde die Musik von Nicolas Piovani stammen.
Wieso?
Weil ich alle Filme gesehen habe, die er mit den Taviani-Brüdern, mit Nanni Moretti und Roberto
Benigni gedreht hat. Er hat praktisch das gesamte italienische Kino musikalisch begleitet: Filme, die
klug sind und zugleich volkstümlich und es wagen, einfache Figuren zu zeigen. Ich denke da an die
Rollen, die Sophia Loren gespielt hat, grossmütige, herzensgute Frauen. Nicola hat ebenfalls ein
grosses Herz. Er ist aufgeschlossen, volksnah und kultiviert.
Sie haben gesagt: „Ich bin ein Regisseur, der abends in seine vier Wände zurückkehren will.“
Musste der Film deshalb in Belgien gedreht werden?
Ja, ich bin ein ausgemachter Faulpelz! Im Ernst, die Verantwortung, die ich mit diesem Film
übernahm, hat mich ein wenig geängstigt: für ein grosses Team verantwortlich zu sein, den
künstlerischen Überblick zu behalten... Dass ich abends in meine Wohnung in Brüssel zurückkehren
wollte, war keine Laune. Es gab mir schlicht und einfach die Kraft, das Projekt durchzuziehen. Ich
hatte wirklich Sorge, ob ich das Ganze körperlich verkraften würde, und was meine Psyche angeht, so
wollte ich mir das Vertrauen der Schauspieler und des Teams verdienen. Ich hatte während der
Dreharbeiten das Gefühl, allen etwas schuldig zu sein.
Unter Ihren Schauspielern befinden sich einige Belgier...
Ja, die Kinder von Catherine Frot werden von Kino-Debütanten gespielt. Und in den kleinen Rollen
agieren grosse Bühnendarsteller, die mir damit einen Freundschaftsdienst erwiesen haben. Nur ein
Beispiel: In der Bus-Szene ist Jacqueline Bir zu sehen, die grosse alte Dame des belgischen
Theaters, die in „Oscar und die Dame in Rosa“ gespielt hatte.
Die Originalausgabe von „Odette Toulemonde und andere Geschichten“ (Ammann Verlag)
erschien im November 2006. Ist dieses Buch vor oder nach dem Drehbuch entstanden?
Normalerweise resultiert ein Film aus einem Buch, aber diesmal war es umgekehrt. Vor Drehbeginn
hatte ich mit dem Schreiben eines dicken Wälzers begonnen. Dann musste ich einen Vertrag
unterzeichnen, der mir gefährliche Sportarten und das Schreiben untersagte. Darüber habe ich mich
so geärgert, dass ich beim Dreh und während des Endschnitts in jeder freien Minute Kurzgeschichten
schrieb, die jetzt in diesem Band versammelt sind. Und als ich den Film beendet hatte, sagte ich mir,
dass ich eigentlich auch das Drehbuch zu einer Geschichte umschreiben könnte. Sie unterscheidet
sich geringfügig von der des Films, weil mir natürlich nicht die gleichen Ausdrucksmittel zur Verfügung
standen.
Glauben Sie, dass sie dem einen oder anderen Zuschauer helfen wird – so wie Odette
Balthazar auf die Sprünge hilft?
Das zu glauben, wäre anmassend. Aber tief in meinem Innersten wünsche ich mir das natürlich. Dass
sie Menschen animiert, die Lebensfreude, die wir alle in uns tragen und die aufgrund der äusseren
Umstände häufig leider verkümmert, zu reaktivieren. Das Glück ist immer auch eine Frage des
Blickwinkels – man achte nur darauf, mit welchen Augen Odette Balthazar sieht, und umgekehrt. Erst
dadurch wird das Glück überhaupt wieder möglich.
7
INTERVIEW mit Catherine Frot
Kannten Sie Eric-Emmanuel Schmitt vor diesem Film?
Nicht persönlich. Ich hatte einige Romane von ihm gelesen und das Stück „Der Besucher" in einer
Inszenierung mit Maurice Garrel und Thierry Fortineau gesehen. Ich mochte es sehr – denn die
Schauspieler standen im Vordergrund.
Wie gefiel Ihnen das Drehbuch?
Ich habe mich sofort in Odette verliebt, gerade auch in ihre Art, sich das Leben schön zu träumen. Die
Musical-Einsprengsel fand ich sehr reizvoll, leider wurden sie später etwas eingeschränkt. Und dass
ich mit Albert Dupontel spielen würde, fand ich natürlich ausgesprochen spannend.
Wie würden Sie Odette beschreiben?
Sie ist eine Allerweltsfrau, die absolut einzigartig ist. Sie hat einen uneigennützigen Charakter, ist
grosszügig, leidet für die anderen. Sie gehört zu diesen Menschen, auf die man gern mal herab sieht.
Für mich hat Odette Ähnlichkeiten mit Yoyo in „Un air de famille" und Louise in „Les soeurs fâchées“.
Ausserdem erinnert sie mich an die Heldinnen in den Filmen von Marcel Pagnol, so arglos und
treuherzig, wie sie ist.
Wie haben Sie sich in Odette verwandelt?
Indem ich mir sagte, dass es sich um eine Frau handelt, die zugleich nichts ist und alles. Als ich
Odettes Tanzschritte einstudierte, hatte ich bereits den Eindruck, als könnte ich sehen, wie sie
davonfliegt. Zuletzt mussten wir ihre äussere Erscheinung festlegen, sie sollte eigentümlich und
irgendwie drollig wirken. Der Mantel, der kleine Schal, die Frisur halfen dabei...
Was war das Besondere daran, diese Frau zu verkörpern?
Der Kontrast zwischen ihren kitschigen Anwandlungen und ihrer Liebe zu Joséphine Baker. Sie sagt
einmal: „In meinem Innersten bin ich eine schwarze Frau.“ Dadurch gewinnt ihre Figur an Format,
wirkt vielschichtiger, durch und durch menschlich und vorurteilsfrei.
Was geschieht, als sie ihrem Lieblingsschriftsteller Baltahazar Balsan begegnet?
In diesen Szenen zeigt sich die komödiantische Seite des Films. Als Odette Balsan zum ersten Mal
trifft, bekommt sie kein Wort heraus, ist hinterher auf sich selbst wütend, weil sie bloss herumgestottert
hat. Sie hat einen leicht verwirrten Charakter, aber nach und nach gelingt es ihr, sich
zusammenzureissen und an Stärke zu gewinnen.
Balthazar ist das Gegenteil von Odette. Und er kommt aus einer anderen Welt...
Ja, hier begegnen sich Optimist und Pessimist – Gegensätze ziehen sich manchmal eben doch an.
Für mich sind diese Figuren wahre Helden.
Sie spielten zum ersten Mal mit Albert Dupontel. Was ist er für ein Schauspieler?
Ich fand ihn unterhaltsam und sehr interessant. Ich kenne alle seine Filme und bin auf das gespannt,
was noch kommt. Er ist einzigartig. Er hat sich rückhaltlos in die depressive Stimmung seiner Figur
hineingefühlt. Um so mehr musste ich seinem Aschgrau meine bunten Farben entgegensetzen.
Hat Eric-Emmanuel Schmitt Sie am Set in irgendeiner Weise überrascht?
Für mich ist dieser Film eigentlich kein Debütfilm. Die ersten drei Tage wirkte er vielleicht ein wenig
unsicher, aber dann hat er sich schnell eingewöhnt und seine Visionen souverän umgesetzt. Er ist ein
schneller Lerner.
Wie fühlt man sich beim Fliegen?
Es war abenteuerlich, denn wir drehten bei Minustemperaturen, und ich befand mich in 28 Meter Höhe
auf einem Kran, von dort oben konnte ich ganz Charleroi überblicken. Wir haben keine Spezialeffekte
benutzt. Ich war wirklich in der Luft, festgeschnallt in dieser Wahnsinnsvorrichtung... Und in Brüssel
musste ich in eine Gondel steigen, die kaum grösser war als ich.
8
Was dachten Sie, als Sie „Odette Toulemonde“ zum ersten Mal sahen?
Dass Eric-Emmanuel Schmitt genau den Film gedreht hat, den er drehen wollte. Er hat seinen Traum
hundertprozentig verwirklicht. Ich bin sehr glücklich, dass ich in seinem Film mitspiele.
INTERVIEW mit Albert Dupontel
Eric-Emmanuel Schmitt glaubte felsenfest, dass Sie ihn nicht kennen. Waren Sie schon vor
Drehbeginn einer seiner treuen Leser?
Ich kannte ihn tatsächlich nur vom Hörensagen, aber nach der Lektüre des Drehbuchs habe ich mir
sofort sein gesamtes Werk gekauft, was durchaus umfangreich ist. Innerhalb weniger Wochen hatte
ich alles verschlungen.
Welche seiner Bücher und Stücke mögen Sie am liebsten?
„Der Teil des anderen“ und „Kleine Eheverbrechen“.
Was hat Sie am Drehbuch zu „Odette Toulemonde“ ganz speziell berührt?
Die erzählerische, vor allem aber auch die visuelle Phantasie, die sich bereits auf dem Papier
andeutete. Ich fand das sehr mutig für jemanden, der seinen ersten Film dreht; auf der anderen Seite
offenbarte es seine unbändige Lust aufs Filmemachen, die ich gut nachvollziehen kann.
Sie haben bereits einen Obdachlosen gespielt, einen Konzertpianisten, den französischen
Staatspräsidenten... und nun also einen Bestseller-Autor in der Krise. Was reizte Sie an dieser
Aufgabe?
Zunächst war ich sehr gerührt, dass es „seriöse“ Menschen gibt, die keine Angst vor meiner Person
haben. Darüber hinaus macht es mir Spass, Charaktere zu spielen, die möglichst wenig mit mir
gemeinsam haben, Rollen zu wählen, die man nicht von mir erwartet. Bis auf den Obdachlosen
spiegeln meine Engagements dieses Bestreben deutlich wider. Für mich nach hat diese Figur viel mit
Eric-Emmanuel Schmitt zu tun, und das gab mir ein sicheres Gefühl, denn schliesslich wusste er,
wovon er sprach.
Beschreiben Sie diesen Balthazar Balsan.
Im Grunde ist er ein ehrlicher Typ - siehe seine Bücher; doch formell gesehen ist er fehl am Platz –
siehe sein soziales Umfeld.
Er ist ein Waisenkind ohne Angehörige... Ist das eine Erklärung dafür, dass er Bestsellerautor
wurde und sich mit den vermeintlichen Anzeichen des Glücks umgibt?
Während seiner Kindheit hatte er reichlich Zeit, sich zu erträumen, was Glück bedeutet. Als
Erwachsener hat er diese Vorstellung zu Papier gebracht und wurde erfolgreich, ohne je wirklich damit
zu rechnen, so sehe ich es jedenfalls.
Haben Sie an eine bestimmte Person gedacht, als Sie ihn spielten?
Ich mache mich immer so frei und offen wie möglich, um die Vorstellungen des Regisseurs umsetzen
zu können. Dabei denke ich an alle und niemanden. Meine Devise lautet: bloss nicht spielen. Leicht
fällt einem das allerdings nicht immer...
Inwiefern verändert die Begegnung mit Odette Balthazars Leben? Könnte man sagen, dass sie
ihm seine Seele zurückgibt?
Er trifft einen Menschen, der deshalb überlebt, weil er die entscheidenden Werte pflegt:
Grosszügigkeit, Anteilnahme, Nächstenliebe. Das hilft ihm dabei, wieder zu sich selbst zu finden.
Denn in Wahrheit schreibt er genau für solche Menschen. Leider hatte er es mit der Zeit vergessen.
Sie standen zum ersten Mal mit Catherine Frot vor der Kamera. Was ist sie für eine
Schauspielerin?
9
Eine ganz famose! Und eine der besten, denen ich je begegnet bin. Sie hört aufmerksam zu, spielt
sehr präzise, ist diszipliniert, beherrscht ihr Handwerk hundertprozentig... und spornt zudem ihre
Partner zu Höchstleistungen an. Jetzt habe ich nur eine Befürchtung: dass man mich im Film kaum
wahrnimmt.
Was ist Ihnen an der Arbeitsweise von Eric-Emmanuel Schmitt besonders aufgefallen?
Er wusste genau, was er wollte – den technischen Gegebenheiten zum Trotz, die er übrigens sehr
schnell begriffen hat. Er gestaltet mit dem, was man ihm anbietet. Das empfinde ich als eine demütige,
intelligente Arbeitsweise.
Wie verliefen die Dreharbeiten in Belgien?
Was bin ich froh, dass ich dieses Land kennenlernen durfte! Denn jetzt weiss ich, wo ich meine Ferien
bestimmt nicht verbringen werde. Im Ernst, die Menschen waren freundlich und begeisterungsfähig –
angesichts der Wetterverhältnisse ist das wohl bitter nötig, um es dort auszuhalten...
Haben Sie persönlich so ergreifende Briefe erhalten wie die von Odette?
Ja, insbesondere nach meinem Film „Bernie“. Auch wenn man sie nicht miteinander vergleichen kann,
waren sie sehr bewegend. Ich habe aber auch schon beleidigende Post erhalten, und die hat mich
ebenfalls überwältigt.
Hat Ihnen ein Fan schon mal gestanden, dass Sie ihm Glück bereiten?
Nein, so weit ist es noch nicht gekommen. Aber wenn ich die Leute in meinen Filmen kichern höre,
freut mich das sehr, und das ist ja auch nicht zu verachten.
Gibt es jemanden, den Sie so masslos vergöttern wie Odette Balthazar?
Ich vermeide es möglichst, Idole zu haben. Doch ich gebe gern zu, dass die Begegnungen mit
manchen Künstlern, etwa den Mitgliedern von Monty Python oder anderen grossen Filmemachern,
mich wirklich umgehauen haben.
BIOGRAFIE
Eric-Emmanuel Schmitt (Buch und Regie)
Eric-Emmanuel Schmitt, am 28. Mai 1960 in St.-Foy-les-Lyon geboren, hat elsässische Vorfahren,
sein Vater war Boxer, die Mutter Leichtathletin. Obwohl er aus recht bescheidenen Verhältnissen
stammt, studiert Schmitt Philosophie an einer der grossen Pariser Eliteschulen und unterrichtet
anschliessend an der Universität.
Bereits mit acht Jahren, als er Jean Marais als „Cyrano de Bergerac“ auf einer Lyoner Bühne sah,
wusste er, dass er eines Tages Theaterdramen schreiben würde. Ein Plan, den er zielstrebig in die
Tat umsetzt: 1990 schickt er sein erstes Stück unaufgefordert an seine Lieblingsschauspielerin
Edwige Feuillère, die es begeistert an verschiedene Theaterregisseure weiterreicht. 1991 erlebt „La
nuit de Valognes“ seine Uraufführung an der Pariser Comédie des Champs-Elysées – der erste von
vielen Bühnenerfolgen (u.a. „Frederick oder Boulevard des Verbrechens“, „Der Besucher“, „Der
Freigeist“, „Enigma“), die Schmitt zum meistgespielten Autor Frankreichs machen; einmal stehen drei
seiner Stücke gleichzeitig auf den Spielplänen Pariser Theater. Sie werden mit zahlreichen Preisen
ausgezeichnet, darunter mehreren Molières und dem Grossen Theaterpreis der Académie Française.
Auch im Ausland – von Japan über Deutschland bis hin zum New Yorker Broadway – werden seine
Dramen mit grossem Erfolg aufgeführt.
Schmitt, der in Paris, Brüssel und Irland lebt, wird im Frühsommer 2003 vom deutschen
Literaturbetrieb entdeckt. Als sein Buch „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ in deutscher
Übersetzung erscheint, empfiehlt es Elke Heidenreich in ihrer TV-Sendung „Lesen!“ mit den Worten:
„Ein Lehrstück in Sachen Güte.“ Aus dem Stand erreicht die Erzählung Platz eins der SPIEGELBestsellerliste – und hält sich dort monatelang auf den vorderen Rängen. Auch Schmitts Nachfolge-
1
0
Buch „Oskar und die Dame in Rosa“ erobert die deutschen Charts. Für die erfolgreiche Verfilmung
von „Monsieur Ibrahim...“ erhält Omar Sharif 2004 einen César als bester Hauptdarsteller.
BIOGRAFIE / FILMOGRAFIE
Catherine Frot (Odette Toulemonde)
Hierzulande fast noch ein Geheimtipp, wird Catherine Frot in ihrer Heimat Frankreich seit Jahren als
eine der beliebtesten Film- und Theaterschauspielerinnen gefeiert.
Am 1. Mai 1957 kommt sie in Paris als Tochter eines Ingenieurs und einer Mathematik-Lehrerin zur
Welt. Mit 17 beginnt Catherine Frot ein Schauspielstudium, das sie am staatlichen Conservatoire
erfolgreich abschliesst. 1978 gehört sie zu den Gründungsmitgliedern der Schauspielertruppe
Compagnie du Chapeau Rouge. Obwohl sie sich zunächst auf die Arbeit am Theater konzentriert,
debütiert sie schon 1980 in einer kleinen Rolle in Alain Resnais' „Mon oncle d'Amérique“. Für ihre
Leistung im Erotik-Thriller „Escalier C“ erhält sie 1986 die erste von bislang sechs CésarNominierungen.
Einen ihrer grössten Triumphe feiert Catherine Frot Mitte der 90er Jahre in dem Theaterstück „Un air
de famille“ des Autoren- und Schauspielerpaars Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri. Dem TheaterMolière als beste Darstellerin in einer Nebenrolle, den sie hierfür erhält, folgt 1997 ein Kino-César in
der gleichen Kategorie, als der Bühnen-Dauerbrenner erfolgreich von Cédric Klapisch verfilmt wird. Im
Kino entwickelt sich Catherine Frot daraufhin zur Spezialistin für leicht verklemmte Bürgersfrauen, die
dennoch witzig und anrührend sind, unter anderem in den Komödien „Le dîner de cons“, „Paparazzi“
und „La nouvelle Ève“. Der endgültige Durchbruch gelingt ihr 1999 mit der Titelrolle als resolute
Provinzlerin in „La dilettante“. Die ganze Bandbreite ihres Könnens stellt sie in besonders in den
jüngeren Produktionen unter Beweis: als reiche Gattin mit Helfersyndrom in Coline Serreaus
dramatischer Komödie „Chaos“, als erbarmungslose Mutter in der Verfilmung des Roman-Klassikers
„Vipère au poing“ sowie als reumütige Terroristin in der Trilogie „Après la vie“ / „Un couple épatant“/
„Cavale“ und als Louise in „Les soeurs fâchées“. Zuletzt faszinierte Catherine Frot als labile Pianistin
im subtilen Psycho-Thriller „La tourneuse de pages“, der im Frühjahr 2007 auch im deutschen Kino
sehr erfolgreich lief.
FILMOGRAFIE (Auswahl):
2007
ODETTE TOULEMONDE, Eric-Emmanuel Schmitt
2006
LA TOURNEUSE DE PAGES, Denis Dercourt
2005
BOUDU, Gérard Jugnot
2004
LES SOEURS FÂCHÉES, Alexandra Leclère
2002
CAVALE, Lucas Belvaux
1999
INSÉPARABLES, Michel Couvelard
1998
LE DÎNER DE CONS, Francis Veber
1994
J’AI PAS SOMMEIL, Claire Denis
1980
MON ONCLE D’AMERIQUE, Alain Resnais
BIOGRAFIE / FILMOGRAFIE
1
1
Albert Dupontel (Balthazar Balsan)
Albert Dupontel, am 11. Januar 1964 als Sohn eines Arztes und einer Zahnärztin geboren, beginnt
1982 ein Medizinstudium, das er nach acht Semestern abbricht. Er wechselt an die renommierte
Schauspielschule Théâtre National de Chaillot und übernimmt in den spätern 80er Jahren seine
ersten kleinen Filmrollen. Der Durchbruch gelingt Dupontel mit einer One-Man-Show, die ihn bis ins
Pariser Olympia, den legendären Show-Tempel, führt, in ganz Frankreich bekannt macht und sein
Talent für schwarzhumorige Stand-Up-Komik unter Beweis stellt.
Mitte der 90er Jahre nutzt Albert Dupontel seine Bühnenpopularität aus, um wieder zum Film
zurückzukehren. Mit seinem Auftritt in Jacques Audiards „Un héros très discrèt“ erspielt er sich eine
César-Nominierung als Bester Nebendarsteller. Nicht nur als begehrter Darsteller komplexer Rollen,
auch als Regisseur von drei eigenen Kinofilmen zählt Albert Dupontel mittlerweile zu den ganz
grossen männlichen Talenten, die sich einen festen Platz in der französischen Filmszene erobert
haben.
Seinen Status und seine Bandbreite unterstreichen die seit „Odette Toulemonde“ abgedrehten Filme,
die 2007/2008 in die Kinos kommen werden, darunter die Liebeskomödie „Paris“ von Cédric Klapisch,
der Algerien-Kriegsfilm „L'ennemi intime“, der Fantasy-Thriller „Chrysalis“ und Jean Beckers
Familiendrama „Deux jours à tuer“.
FILMOGRAFIE (Auswahl)
2007
ODETTE TOULEMONDE, Eric-Emmanuel Schmitt
2006
FAUTEUILS D’ORCHESTRE, Danièle Thompson
2005
ENFERMÉ DEHORS, Albert Dupontel
LE CONVOYEUR, Nikolas Boukhrief
UN LONG DIMANCHE DE FIANCAILLES, Jean-Pierre Jeunet
2002
IRRÉVERSIBLE, Gaspard Noé
2000
LES ACTEURS, Bertrand Blier
1999
LA MALADIE DE SACHS, Michel Deville
LE CRÉATEUR, Albert Dupontel
1998
SERIAL LOVER, James Huth
1996
UN HÉROS TRÈS DISCRET, Jacques Audiard
BERNIE, Albert Dupontel
1994
GIORGINO, Laurent Boutonnat
1988
ENCORE, Paul Vecchiali
BESETZUNG
Odette Toulemonde
Balthazar Balsan
Olaf Pims
Rudy
Catherine Frot
Albert Dupontel
Jacques Weber
Fabrice Murgia
1
2
Sue Ellen
Nadine
Verleger
François
Isabelle
Florence
Monsieur Dargent
Polo
Jésus
Dame im Bus
Nina Drecq
Camille Japy
Alain Doutey
Julien Frison
Laurence d'Amelio
Aïssatou Diop
Philippe Gouders
Nicolas Buysse
Bruno Metzger
Jacqueline Bir
STAB
Regie / Drehbuch
Produzent
Kamera
Musik
Schnitt
Production Design
Künstlerische Leitung
Kostüme
Ton
Produktionsleitung
Co-Produzenten
Eine Koproduktion von
Eric-Emmanuel Schmitt
Gaspard de Chavagnac
Carlo Varini
Nicola Piovani
Philippe Bourgueil
François Chauvaud
Bruno Metzger
Corinne Jorry
Philippe Vandendriessche
Philippe Saal
Romain Le Grand , Anne-Dominique Toussaint
Bel Ombre Films
Antigone Cinéma
Pathé Renn Production
TF1 Films Production
Les Films de l'Étang
RTBF (Belgisches Fernsehen)
Das Buch ODETTE TOULEMONDE ist im Ammann Verlag erschienen.
MUSIK TITELLISTE
01 Nicola Piovani
- Bruxelles (03:28)
02 Nicola Piovani
- La Lettre (04:15)
03 Nicola Piovani
- Sur La Plage (03:19)
04 Nicola Piovani
- Calme Toi Odette ! (04:04)
05 Nicola Piovani
- Chez Odette (02:30)
06 Joséphine Baker - Haïti (03:18)
07 Joséphine Baker - Tes Mots D'amour (02:53)
08 Joséphine Baker - Sur Deux Notes (02:56)
09 Joséphine Baker - Sans Amour (03:21)
10 Joséphine Baker - Madiana (03:05)
11 Joséphine Baker - Voulez-Vous De La Canne (2:59)
12 Joséphine Baker - Chiquita Madame (02:46)
SONGTEXTE
HAÏTI
1
3
Ah ! Qui me rendra mon pays
Haiti
C'est toi mon seul paradis
Haiti
Ah ! Dieu me rappelle
Tes forêts si belles
Tes grands horizons
Loin de tes rivages
La plus belle cage
N'est qu'une prison
Oui !! Mon désir , mon cri d'amour
Haiti
C'est de te revenir un jour
Oh, beau pays bleu
Bien loin, bien loin sous d'autres cieux
Je vivais des jours heureux
Mais tout est fini
Seule dans mon exil aujourd'hui
Je chante, le coeur meurtri
Oui ! mon désir mon cri d'amour
Haiti
C'est de te revenir un jour
Haiti !!!
SANS AMOUR
Dans ce grand Paris
Si loin de mon pays
De longs mois
Oui, j'ai vécu
Ainsi qu'un oiseau perdu
Je cherchais en vain
A oublier mon chagrin
Maintenant je sais
Ce que j'étais
Sans amour
Sans une seule caresse
Sans amour
Sans l'ombre d'une tendresse
Sans un coeur
Pour partager ma détresse
Nul espoir
D'être bercée chaque soir
Je ne regrette pas
Ma savane et mon ciel de là-bas
Ma forêt, mes ruisseaux
La chanson des roseaux
Plus que tout
Ce qui faisait ma tristesse
Nuit et jour
C'est que j'étais sans amour
Sans amour
Sans une seule caresse
1
4
Sans amour
Même pas l'ombre d'une tendresse
Sans un coeur, pas un coeur
Pour partager ma détresse
Nul espoir, pas d'espoir
D'être bercée chaque soir
Je ne regrette pas
Ma savane et mon ciel de là-bas
Ma forêt , mes ruisseaux
La chanson des roseaux
Plus que tout
Ce qui faisait ma tristesse
Nuit et jour
C'est que j'étais sans amour.
KURZGESCHICHTE aus dem Buch ODETTE TOULEMONDE
DAS SCHÖNSTE BUCH DER WELT
Als die Frauen Olga hereinkommen sahen, zitterten sie vor Hoffnung.
Gewiss, Olga machte keinen besonders freundlichen Eindruck. Trocken, hochgewachsen, mit
hervortretenden Kieferknochen und Ellbogen unter der dunklen Haut, würdigte sie die Frauen der Baracke
zunächst keines Blickes. Sie liess sich auf dem durchgelegenen Strohsack nieder, den man ihr
zugewiesen hatte, verstaute ihre Sachen in der Holzkiste, während die Aufseherin ihr, abgehackt wie
Morsezeichen, die Lagerordnung zuschrie, sah sich erst um, als diese ihr mit einer Handbewegung die
Sanitäranlagen zeigte, und legte sich, als sie ging, auf den Rücken, liess ihre Finger knacken und gab
sich ganz der Betrachtung der geschwärzten Deckenbalken hin.
«Habt ihr das Haar von der gesehen?» murmelte Tatiana.
Die Gefangenen verstanden nicht, was Tatiana meinte.
Die Neue hatte eine wilde Mähne, dichtes krauses, drahtiges Haar, das ihren Kopf noch einmal so gross
erscheinen liess. So viel kraftstrotzende Gesundheit war für gewöhnlich Afrikanerinnen vorbehalten ...
Doch mit ihrem matten Teint hatte Olga gar nichts weiter Negroides an sich. Sie musste aus irgendeiner
Stadt der Sowjetunion hierher in dieses sibirische Frauenlager gekommen sein, wohin das Regime alle
schickte, die nicht linientreu dachten.
«Was ist denn mit ihren Haaren?»
«Meines Erachtens eine Kaukasierin.»
«Stimmt. Die haben manchmal solches Stroh auf dem Kopf.»
«Wirklich furchtbar, diese Haare.»
«Quatsch! Sie sind wunderbar. Ich mit meinen Schnittlauchlocken kann von dergleichen nur träumen.»
«Alles, nur das nicht. Ist ja wie Rosshaar.»
«Nein, Schamhaar!»
Unterdrücktes Gekicher begleitete Lilys letzte Bemerkung.
Tatiana runzelte die Brauen und sagte, während das Grüppchen verstummte:
«Wer weiss, vielleicht sind sie die Lösung.»
Bestrebt, Tatiana zu gefallen, die allgemein als Anführerin betrachtet wurde, obgleich sie nur ein
Mithäftling war, versuchten die Frauen, sich auf das zu konzentrieren, was sie nicht begriffen: Was für
eine Lösung sollten die Haare dieser Unbekannten für das Leben sein, das sie hier als politische
Abweichlerinnen in einem Umerziehungslager fristeten? An diesem Abend hatte dichter Schnee das
Lager unter sich begraben. Draussen war jenseits der Laterne, die der Sturm auszublasen versuchte,
alles in Dunkel gehüllt. Die Temperatur war auf unter Null gesunken und nicht eben hilfreich beim
Nachdenken.
«Du meinst ...»
«Ja, ich meine, man kann eine Menge verstecken in so einer Mähne.»
Sie verstummten ehrerbietig. Bis einer von ihnen schliesslich ein Licht aufging:
«Sollte sie etwa ein ...»
1
5
«Genau!»
Lily, eine sanfte Blonde, die trotz der harten Arbeit, des rauhen Klimas und des unsäglichen Essens so
rund blieb wie ein Mädchen, dem es an nichts fehlte, erlaubte sich, Zweifel anzumelden.
«Vorausgesetzt, sie hat daran gedacht ...»
«Weshalb denn nicht?»
«Also, ich hätte nie an so etwas gedacht, bevor ich hierhergekommen bin.»
«Genau, deswegen rede ich ja auch von ihr und nicht von dir.»
Da Lily wusste, dass Tatiana immer die Überlegenere war, verzichtete sie darauf, ihrem Ärger Luft zu
machen, und wandte sich wieder dem Säumen ihres Wollrocks zu.
Draussen heulte der eisige Sturm.
Tatiana verliess die Runde ihrer Kameradinnen und ging durch den Gang zum Bett der Neuen, blieb dort
eine Weile am Fussende stehen und wartete auf ein Zeichen, dem sie entnehmen konnte, dass sie
bemerkt worden war.
Im Ofen erlosch langsam das schwache Feuer.
Doch die Neue reagierte nicht, und nach einigen Minuten des Schweigens fragte Tatiana schliesslich:
«Wie heisst du?»
«Olga», entgegnete eine dunkle Stimme, ohne dass man ihre Lippen sich hätte bewegen sehen.
«Warum bist du hier?»
Olga verzog keine Miene. Ihr Gesicht glich einer wächsernen Maske.
«Ich nehme an, du warst wie wir Stalins Lieblingsbraut, und irgendwann hatte er dann genug von dir?»
Ihre, wie sie glaubte, witzige Bemerkung, dieser fast schon Ritual gewordene Satz, mit dem die
Rebellinnen des stalinistischen Systems hier empfangen wurden, prallte an der Fremden ab wie ein Kiesel
auf dem Eis.
«Ich heisse Tatiana. Soll ich dir die anderen vorstellen?»
«Wir haben doch Zeit, oder?»
«Klar haben wir Zeit ... Wir werden Monate in diesem Loch verbringen, Jahre, wer weiss, vielleicht sterben
wir hier ...»
«Also haben wir Zeit.»
Mehr sagte Olga nicht, schloss die Augen, drehte sich zur Wand und zeigte nur noch ihre knochigen
Schultern.
Tatiana begriff, dass sie ihr nicht mehr entlocken würde, und ging zu ihren Kameradinnen zurück.
«Eine von der harten Sorte. Gar nicht mal so schlecht. Es besteht durchaus die Chance, dass ...»
Die Frauen – und selbst Lily – nickten zustimmend und kamen überein zu warten ...
In der folgenden Woche liess sich die Neue lediglich zu einem Satz täglich herab, und selbst den musste
man ihr aus der Nase ziehen. Ihr Verhalten gab den älteren Insassinnen Anlass zur Hoffnung.
«Ich bin sicher, dass sie daran gedacht hat», sagte Lily schliesslich mit dem Brustton der Überzeugung.
«Sie gehört ganz eindeutig zu denen, die an so etwas denken.»
Der Tag brachte wenig Licht, der Nebel zwang ihm sein Grau auf; als er verflog, umschloss, gleich einer
Armee von Wachposten, eine beklemmend undurchdringliche Wolkenwand das Lager.
Da es niemandem gelang, Olgas Vertrauen zu gewinnen, setzten die Frauen ihre Hoffnung aufs Duschen.
Vielleicht fanden sie dann heraus, ob die Neue etwas verbarg in ihrem Haar ... Aber es war so kalt, dass
niemand mehr freiwillig die Kleider ablegte, alle hatten Angst, nicht mehr richtig trocken und warm zu
werden, und beschränkten sich daher auf eine hastige Katzenwäsche. Zudem entdeckten sie an einem
regnerischen Morgen, dass die Tropfen an Olgas dichter Mähne abglitten wie an einer
wasserundurchlässigen Haube.
«Sei’s drum», entschied Tatiana, «wir müssen das Risiko eingehen.»
«Sie zu fragen?»
«Nein. Es ihr zeigen.»
«Und wenn sie nun eine Spionin ist? Und jemand sie auf uns angesetzt hat?»
«Von der Sorte ist sie nicht», sagte Tania.
«Nein, wirklich nicht», pflichtete Lily bei und zog einen Faden aus ihrer Handarbeit.
«Und ob sie das ist! Was meint ihr, warum sie die Wilde spielt, die Harte, die Stumme, die einsame
Wölfin? Um unser Vertrauen zu gewinnen, besser geht’s doch gar nicht!»
Mit dieser Überlegung überraschte Irina nicht nur die anderen Frauen, sondern auch sich selbst: Was sie
da sagte, ergab tatsächlich Sinn. Verwundert fuhr sie fort:
1
6
«Wenn man mich damit betrauen würde, eine Frauenbaracke auszuspionieren, würde ich es genauso
halten, besser geht es gar nicht. Ja, ich würde dafür sorgen, dass mich alle für die Schweigerin halten, die
Einsame, und mir so mit der Zeit das Vertrauen erschleichen. Das ist doch viel raffinierter, als gross auf
Freundschaft zu machen, oder? Wer weiss, vielleicht haben wir es hier ja mit der grössten Denunziantin
der Sowjetunion zu tun.»
Davon war Lily plötzlich so überzeugt, dass sie sich mit der Nadel in den Finger stach. Entsetzt sah sie
einen Blutstropfen hervorperlen.
«Ich will sofort in eine andere Baracke verlegt werden!»
Tatiana schaltete sich ein:
«Kein schlechter Gedanke, Irina, aber eben nur ein Gedanke. Meine Intuition sagt mir das Gegenteil. Wir
können ihr ruhig vertrauen, sie ist wie wir. Nur härter im Nehmen.»
«Warten wir ab. Denn wenn sie uns auf die Schliche kommt ...»
«Ja, du hast recht. Warten wir ab. Und lasst uns vor allem versuchen, sie zum Äussersten zu treiben.
Reden wir einfach nicht mehr mit ihr. Falls sie wirklich als Spitzel auf uns angesetzt ist, wird sie in Panik
geraten und Kontakt zu uns suchen. Ein einziger Schritt in diese Richtung, und wir wissen Bescheid.»
«Nicht schlecht», bestätigte Irina. «Ignorieren wir sie also, dann sehen wir ja, wie sie reagiert.»
«Entsetzlich ...», seufzte Lily und leckte sich den Finger, um die Heilung zu beschleunigen.
Zehn Tage lang wandte sich nicht eine Gefangene aus Baracke 13 an Olga. Sie schien es zunächst gar
nicht zu bemerken, dann aber verhärtete sich ihr Blick, wurde fast steinern; sie machte jedoch nicht die
geringste Anstrengung, das eiserne Schweigen zu durchbrechen. Sie nahm die Isolierung einfach hin.
Nach dem Essen, einer Suppe, scharten sich die Frauen um Tatiana.
«Somit wäre die Sache also bewiesen, oder? Sie ist nicht weich geworden.»
«Ja, das ist erschreckend ...»
«Ach, Lily, dich erschreckt doch alles ...»
«Gebt zu, dass es grauenhaft ist: Da wird jemand von einer Gruppe abgelehnt, merkt es und rührt nicht
einen Finger, um etwas dagegen zu unternehmen! Das ist doch geradezu unmenschlich ... Ich frage mich,
ob sie überhaupt ein Herz hat, diese Olga.»
«Wer sagt dir eigentlich, dass sie nicht darunter leidet?»
Lily legte ihre Näharbeit, die Nadel in die dickste Stelle des Stoffes gesteckt, beiseite: daran hatte sie nicht
gedacht. Und schon füllten sich ihre Augen mit Tränen.
«Haben wir sie unglücklich gemacht?»
«Ich glaube, sie ist schon unglücklich hierhergekommen, und jetzt ist sie noch unglücklicher.»
«Die Arme! Das ist unsere Schuld ...»
«Also, ich glaube, wir können wirklich auf sie zählen.»
«Ja, du hast recht», rief Lily und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel fort. «Zeigen wir ihr schnell, dass
wir Vertrauen zu ihr haben. Ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass wir einer von uns dermassen
zusetzen und das Leben zur Hölle machen.»
Nachdem sie ihre Köpfe einige Minuten zusammengesteckt hatten, kamen die Frauen überein, es zu
wagen. Sie wollten ihren Plan offenlegen, und Tatiana sollte es für sie tun.
Das Lager versank wieder in seinen Dämmerzustand; draussen fror es stark; einige Eichhörnchen
huschten lärmend über den Schnee zwischen den Baracken.
Mit der linken Hand zerkrümelte Olga eine alte Brotkruste, in der rechten hielt sie ihren leeren Blechnapf.
Tatiana trat auf sie zu.
«Weisst du eigentlich, dass du alle zwei Tage Anrecht auf ein Päckchen Zigaretten hast?»
«Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab’s mitbekommen und rauch sie sogar!»
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Wohl die Auswirkung einer wortlos verbrachten Woche.
Tatiana fiel auf, dass Olga, ungeachtet ihrer Aggressivität, gesprächiger war als zuvor. Die
zwischenmenschlichen Beziehungen schienen ihr zu fehlen ... also konnte sie es ruhig wagen und das
Gespräch fortsetzen.
«Da dir nichts entgeht, hast du sicher bemerkt, dass niemand von uns raucht. Oder dass wir nur ein
bisschen rauchen, nämlich in Gegenwart der Aufseherinnen.»
«Ja, natürlich ... das heisst nein. Was willst du damit sagen?»
«Hast du dich nicht gefragt, was wir mit den Zigaretten anfangen?»
1
7
«Ach, ich verstehe, ihr tauscht sie. Sie sind sozusagen die Lagerwährung. Du willst mir welche verkaufen?
Ich hab aber nichts, womit ich zahlen könnte ...»
«Da irrst du.»
«Wenn nicht mit Geld, womit denn dann?»
Olga verzog das Gesicht, musterte Tatiana misstrauisch und wie im voraus abgestossen von dem, was
sie sogleich erfahren würde. Tatiana liess sich Zeit mit der Antwort.
«Wir verkaufen unsere Zigaretten nicht, und wir tauschen sie nicht. Wir rauchen sie auch nicht, wir
machen etwas anderes mit ihnen.»
Da Tatiana spürte, dass sie Olgas Neugierde geweckt hatte, brach sie das Gespräch ab, denn sie wusste,
sie war die Stärkere, wenn sie die andere kommen liess.
Noch am selben Abend suchte Olga Tatiana auf und schaute sie lange und bittend an. Doch vergeblich.
Tatiana brach ihr Schweigen nicht. Hatte Olga es nicht ebenso gehalten am ersten Tag? Das war die
Quittung.
Schliesslich gab Olga klein bei:
«Nun sag schon, was macht ihr mit euren Zigaretten?»
Tatiana warf ihr einen forschenden Blick zu.
«Hast du Menschen zurückgelassen, die du liebst?»
Olga antwortete mit einem schmerzlichen Zucken ihres Gesichtes.
«Wir auch», fuhr Tatiana fort, «unsere Männer fehlen uns, aber warum sollten wir uns mehr um sie sorgen
als um uns selbst? Sie sind in einem anderen Lager. Nein, was einem wirklich zusetzt, das sind die Kinder
...»
Tatianas Stimme brach: Die Erinnerung an ihre beiden Töchter hatte sie eingeholt. Mitfühlend legte ihr
Olga die Hand auf die Schulter, eine kräftige, starke Hand, fast wie die eines Mannes.
«Ich verstehe, Tatiana. Auch ich habe eine Tochter zurückgelassen. Zum Glück ist sie schon
einundzwanzig.»
«Meine Kinder sind acht und zehn Jahre alt ...»
Die Energie, die es sie kostete, ihre Tränen zurückzuhalten, liess sie verstummen. Doch was hätte sie
dem auch hinzufügen sollen?
Ohne viel Federlesen legte Olga ihren Arm um sie und zog sie jäh an sich, und Tatiana, die
Rädelsführerin, Tatiana, die ewige Rebellin, die harte, unerbittliche Tatiana weinte für einige Augenblicke
an der Brust der Unbekannten, denn sie sah sich einer noch Härteren, noch Unerbittlicheren als ihr selbst
gegenüber.
Wieder Herrin über ihre Gefühle, nahm Tatiana den Gedankenfaden erneut auf.
«Also, wir machen mit den Zigaretten folgendes: Wir nehmen den Tabak heraus und behalten das Papier.
Dann kleben wir Papier an Papier und erhalten auf diese Weise einen richtigen Briefbogen. Komm, ich
zeig’s dir.»
Tatiana hob eine Bodenlatte hoch und holte aus einem Versteck voller Kartoffeln ein knisterndes Bündel Zigarettenpapier hervor. Naht- und Verbindungsstellen verstärkten die feinen Membranen wie
tausendjährige, in Sibirien durch irgendeine archäologische Verirrung entdeckte Papyri.
Sie legte die Blätter vorsichtig auf Olgas Knie.
«Da. Diejenige von uns, die hier eines Tages zwangsläufig rauskommt, wird unsere Botschaften
mitnehmen.»
«Und?»
«Du ahnst es, die Sache hat einen Haken.»
«Ja, das sehe ich. Die Bogen sind leer.»
«Auf beiden Seiten. Wir haben keinen Füller und keine Tinte. Ich hab versucht, mit meinem Blut zu
schreiben, und mich mit einer Nadel von Lily gestochen, aber es verblasst zu schnell ... Zudem heilt bei
mir alles schlecht. Blutarmut. Schlechte Ernährung. Und in die Krankenstation will ich nicht, da schöpfen
sie nur Verdacht.»
«Weshalb erzählst du mir das alles? Was hab ich damit zu tun?» «Ich kann mir durchaus vorstellen, dass
auch du an deine Tochter schreiben willst!»
Olga liess eine gute Minute verstreichen, ehe sie mit einem spröden Ja antwortete.
«Also, dann liefern wir dir das Papier, und du lieferst uns den Bleistift.»
«Wie kommst du auf die Idee, dass ich einen Bleistift haben könnte? Den nehmen sie uns doch bei der
Verhaftung als allererstes weg. Wir sind auf dem Weg hierher alle mehrmals gefilzt worden.»
«Deine Haare ...»
Tatiana zeigte auf die buschige Mähne, die Olgas strenges Gesicht umrahmte. Sie gab nicht auf.
1
8
«Als ich dich kommen sah, hab ich mir gesagt, dass ...»
Olga unterbrach sie mit einer Handbewegung und lächelte zum ersten Mal.
«Du hast recht.»
Unter Tatianas entzücktem Blick fuhr sie sich mit der Hand hinters Ohr, wühlte in ihren Locken, beförderte
mit funkelnden Augen einen dünnen Bleistift zutage und hielt ihn ihrer Haftgenossin hin.
«Abgemacht!»
Die Freude der Frauen in den folgenden Tagen war kaum zu ermessen. Die kleine Bleimine liess nicht nur
ihre Herzen wieder höher schlagen, sondern ermöglichte es ihnen, die Verbindung zu ihrer früheren Welt
wieder aufzunehmen und ihre Kinder in die Arme zu schliessen. Die Gefangenschaft verlor an Härte. Die
Schuldgefühle liessen nach. Denn einige Frauen machten sich Vorwürfe, dass ihnen ihr politisches
Engagement wichtiger gewesen war als die eigene Familie. Jetzt, da sie in der Abgeschiedenheit eines
Gulags ihre Kinder einer verhassten, von ihnen bekämpften Gesellschaft ausgeliefert hatten, bereuten sie
ihre militante politische Haltung und fragten sich, ob sie nicht ihre Mutterpflichten vernachlässigt hatten.
Wäre es nicht besser gewesen, wie so viele andere Sowjetbürger zu schweigen und sich auf die
häuslichen Werte zu beschränken? Die eigene Haut und die der Familie zu retten, statt um die Haut der
ganzen Welt zu kämpfen?
Wenn auch jede Gefangene in den Genuss mehrerer Briefbogen kam, so gab es doch nur einen einzigen
Stift. Nach mehreren Zusammenkünften vereinbarten sie, dass jede Frau Anrecht auf drei Bogen haben
sollte, bevor alles in Form eines Heftes, bei nächster Gelegenheit, den Weg nach draussen fand.
Ferner war jede Frau angehalten, in ihrem Brief keine Streichungen vorzunehmen, um den Stift nicht
unnötig abzunutzen.
Die allgemeine Begeisterung, die am Abend der Vereinbarung herrschte, wurde jedoch bald gedämpft.
Die Frauen litten darunter, dass sie sich mit dem vielen, was sie zu sagen hatten, auf drei Bogen Papier
beschränken mussten ... Wie nur auf drei Bogen Papier alles Wichtige sagen, das Vermächtnis eines
Lebens auf drei Bogen Papier hinterlassen, drei Bogen Papier, die ihren Kindern ihr Innerstes und ihre
Werte vermitteln und ihnen für immer den Sinn ihres Weges auf dieser Erde begreiflich machen sollten?
Das Unterfangen wurde zur Qual. Allabendlich stieg Schluchzen auf von den Pritschen. Manche fanden
keinen Schlaf, andere stöhnten im Traum.
Wann immer die Arbeit, zu der sie gezwungen waren, es ihnen erlaubte, versuchten sie ihre Gedanken
auszutauschen.
«Ich, ich werde meiner Tochter erklären, warum ich hier bin und nicht bei ihr. Damit sie mich begreift und
mir vielleicht verzeiht.»
«Drei Blätter schlechtes Gewissen, um dein Gewissen zu erleichtern, findest du, das ist wirklich eine gute
Idee?»
«Also, ich erzähle meiner Tochter, wie ich ihrem Vater begegnet bin, damit sie weiss, dass sie die Frucht
einer Liebesgeschichte ist.»
«Ach ja? Glaubst du nicht, sie wird sich fragen, warum du diese Liebesgeschichte nicht mit ihr fortgesetzt
hast?»
«Ich möchte meinen drei Mädchen erzählen, wie sie auf die Welt gekommen sind, das waren die
schönsten Augenblicke meines Lebens.»
«Nicht gerade viel! Werden sie es dir nicht womöglich verübeln, wenn du deine Erinnerungen auf ihre
Geburt beschränkst? Besser, du erzählst ihnen, was danach kam.»
«Ich, ich hätte Lust, ihnen zu erzählen, was ich gerne für sie tun würde.»
«Hm ...»
Während die Frauen miteinander sprachen, machten sie eine merkwürdige Entdeckung: Alle hatten sie
nur Mädchen geboren. Ein Zufall, der sie zunächst erheiterte und dann derart überraschte, dass sie sich
fragten, ob die Behörden nicht bewusst ausschliesslich Mütter von Töchtern in der Baracke 13
zusammengesperrt hatten.
Doch selbst dies lenkte sie kaum von der quälenden Frage ab: Was schreiben?
Abend für Abend hielt Olga den Bleistift hoch und rief in den Raum:
«Wer will anfangen?»
Abend für Abend stellte sich betretene Stille ein. Die Zeit verrann hörbar wie die Tropfen eines Stalaktiten
an der Decke einer Höhle. Gesenkten Hauptes warteten die Frauen, dass eine von ihnen «Ich» rief und
sie vorübergehend aus ihrer Verlegenheit befreite; nach wiederholtem Husten und einigen verstohlenen
Blicken entgegneten die Mutigsten schliesslich, sie müssten noch nachdenken.
1
9
«Ich bin fast soweit ... morgen vielleicht ...»
«Ja, ich komm auch voran, aber so richtig sicher bin ich mir noch nicht ...»
Die Tage vergingen mit heftigen Windböen und weiss funkelndem Rauhreif. Zwei Jahre lang hatten die
Gefangenen auf einen Bleistift gewartet, und nun waren drei Monate vergangen, ohne dass auch nur eine
einzige je nach ihm verlangt oder ihn gar in die Hand genommen hätte.
Und so war die Überraschung gross, als eines Sonntags, Olga hatte gerade wieder das Objekt der
allgemeinen Begierde hochgehoben und die übliche Frage gestellt, Lily eilfertig antwortete:
«Ja, ich, danke!»
Die Frauen drehten sich erstaunt nach der blonden, pummeligen Lily um, der Unbedarftesten von ihnen
allen, der Rührseligsten, der am wenigsten Willensstarken, kurz: der in nichts Aussergewöhnlichen. Hätte
man vorhersagen müssen, welche Gefangene als erste zum Bleistift griff, wäre Lily unweigerlich unter den
letzten gewesen. Tatiana die erste, dann vielleicht Olga oder Irina ... aber die sanfte, so durch und durch
normale Lily?
Tatiana konnte es sich nicht verkneifen und zischelte:
«Bist du ... auch sicher ... Lily?»
«Ja, ich glaube schon.»
«Und du wirst auch nicht ... rumschmieren, dich verschreiben ... den Stift einfach so abnutzen?»
«Nein, ich hab genau nachgedacht: Ich schaff das schon, ich muss nichts durchstreichen.«
Skeptisch vertraute Olga Lily den Stift an. Während sie ihn ihr übergab, tauschte sie einen Blick mit
Tatiana, der ihr bestätigte, dass sie gerade eine Riesendummheit begingen.
In den folgenden Tagen nahmen die Frauen aus Baracke 13 Lily ins Visier, sobald sie sich zurückzog und
auf den Boden hockte, hin und wieder tief Luft holend zur Decke aufsah, um anschliessend laut
ausatmend die Schultern zu krümmen und vor den anderen zu verbergen, was sie aufs Papier schrieb.
Am Mittwoch verkündete sie zufrieden:
»Ich bin fertig, wer will den Stift?»
Mürrisches Schweigen entstand.
«Wer will den Stift?»
Die Frauen wagten nicht, einander anzusehen. Und so sagte Lily ruhig:
«Gut, dann steck ich ihn bis morgen in Olgas Haar zurück.»
Olga brummte nur, als Lily den Stift in ihrer Mähne versteckte.
Eine andere Lily, eine weniger gutmütige, eine, die sich besser auskannte mit der Vielschichtigkeit des
menschlichen Herzens, hätte bemerkt, dass ihre Barackenmitbewohnerinnen sie von nun an mit einer
nahezu an Hass grenzenden Eifersucht beobachteten. Wie hatte diese hirnlose Lily nur geschafft, wozu
die anderen nicht in der Lage waren?
Eine weitere Woche verging, und jeder Abend machte jeder Frau stets aufs neue ihre Niederlage
bewusst.
Am folgenden Mittwoch um Mitternacht, die meisten Frauen schliefen, wie ihr Atem anzeigte, schlich sich
Tatiana, des Herumwälzens auf ihrem Strohsack müde, schliesslich leise zu Lilys Bett.
Lily lag da und lächelte die dunkle Decke an.
«Lily, ich bitte dich inständig, sag mir, was du geschrieben hast!»
«Aber natürlich, Tatiana, willst du es lesen?»
«Ja.»
Doch wie? Das Licht war bereits abgeschaltet.
Tatiana ging zum Fenster. Hinter dem Spinnennetz erstreckte sich eine weite weisse Schneelandschaft,
die der Vollmond in blaues Licht tauchte; Tatiana reckte den Hals und konnte mit einiger Anstrengung die
drei Blätter entziffern.
Lily kam zu ihr und fragte mit dem schuldbewussten Unterton eines kleinen Mädchens:
«Was hältst du davon?»
«Lily, du bist einfach genial!»
Und Tatiana nahm Lily in die Arme und küsste sie mehrmals auf ihre runden Backen.
Am folgenden Tag bat sie Lily um zwei Dinge: die Erlaubnis, es ihr nachzutun, und um die Einwilligung,
den anderen Frauen von ihrem Brief erzählen zu dürfen.
Lily senkte die Lider, errötete, als hätte man ihr Blumen geschenkt, und gurrte und zwitscherte einen Satz
hervor, der soviel wie «ja» bedeutete.
2
0
Aus:
Eric-Emmanuel Schmitt, Odette Toulemonde und andere Geschichten, Aus dem Französischen
von Inés Koebel, Ammann Verlag, Zürich, 2007
2
1
Herunterladen