EINFÜHRUNG IN DIE THEMATIK (Begrifflichkeiten wie Politischer Systemvergleich, Systemwechsel/Regimewechsel, Transformation, Transition, Konsolidierung, Politische Kultur und Politischer Kulturvergleich) VERGLEICHENDE LEHRE REGIERUNGSLEHRE) POLITISCHER SYSTEME (FRÜHER: VERGLEICHENDE bereits Aristoteles unternahm den Versuch einer Typologie der Staatsformen: Zahl derjenigen, die die Staatsgewalt ausüben: einer, wenige, viele Mit welcher Motivation: im Dienste des Gemeinwohls oder zum Eigennutz 1) Gemeinwohl-Serie: Monarchie, Aristokratie, Politie (entspricht am ehesten der heutigen Vorstellung von Demokratie) 2) Verfallsform-Serie: Tyrannis, Oligarchie, Demokratie (als Pöbelherrschaft) Später versuchten Machiavelli, Montesquieu, Rousseau u.a. Typenbildung über Verfassungsvergleich (Hintergrund: Suche nach der idealen Verfassung) Vergleichende Lehre Politischer Systeme als Kernbereich der PW (erfasst die prozessuale Dimension von Politik, politics), Untersuchungsobjekte sind politische Systeme 1 Entwicklung Gegenstand der Vergleichenden Regierungslehre (comparative government) war der Verfassungsstaat der Neuzeit und seine Institutionen bzw. deren Verhältnis zueinander Methode: historisch-deskriptiv, vgl. von Norm mit Realität > als idealtypisch angesehene politische Systeme (USA für Präsidentialismus, GB für Parlamentarismus) Das Vergleichen politischer Strukturen und von Politikbereichen stand nicht so sehr im Zentrum, dies tritt erst durch die Weiterentwicklung zur Vergleichenden Analyse Politischer Systeme (comparative politics) auf den Plan Kritik an Vergleichender Regierungslehre Zu enge Konzentration auf westliche Demokratien Zu starke Institutionen-Orientierung Zu wenig Berücksichtigung politischen Wandels Zu deskriptiv Weiterentwicklung v.a. durch US-amerikanische Beiträge seit den 50er Jahren (dtspr. in 60er Jahren rezipiert), insbesondere als Antwort der political science auf die Herausforderung der westlichen Demokratien durch Faschismus, Nationalsozialismus, Holocaust, Zweiter Weltkrieg, den Ost-West-Konflikt und den Kalten Krieg, Prozesse der Dekolonisation und neuer Staatenbildung Erforschung des politischen Systems als Ganzes und seiner Teilbereiche (sowohl staatliche Einheiten als auch „vorpolitische“ Bereiche Konzentration auch auf den Input-Bereich (soziale Kräfte wie Parteien, Interessengruppen, Eliten, Öffentliche Meinung etc.), u.a. Aufschwung der Parteienforschung Einbezug der sozioökonomischen und soziokulturellen Umwelt des Systems (politisches System als Subsystem der Gesellschaft) Kritik an Konzentration auf angloamerikanische Entwicklungsleitbilder und verkürztes Stabilitätsdenken der Modernisierungstheorie (Almond/Verba etc.) 2 Interkultureller Vergleich, Ausdehnung des Forschungsfeldes auch in geografischer Hinsicht durch Einbeziehen der neu entstandenen Staatengebilde der so genannten Dritten Welt, area-studies Stärkere Theorie-Orientierung (soziologische Systemtheorie in den frühen 60er Jahren), Aufnahme präziser (soziologischer) Begriffe wie Rolle, Funktion, Struktur in die PW Sprache und Erarbeitung grundlegender politikwissenschaftlicher Konzepte wie etwa Politische Kultur Einbeziehen neuer Methoden auch durch Entstehen neuer Technologien und der Möglichkeiten, die diese boten, neue Erhebungsund Verarbeitungstechniken für Daten, vorerst quantitative Orientierung (Umfrageforschung, Bsp. Almond/Verba), nicht-messbare Faktoren der Politik wurden dadurch vernachlässigt Für deutschsprachigen Raum wesentliche Frage: welchen Erklärungswert können Institutionen für die Politik beanspruchen (Diskussion um Strukturdefekte der Weimarer Verfassung): Ist Entwicklung der Demokratie abhängig von der Güte und der Verbesserung von Institutionen? 80er Jahre Politikfeldanalyse in Verbindung mit Institutionenanalyse (Komplementarität von politics und policy Ansätzen) Neoinstitutionalismus mit Systemwechsel in Lateinamerika und Osteuropa (Funktion von Institutionen in diesen Prozessen) Komplexe Erklärungsansätze mittlerweile Defizite bestehen dennoch insbesondere betreffend Vergleichsperspektive: oft bloßes Nebeneinanderstellen, Akkumulation disparater Informationen Frage was wird vergleichen? ganze Systeme? Einzelne Systembestandteile, einzelne Segmente? Politikbereiche? Bestimmte Strukturen? Beziehungen zwischen Institutionen und/oder AkteurInnen, etc.) Typologiebildung als ein erster Schritt, Klassifikation als deskriptives, ordnendes Aufbereiten von Materialien Im eigentlichen Sinn vgl. sind nur solche Forschungen, die Erklärungen zu den untersuchten Phänomenen anstreben (sozialer und kultureller Hintergrund muss einbezogen werden) 3 Zentrale Fragestellungen u.a. Wie sind unterschiedliche politische Systeme mit ihren Verfassungen Institutionen und realen Prozessen in Gegenwart und Vergangenheit zu erklären? Demokratische Stabilität Entwicklungsdynamik Politischer Systeme (etwa Veränderung nationalstaatlicher politischer Systeme im Kontext der Herausbildung eines supranationalen politischen Systems, Prozesse im Zuge von Systemwechseln) Konkrete Politikinhalte und Leistungen, die ein politisches System in verschiedenen Politikfeldern erbringt? (Policy-Analysen) Mehrebenenanalysen (lokal-regional-national-supranational), Multilevel Governance Forschungsbereich (MLG) als Beispiel Aspekte Politischer Kulturen Politische Systemanalyse kann z.B. umfassen, die Analyse von Herrschaftsformen (Diktatur, Demokratie) Regierungssystemen (präsidiale oder parlamentarische Demokratie Wahlsysteme Parteiensysteme Gesellschaftlichen Macht- und Einflussverhältnissen (pluralistische oder korporatistische Arrangements zwischen Verbänden, Parteien und Regierung) Effektivität staatlicher Verwaltung Politische Kulturen Nicht nur formell festgelegte Institutionen und Verfahren (siehe Verfassungs- und Institutionenlehre) sondern auch reale politische Prozesse in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Grundlagen (Einbettung in gesellschaftliche Kontexte und Strukturen, um politische Ordnungen wie konkrete Arrangements und Abläufe verständlicher zu machen). Befassung nicht nur mit politischem Institutionengefüge sondern auch mit allen politisch relevanten gesellschaftlichen Phänomenen (etwa ökonomische Situation, Sozialstruktur, Bildungsgrad, Zustand des Rechtssystems, soziale und geografische Mobilität, soziale und ethnische Konflikte, Geschlechterordnungen, subjektive Verfassung der Bevölkerung, kollektives Gedächtnis von Gesellschaften, politische Mentalität, etc.) 4 SYSTEMWECHSEL/ TRANSFORMATION/ TRANSITION/ KONSOLIDIERUNG1 Systemtransformation Systemtypus) (grundlegender Systemwandel) versus Systemveränderung (Neuerungen innerhalb desselben Systemtransformation: Prozess des Übergangs von einem Regimetyp zu einem anderen (auch Transition, Regimewechsel, Transformation und Demokratisierung) Südeuropa, Lateinamerika, Afrika, Asien im späten 20.Jahrhundert (dritte Welle der Demokratisierung, Huntington 1991) Unterscheidet sich in MOE/ Osteuropa/ Südosteuropa von anderen Systemwechseln durch das „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Merkel 2003, 235), Veränderung begann schon in den 80er Jahren des 20.Jhdts. Ehemalige sozialistische Einparteienstaaten durchliefen zugleich eine soziale, politische und ökonomische Transformation (z.T. auch staatlicher Wandel, Entstehung neuer Staaten), Unterschied zu Spanien, Portugal, Griechenland, Chile ist dieser gleichzeitige Umbau aller gesellschaftlichen Bereiche Übergang von Diktatur zu Demokratie Wechsel von zentraler Plan- und Kommandowirtschaft zu Marktwirtschaft In manchen Fällen Gründung neuer Nationalstaaten (z.B.: CZ, SK, Baltikum, Ex-YU) Analyse der besonderen Bedingungen unter denen die ehemals unter dem sowjetischen Einflussbereich stehenden postkommunistischen Staaten den Systemwechsel und die Konsolidierung bewerkstelligt haben 1 Vgl. entsprechende Kapitel in politikwissenschaftlichen Handbüchern und Lexika sowie die Literaturliste der VO. 5 Transitionsforschung/ Konsolidierungsforschung als Forschungszweig demokratische Regimewechsel in anderen Weltgegenden entwickelt erlebte Aufschwung: wurde ursprünglich für Erforschung der demokratischen Konsolidierung und des politischen Kulturwandes in postkommunistischen Gesellschaften (u. a. folgende Indikatoren): Politik- und Demokratieverständnis, Legitimitätsüberzeugungen, politische Unterstützungspotentiale, politisches Institutionenvertrauen, politische Partizipation, politisches Effektivitätsbewusstsein/Einschätzung der Problemlösungskapazität, Konfliktpotentiale und gesellschaftliche Spannungslinien, Einstellungen zur ökonomischen Transformation, Zukunftserwartungen (politische und auf die Lebenswelt bezogene) Aspekte des Systemwechsels/Regimewechsels Regime, das abgelöst wird Gründe, die zur Ablösung geführt haben (ökonomische, Legitimationsverlust, geopolitische Rahmenbedingungen, etc.) Modalitäten des Regimewechsels (involvierte AkteurInnen, Gewaltanwednung, zeitliche Dauer, etc.) Regime, das angestrebt wird 6 Systemwechsel-Typen (Merkel 1999, 129, zit.n. Münkler 2003, 226): Lang andauernde evolutionäre Demokratisierung Eliten des alten Regimes gestalten/lenken den Systemwechsel (auch einflussreich in neuem Systemkontext in der Politik, Wirtschaft etc.) Von unten erzwungener Systemwechsel Ausgehandelter Systemwechsel (tlw. Elitenkontinuität) Regime-Kollaps Zerfall und Neugründung von Staaten Mischtypen Transitionsphase Ablösung nicht-demokratischer und Einrichtung zentraler demokratischer Institutionen Etablierung der formalen Minimalkriterien eines demokratischen Systems (Grund- und Freiheitsrechte inkl. Minderheitenrechte/Bsp. Lettland/Estland/CZ/SK, rechtsstaatlich abgesicherte Gewaltenteilung, Pluralität und Wettbewerb/Konkurrenz, freie, gleiche und geheime Wahlen, Transparenz, Verantwortlichkeit, Kontrolle, checks and balances zur wechselseitigen Machtkontrolle der Institutionen) Konsolidierungsphase Komplettierung des Regimewechsels durch Stabilisierung der verhaltens- und einstellungsmäßigen Grundlagen der Demokratie, um demokratische Institutionen abzusichern und deren effektives Funktionieren zu gewährleisten Frage: wann ist Konsolidierung zu Ende? Ist der Stabilitätsgedanke, der in diesem Konzept steckt mit dem dynamischen Charakter von Demokratie als Prozess vereinbar? Beide Phasen können parallel laufen 7 BEISPIEL: ASPEKTE DES SYSTEMWECHSELS IN CZ/ SK/ H/ PL IM VERGLEICH (vgl. dazu ausführlicher: Mangott, G. (1992): Parteienbildung und Parteiensysteme in Ost-Mitteleuropa im Vergleich. In: Gerlich, P./ Plasser, F./ Ulram, P. A. (Hg.): Regimewechsel. Demokratisierung und politische Kultur in Ost-Mitteleuropa. Wien.99-127). 1) Das Verhältnis Regime/ Opposition und die Situation sowie der Handlungsspielraum der dissidenten Bewegungen vor dem Systemwechsel: Verfolgung (CSSR und Polen) bis zu paternalistischem Dialog (H) 2) Träger der dissidenten Bewegungen: Intellektuelle (H und CSSR) oder Arbeiter/ Bauern/ Intellektuelle im Rahmen von Solidarność (PL) 3) Kategorien der Regime- und Systemwechsel (nach Samuel P. Huntington (1990): Democratization and Security in Eastern Europe. In: Volten, Peter (ed.): Uncertain Futures: Eastern Europe and Democracy. Institute for East-West-Security-Studies. Occasional Paper Series 16. New York. 35-49.) transformation: Regime- und Systemwechsel durch Initiative der „reformers in government“: H 1986-1989 transplacement: Regimewechsel durch Zusammenarbeit zwischen Regime und Opposition: PL 1988/89 replacement: Zusammenbruch des Regimes und dessen Ersetzung durch eine „Anti-Regime-Koalition“: CSSR 1989 Alle drei Punkte hatten Einfluss auf die Struktur des neu entstehenden Parteiensystems. „Runde Tische“/ negotiated power sharing institutioneller Rahmen und stabilisierendes Element des Übergangs, das einen geordneten Rückzug der alten Eliten ermöglichte Ausgangspunkt: grundsätzlicher Legitimitätsverlust des herrschenden Regimes und von dessen Eliten Werte und Leitbilder der dissidenten Bewegung besetzten den entstehenden politisch-ideologischen Freiraum Parteien teilweise als organisatorischer Ausdruck des Dissenses und Mittel des Regimewechsels konkrete Ausformung des power sharing abhängig von Legitimität und Machtmitteln der herrschenden Eliten einerseits, von der Homogenität der dissidenten Bewegung andererseits 8 Ungarische Variante: Ein reformbereiter Teil der politischen Elite der MSzMP (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) trat mit der Opposition in einen Dialog ein, es gab keinen repressiven Druck von außen, der die Integration der Opposition gefördert hätte, deshalb wurden Differenzen innerhalb der dissidenten Bewegung bereits bei den Verhandlungen am „Runden Tisch“ sichtbar. Relativ hohes Ansehen der Reformeliten, aber eher geringe Machtmittel, relativ inhomogene Gegenelite > neutrales Ergebnis der Verhandlungen Polnische Variante: eine ideologisch breit gefächerte Anti-Regime-Koalition (Solidarność) stand in Opposition zu einer dialogunwilligen und dialogunfähigen Führung, die auch repressiv gegen die Opposition vorging. Dieser Druck von außen führte trotz innerer Konflikte zu einer Integration der Opposition, die sich erst nach dem Regimewechsel und der Übernahme von Regierungsverantwortung aufsplittete. Einsatz des Militärs als Option, mgl. Intervention der UdSSR (PL als Wegbereiter der osteuropäischen Systemwechsel), aber geringe Legitimität > semi-kompetitive Wahlen, die den alten Eliten eine Mandatsmehrheit garantierten sowie Errichtung eines semi-präsidentiellen Regierungssystems Tschechoslowakische Variante: ähnlich der polnischen, aber viel schneller, unter größerem Zeitdruck. Geringe Legitimität und geringe Machtmittel der herrschenden Eliten, hohe Homogenität der dissidenten Bewegung > Zusammenbruch des herrschenden Regimes „Gründungswahlen“ der Jahre 1989 bis 1991 (z.B.: Sejm und Senat in PL, Juni 1989, Nationalversammlung in H März/April 1990, Föderalversammlung sowie Tschechische und Slowakische Nationalräte Juni 1990), quasi Ratifikation der Ergebnisse der Runden Tische, mit dem Ziel legitime staatliche Autoritäten zu institutionalisieren. In allen drei Staaten wurden diese Wahlen zu anti-kommunistischen Plebisziten, wobei die Wahlbeteiligung in PL und H nicht sehr hoch war. Sie führten weiters in PL und der Tschechoslowakei zur Einleitung einer zweiten Phase der Parteienbildung, da sich die ideologisch heterogenen und organisatorisch wenig strukturierten Bürgerbewegungen ausdifferenzierten; das vereinheitlichende und Identität stiftende Ziel (Ablöse des vorherigen Regimes) war nun erreicht, politische Alltagsarbeit führte zur Ausdifferenzierung des (partei)politischen Spektrums im Sinne einer funktionierenden, wettbewerbsorientierten Demokratie. 9 TYPOLOGIE POLITISCHER SYSTEME (vgl. Pelinka, Anton, 2000: Grundzüge der Politikwissenschaft. Wien-Köln.Weimar. 37-49). Parlamentarische Systeme (Modell GB) Verflechtung Parlament/ Regierung Regierung durch Parlamentsmehrheit legitimiert, Parlament kann Regierung durch Mehrheitsbeschluss stürzen, Fraktionsdisziplin im Parlament wirkt stabilisierend Regierung kann durch Parlamentsauflösung Neuwahl erzwingen Führungspositionen in Regierung und Regierungsparteien häufig in Personalunion Reduzierte Stellung des Staasoberhaupts (formale Kompetenzen, repräsentative Funktion, Vorrang des Regierungschefs) Reduzierte Stellung der 2.Kammer Präsidentielle Systeme (Modell USA) Weitgehende Trennung Parlament/ Regierung Politische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament fehlt – kein Misstrauensvotum Regierung hat kein Auflösungsrecht des Parlaments (kann also auch Termin der Wahl nicht fixieren) Staatsoberhaupt ist zugleich Regierungschef Parlament und Präsident sind zwei relativ unabhängige Pole des politischen Systems Gemischte Systeme Parlament und Präsident werden unabhängig voneinander gewählt Regierung ist sowohl von Parlament als auch Präsident abhängig es könnt im Konfliktfall zu einer Pattstellung kommen Formalverfassung/ Realverfassung? 10 POLITISCHE KULTUREN/ POLITISCHE KULTURFORSCHUNG Der Systemwandel der ehemaligen Einparteienstaaten Ost- und Ostmitteleuropas hatte in der sozialwissenschaftlichen, insbesondere der politologischen Forschung eine verstärkte Beschäftigung mit demokratiepolitischen Fragestellungen in Hinblick auf die sich neu formierenden Gesellschaften und politischen Systeme der so genannten “Transformationsstaaten“ zur Folge. Der Versuch, theoretische Erklärungsansätze für den Systemwandel und die Demokratisierungsprozesse in den OME-Staaten bzw. den Nachfolgestaaten des ehemaligen “Sowjetischen Imperiums” zu finden, führte sowohl zu einzelnen Länderstudien als auch zu komparativen Analysen, die in der Tradition der - vor 1989 vor allem auf südeuropäische und lateinamerikanische Staaten konzentrierten - Transitionsforschung stehen: Ins Blickfeld rückten dabei ökonomische sowie politisch-kulturelle Rahmenbedingungen des Transformationsprozesses vor allem aber auch die Problematik des Aufbaus und der Konsolidierung eines “handlungs- und leistungsfähigen Institutionengefüges” als Basis einer legitimierten und stabilen “neuen demokratischen Ordnung”. UMFRAGE- UND EINSTELLUNGSFORSCHUNG Vor allem für die zentrale Frage der Stabilität der “Neuen Demokratien” erschienen der Vergleichenden Politikwissenschaft die subjektiven Einstellungen zu den demokratischen Institutionen von wachsender Bedeutung und das Konzept der Politischen Kultur als bevorzugtes analytisches Instrument zur Feststellung des Ausmaßes der “Konsolidierung” in den einzelnen Reformstaaten. Quantitativer Zugang in Form repräsentativer Meinungsbefragungen: orientiert an einem- auf Gabriel A. Almonds und Sydney Verbas (1963 und 1989) methodische Ansätze zur Erforschung politischer Wertorientierungen, Einstellungen und Ideologien sowie politischen Bewusstseins zurückgehenden Konzept der Politischen Kultur als ”civic culture”. 2 Die auf das Konzept von Almond und Verba zurückgreifenden Untersuchungen zum Systemwandel in den ehemaligen Einparteienstaaten Ost- und Ostmitteleuropas beschäftigen sich vorrangig mit der allgemeinen Beurteilung der politischen Situation, der Akzeptanz des demokratischen Systems und mit dem Vertrauen der BürgerInnen in politische und bürokratische Institutionen sowie in zivilgesellschaftliche Gruppierungen, aber auch mit ökonomischen Aspekten des Systemwandels, vor allem hinsichtlich dessen Auswirkungen auf den Lebensstandard der Bevölkerung. Dieses Konzept wurde von Lucien W. Pye weiterentwickelt, der historische Entwicklungen und Kultur als Hintergrund für die Herausbildung und das Funktionieren politischer Systeme in seiner Analyse stärker betonte.3 Diese Analysen orientieren sich an Almond und Verba erheben und interpretieren sowohl die unterschiedlichen ”attitudes” (kognitiv, affektiv und evaluativ) wie die Objekte der Politik (das politische System im gesamten, die input- und output-Aspekte des politischen Systems und die politischen Akteure). 2 3 Pye versteht Politische Kultur als ein Set von Haltungen, Einstellungen, Überzeugungen und Gefühlen, das politischen Prozessen Sinn verleiht und diesen eine Ordnung unterlegt (vgl. Pye/ Verba 1965 bzw. Pye 1972). 11 einem Politik- und Gesellschaftsverständnis, das Normen und Werte als soziale Phänomene langer Dauer begreift und unterstellt, daß diese politisches Verhalten auch über kurzfristige Veränderungen hinweg bestimmen und erklären können. Auch mittels des jährlich erhobenen “Neue Demokratien Barometers” - einem longitudinalen Forschungsvorhaben wurde das Meinungsklima bezüglich der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der Reformländer erhoben. Diese Umfrageserie strebte einen langfristigen Ländervergleich ebenso wie die Darstellung (nationaler) Trends an. Vgl. auch: Eurobarometer (Candidate Countnies Barometer) Kritik und Ergänzungsvorschläge: In der sozialwissenschaftlichen Diskussion der Ergebnisse der Umfrageforschung wurde jedoch deren Aussagekraft für die Beurteilung der demokratischen Konsolidierung und der politischen Stabilität der postkommunistischen Gesellschaften unterschiedlich eingeschätzt. So legt Max Kaase in einer Sekundärinterpretation vergleichbarer Daten (zum Teil aus dem “Neue Demokratien Barometer) den Schwerpunkt auf die “Fragilität” der Konsolidierung – vor allem auch in Hinblick auf das Problem des Nationalismus - und die Widersprüchlichkeit einzelner Teilergebnisse, die ihm das Bild einer ambivalenten Entwicklung der Neuen Demokratien vermitteln (Kaase 1994, 270). Klaus von Beyme (1994, 349f) der zwar insgesamt die Bedeutung einer Untersuchung der Politischen Kultur für den Demokratisierungsprozess in den ehemaligen sozialistischen Ländern hervor hebt, relativiert die Geltung der Umfrageergebnisse insgesamt aufgrund der Kürze der verfügbaren Zeitreihen wegen des Fehlens entsprechender Vergleichsdaten aus der Periode der Einparteienstaaten. Vor diesem Hintergrund verweist etwa Steven Brint (1994, 5) auf die Bedeutung interpretativer Traditionen zum Verständnis Politischer Kulturen als viel versprechende Ergänzungen der quantitativen Analyse: Brint versucht historische und anthropologische Ansätzen einzubeziehen und quantitative Ergebnisse damit zu verknüpfen (ebd. 7ff) bzw. schlägt ine Ergänzung vorliegender empirischer “Fallstudien” durch historische Entwicklungsmuster vor (vgl. dazu auch Szücs' 1994). Dies führt zur Frage nach dem Einfluss solcher historischer Muster auf den aktuellen Zustand der untersuchten Politischen Kulturen, die im Rahmen der Umfrageforschung anfangs nur wenig Berücksichtigung fand. QUALITATIV ORIENTIERTE POLITISCHE KULTUR-FORSCHUNG (INKLUSIVE SYMBOL-, MYTHEN- UND ALLTAGSANALYSE, CULTURAL STUDIES ANSÄTZE) Im Rahmen des Political Culture-Ansatzes selbst wurden also im letzten Jahrzehnt sowohl Forderungen nach einer Integration interpretativer methodischer Zugänge als auch nach einer Erweiterung der Forschungsperspektive durch Einbeziehung historischer Muster Politischer Kultur erhoben. Für die komparative Analyse unterschiedlicher Politischer Kulturen - auch über historische Differenzen hinweg - entwickelten Mary Douglas und Aaron Wildavsky (1983) unter Rückgriff auf anthropologische Methoden und Forschungsergebnisse ein Konzept für 12 den Vergleich politischer Systeme auf der Grundlage hierarchischer Gruppenstrukturen. Sie kreierten eine Typologie von Lebensstilen, die in einer Vier-Felder-Matrix (hierarchisch bis egalitär und individualistisch bis fatalistisch) gefasst wird und mit deren Hilfe unterschiedliche Ausprägungen der einzelnen Kategorien analysiert sowie Rückschlüsse auf Orientierungen von Gesellschaften und Politischen Kulturen gezogen werden können. Diese Typologie wurde zum Konzept einer ”cultural theory” weiterentwickelt, als Basis für eine Typisierung von Werten und Anschauungen (cultural bias) und deren Verbindung mit sozialen bzw. politischen Beziehungsmustern (social relations). Politische Kulturen können so über typische Verhaltens-Muster beschrieben werden. Michael Thompson, Richard Ellis und Aaron Wildavsky (1990) unternahmen von diesem Konzept ausgehend den Versuch einer international vergleichenden Beschreibung von Merkmalen politischer Kulturen, die auch einen Vergleich mit den Ergebnissen der Civic-Culture-Studie (Almond/ Verba 1963) umfasst: In der Reinterpretation von Fallbeispielen aus dieser Untersuchung versuchen sie zu veranschaulichen, dass die bei Almond und Verba als Belege für eindeutige Kulturtypen geltenden Fallgeschichten unter einer veränderten methodischen Perspektive die Darstellung der vielfältigen, “pluralen” politischen Kulturmuster eines nationalen bzw. staatlichen Zusammenhangs eröffnen. Der Untersuchungsansatz von Wildavsky et al wurde auch von Heinrich/ Wiatr (1991) für eine (quantitativ und interpretativ) vergleichende Analyse der Politischen Kulturen in den Städten Warschau und Wien übernommen, deren Ergebnis die gewohnten politischen West-Ost-Zuordnungen in Frage stellt - Patronage und Klientelismus, die als Merkmale des Einparteiensystems g(e)alten, erwiesen sich in der Selbsteinschätzung der Wiener Befragten als wesentlich stärker verankert als in Warschau (ebd., 153 ff), die beiden Autoren präsentieren damit ein ostmitteleuropäisches Beispiel Politischer Kultur im Wandel bzw. im Prozess der Pluralisierung. Auch in Ostmitteleuropa selbst wurden mit qualitativen Untersuchungen wesentliche Beiträge zu einem besseren Verständnis der jeweiligen Politischen Kulturen geleistet: So etwa von Jan Kubik (1994), der den Transformationsprozess in Polen aus der Perspektive des Symbolwandels vom Einparteienstaat zur Solidarność über die Delegitimierung der Symbole des Einparteienstaats und den, in historischen Mustern begründeten, Legitimitätsanspruch der damaligen Opposition rekonstruiert; oder von Ágnes und Gábor Kapitány (1991, 1995, 1999), die die Entwicklung der ungarischen Demokratie über die Wahlwerbung der ersten drei freien Wahlen begleitet haben und die Grundzüge von politische Partei- und Ideologiegrenzen übergreifenden, wirksamen nationalen Symbolen rekonstruierten. Beide Untersuchungen zeigen, dass durch eine interpretative Analyse von politischen Symbolen und Mythen eine wesentliche Akzentverschiebung im Verständnis Politischer Kulturen eröffnet wird: Politische Symbole und Mythen sind als Muster kollektiver Identitäten von zentraler Bedeutung. Sie sind nicht nur in medialen PolitikInszenierungen und im politischen Alltagshandeln, sondern auch in den entsprechenden Diskursen repräsentiert. Einen entscheidenden Beitrag zu deren Erforschung hat die Historikerin Lynn Hunt (1989) mit ihrer Analyse der Entstehung der modernen Politischen (Alltags)Kultur in der Französischen Revolution geliefert. Sie weist mit ihrer Studie die Bedeutung von Ritualen, Symbolen und Mythen als kollektive Identifikationsmuster zur Durchsetzung der modernen Politischen Kultur selbst nach. Sie verweist zugleich aber auch auf die Variationsmöglichkeiten in der Funktionalisierung von politischen Mythen, Symbolen und 13 Ritualen: Die Erfindung Republikanischer Traditionen in der Folge der Revolution greift auch auf die Formensprache feudaler Politik zurück und re-konfiguriert diese in modifizierter Form. Mit diesem Ansatz können Epochen- und Kulturgrenzen übergreifende Traditionen auf ihren aktuellen, politischen Symbolgehalt und die Bedeutung von überlieferten Ritualen in ”moderner”, zeitgenössischer Politik untersucht werden. Das Einbeziehen von methodischen Zugängen und theoretischen Ansätzen aus den Nachbardisziplinen in die neuere Politische Kultur-Forschung erlaubt einen Wechsel der analytischen Perspektive, etwa die Rekonstruktion des gemeinsamen Symbol- und Ritualgehalts unterschiedlicher politischer Repräsentationsformen (vgl. Thompson/ Ellis/ Wildavsky 1990). Aus einer solchen Perspektive wird Politische Kultur als die von einer sozialen Gruppe geteilten, grundlegenden Vorstellungen über die Welt der Politik und die mit diesen Vorstellungen verknüpften Normen aufgefasst und Denk- und Wahrnehmungsmuster werden in den Analyseansatz mit ein bezogen.4 In diesem Zusammenhang sind es vor allem die Arbeiten des Anthropologen Clifford Geertz (1973) und dessen reflexiver Kulturbegriff, die in die Politische Kultur-Forschung einbezogen werden (Brint 1994, 11f) und zur Interpretation der Politischen Kultur als Teil einer umfassender verstandenen Kultur sozialer Gruppen beitragen > Rekonstruktion sozialer Praktiken als Ausdruck sich dynamisch verändernder Bedeutungswelten. Folgt man den hier skizzierten Positionen, wird Kultur als ein Phänomen gefaßt, dass hergestellt, diskursiv ausgehandelt und konstruiert wird und dennoch in gewissem Maß in kulturelle Strukturen > der “soziale Konstuktivismus“ dieses Phänomens tritt in den Vordergrund (vgl. dazu Brint 1994). Kultur lässt sich auch als Netz von Regeln und Verfahren verstehen, das Gesellschaften zu ihrer Reproduktion ausbilden, und umfaßt sowohl soziale Praktiken wie deren Übertragung in normative Strukturen und in symbolische Systeme und Diskursformationen. Mit dem Begriff der (nationalen) politischen Kultur als organisatorischem Bezugsrahmen und Ordnungsmechanismus ist für die Analyse jener Bedeutungssysteme, die eine soziale Gruppe (Nation) gemeinschaftlich teilt, auch der Terminus (nationale) ”kulturelle Identität” angesprochen. Dies verweist u.a. auch auf das Phänomen des Nationalismus, eine Problematik, mit der mehrere der ehemaligen Einparteienstaaten Ostmitteleuropas konfrontiert sind. 4 Dem entspricht auch das Konzept der gesellschaftlichen Lebensstile als Analysezugang für die Erforschung Politischer Kulturen, das - vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Wertewandels (vgl. Inglehart 1973 sowie Gibbins 1989/90, 8ff) und einer zunehmenden Individualisierung (vgl. Beck 1986 und 1993) alltagskulturelle und lebensweltliche Bereiche (wie etwa Freizeitgewohnheiten und Alltagsästhetik) bzw. darin zum Ausdruck kommende prägende Wertvorstellungen und Einstellungen, die über den Begriff der ”civic culture” hinausgehen, als Grundlegungen für aus dem Politikbereich selbst nicht erklärbare gesellschaftliche Veränderungen und als eine Art epistemologischen Rahmen für die Interpretation der sozialen Welt einbezieht (vgl. z.B. Matjan 1996, 35-50 sowie 1998). 14 Stuart Hall (1994) beschreibt Nationen nicht nur als politische Gebilde, sondern auch als ”Systeme kultureller Repräsentationen” und symbolische Gemeinschaften, als - in Form nationaler Kulturen repräsentierte - ”Ideen”, an denen die StaatsbürgerInnen partizipieren (1994, 200). Nationale Diskurse kreieren Bedeutungen, die Selbstbilder ebenso wie die Wahrnehmung "der Anderen", also Fremdbilder von anderen Nationen beeinflussen. Sie konstruieren damit Identitäten, indem sie Bedeutungen der ”Nation” und damit Identifikationsangebote für die Mitglieder des nationalen Kollektivs zur Verfügung stellen. Diese Identitätsentwürfe sind in den Geschichten enthalten, die über die Nation erzählt werden, in den Erinnerungen und Traditionen, die ihre Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden und in den Vorstellungen, die über sie kursieren, zugleich kommen sie in sozialen Praktiken und in alltagskulturellen Äußerungen zum Ausdruck (ebd., 201): ”Nationalität ist eine Narration, eine story, die sich Menschen über sich selbst erzählen, um ihrer sozialen Welt Sinn zu verleihen” (Ram 1994, 153, bezugnehmend auf Geertz 1973). Laut Hall ermöglicht der diskursive Entwurf nationaler Identitäten die Nivellierung von Differenzen zwischen sozialen Klassen, ethnischen Gruppen oder zwischen den Geschlechtern und deren symbolische Darstellung als Einheiten, die die Mitgliedschaft im politischen Nationalstaat und die Identifikation mit der Nationalkultur zusammenfügt. In der modernen Welt sind nationale Kulturen die Hauptquellen kultureller Identität, zugleich sind sie ”kulturell hybrid”. Spätmoderne Gesellschaften sind Hall (ebd., 184) zufolge zunehmend durch Differenzen charakterisiert. Allerdings versuchen politische Gruppierungen diese Differenzen zu einer vereinheitlichenden nationalen Identität” zusammenzufassen” (ebd., 205) - erst dadurch kann Nationalbewusstsein entstehen und sich konsolidieren. Der Weg zur nationalen Identifikation wird in der Regel von Erzählungen begleitet, die den Prinzipien der Konkordanz und Stringenz folgen, Heterogenitäten und historische Bruchlinien narrativ einebnen. 15