Otmar Jung (2005): Grundsatzfragen der direkten Demokratie

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Zusammenfassung
Otmar Jung (2005): Grundsatzfragen der direkten Demokratie
(in: Kost, Andreas [Hrsg.]: Direkte Demokratie in den deutschen Länden – Eine
Einführung, S. 312-366, Wiesbaden: VS)
1 Einleitung
 Fragestellung: Wie funktioniert direkte Demokratie?
 Intensive Erfahrung in der Schweiz und den US-Bundesstaaten;
 Die politische Kultur eines Landes kann dazu führen, dass gewisse Antworten
auf die Fragestellung nicht passen.
2 Die Konzeption der direkten Demokratie
2.1 Direkte Demokratie überhaupt
 Volksgesetzgebung in einigen Länderverfassungen;
 Einführung (und Abschaffung) von Elementen direkter Demokratie nach
„Gutdünken“ (314) der Länderparlamente;
 „Plebiszitäre Quarantäne“ (315) durch Parlamentarischen Rat.
2.2 Umfassende Direktdemokratie oder Tabus?
 Direkte Demokratie läuft prinzipiell parallel zur parlamentarischen
Gesetzgebung;
2.2.1 Das Verfassungstabu
 Große Verfassungsfragen sind eher für Volk interessant und
entscheidungsfähig als kleinteilige Spezialgesetzgebung;
 Keine Gewaltenteilung beim Thema Verfassung (Alleiniges Änderungsrecht
des Parlamentes): Beispiel „Verlängerung der Legislaturperiode“
2.2.2 Das Finanztabu
 Fehlende moralische Festigkeit der Bürger: Abschaffung der Steuern und
Wohltaten für alle;
 Parlamentarisches Budgetrecht ist eines der ältesten Rechte;
 Vornehmstes Volksrecht in der Schweiz und den USA (Recht der
Steuerzahler);
 0,7%-Urteil des BVG aus dem Jahr 2000: Ende der direkten Demokratie in der
BRD;
o Initiativen leiden unter Finanzvolumen-Vorbehalt;
o Finanziell weniger wichtige Entscheidung sind weniger populär.
 Gegenargument: Rekordverschuldung durch parlamentarische Demokratie;
o Verfassungswidrigkeit: Neuverschuldung übersteigt die Summe der
Investitionen.
 Empirische Studien belegen eine bessere „Performance“ von
Gebietskörperschaften mit Elementen direktdemokratischer Praxis (bessere
Chancen langfristiger Interesse, niedrigere Neuverschuldung, größeres Maß
an Wirtschaftlichkeit);
 Bürger können sich langfristigere Perspektive leisten (Wahlperiode von
Regierung und Parlament ist begrenzt).
2.2.4 Weitere Tabus
 Keine Außenpolitik: Sicherheits- und Verteidigungsfragen sind viel zu
gefährlich;
 Kein Wahlrecht;
 Je wichtiger die Materie ist, umso weniger verträgt sie die Einmischung der
Bürger: „unverhohlenes Misstrauen der politischen Klasse gegen das Volk,
insbesondere der Volksvertreter gegen diejenigen, die sie vertreten sollen“
(320).
3 Die Ausgestaltung der direkten Demokratie
3.1 Das Design des Verfahrens
 Für Deutschland sind vielfach größere Umbauten erforderlich.
3.1.1 Der ausgearbeitete Gesetzentwurf
 Entscheidung über konkrete Rechtsnormen;
 Wie erreicht man ein ausreichendes rechttechnisches Niveau?
o Mitnutzung von Ressourcen: wissenschaftlicher Parlamentsdienst,
Ministerien;
o Keine Perfektion erforderlich – nur Kern muss erkennbar sein;
o Beispiel Schweiz: Initiatoren bringen „ihr Anliegen in Form einer
allgemeinen Anregung“ (S. 232) vor und lassen im darüber Parlament
beraten. Ausarbeitung wird erneut dem Volk vorgelegt.
3.1.2 Hürden beim Volksbegehren
 Zählmenge: Nichtwähler und Aktivbürger;
 Prozenthürde: Schweiz: 0,8 bis 5,7%, USA: 2 bis 4%, BRD: bis zu 20%;
 Eintragungszeit in Deutschland höchst unterschiedlich;
 Hürde gilt als Relevanztest.
3.1.3 Quoren beim Volksentscheid
 Schweiz ohne jede Quorum: Mehrheit der abgegebenen Stimmen;
 Deutschland: Regelfall 50%;
 Boykott durch sozialen Druck (Enthaltung oder Teilnahme hebt
Abstimmungsgeheimnis aus): Beispiele aus Weimarer Republik;
 Huckepack-Effekt erhöht Teilnahme;
 Schweizer Modell stärkt Teilnahme: jede Stimme wichtig. Ansporn der
Mehrheit zur Aktivität.
3.1.4 Das Timing
 Verfahrensdauer bei Volksgesetzgebung u. U. sehr lang (bis zu drei Jahren);
 Zusammenlegung mit den nächsten allgemeinen Wahlen (Huckepack-Effekt).
3.1.5 Kostenerstattung
 Volksgesetzgebung ist kein Privatvergnügen;
 Gebot der Chancengleichheit gegenüber staatsfinanzierten Institutionen der
repräsentativen Demokratie (Regierung, Parlamentsfraktionen);

Ohne Erstattung keine Kampagnenfähigkeit durch finanzschwache
Interessengruppen.
3.1.6 Der Bestand eines Volksgesetztes
 Aufhebung eines Volksgesetztes durch Parlamentsbeschluss (Beispiel
Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein);
 „Sakrosankte“ Volksentscheide (Schweiz);
 Streitfall bei Änderung der Sach- und Rechtslage.
3.2 Die Haltung der Eliten
 Einführung von direktdemokratischen Elementen nur mit hohen Hürden (nur
theoretischen Chancen);
 Direkte Demokratie kann nur funktionieren, wenn die politische Elite sie
wirklich will: hierzu ist ein Mentalitätswechsel erforderlich.
3.3 Politische Auseinandersetzungen
 Direkt Demokratie ist selbst Objekt politischer und juristischer
Auseinandersetzungen.
4 Die Wirkungen der direkten Demokratie
4.1 Anderer Politikstil
 Der empirische Wille der Mehrheit der Aktivbürger zählt auch in den Jahren
zwischen zwei Wahlterminen (Ende des „parlamentarischen Absolutismus“);
 Das Maß der Vermittlung durch politische Akteure steigt an;
 Bürger nimmt Kontroll- und Korrekturfunktion wahr;
 Selbstherrlichkeit der politische Klasse in Deutschland geht zurück;
 Keine Maximierung der Abstimmungshäufigkeit, sondern Erhöhung der
Responsivität der parlamentarischen Politik.
4.2 Flexibilisierung der Politik
 Einflussmöglichkeiten unabhängig von 5%-Hürden und Größe der
Interessengruppe (z. B. Bürgerinitiativen);
 Respektlosigkeit gegenüber strategischen Positionen im Parlament;
 Unregierbarkeit durch ständige „Störung“ vs. wertvolle Einzelkorrektur;
 Ende von der Zwangswahl von Paketlösungen.
4.3 Höhere Rationalität
 Komplexität moderner Gesellschaften führt zur Inkompetenz „normaler“
Bürger: Abstimmungen nach Willkür, Stimmung, etc.;
 Man braucht „sicherlich selbst kein Schuster zu sein, um zu wissen, ob der
Schuh drückt, den der Schuster hergestellt hat“ (Max Weber);
 Ist der durchschnittliche deutsche Bundestagsabgeordnete bei seiner
Entscheidung wirklich besser informiert als der durchschnittliche
schweizerische Stimmbürger?
 Deliberatives Potential erhöht sich durch öffentliche Debatte:
Argumentationsraum wird vergrößert und der Vermittlungsaufwand erhöht.
4.4 Fortschrittlich? Rückschrittlich? Frauenfreundlich!




Erhalt des Status-Quo oder Drang zur Veränderung?
Direkte Demokratie begünstigt keine politische Richtung systematisch;
Einfühung des Frauenwahlrechts in Deutschland von „oben“ (mit Spekulation
auf „politische Ernte“): Hätten die deutschen Männer 1918 für ein
Frauenwahlrecht plädiert?
Für Frauen eröffnen sich erhöhte Beteiligungschancen durch alternatives
Engagement. Frauen ziehen ein „basisnahes, … zeitweiliges,
selbstbestimmtes, ehrenamtliches, lokales, alltagsbezogenes Engagement“
einer formalisierten festen Parteimitgliedschaft vor.
4.5 Systemkompatibilität?
 Politische Systeme ohne eingefrorene Mehrheiten (USA) müssen trotz
direktdemokratischer Elemente nicht zur Konkordanzentwicklungen führen;
 Schweizer Konkordanzmodell ist auch bedingt durch strukturelle Mehrheiten
(„frozen majority“);
 Informell-permanente Große Koalitionen (BTag-BRat) in der BRD =
Entwicklung zur Konkordantdemokratie?
5 Die Diskussion über direkte Demokratie
 Vergleiche von RD und DD nur als empirisch-realistisch ODER theoretischideal sinnvoll;
 Gesamtleistungen von RD und DD müssen gegenüber gestellt werden (nicht
einzelne Abstimmungsergebnisse);
 Keine Beurteilung der DD aufgrund aktueller Interessenlage;
 Vergleich der Wahlbeteiligungen RD und DD: unvollständig ohne Einbezug
von Abstimmungsbeteiligung im Rahmen der DD;
 Falscher Kompetenzbegriff: Experte vs. Staatsbürger mit gesundem
Menschenverstand  Ähnliche Orientierung bei Abstimmungen in der RD
(sachpolitische Sprecher der Parlamentsfraktionen) und in der DD
(sachkundige Bürger, Autoritäten, Verbände)
 Bloße Ja/Nein-Abstimmung: kein Unterschied zwischen RD und DD.
 Herrschaft der Minderheit: Denkbar in RD und DD.
 Minderheiten-Schutz: Minderheit kann zur Mehrheit werden (RD und DD),
Rechtsstaat, Grundrechte der Verfassung.
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