Hirtenbrief von Erzbischof József Mindszenty, Primas von Ungarn

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Hirtenbrief von Erzbischof József Mindszenty, Primas von Ungarn, an das
ungarische Volk aus Anlass der Parlamentswahlen am 4. November 1945
"Das ungarische Volk steht vor Wahlen. Sehr viel hängt davon ab, in welcher Richtung das
Land unter den gegenwärtigen Umständen seinen Willen kundtun wird. Das ist eine
brennende Gewissensfrage, und gerade deshalb halten wir es für unsere Pflicht, vor dieser
wichtigen Entscheidung unseren Gläubigen zu Hilfe zu eilen. Wir mischen uns nicht in die
Wahlkämpfe ein. Wir nehmen für keine einzige Partei Stellung. Aber wir legen die
Grundsätze der Wahrheit und der Pflicht dar, damit jeder gläubige Katholik ihnen gemäß
wählen kann.
Die kommende Einrichtung des Staatslebens wird sich nur nach den Grundsätzen der
Demokratie richten können. Den demokratischen Gedanken haben wir schon in unserem
vorigen Hirtenbrief vertrauensvoll begrüßt. Die Welt hat genug durch die Tyrannei gelitten.
Diese Gewaltherrschaft hat den Völkern den Willen eines Menschen aufgezwungen. Die
Demokratie hat mit diesem tyrannischen Mißbrauch abgerechnet. Freilich nicht jene
Demokratie, die an die Stelle der schrankenlosen Alleinherrschaft eines Menschen die
willkürliche Herrschaft eines anderen stellt. Nicht jene Demokratie, die die selbstsüchtige
und zügellose Herrschaft einer Menschengruppe durch dieselbe Gewalttätigkeit einer
anderen Gruppe ablöst.
Der Grundpfeiler einer wahren Demokratie ist die Anerkennung der unverletzlichen
Grundsätze des Naturrechts, an denen sich keine Macht gewalttätig vergreifen darf. Die
wahre Demokratie ist bestrebt, diesen Grundsätzen auch dort Anerkennung und Achtung zu
verschaffen, wo sie aus irgendeinem Grunde noch nicht anerkannt wurden. Die wahre
Demokratie schreibt die Gewissensfreiheit, die Elternrechte und die freie
Persönlichkeitsentfaltung des Arbeiters auf ihre Fahne. Zur Verwirklichung dieser Ziele
mobilisiert sie mit sittlich einwandfreien Mitteln jede Schicht der Gesellschaft und nimmt die
Mitwirkung eines jeden Gutwilligen in Anspruch. Wir werden es mit Freuden sehen, wenn
sich einst das ungarische Volk in den Dienst dieser gewaltigen Bestrebung der Menschheit
stellt. Unsere Freude wird umso größer sein, als eine derartige Auslegung der Demokratie
vollkommen den weisen, tiefen und auf dem Evangelium beruhenden Grundsätzen
entspricht, die Papst Pius XII. in seiner Weihnachtsbotschaft vom Jahre 1942 als Grundlage
der kommenden Gesellschaftsordnung dargestellt hat ...
Jetzt aber müssen wir sagen, dass wir im öffentlichen Leben Ungarns viele, sehr viele
Erscheinungen wahrgenommen haben, die zu den Grundsätzen der reinen Demokratie in
krassem Gegensatz stehen. Wir müssen sagen, dass gegenwärtige Bestrebungen unser
unglückliches und schwer geprüftes Vaterland in neue Gefahren stürzen könnten. Wir
müssen sagen, dass ein christlicher Wähler seine Stimme nicht einer solchen Gruppe geben
kann, die wiederum Unterdrückung und Gewaltherrschaft einführt und dabei
unverantwortlich und häufig die Naturgesetze außer acht lässt. Tiefbetrübt müssen wir den
Worten des englischen Außenministers recht geben, dass es so aussieht, als ob in Ungarn
eine totalitäre Diktatur durch eine andere abgelöst wurde. Wir bedauern aber, dies tun zu
müssen; denn es kam Schande genug über unser Land, als vor einem Jahr die Schwäche der
damaligen Führer den Gewalttätigkeiten fremder Besatzungsmächte breiten Spielraum ließ
...
Wir brauchen nicht zu erklären, wohin gewalttätige Leidenschaften und die dadurch
geweckten Masseninstinkte führen können. Noch sind uns die traurigen Ereignisse der
nahen Vergangenheit in lebhafter Erinnerung, noch können wir sie leicht vor unser geistiges
Auge rufen. Vergessen wir nicht die erschütternden Warnungen, vergessen wir das nicht und
ziehen wir daraus unsere Konsequenzen. Ein ungarischer Vater, eine ungarische katholische
Mutter, die sich verantwortlich fühlen für die Seelenreinheit ihrer Kinder, für deren irdisches
und ewiges Heil, können vor den Wahlen nicht unschlüssig sein. Sie können ihre Stimme nur
einem solchen Kandidaten geben, der, menschlich gesprochen, die Gewähr dafür bietet,
dass sich eine solche Krise, solche Verwirrungen auf ungarischem Boden nicht mehr
wiederholen."
(Mindszenty Dokumentation. St. Pölten, 1957. Bd. I., S. 88-95)
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