«Die muslimische Kultur ist wenig bildungsfreundlich»

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«Die muslimische Kultur ist wenig bildungsfreundlich»
Was ist von Thilo Sarrazins umstrittenen Aussagen zur Einwanderung von Muslimen zu halten? Der
Biochemiker Gottfried Schatz meint: Sarrazin hat über weite Strecken recht. Was er über die Vererbung
von Intelligenz sagt, ist aber unwissenschaftlich. Und er vergreift sich zu oft im Ton.
Der Biochemiker Schatz kritisiert den umstrittenen Autor NZZ an Sonntag, 5. Sept. 2010
Gottfried Schatz, emeritierter Professor der Universität Basel, ist als Biochemiker eine internationale
Kapazität. Er leitete in Basel einige Jahre das Biozentrum und war von 2000 bis 2004 Präsident des
Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats. Gastprofessuren führten ihn an die Harvard
und an die Stanford University. Der 1936 in Österreich geborene Schatz war in jüngeren Jahren auch
als Violinist tätig.
Interview: Francesco Benini
NZZ am Sonntag: Gefällt Ihnen das Buch «Deutschland schafft sich ab»?
Gottfried Schatz: Mein Eindruck ist zwiespältig. Einerseits schätze ich es, dass der Autor,
Thilo Sarrazin, ein Querdenker ist. Er wagt es, vieles offen auszusprechen, was der heutigen
political correctness widerspricht, aber meines Erachtens dennoch wahr ist. Auch die meisten
seiner Vorschläge zur Lösung der angesprochenen Probleme scheinen mir fair und vernünftig.
Anderseits entwertet Sarrazin seine Analysen und Vorschläge mit unnötigen
Pauschalbeleidigungen und mit wissenschaftlich fragwürdigen Aussagen über Gene,
Vererbung, Intelligenz und Dummheit. Schade!
Fangen wir mit dem Teil an, dem Sie zustimmen. Sarrazin sagt: Die Muslime in
Deutschland integrieren sich zu wenig. Sie verharren überdurchschnittlich oft in der
Arbeitslosigkeit, verlassen sich auf Sozialleistungen des Staates und halten ihre Kinder
zu wenig zum Vorankommen in der Schule an.
Leider scheinen die Statistiken Sarrazin hier recht zu geben. Man hat diese Probleme zu lange
nicht offen angesprochen – mit dem Resultat, dass sich das versteckte Unbehagen der
Gesellschaft an Scheinproblemen wie den Minaretten abreagiert. Political correctness ist eine
Gefahr für jede Demokratie, weil sie zum Gleichdenken zwingt. Der amerikanische Journalist
Walter Lippmann sagte: «Wo alle gleich denken, denkt keiner sehr viel.» Wie viel sinnvoller
wäre es doch gewesen, nicht über Minarette, sondern über schärfere Massnahmen gegen
Zwangsehen abzustimmen!
Sarrazins Thesen
Der Volkswirt Thilo Sarrazin war Finanzsenator in Berlin und ist seit Mai 2009 im Vorstand der
Deutschen Bundesbank. Im Buch «Deutschland schafft sich ab» analysiert das SPD-Mitglied die
Folgen der Einwanderung von Personen aus muslimischen Ländern nach Deutschland: Die
Migranten – in erster Linie Türken – sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos, sie beziehen
überdurchschnittlich viele Sozialleistungen, ihre Kinder sind an den Schulen unterdurchschnittlich
erfolgreich. Die Einwanderer aus muslimischen Ländern sind häufiger kriminell als die Deutschen.
Und sie haben mehr Kinder. Sarrazin rechnet hoch, dass in Deutschland Personen aus muslimischen
Ländern bald in der Mehrzahl sein könnten. Der Gesellschaft drohe der geistige Abstieg, denn die
bildungsfernen Schichten haben mehr Nachwuchs, und Intelligenz sei «zu 50 bis 80 Prozent erblich».
Die Einwanderung aus muslimischen Ländern hat Deutschland nach Sarrazins Urteil mehr gekostet
als genützt. Er schlägt vor, dass nur noch «Spezialisten am oberen Ende der Qualifikationsskala»
einwandern dürfen. Für Zugewanderte ohne ausreichende Sprachkenntnisse sollen Deutschkurse
obligatorisch werden. Ab dem dritten Lebensjahr sollen Kinder in den Ganztageskindergarten. Der
Familiennachzug soll erschwert und der Bezug von Sozialleistungen an Bedingungen geknüpft
werden. (be.)
Liest man Sarrazins Buch, entsteht der Eindruck, die Muslime in Deutschland seien an
Bildung kaum interessiert.
Diese Behauptung scheint mir allzu pauschal. Dennoch bin ich überzeugt, dass nicht alle
Kulturen gleich bildungsfreundlich sind. Die katholische Kultur, in der ich aufwuchs, war
eindeutig weniger bildungs- und wissenschaftsfreundlich als die jüdische oder chinesische
Kultur. In meiner katholischen Erziehung waren kritische Fragen nicht erwünscht – doch
diese sind die Quelle von eigenständigem und wissenschaftlichem Denken. Leider trifft dies
auch auf die heutige muslimische Kultur zu. Ich sage «die heutige», denn dies war nicht
immer so. In der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends waren Muslime – zusammen mit
Juden – die wichtigsten Kulturträger und schenkten uns zahllose fundamentale Erkenntnisse
in Philosophie, Wissenschaft und Medizin.
Erklärt die heutige muslimische Kultur, warum es in Deutschland nur wenige
Abiturienten aus muslimischen Ländern gibt?
Ich kann dies nicht beweisen, vermute es aber. Die meisten der heutigen muslimischen
Gesellschaften vertreten weder eine Trennung von Staat und Religion noch die
Gleichberechtigung aller Religionen. Damit verhindern sie demokratische Meinungsbildung,
Weltoffenheit und wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Wenn Familienbande,
persönliche Beziehungen und der Primat religiöser Doktrin wichtiger sind als Können und
Motivation, wird Bildung als Instrument des sozialen Aufstiegs weitgehend irrelevant. Ein
anderes Beispiel . . .
Ja?
Ich habe viele Jahre an Universitäten der USA unterrichtet und mich darüber gewundert, dass
nur so wenige Studenten und Doktoranden Kinder lateinamerikanischer Einwanderer waren –
obwohl diese Einwanderer heute einen beträchtlichen Teil der amerikanischen Bevölkerung
ausmachen.
Studenten
aus
chinesischen,
vietnamesischen
oder
indischen
Immigrantenfamilien waren hingegen so zahlreich, dass einige Universitäten mehr oder
minder verkappte «Asiatenquoten» in Kraft setzten. Ähnlich wie bei den Muslimen in
Deutschland scheinen auch bei den «Hispanics» in den USA extrem starke Familienbande,
Traditionshörigkeit, starres Festhalten an der eigenen Sprache und fundamentalistisch
geprägtes Religionsverständnis die Bildungsfreudigkeit und den sozialen Aufstieg zu
behindern. In vielen Regionen der USA ist Spanisch heute fast schon zur offiziellen
Staatssprache geworden. Unwilligkeit zur Integration ist nicht auf muslimische Immigranten
beschränkt.
Was ist zu tun?
Sarrazin setzt auf den bewährten Dreiklang von Sprache, kindlicher Früherziehung und
Bildungsehrgeiz – und gibt damit die richtigen Antworten. Ganz ohne Anreize und
gelegentlichen Zwang lässt sich dieser Dreiklang nicht realisieren. Dänemark, die Heimat
meiner Frau, ist ein fortschrittliches und demokratisches Land, scheut sich aber nicht, mit
jedem Einwanderer einen Vertrag abzuschliessen. Jeder der beiden Partner geht
Verpflichtungen ein: der Staat zu Aufenthaltsrecht und gewissen Sozialleistungen – und der
Einwanderer zum Erlernen der dänischen Sprache und zu anderen Voraussetzungen für eine
erfolgreiche Integration. Die Nichterfüllung des Vertrags hat für den Einwanderer
Konsequenzen bis zum Entzug finanzieller Zuwendungen oder sogar des Aufenthaltsrechts.
Sie plädieren für eine gewisse Härte.
Auch in Deutschland sollten Zugewanderte dazu verpflichtet werden, Deutsch zu lernen, ihre
Kinder schon früh in den Kindergarten, am besten in eine Tagesstruktur, zu schicken, und
dafür zu sorgen, dass sie später regelmässig die Schule besuchen und ihre Aufgaben machen.
Nur dann wird es unseren Schulen möglich sein, die Integration dieser Kinder zu fördern und
deren Begabungen zum Wohl ihrer selbst und ihrer neuen Heimat zu entwickeln. Unsere
Lehrer stehen in diesem schwierigen Kampf um Integration an vorderster Front – dennoch
lässt unsere Gesellschaft sie dabei allzu oft im Stich.
Worauf spielen Sie an?
Warum verdienen in unserer Gesellschaft Bankfachleute oft hundertmal mehr als Lehrer? Da
stimmen doch die Prioritäten nicht. Und warum gewähren wir unseren Lehrern nicht endlich
die schon seit Jahren geforderten periodischen Freisemester? Ich kenne kein besseres Mittel,
um das tragische Ausbrennen von Lehrern zu verhindern. Das würde freilich Geld kosten –
und wir sind nicht bereit, es zuzusprechen. Wenn wir dem Problem der Integration offen ins
Auge sehen, wird dieses auch unser eigenes Spiegelbild reflektieren.
Sie weichen nicht von Sarrazin ab.
Noch sind wir nicht am Ende. Sarrazin schildert ein reales Problem und schlägt vernünftige
Lösungen vor, wählt dafür jedoch oft polemische oder gar beleidigende Formulierungen. So
etwa, wenn er «muslimische Verbandsvertreter» pauschal bezichtigt, die Deutschen mit der
Forderung unter Druck zu setzen, muslimische Migranten ob der «schweren Lasten, die das
Leben in Deutschland mit sich bringt», zu bedauern und sich schuldig zu fühlen. Dieser
Rundumschlag dient weder der Wahrheit noch der Integration. Für einen politisch exponierten
Vertreter eines demokratischen Staates ist er unverzeihlich.
Sarrazin warnt davor, dass die Deutschen im eigenen Land bald in der Minderheit
seien, weil Migranten aus muslimischen Ländern mehr Kinder haben.
Das ist Angstmacherei. Solche demografischen Hochrechnungen stellen sich im Nachhinein
meist als falsch heraus, weil sie aktuelle Trends weit in die Zukunft extrapolieren. Meist
sinken die Geburtenraten mit dem finanziellen und sozialen Aufstieg. Wenn Deutschland will,
dass gebürtige Deutsche mehr Kinder haben, hätte es viele Möglichkeiten – wie bessere
Tagesschulen oder innovative Berufsmodelle für arbeitende Eltern. Frankreich weist hier den
Weg.
Für grossen Wirbel hat die Behauptung gesorgt, der Gesellschaft in Deutschland drohe
der geistige Abstieg, weil es immer mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten gebe und
immer weniger von gut ausgebildeten Eltern. Sarrazin sagt in diesem Zusammenhang,
dass Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent vererbbar sei.
Dies hätte er lieber nicht getan, denn damit wirft er mehr Fragen auf, als er beantwortet.
Erstens: Sollen Menschen nur nach ihrer Intelligenz bewertet werden? Gelten künstlerische
Schöpferkraft, ethische Ausstrahlung und Sozialempfinden nichts? Waren Schubert, Bellini
und van Gogh überragende Intellektuelle? Die zweite Frage: Was ist Intelligenz? Der Begriff
ist wissenschaftlich unklar, weil die Gewichtung der einzelnen Faktoren, die zu Intelligenz
beitragen, willkürlich ist. Die Bedeutung des Intelligenzquotienten ist deshalb höchst
umstritten. Solch vage Begriffe in konkreten Prozentzahlen auszudrücken, ist für mich
äusserst fragwürdig. Noch fragwürdiger ist es, über Vererbung von Intelligenz zu sprechen.
Versuche an Mäusen zeigen, dass die Gene einer neugeborenen Maus durch Wechselwirkung
mit dem säugenden Mausweibchen verändert werden können. Dabei ist es unwesentlich, ob
das Weibchen die biologische Mutter oder eine nicht verwandte Amme ist. Diese
Wechselwirkung prägt die Stressempfindlichkeit und andere Eigenschaften der Jungtiere für
den Rest ihres Lebens. Ähnliches scheint für den Menschen zuzutreffen, obwohl die Versuche
hier schwieriger durchzuführen und die Resultate noch nicht gesichert sind. Solche
epigenetischen Veränderungen erlauben es heute noch nicht, zwischen Vererbung und
Umweltbeeinflussung von Intelligenz zu unterscheiden. Und schliesslich zweifelt wohl kein
Biologe daran, dass Intelligenz durch eine Vielzahl von Genen bestimmt wird, von denen wir
die meisten noch nicht kennen. Diese Gene werden bei jeder Befruchtung einer Eizelle in
einem gigantischen Würfelspiel nach dem Zufallsprinzip neu aufgemischt. Hier mit
genetischen Argumenten, Prozentzahlen und Bevölkerungsprognosen aufzuwarten, ist nicht
seriös. Sarrazin vernachlässigt neue Erkenntnisse der Epigenetik.
Was ist Epigenetik?
Ein neuer Zweig der Genetik, der untersucht, wie sich Gene durch Ernährung,
Lebensgewohnheiten und Umwelteinflüsse verändern und wie einige dieser erworbenen
Veränderungen vererbt werden. Epigenetik verkündet uns die fundamentale und tröstliche
Botschaft, dass wir nicht Sklaven unserer Gene sind.
Bezogen auf Sarrazins Thesen, würde das bedeuten, dass ein Mensch mit ungünstigen
Anlagen weit kommen kann – wenn er positiven Einflüssen ausgesetzt ist und sich
vielleicht anstrengt.
Ja und nein. Positive Einflüsse werden das Potenzial eines Menschen sicher besser
ausschöpfen als negative. Die Gene bestimmen die Grenze dessen, was wir sein können – und
die Umwelt bestimmt dann, was wir tatsächlich werden. Wir Menschen haben, im Gegensatz
zu Tieren, nicht nur ein genetisches System, sondern deren zwei: ein chemisches genetisches
System, das sich auf das Erbmaterial DNS gründet. Und ein kulturelles genetisches System,
das kulturelle Werte von einer Generation zur nächsten überträgt. Epigenetische
Veränderungen sind Brücken zwischen diesen beiden Systemen und schenken uns damit
beträchtliche Freiheit, unser Leben zu gestalten. Die Behauptung, eine stärkere Vermehrung
einer bestimmten Gruppe führe zu einer Volksverdummung, ist deshalb mehr als fragwürdig –
und unnötig provozierend.
Wie verhält es sich mit dem Gen, das laut Sarrazin allen Juden gemein ist?
Jede seriöse Vorlesung in Judaistik beginnt mit der Frage: «Was ist ein Jude?» – gefolgt von
der Bemerkung, dass sich diese Frage nicht klar beantworten lässt. Dass es in Volksgruppen
Ähnlichkeiten in den Genen gibt, trifft zu, doch was beweist dies? «Judentum» wird nicht so
sehr vom erwähnten chemischen, sondern vor allem vom kulturellen genetischen System
geprägt. Gleiches gilt wohl auch für das von Thilo Sarrazin kritisierte Verhalten muslimischer
Einwanderer.
Dass sich das «vererbte intellektuelle Potenzial der Bevölkerung kontinuierlich
verdünnt», wie Sarrazin schreibt – ist das möglich, wenn Akademiker wenig Nachwuchs
haben?
Wir wissen noch zu wenig, um solche konkrete Aussagen zu machen. Meine Vorfahren im
südlichen Burgenland waren arme Bauern, deren Kinder meist als ungebildete Unterschicht in
die USA zogen und sich dort emporarbeiteten. Hätte Sarrazin recht, stünde es um mein
vererbtes intellektuelles Potenzial nicht zum Besten. Unterschichten haben uns grosse Genies
geschenkt und werden dies wohl auch in Zukunft tun.
Hätten Sie Sarrazin geraten, seine Ausführungen über Intelligenz, Vererbung und Gene
aus dem Buch zu streichen?
Ja. Diese halbwissenschaftlichen Expeditionen waren für seine Hauptthesen unnötig und
haben sie letztlich entwürdigt. Sarrazin ist nicht nur Finanzexperte, sondern auch politischer
Vertreter eines demokratischen Landes. Wenn er ein heisses Eisen anfasst, darf er es nicht auf
diese Weise tun.
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