Stammesthing (Vom Leben der Germanen) Wochen sind vergangen. Arminius ist längst weitergewandert. Auf einer großen Waldwiese inmitten hundertjähriger Eichen versam-meln sich alle Krieger des Marserstammes zu einer großen Beratung, zum Thing, wie die Germanen sagen. Auch Eberhart und seine Sippengenossen sind erschienen, denn ihre Sippe gehört zum Stamm der Marser. Die Krieger bilden einen Halbkreis um eine uralte, knorrige Eiche, unter der sich alle Sippenältesten des Stammes versammelt haben. Eberhart tritt einen Schritt vor, hebt seine Hand und gebietet so Schweigen. Ihm haben die Sippenältesten den Vorsitz des Things übertragen. „Ist es rechte Zeit und rechter Ort zu halten ein gerechtes Thing?“ Auf diese Frage Eberharts antworten alle Krieger: „Ort und Zeit sind recht!“ „So gebiete ich Frieden und verbiete Unfrieden!“ Wer nun die Waffen gegen einen anderen gezückt hätte, wäre mit Schimpf und Schande aus der Gemeinschaft des Stammes ausgeschlossen worden. Ohne Hilfe hätte er in der Wildnis leben müssen und wäre schließlich umgekommen. Ein Pferd wird geschlachtet, sein Fleisch wird gebraten und verzehrt. Dazu trinken die Männer Met aus einem großen Braukessel. Nun mustern Eberhart und die anderen Sippenältesten die Krieger und deren Waffen. Sie schreiten durch die Reihen, prüfen die Waffen, loben und tadeln. Schlechte Waffen zu haben, ist für den Germanen eine Schmach, denn er gefährdet Sippe und Stamm. Nur wer gute Waffen hat, kann im Kampf siegen. Am Rande der Waldwiese zeigen Jünglinge den Sippenältesten ihr Können im Speerwurf und Fechten. Dann werden Pferde herangeführt, kleine Tiere. Den Sprung über zwei und drei Pferde schaffen fast alle, doch über vier oder fünf kommen nur noch wenige hinweg. Der heimliche Traum eines jeden jungen Germanen aber ist der Sprung über sechs Pferde. Wer ihn schafft, den rühmt und preist man in allen Dörfern des Stammes und weit über das Stammesgebiet hinaus. Die Sippenältesten sind mit dem Können der Jünglinge zufrieden, und Eberhart reicht ihnen feierlich Schild und Speer: „Wir nehmen euch unter die Krieger des Stammes auf! Tragt eure Waffen in Ehren!“ - - „Lasst uns über Krieg und Frieden beraten!“ verkündet Eberhart. „Varus, der römische Statthalter am Rhein, hat unseren Stamm aufgefordert, ihm für ein Jahr Hilfstruppen zu schicken!“ Lange berät das Thing die Forderung des römischen Statthalters. „Wir sollten Varus keine Hilfstruppen schicken“, raten manche Krieger. „Wird Varus nicht mit ihrer Hilfe anderen germanischen Stämmen Gewalt antun?“ Doch die meisten Marser, besonders die Sippenältesten, denken anders. „Was kümmern uns andere Stämme!“ rufen sie. „Varus ist mächtig! Folgen wir seiner Forderung nicht, wird Stammesthing der Germanen 1 er uns feind sein! Bedenkt auch, dass wir als Hilfstruppen des römischen Statthalters Beute machen und Kriegs-ruhm ernten werden! Darauf können wir nicht verzichten!“ Eberhart ist zufrieden, die Mehrheit des Things wird wohl für die Entsendung der Hilfstruppen stimmen. Er schlägt vor: „Jede Sippe stellt fünf Krieger, junge Männer möglichst, und diese Abteilung schicken wir für ein Jahr zu Varus!“ „Ich werde außerdem meine Gefolgschaft mitschicken!“ ruft einer der Sippenältesten. „Ich auch! Ich ebenfalls!“ erklären die anderen. Als Eberhart abstimmen lässt, klirrt ein Teil der Krieger laut mit den Waffen, das bedeutet Zustimmung. Ein anderer Teil murrt, weil er den Vorschlag ablehnt. Doch das Waffengeklirr übertönt das Murren, und der Vorschlag gilt als beschlossen. Nun wählt das Thing den Anführer der Hilfstruppen. „Wählt Eberolf, Eberharts Sohn“, empfehlen die Sippenältesten den Kriegern. Das Thing stimmt diesem Vorschlag zu. Noch etwas wird beschlossen: Von der Kriegsbeute soll jeder Krieger der Hilfstruppe gleichen Anteil erhalten; der Anführer Eberolf aber den doppelten Anteil! Er darf sich ferner als erster das auswählen, was ihm gefällt. - - Wieder erhebt Eberhart seine Stimme. „Wer zu klagen hat“, verkündet er, „der trete vor.“ Das Thing hält Gericht. Die Krieger machen ernste Gesichter. Sie wissen, es wird Anklage we-gen Tötung erhoben werden. Aus seiner Sippe tritt Gerolf vor. Er klagt an: „Mein Bruder Gernot hatte Streit mit Bernwart, Bernos Sohn. Da zog Bernwart sein Messer und erstach meinen Bruder. Wehe rufe ich über den Mörder! Rache für Gernot fordert unsere Sippe!“ „Kannst du die Untat beweisen?“ fragt Eberhart den Kläger. Da be-rührt Gerolf das Schwert des Vorsitzenden und schwört: „Bei Speeres Schaft, bei Schildes Rand und Schwertes Schärfe: Ich weiß, er ist der Täter.“ Zwölf seiner Sippengenossen treten vor. Sie schwören als Eideshelfer: „Gerolfs Eid ist rein und nicht falsch!“ Bernwarts Untat gilt damit als erwiesen. Bleich tritt er vor und gibt zu: „Ich war es, der Gernot erstach!“ Eberhart berät sich mit den Sippenältesten. Was soll geschehen? Vor allem muss die Sippe des Getöteten von der Blutrache abgebracht werden. Gelingt das nicht, dann wird es Mord und Totschlag zwischen den bei-den Sippen geben, bis sie sich gegenseitig ausgerottet haben. Das wäre zum Schaden des Stammes. Der Sippenälteste des Erschlagenen erklärt sich nach einigem Zaudern einverstanden, dass der Streit friedlich beigelegt wird. Im Namen aller Sippenältesten schlägt Eberhart dem Thing vor: „Bernwart soll der Sippe des Erschlagenen als Buße zehn Rinder übergeben!“ Stammesthing der Germanen 2 Alle Krieger klirren zustimmend mit ihren Waffen; so ist das Urteil beschlossen und wird vom Vorsitzenden verkündet. Bernwart besitzt freilich nicht so viel Vieh, um zehn Rinder als Buße zahlen zu können. Ihm helfen seine Sippengenossen; die ganze Sippe steht für den einzelnen ein wie der einzelne für die Sippe. Nun, da der Streitfall beigelegt ist, fordert Eberhart die beiden Sippen auf, feierlich zu geloben, in Zukunft friedlich zusammenzuleben. Beide Sippen schwören: „Wir wollen wie Freunde und nicht wie Feinde sein! Wer diesen Eid bricht, soll wie der wilde Wolf, der Waldgänger, fern von den Menschen leben; sippenlos, rechtlos, heimatlos; niemand soll ihm Unterkunft oder Speise gewähren.“ __________________ Auswertungsmöglichkeit 1. Aufgaben des Things (Beschlüsse über Krieg und Frieden; Anführerwahl; Gericht); Ausschluss der Frauen 2. Rolle der Sippenältesten; Durchsetzung ihrer Interessen 3. Germanen in römischen Diensten (Hilfstruppen, Gefolgschaften) Stammesthing der Germanen 3