Barber-Interview

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Als Produktionssystem ist der Kapitalismus im Niedergang begriffen"
Ein Gespräch mit dem US-Politikwissenschaftler Benjamin Barber über die
Infantilisierung des Verbrauchers und die Chancen einer anderen Globalisierung
Mit einem Sachbuch, das er schon vor sieben Jahren geschrieben hat, steht der USamerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber seit dem Terrorangriff auf die USA in
seinem Heimatland und auch hierzulande auf den Bestsellerlisten: "Jihad vs. McWorld" (dt. "Coca
Cola und Heiliger Krieg", Scherz Verlag 2001) beschreibt die Bedrohung der westlichen
Demokratie durch zwei gegenläufige Strömungen, die Zersplitterung der Nationalstaaten durch
ethnische und religiöse Fundamentalismen und die weltweite Gleichmacherei durch eine
indifferente Globalisierung. Diese Analyse hat Barber unter dem Eindruck der Balkankriege
geschrieben. Der Terror selbsternannter islamischer Gotteskrieger scheint seine Beschreibung
auf unheimliche Weise zu bestätigen. Barber, der als Berater für den ehemaligen
Bundespräsidenten Roman Herzog und US-Präsident Bill Clinton tätig war und Professor an der
Maryland School of Public Affairs ist, schrieb außerdem die einflussreichen Sachbücher "Strong
Democracy" (1984) und "The Truth of Power - Intellectual Affairs in the Clinton White House"
(2000). Gegenwärtig hält sich Barber als DaimlerChrysler Fellow an der American Academy in
Berlin auf. Dort sprach mit ihm unser Mitarbeiter Johannes Wendland.
FR
FR: Professor Barber, in Berlin möchten Sie für ein Projekt recherchieren, in dessen Titel die
Formulierung "Der Niedergang des Kapitalismus" auftaucht. Geht es mit dem Kapitalismus wirklich
zuende?
Benjamin Barber: Meiner Ansicht nach ist der Kapitalismus als Produktionssystem im Niedergang
begriffen. In seinen besten Zeiten gelang es ihm, die Produktivität entsprechend der menschlichen
Bedürfnisse zu maximieren. So diente er dem gesellschaftlichen Fortschritt. Die Kapitalisten schufen
nicht nur Güter, die dringend gebraucht wurden, sondern zugleich Arbeitsplätze und Wohlstand. Die
Phase des Niedergangs zeichnet sich dadurch aus, dass mehr Waren produziert als wirklich gebraucht
werden. Darum schrumpft die Beschäftigung und letztlich die Kaufkraft.
Ist in einer globalisierten Wirtschaft die demokratische Entwicklung gefährdet?
Die Gefahr bestand von Anfang an. Globalisierung bedeutete die Internationalisierung der Wirtschaft,
aber nicht die der Demokratie. In der Welt gibt es also jetzt Kapitalismus ohne Demokratie, einen wilden,
rohen Kapitalismus ohne Regulierung. Das unterminiert letztlich den Kapitalismus selbst. Die globalen
Märkte können die Widersprüche des Kapitalismus nicht mehr auffangen, siehe Argentinien - eine Nation,
die jeder einzelnen Anweisung der internationalen Finanzinstitutionen, die sie bekommen hat, genau
gefolgt ist. Das Land ist heute praktisch bankrott.
Besitzt der Kapitalismus nicht die Kraft, auf diese Situation mit eigenen Mitteln zu reagieren?
Das tut er, aber auf eine deformierte Art und Weise. Wenn der Kapitalismus mehr Waren produziert, als
gebraucht werden, muss er ständig einen Markt für nicht gewünschte oder unnötige Waren schaffen.
Werbung und Marketing sind die zentralen Industrien dieses postmodernen Kapitalismus. Es ist eine
Industrie, die nicht mehr um das Herstellen von Waren herum organisiert ist, die bestimmten
Bedürfnissen entsprechen, sondern um das Herstellen von Bedürfnissen, damit nicht gewünschte Waren
verkauft werden. Auf Dauer korrumpiert das den Kapitalismus von innen.
Aber so lange die Schaffung neuer Bedürfnisse immer wieder funktioniert, funktioniert doch auch der
Kapitalismus ...
Bis zu einem bestimmten Punkt. Und auch wenn der Kapitalismus noch eine Weile so funktioniert, hat es
doch einen verheerenden Effekt auf die menschliche Psyche. Es bedeutet, dass wir anfangen, uns mehr
nicht über Ethnizität, Religion, Familie oder sogar unseren individuellen Geschmack zu definieren,
sondern über eine Assoziierung mit einem Set von Marken. Es gibt eine fundamentale Verdrehung
menschlicher Identität. Anstatt dass man sich von innen nach außen identifiziert, identifiziert man sich
von außen nach innen - alles nur, damit wir Dinge kaufen, die wir gar nicht brauchen. Das führt zu einer
Infantilisierung. Als der globale Verbraucher, den die global agierenden Hersteller brauchen, taugt nur
das Kind. Der erwachsene Geschmack ist weltweit zu ausdifferenziert, Kinder sind überall ziemlich gleich.
Sie wollen nicht lange am Tisch sitzen und essen, sondern Snacks. Sie mögen Fernsehen und einen
bestimmten Typ Musik. Indem an das Kindliche in jedem von uns appelliert wird, wird die Möglichkeit
eines globalen Verbrauchs geschaffen. Amerika war dabei sehr erfolgreich: Fastfood, Hollywood, MTV
und die neuen Internet-Technologien sind alle am Geschmack von Zwölf- bis 14-Jährigen orientiert.
Wo ist der Punkt, an dem der Kapitalismus nicht mehr funktioniert und tatsächlich kollabiert?
Die Schaffung neuer Bedürfnisse kann nicht auf Dauer Schritt halten mit der Überproduktion von Waren.
Besonders dann nicht, wenn die Zahl an Arbeitsplätzen immer weiter reduziert wird. Der Kapitalismus
mag noch erfolgreich darin sein, den Geschmack zu verändern; wenn sie arbeitslos sind, haben die
jungen Leute aber nicht mehr das Geld, um die Waren zu kaufen.
Nun rebellieren ja junge Menschen in aller Welt gegen das System ...
Ja, und zwar genau diejenigen, die von Kindesbeinen an den Marketingkampagnen am stärksten
ausgesetzt waren. Sie sind inzwischen übersättigt, durchschauen die Manipulationsformen und
widersetzen sich in steigendem Maße.
Sind die so genannten Globalisierungsgegner, etwa die globale Vereinigung Attac, ein Faktor, der die
Entwicklung des Kapitalismus in eine neue Richtung lenken kann?
Ich bin immer Dialektiker. Ich sehe in diesen Phänomenen sowohl Chancen als auch echte Probleme.
Die Stärke ist, dass viele Menschen, die nicht selber direkt von Globalisierung geschädigt wurden,
verstanden haben, dass etwas moralisch und politisch im Argen liegt. Die Bewegung hat globale
Finanzinvestoren und Machtinhaber dazu gebracht, aufzupassen und zuzuhören. Das Problem ist, dass
die Bewegung es zugelassen hat, als Antiglobalisierungsbewegung charakterisiert zu werden. Das ist ein
grobes Missverständnis, denn es gibt keinen Stopp für die Globalisierung. Sie ist eine notwendige
historische Konsequenz aus technologischen, ökologischen, ökonomischen und historischen Trends . Für
mich ist der Fehler an der Globalisierung, dass die Märkte, aber nicht die Politik globalisiert wird. Ich
würde mich freuen, wenn die Bewegung mehr über alternative Wege der Globalisierung diskutieren
würde.
Stimmen Sie mit der Kritik an den internationalen Finanzinstitutionen, die von den jungen
Globalisierungskritikern theoretisch, aber auch sehr handfest geübt wird, überein?
Man muss diese Institutionen sehr differenziert betrachten. Die Weltbank hat große Fortschritte dabei
gemacht, sensibler für die Situationen in den Nehmerländern zu werden. Das kann man hingegen vom
IWF nicht sagen. Die Bewegung macht diese Unterscheidung nicht, alle Institutionen werden
gleichermaßen abgelehnt. Dabei sind IWF und auch die WHO die potenziell demokratischsten
Institutionen überhaupt, denn sie werden von den G8-Ländern kontrolliert. Wenn die Regierungen dieser
Länder - allesamt demokratische Regierungen! - unter Druck gesetzt werden würden, könnten diese
Institutionen in weitaus demokratischerer Weise genutzt werden als jetzt. Dagegen sind die NGO
vollständig undemokratisch: Sie sind nicht transparent, die Führer sind nicht gewählt, sie repräsentieren
nur sich selbst.
Wie könnte eine zivilgesellschaftliche Kritik am Zustand des Kapitalismus formuliert werden, die diese
Aspekte berücksichtigt?
Das ist eine gute Frage. Die einzelnen Menschen, die Machtpositionen in den großen Finanzinstitutionen
einnehmen, habe ich oft als gespalten und ambivalent erlebt. Sie tragen mehrere Hüte. Viele
Spitzenmanager sagen: Meine Kinder sollen nicht in einer Welt leben, die allein von den Unternehmen
gestaltet ist. Es ist gut, dass die Staaten sie an die Kandare nehmen. Jeder Manager ist auch ein Bürger.
Jeder ägyptischer Banker ist auch ein Muslim. Jeder Soldat in Israel ist auch ein Bürger. Das alles schafft
Gegendruck, über den wir reden und den wir nutzen können.
Besteht nach dem 11. September überhaupt eine Chance für Pluralismus und für zivilgesellschaftliche
Konzepte, oder ist der Haupttrend nicht der einer kritiklosen Gleichschaltung im öffentlichen Diskurs in
den westlichen Ländern?
Der 11. September hat beide Seiten gestärkt, diejenigen, die Demokratie mit kleinem ,d' schreiben wollen
und auch diejenigen, die Demokratie globalisieren möchten. Klar, die Bedrohung durch den Terror hat
jene Option gestärkt, die auf Militär, Gegengewalt und die Geheimdienste setzt. Andererseits sagen
heute viele von denen, die früher weltweite Demokratie für eine weltfremde Utopie hielten, dass
Demokratie die einzige angemessene Antwort auf den Terror sei. Demokratische Nationen führen keinen
Krieg gegeneinander, und sie sponsern auch keinen Terrorismus. Es gibt also heute ein realistisches
Argument, das Demokratie als Gegenstand von nationaler Sicherheitspolitik begründet. Damit wurde ein
großes Fenster für politische und zivile Lösungen geöffnet, besonders auf internationaler Ebene.
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