StV 2010, 705

Werbung
Beitragstyp: Aufsatz
Fundstelle: StV 2010, 705-711
Normen: § 359 StPO, § 244 StPO, § 52 StPO, § 199 StPO, § 153a StPO ... mehr
Johann Schwenn „Fehlurteile und ihre Ursachen - die Wiederaufnahme im
Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs“
Kurzreferat
Der Verfasser beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit Fehlurteilen und ihren Ursachen
und der Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs.
Einleitend trifft er dazu hauptsächlich allgemeine Aussagen, welche Konsequenzen
sich für einen Angeklagten eines Sexualdelikts ergeben, auch wenn dessen
Unschuld später im Urteil als erwiesen festgestellt wird. Darauf wird sich näher mit
Fehlurteilen und deren Ursachen befasst. Als Ursachen werden dabei die faktische
Beseitigung der Unschuldsvermutung und die Belastung des Vorsitzenden des
erkennenden Gerichts mit der gerichtlichen Aufklärungspflicht im Strafverfahren
genannt. Weiter erläutert der Autor die Fehleranfälligkeit von Strafverfahren, wenn
das vermeintliche Opfer Symptome einer psychischen Störung zeigt. Zudem legt der
Verfasser dar, dass die Staatsanwaltschaft dazu neigt, in die Rolle einer Partei zu
schlüpfen. Problematisch sei weiter, dass mögliche Missbrauchsopfer zu einer
Nebenklage berechtigt sind und im selben Umfang wie der Verteidiger das Recht zu
einer Akteneinsicht haben. Aufgrund der Aktenkenntnis entstehe häufig bei deren
Aussagen ohne Bedenken der Eindruck der Glaubwürdigkeit. Darauf folgend werden
einige Beispiele für die Entstehung von Fehleinschätzungen angebracht. Der Autor
kommt letztendlich zu dem Ergebnis, dass den Ursachen für Fehlleistungen auf den
Grund zu gehen ist.
Fehlurteile und ihre Ursachen - die Wiederaufnahme im Verfahren wegen
sexuellen Mißbrauchs
von Johann Schwenn, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Hamburg[1]
A. Wer für einen als Sexualtäter Verurteilten die Wiederaufnahme in Angriff nimmt,
legt sich mit dem Zeitgeist an. Schon der bloße Verdacht, jemand habe das Recht
eines anderen auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt, macht ihn in den Augen der
Öffentlichkeit zum Täter. Bei keinem anderen Straftat-bestand ist die Bereitschaft
zum Vorurteil so groß, die Unschuldsvermutung so unpopulär. In den inzwischen
mehr als dreißig Jahren eigener Erfahrung mit dem Strafprozeß hat sich die Haltung
der Gesellschaft gegenüber Personen, die sich als Opfer eines Sexualdelikts
vorstellen, grundlegend geändert: Waren Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte
früher oft geneigt, solche Vorwürfe schon beim Fehlen eindeutiger Tatspuren als
erfunden zu betrachten, bei deren Vorhandensein Ein-vernehmen zu unterstellen
[1]
Der Beitrag beruht auf zwei vom Verf anläßlich der Frühjahrstagung 2009 der
Evangelischen Akademie Arnoldshain »Das Fehlurteil im Strafverfahren –
unabwendbares Schicksal oder korrigierbarer Irrtum?« und der 10. Veranstaltung des
Arbeitskreises »Psychologie im Strafverfahren« am 07.11.2009 gehaltenen Vorträgen.
oder dem Beschuldigten abzunehmen, er habe Widerstand für Zustimmung gehalten,
so bedeutet heutzutage schon der Haftbefehl das soziale Aus für den Verdächtigen.
Nicht einmal die im späteren Urteil getroffene überschießende Feststellung, die
Unschuld des Angeklagten sei erwiesen[2], kann daran etwas ändern.
Nach dem Eintritt der Rechtskraft ist die Lage des Verurteilten sogar dann
hoffnungslos, wenn schon die schriftlichen Urteilsgründe verraten, daß kaum alles
zur Wahrheitsfindung Nötige getan worden sein kann. Zwar bleibt die
Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet und muß deshalb auch zugunsten des
Verurteilten die Wiederaufnahme betreiben, wenn bessere Erkenntnisse für dessen
Unschuld sprechen und zugleich einen Wiederaufnahmegrund hergeben. Aber diese
Verpflichtung gilt schon allgemein nicht viel. Warum sollte der Staatsanwalt es
gerade angesichts eines rechtskräftigen Urteils wegen eines Sexualdelikts anders
halten? Der alte Verteidiger, oft mitverantwortlich für das Urteil, findet den Mandanten
lästig und behandelt ihn auch so, ein neuer ist schwer zu gewinnen [3] und muß ohne
die Hilfe der Ermittlungsbehörden sehen, wie er Wiederaufnahmegründe des § 359
Nr.5 StPO belegt und also neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, die allein
oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des
Verurteilten zu begründen geeignet sind[4].
B. Die Dunkelziffer unentdeckter Sexualdelikte mag hoch sein. Hoch ist jedenfalls die
Dunkelziffer unentdeckter Fehlurteile. An der Gleichartigkeit der Fehlerquellen
erkannter Fehlurteile zeigt sich, daß man es weder mit untypischen Einzelfällen noch
mit unvermeidbaren Mißgriffen zu tun hat, die mit dem Euphemismus »Justizirrtum«
zutreffend gekennzeichnet wären. Besonders unangebracht ist dies Etikett
angesichts »unechter« nova – solchen Tatsachen und Beweismitteln also, auf die
der Erstrichter gestoßen wäre, hätte er sich nur von dem mit dem
Eröffnungsbeschluß stets verbundenen Vorurteil frei gemacht. War das Gericht durch
die Aktenlage dazu verleitet worden, dem aussagebereiten Angeklagten ein
Geständnis nahezulegen, ohne ihn zuvor im Zusammenhang zu hören und einen
Eindruck von ihm zu gewinnen[5], so wird es sich später kaum bereit finden, von der
frühen Festlegung abzurücken. Solche Beobachtungen mögen das Desinteresse von
Gerichten, Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, nicht aber das der
[2]
[3]
[4]
[5]
S. dazu: Krack, Die Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, 2002, S. 90
ff.
Die Kontamination durch Mandate der hier behandelten Art wird gefürchtet. Mancher
Rechtsanwalt hält sich sogar öffentlich etwas darauf zugute, niemandem beizustehen, der
einschlägiger Straftaten auch nur beschuldigt wird. Als Verteidiger auftretende
Hochschullehrer setzen in dieser Rolle ohnehin andere Schwerpunkte: Daß nur lukrative
Mandate die erwünschte Wechselwirkung mit Forschung und Lehre erwarten lassen, steht
offenbar fest.
Durch die Vorschrift alternativ eröffnete Wiederaufnahmeziele (»[...] in Anwendung
eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere
Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung [...]«) haben für
Verfahren der hier behandelten Art keine praktische Bedeutung.
Mit dem Opferschutzgedanken ist die verbreitete Praxis nicht zu recht-fertigen.
Erklären läßt sie sich nur als Ausdruck übertriebenen Respekts vor der Knappheit der
»Ressource Recht« (Die griffige Formel hat an-scheinend Tipke geprägt [in: FS Zeidler,
1987, S. 716 ff. [734]]) oder dem Mangel des Willens, sich Verfahren dieses Typs
ergebnisoffen zu widmen.
Wissenschaft[6] erklären, Lehren aus dem Ertrag mit Erfolg durchgeführter
Wiederaufnahmeverfahren zu ziehen und den Ursachen der Ersturteile auf den
Grund zu gehen: Einer Journalistin blieb es überlassen, das Zustandekommen
zweier Fehlurteile und deren Rechtskraft zu untersuchen und exemplarisch
darzustellen[7].
1. Eine naheliegende Ursache einschlägiger Fehlurteile ist die faktische Beseitigung
der
Unschuldsvermutung
durch
den
Opferschutz
im
tatrichterlichen
[8]
Erkenntnisverfahren . Zum Nachteil schon des Beschuldigten wirkt sich die Furcht
aus, das vermeintliche Opfer zu »reviktimisieren«[9]. Daß schon einer erkennbar
ergebnisoffenen Verfahrensgestaltung diese Wirkung zukommen soll, ist in der
Hauptverhandlung die unausgesprochene Leitlinie gerade solcher Vorsitzender, die
gern ihre langjährige Erfahrung herauskehren und deshalb von einschlägigen
Fortbildungsangeboten keinen Gebrauch zu machen pflegen. Mitunter wird der
Konflikt der beiden Maximen — Unschuldsvermutung versus Opferschutz — nicht
einmal erkannt. So will der Große Senat für Strafsachen des BGH in seinem
Beschluß zur Urteilsabsprache in der opferschützenden Teileinstellung oder
Verfolgungsbeschränkung und dem damit verbundenen Verzicht auf die
Sachaufklärung nur eine Entlastung auch des Angeklagten sehen[10]. Dabei werden
auf solchem Wege mitunter gerade Vorwürfe erledigt, deren Prüfung den Tatrichter
an der Berechtigung der verbliebenen hätte zweifeln lassen müssen[11].
II. Mit der Erfüllung der gerichtlichen Aufklärungspflicht ist im Strafverfahren vor allem
der Vorsitzende des erkennenden Gerichts belastet: Er entscheidet, welche
Beweismittel das Gericht nutzen will, er befragt als erster Angeklagte, Zeugen und
Sachverständige, er leitet die Verhandlung und hat außerdem sicherzustellen, daß
deren Ergebnis gerichtsintern so sorgfältig erfaßt wird, daß die Erinnerung an den
Verhandlungsinbegriff nicht im Laufe der Hauptverhandlung verloren geht. Denn eine
vollständige, dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten jederzeit zugängliche
Dokumentation des Hauptverhandlungsinhalts sieht das Gesetz ungeachtet des
technischen Fortschritts nicht vor[12]. Derart überfordert[13], scheint dem Vorsitzenden
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
S. allerdings Eisenberg FS Amelung, 2009, S. 585 ff., und Eschelbach FS Stöckel,
2010, S.199 ff.
Rücken, Unrecht im Namen des Volkes, 2007 – weder an den beiden von der Autorin
behandelten noch an einem der nachstehend dargestellten Verfahren war der Verf vor
dem Eintritt der Rechtskraft beteiligt.
Vgl. BGHSt 50, 40 = StV 2005, 311; BGH StraFo 2006, 497; BGHR StPO § 241 Abs.
2 Zurückweisung 12 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Zeugenvernehmung 17.
Sogar nach der Aufhebung der Feststellungen belasten die Strafsenate des BGH
Entscheidungsgründe neuerdings mit der suggestiven Benennung des bloß möglichen
Opfers als der »Geschädigten«. Daß auch der Gesetzgeber seit jeher dem bloß möglichen
Verletzten diesen Status schon bei der Benennung seiner Verfahrensrolle zuweist, wird
offenbar als Einladung begriffen, diese Suggestion durch eigene Schöpfungen zu
variieren. Auch das Modewort »Opferzeugin« gehört in diese Kategorie.
Vgl. BGHSt 50, 40 (55) = StV 2005, 311; BGH, Beschl. v. 11.01.2005, 1 StR 498/04.
Zu dieser Fallgruppe siehe BGHSt 44, 153 (160) = StV 1998, 580.
Bei dem über seine Notizen gebeugten Vorsitzenden – oder Berichterstatter –
hat man es mit einer vermeidbaren Variante des blinden Richters zu tun (vgl.
BGHSt 34, 236 = StV 1987, 90; 35, 164 = StV 1988, 191). Wie sich die Bindung
des Tatrichters an den Inbegriff der Hauptverhandlung einschließlich ihres
mit der Verpflichtung, die Hauptverhandlung nun auch noch dem Opferschutz
dienstbar zu machen, mehr aufgebürdet zu werden als einem einzelnen zugemutet
werden kann. Der Vorrang des Opferschutzes vor der Unschuldsvermutung geht
stets mit der Aufgabe der professionellen Distanz des Gerichts zum vermeintlichen
Opfer einher: In einer im späteren Wiederaufnahmeverfahren durch Freisprechung
im Beschlußwege erledigten Sache wollte die vor dem Gerichtsgebäude im Auto
ihres Freundes sitzende Nebenklägerin ihre als Zeugin geladene Therapeutin für
Bekundungen zu der Frage, ob sie in der Therapie auch von sexuellen Übergriffen
anderer Personen als des Angeklagten berichtet habe, nur für eine Aussage in
dessen Abwesenheit von der Verschwiegenheitspflicht entbinden. Der Vorsitzende
der Jugendkammer begab sich zu dem Wagen und redete der Nebenklägerin im
Beisein ihrer Vertreterin, ihrer Mutter, ihres Freundes und der Therapeutin gut zu.
Darauf entband die Nebenklägerin die Therapeutin vollen Umfanges von der
Schweigepflicht und sagte entgegen ihrer bei dieser Gelegenheit erklärten Absicht an
einem späteren Hauptverhandlungstermin sogar selbst weiter aus. Das Gericht
enttäuschte sie nicht, glaubte ihr jedes Wort und verurteilte den Angeklagten [14]. In
Schleswig-Holstein ist die gefährliche Nähe durch das vom dortigen
Generalstaatsanwalt verantwortete Zeugenbegleitprogramm sogar zu einer Variante
des Betreuungsstandards erhoben worden: Um dem Opfer die Angst vor der
Hauptverhandlung zu nehmen, soll die Begleitperson nicht nur die Besichtigung des
Gerichtssaals organisieren, sondern auch »evtl. Kontakt zum(r) Vorsitzenden
Richter(in) herstellen«[15].
III. Besonders fehleranfällig ist das Strafverfahren, wenn das vermeintliche Opfer
Symptome einer psychischen Störung zeigt und diese Besonderheit mit der
Gestaltung »Aussage gegen Aussage« zusammentritt. Sie erhöht die Gefahr, daß
die Störung nicht als Ursache der Vorwürfe erkannt, sondern als Folge der Tat
mißdeutet wird. Hat das Gericht einen psychiatrischen Sachverständigen
hinzugezogen, der sein Gutachten an der ihm durch die dem Eröffnungsbeschluß
innewohnende Verurteilungsprognose deutlich gemachten Erwartung des Gerichts
orientiert, so wird das Verwechseln von Ursache und Wirkung noch wahrscheinlicher.
Solche Sachverständigen sind geneigt, Warnsignale zu mißachten und
Auffälligkeiten im Verhalten der Belastungszeugin als Tatfolgen zu erklären. So
verhielt es sich in einem Verfahren des LG Hannover, dessen Urteil im
Wiederaufnahmeverfahren unter Freisprechung der beiden Angeklagten aufgehoben
worden ist[16]. Der vom Erstrichter für sachverständig gehaltene Psychiater hatte die
Nebenklägerin im Beisein ihrer Betreuerin untersucht, war der Ansicht. die
vorgefundene Borderline-Symptomatik stelle die Aussagetüchtigkeit nicht in Frage[17]
[13]
[14]
[15]
[16]
[17]
nonverbalen Inhalts (vgl. BGHSt 35, 164 [167 f.] = StV 1988, 191) mit der
Notwendigkeit vertragen soll, die Verlautbarungen der Beteiligten auch nur
halbwegs zuverlässig fest-zuhalten, bleibt eine offene Frage.
Zu diesem Aspekt siehe auch Salditt StraFo 1990, 54 (59).
LG Oldenburg, Urt. v. 19.05.2005, 6 KLs 16/04 (siehe nachstehend X.II.).
www.schleswigholstein.de/MJGI/DE/Justiz/DaslstIhrRecht/Zeugen/PDF/Zeugenbegleitprogramm
Sexueller Mißbrauch.html.
LG Lüneburg, Urt. v. 08.09.2010, 20 Kls/1304 Js 10340/09 (5/09) – siehe nachstehend
IX. und X.3.
Vgl. BGH StV 2002, 350 (352); NStZ 2010, 100; s. auch Urt. v. 12.08.2010, 2 StR
185/10.
und stützte sein Gutachten, die Nebenklägerin leide an einer posttraumatischen
Belastungsstörung auf den – ihm, dem Erstrichter und dem Revisionsgericht
verborgen gebliebenen – Kreisschluß, die Angeklagten hätten die ihnen
vorgeworfenen
Taten
begangen.
Solchen
Mängeln
eines
Sachverständigengutachtens ist mit der Wiederaufnahme beizukommen. Im Sinne
des § 359 Nr. 5 StPO neu oder geeignet[18], die Freisprechung des Angeklagten
herbeizuführen, ist das beigebrachte Gutachten ja nur, wenn auch der Erstrichter zur
Vernehmung eines weiteren Sachverständigen verpflichtet gewesen wäre: War das
Gutachten des vom Erstrichter gehörten Sachverständigen nicht durch einen oder
mehrere der in § 244 Abs. 4 StPO bezeichneten Mängel beeinträchtigt oder beruht
das von dem Verurteilten bei-gebrachte Gutachten nicht auf dem Einsatz
überlegener Forschungsmittel, so kann er sich darauf nur berufen, wenn ein anderes
novum dem früher entgegengenommenen mindestens einen Teil seiner Grundlage
entzogen hat.
IV. Auf der Gewißheit des Richters, die Beurteilung der Glaubwürdigkeit sei seine
»Domäne«[19] beruht die Geringschätzung des aussagepsychologischen
Sachverständigen manchmal sogar angesichts besonderer Umstände in der Person
des Zeugen. Zu der Fehlhaltung haben Psychologen ihren Teil beigetragen: Die
bedrückende Erkenntnis, angesichts der Mittellosigkeit vieler einschlägig
Beschuldigter von Aufträgen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft abhängig zu
sein, scheint verbreitet zu einer mehr oder minder bewußten Tendenz zu führen,
diese Auftraggeber nicht allzu oft zu enttäuschen. Auch der forensische Psychologe
weiß ja nach dem Eröffnungsbeschluß, wo die Reise hingehen soll.
V. Vorwürfe der hier behandelten Tat führen bei manchen Staatsanwaltschaften zu
dem Mißverständnis, ihre Verfahrens-rolle sei jedenfalls nach der Anklageerhebung
die einer Partei. Dabei wird mitunter nicht nur das Prozeßrecht verletzt: So entschloß
sich die StA Hannover mit der Billigung ihres Behördenleiters in einer Sache, in der
die beiden Angeklagten, der Vater der Nebenklägerin und ein Bekannter der Familie,
im Jahre 2004 jeweils wegen mehrfacher Vergewaltigung zu lang-jährigen
Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt worden waren, eine Aussage der Nebenklägerin, die
diese im Herbst 2004 noch vor der Entscheidung über die Revision gegenüber dem
Sonderdezernenten gemacht hatte, entgegen § 199 Abs. 2 S.2 StPO den Akten und
damit dem BGH und den Verteidigern vorzuenthalten. Darin hatte die Nebenklägerin
ihre dem Bekannten ihrer Familie angelastete Defloration nicht existierenden Tätern
zugeschrieben, gegen die sie weitere monströse Bezichtigungen erhoben hatte. Weil
sie sich nach Angaben ihrer Vertreterin zu sehr fürchtete, stand sie danach der StA
Hannover für ergänzende Angaben nicht mehr zur Verfügung, wohl aber der
[18]
[19]
Zum Streitstand s. BGHSt 39, 75 (83 f.); HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (382) m.
Anm. Gössel; Meyer-Goßner, 53. Aufl. 2010, § 359 Rn. 35; KK-StPO/Schmidt, 6. Aufl.
2008, § 359 Rn. 26; dagegen KMR-StPO/ Eschelbach, Stand: 20. Lfg. § 359 Rn. 174.
Nack StV 1994, 555 (555) – »Domäne des Tatrichters« ist die Würdigung der
Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ja nicht
etwa, weil dem Richter überlegenes Fachwissen zu Gebote stünde. Anders als der
Sachverständige, dessen Analyse auf die jeweilige Aussage und ihr immanente Umstände
beschränkt bleibt, ob-liegt dem Richter eine Gesamtwürdigung, die dem Inbegriff der
Hauptverhandlung gilt und deshalb auch solche Tatsachen einzubeziehen hat, die auf den
Angaben des Angeklagten und dem übrigen Ertrag der Hauptverhandlung beruhen
können (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 29).
Jugendzeitschrift »Bravo«: Trotz der angeblichen Sorge um ihre Sicherheit war die
inzwischen neunzehn Jahre alte Nebenklägerin bereit, für verschiedene Fotos ohne
optische Anonymisierung zu posieren. Sogar der Umstand, daß man es mit einem
Verfahren aus Hannover zu tun hatte, war auf einem der Bilder deutlich zu erkennen.
Beanstandet hatten beide Beschwerdeführer vor allem das unwürdige Verfahren des
Tatrichters mit dem präsent gestellten aussagepsychologischen Sachverständigen.
Das LG Hannover hatte ihn so lange nicht zu Wort kommen lassen, bis dem
Bekannten des Vaters der Nebenklägerin die Mittel ausgegangen waren, um die
Präsenz des Sachverständigen, eines auch vom BGH geachteten Hochschullehrers,
sicherzustellen[20] In diesem Zusammenhang hatten die Beschwerdeführer
vorgebracht, das Gutachten der im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft
ausgewählten
Aussagepsychologin genüge nicht den Anforderungen des 1. Strafsenats [21] an eine
wissenschaftliche Aussageanalyse. Im Januar 2008 deckte die StA Hannover in
einem weiteren, wiederum allein auf Bezichtigungen dieser Nebenklägerin gegen
ihren Vater eingeleiteten Verfahren nach dem Beginn der Hauptverhandlung die von
ihr verschwiegene Aussage und das dazu Ermittelte auf. Dieser Umstand veranlaßte
die Nebenklägerin zu einer Kehrtwende. Nun berief sie sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Auch auf Antrag ihrer Vertreterin
wurde der Angeklagte freigesprochen. Die gegen ihn in der rechtskräftig erledigten
Sache verhängte Strafe war längst vollständig vollstreckt worden. Erst nach
fünfeinhalb Jahren Freiheitsentzug – im Juni 2009 – wurde der zu einer Ge
samtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und acht Monaten verurteilte Bekannte der
Familie der Nebenklägerin freigelassen. Auf die auch für sie erkennbar
bevorstehende Vollstreckungsunterbrechung durch das Wiederaufnahmegericht war
die StA Hannover nicht eingerichtet: Als der Beschluß nach § 360 Abs. 2 StPO bei ihr
einging, war diese Behörde durch einen Betriebsausflug in Anspruch genommen.
Nur mit Mühe war der zurück-gelassenen und entsprechend verstimmten
»Stallwache« zu vermitteln, daß die Vollstreckungsbehörde die – von der für das
Wiederaufnahmeverfahren zuständigen StA Lüneburg nicht an-gefochtene –
Entscheidung
ohne
Verzug
umzusetzen
hatte.
Zu-vor
war
das
Wiederaufnahmeverfahren von der StA Hannover durch zögerliches Übersenden der
Akten und eine bemerkenswert abwegige Stellungnahme gegenüber dem
Wiederaufnahmegericht belastet worden[22].
[20]
[21]
[22]
In seinem die wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten
betreffenden Urteil v. 30.07.1999 hat sich der 1. Strafsenat auf eine Veröffentlichung des
Sachverständigen berufen (s. BGHSt 45, 164 [168, 173] = StV 1999, 473 m. Hw. auf
MschrKrim 1997, S. 290; vgl. auch BGH, Urt. v. 14. 05.2002, 1 StR 46/02). Zu den
Anforderungen an die Würdigung möglichen Wiedererkennens des Angeklagten durch
Zeugen weisen BVerfG und BGH auf die Ergebnisse der Forschungen dieses
Sachverständigen hin (BVerfG StV 2003, 591; BGHR StPO § 261 Identifizierung 13;
BGH StV 1995, 452 [453]).
In BGHSt 45, 164 = StV 1999, 473.
Die Kritiker der geltenden Fassung des § 140 a GVG sollte die Verfahrensgeschichte
auch deshalb interessieren, weil sie den vermißten Beweis für den Vorwurf einer
»gewissen Solidarisierung« erbringt (ERGVG/Franke, 25. Aufl. 1997, Vorb. § 140 a Rn.
1); zum Widerstand von Richtern und Staatsanwälten während des
Gesetzgebungsverfahrens Krägeloh NJW 1975, 137 (138).
Nicht nur dies Beispiel zeigt, daß die Regel »Je katholischer die Region, desto
verbohrter deren Staatsanwaltschaft« nicht etwa bedeutet, daß sich der Unschuldige
im evangelisch geprägten Norden seiner Freisprechung vom Mißbrauchsvorwurf
stets sicher sein kann. So bedurfte es in einem Verfahren des LG Flensburg – nach
vergeblichen Anstrengungen im Zwischenverfahren – eines Beschlagnahmeantrages
in der Hauptverhandlung, um Jugendkammer und Staatsanwaltschaft für von einer
Zeugin mitgeführte Unterlagen der örtlichen Beratungsstelle »Wagemut« und der
durch die Nebenklägerin von ihrer Schweigepflicht entbundenen Therapeutin zu
interessieren und deren Mitwirkung am Entstehen der – einzigen –
Belastungsaussage nachzuweisen[23] Erst auf diesem Wege kam her-aus, daß die
Nebenklägerin vor ihrer Strafanzeige bei der StA Flensburg ein auch auf das
Sonderdezernat Sexualdelikte aus-gedehntes »berufsorientierendes Praktikum«
absolviert hatte, ohne daß dort festgehalten worden war, zu welchen Vorgängen sie
Zugang hatte. Nicht nur bei der StA Flensburg eint die meist weiblichen
Sonderdezernenten der unerschütterliche Glaube an die Wahrheit des
Mißbrauchsvorwurfs, der offenbar – neben der Verbundenheit mit durch das
Zuweisen von Geldauflagen gem. § 153 a Abs. 1 Nr. 2 StPO unterhaltenen
»Beratungsstellen« wie Wildwasser, Zartbitter, Allerleirauh, Wagemut oder Violetta –
als Qualifikationsausweis genügt[24].
VI. Werden Mitarbeiterinnen der genannten Vereine in der Hauptverhandlung
vernommen, so wird regelmäßig deutlich, daß die belastende Aussage durch deren
Hilfe erstmals Kontur erhalten hat. Bei ihnen bekommen die Rat- und Hilfesuchenden Literatur in die Hand wie etwa den Bestseller »Trotz Allem« [25]. Das
vulgärfeministische Werk enthält eine – neuerdings halbwegs camouflierte –
Anleitung zum Erfinden von Realkennzeichen und wird zum Aushebeln dieses
Kontrollkriteriums der wissenschaftlichen Aussageanalyse eingesetzt [26]. In den
Vorauflagen werden die »Schreibübungen« für erfolgreiches Lügen noch
unverhohlen dargeboten:
»In Wirklichkeit erinnerst du dich an den Lichtschein auf der Treppe, an den
Schlafanzug, den du anhattest, den Geruch nach Alkohol in seinem Atem, das
[23]
[24]
[25]
[26]
Dabei ergab sich, daß die Therapeutin durch den das Suggerieren von Aussagen
propagierenden Fürniß »fortgebildet« worden war – zu dessen Vorgehen bei der
Begutachtung vgl. Scholz/Endres NStZ 1995, 6 (9 f.) und Scholz StV 2004, 104 (106):
»Dann und wann konfrontieren Interviewer die Zeugen mit Vermutungen und
Eventualitäten. In Mißbrauchsfällen befragten beispielsweise parteilich engagierte
Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater Kinder, was passiert sein
<könnte<. Dabei wird dem Zeugen mitunter gesagt, daß ein anderes Kind dieses oder
jenes gesagt habe, daß aber die Sache selbst als ein Geheimnis behandelt werden
müsse.«; zum Wirken F.'s und dessen Folgen siehe auch Salditt StV 2002, 273 (274).
Die spezifische Voreingenommenheit spiegelt sich auch in der Dissertation Jägers (Das
staatsanwaltschaftliche Sonderdezernat »Gewalt gegen Frauen« – Erfahrungen aus
Strafverfahren wegen sexualbezogener Gewaltkriminalität gegen Frauen; eine empirische
Untersuchung bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth). Dessen wiederholte
Gegenüberstellung von »Tatverdächtigem und Opfer« (s. nur a. a. 0., 5.103) nötigt zu
dem Schluß, die Opfereigenschaft in dieser Rolle auftretender Zeuginnen sei für die
Gewährspersonen des Autors eine unumstößliche Tatsache.
Bass/Davis, Trotz Allem, 15. Aufl. 2009.
Bass/Davis (Fn. 25), S.136 ff.
Gefühl der Steine zwischen deinen Schultern, als du auf den Kies geworfen wurdest,
dieses furchtbar leise Lachen, du hörst, wie unten im Wohnzimmer der Fernseher
läuft (...). Schaff den Kontext noch einmal neu, die Situation, in der Missbrauch
geschah (...).«[27]
VII. Einfluß auf die Präsentation der Aussage droht überdies durch sinistre
Therapien: Ungeachtet der Lehren des Montessori-Prozesses wird vermeintlichen
Opfern immer noch mit suggestivem Vorgehen nach Fürniß, dem so genannten
EMDR-Verfahren nach Reddemann und neuerdings vermehrt mit Traumatherapien
zu Leibe gerückt. Deren Verfechtern bietet das Mißbrauchsthema ein ideales
Betätigungsfeld, um mit dem »interessengesteuerten Modekonstrukt« [28] der posttraumatischen Belastungsstörung auf Kundenfang zu gehen. Erstes Ziel solcher
Therapien ist das Annehmen der Opferrolle. Daß damit zwangsläufig das kontrollierte
Einüben einer beeindruckenden Selbstdarstellung verbunden ist, wird oft erst im
Wiederaufnahmeverfahren erkannt und mitunter auch vom Wiederaufnahmegericht
alsbald wieder vergessen[29].
VIII. Im Wirken eines neuen Anwaltstypus, des wiederum meist weiblichen und in
seiner strafrechtlichen Praxis auf diese Funktion beschränkten Opferanwalts,
begegnet uns eine weitere, zu Zeiten von Karl Peters noch unbekannte Fehlerquelle
im Strafprozeß von erheblicher Gefährlichkeit: Mögliche Mißbrauchsopfer sind zur
Nebenklage und deshalb auch dazu berechtigt, sich in dieser Eigenschaft vertreten
zu lassen. Weil Nebenklägervertreter/innen Anspruch auf Akteneinsicht im selben
Umfange wie der Verteidiger haben, läßt sich kaum ein-mal ausschließen, daß die
Aktenkenntnis zur Sicherung der Aussagekontinuität genutzt wird, aus der das
erkennende Gericht später ein Glaubwürdigkeitsmerkmal ableitet. Auch das
Einstreuen erfundener Realkennzeichen in ihre Aussage gelingt vertretenen
Zeuginnen verdächtig oft besser als solchen ohne Beistand dieses Typs[30].
Den unerwarteten Anforderungen der Wiederaufnahme sind Opferanwälte/innen
dagegen kaum einmal gewachsen und versagen vielfach gerade dann, wenn ihr
Schützling den Beistand bitter nötig hat: Waren sie für das frühere Urteil
mitverantwortlich, so sind sie schon deshalb außerstande, die Wiederaufnahme als
Gelegenheit zu begreifen, den Beitrag des Beratungsumfeldes und der
Strafverfolgungsbehörden zum Festhalten des vermeintlichen Opfers an falschen
Angaben geltend zu machen und damit zu verhindern, daß später allein das
Scheinopfer die Zeche zahlt. Die andere Strategievariante ist die Kombination von
Zeugnisverweigerung und Aufrechterhalten der Nebenklage – ein Aussageverhalten
von besonderer Verschlagenheit[31].
[27]
[28]
[29]
[30]
[31]
Bass/Davis, Trotz Allem, 12. Aufl. 2004, S. 75.
Dörner in: Trauma und Berufskrankheit, 2004, S. 327; zum inflationären Umgang mit
dem Phänomen und zum Fehlen der Sachverständigeneignung von Traumatherapeuten
und -forschem s. Steller NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer, 69 (70 ff.) und Kröber in:
Fabian/Nowara (Hrsg.), Neue Wege und Konzepte in der Rechtspsychologie, 2006, S. 53
ff.
S. den unter X.2. behandelten Fall.
Zum »Zeugencoaching« siehe Deckers StV 2006, 353 (355).
Der Sache nach hat es das Gericht mit der larvierten Inanspruchnahme des
Auskunftsverweigerungsrechts aus § 55 StPO zu tun. Weil die Wahrnehmung des
IX. Als Fehlerquelle kann sich im Wiederaufnahmeverfahren der behandelten
Gattung auch der Verteidiger des erstrichterlichen Verfahrens erweisen. Immer
wieder unterlassen es Verteidiger, dem Gericht das Erfordernis eines forensischpsychiatrischen und eines aussagepsychologischen Gutachtens nahe zu bringen,
durch Fragen an den »Haussachverständigen« von Gericht und Staatsanwaltschaft
den Anspruch des Angeklagten auf ein weiteres Gutachten zu begründen oder durch
sachgerechten Umgang mit dem Ablehnungsrecht des Angeklagten dafür zu sorgen,
daß dessen Revision später die Verletzung dieses Anspruchs mit Erfolg geltend
machen kann. Auch die mit der Präsentstellung eines anderen Sachverständigen
verbundene Chance wird nur selten genutzt. Eine derartige »Verteidigung« erscheint nicht selten von dem Bestreben beherrscht, Gericht und Staatsanwaltschaft
nicht zu verstimmen[32].
X. Namentlich vom 3. Strafsenat des BGH wird die der Revision auch bei den hier
interessierenden Tatvorwürfen zugewiesene Aufgabe, innerhalb der ihr durch den
Gesetzgeber gezogenen Grenzen die Gerechtigkeit im Einzelfall zu wahren [33], nicht
nur abgesprochen, wenn der Beschwerdeführer eine zu deren Durchsetzung
geeignete Verfahrensrüge erhoben hat: Auch die mit der allgemeinen Sachrüge
verbundene Gelegenheit, dem Verfasser der Revisionsbegründung entgangene
tatrichterliche Erörterungsmängel aufzugreifen, bleibt oft ungenutzt. Diese die soziale
Funktion der Sachrüge[34] verfehlende Zurückhaltung hat in der Vergangenheit zu
einer Mehrzahl von Beschlüssen nach § 349 Abs. 2 StPO geführt, die von einem
durch die Grenzen der Revision nicht gerechtfertigten Übermaß an Respekt gegenüber dem Tatrichter beeinflußt zu sein scheinen:
1. So hatte das LG Osnabrück im früheren der beiden von Sabine Rucken
entdeckten Fehlurteile[35] seine Überzeugung, die massiven, auf eine
[32]
[33]
[34]
[35]
Zeugnisverweigerungsrechts nur der Würdigung zu Lasten des Angeklagten entzogen ist
(BGHSt 22, 113; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 3; BGH StV 1987, 188; KKStPO/Schoreit [Fn. 18], § 261 Rn. 42), kann diesem evidenten Mißbrauch prozessualer
Rechte jeden-falls mit der freien Beweiswürdigung begegnet werden. Eine
erwägenswerte Folge wäre die Unzulässigkeit der Nebenklage: Daß Nebenkläger, die
ihnen möglichen Beiträge zur Aufklärung des angeklagten Geschehens verweigern, das
Verfahren durch ihre weitere Mitwirkung belasten dürfen, ist schwer zu verstehen. Zum
Vorbereiten der eigenen Verteidigung ist deren Rolle nicht geschaffen.
Einschlägig Beschuldigte setzen bei der Verteidigerwahl offenbar auf die
Unschuldsanmutung, die mit dem Fehlen von Sachkunde einhergeht.
Vgl. BGHSt 40, 138 (145) = StV 1994, 306; BVerfGE 57, 250 (275); siehe dazu auch
KK-StPO/Kuckein (Fn. 18), Vorb. § 333 Rn. 4; LR/Hanack (Fn. 22), Vorb. § 333 Rn. 7;
Langner FS Meyer-Goßner, 2001, S. 497 (504).
Neben dem Amtsermittlungsgrundsatz gibt die vom Grad der Vertrautheit des
Verfassers der Revisionsbegründung mit dem Verfahrensrecht unabhängige Sachrüge
auch dem Mittellosen die Chance, nicht Opfer eines rechtskräftigen Fehlurteils zu
werden. Daß der an einen inkompetenten Tatrichter geratene Unschuldige erst in der
Wiederaufnahme zu seinem Recht kommen soll, läßt sich mit dem Wesen der Revision
als Rechtsbeschwerde allein nicht erklären.
LG Osnabrück, Urt. v. 31. 03. 1995, 17 Js 36603/94 20 KLs (III 9/95) und v. 29.01.
1996, 15 Js 11659/95 20 Kls (III 30/95); die Verurteilten wurden jeweils in getrennten
Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen, weil ihre Unschuld erwiesen war (vgl. dazu
LG Oldenburg, Beschl. v. 02.10.2006, 6 KLs 16/06 und Urt. v. 14.12.2005, 6 KLs 2/04).
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ deuten-den Auffälligkeiten der einzigen
Belastungszeugin seien die Folge der von ihr behaupteten Taten und nicht die
Ursache der Vorwürfe. ausweislich der Urteilsausführungen nicht etwa mit Hilfe des
Gutachtens eines unabhängigen Sachverständigen, sondern durch die Vernehmung
der als Zeugen vernommenen Ärzte der Nebenklägerin gewonnen und diesen – auch
noch in der falschen Verfahrensrolle – Gelegenheit zur Mitteilung des nicht
bestehenden[36] Erfahrungssatzes gegeben, selbstverletzendes Verhalten lasse sich
durch erlittene Mißbrauchshandlungen erklären. Ferner war dem 3. Strafsenat bei
beiden Beschlußberatungen[37] ein offensichtlicher Erörterungsmangel entgangen:
Die Nebenklägerin wollte versucht haben, ihren Vater von einer der insgesamt zehn
Vergewaltigungen mit der Lüge abzuhalten, die letzte – neunzehn Monate
zurückliegende – Tat habe zu einer Schwangerschaft geführt, worauf ihr Vater einen
Abtreibungsversuch mit einem Kleiderbügel unternommen habe. Weitere Taten hatte
die Strafkammer weder festgestellt noch auch nur für möglich gehalten. Den Mangel
der Erörterung, wie sich der angenommene Beweggrund für diese Körperverletzung
mit den zur Person dieses nicht etwa minder-begabten Angeklagten getroffenen
Feststellungen vertragen sollte, erkannte der 3. Strafsenat nicht als den Bestand des
Schuldspruchs gefährdenden sachlich-rechtlichen Fehler.
In ihrem auf den Angaben derselben Nebenklägerin beruhen-den späteren Urteil
gegen deren Onkel hatte dieselbe Strafkammer des LG Osnabrück überdies die
Mitteilung vermieden, was der von ihr gehörte rechtsmedizinische Sachverständige
zur Vereinbarkeit des nach einer Vielzahl angeblich von ihr erlittener
Vergewaltigungen durch zwei verschiedene Männer erhalten gebliebenen (!) Hymens
der Nebenklägerin mit den übrigen Feststellungen ausgeführt hatte. Im Urteil wiedergegeben waren lediglich die Ausführungen dieses Sachverständigen zu der Frage,
ob nach dem behaupteten Manipulieren mit einem Kleiderbügel durch den Vater
bleibende Narben im Scheidengewebe zu erwarten gewesen wären.
Die Zurückhaltung des 3. Strafsenats galt einem Tatrichter, dessen Respekt vor dem
Revisionsgericht nur schwach ausgeprägt war. Daß die Nebenklägerin ihre Aussage
während der Ermittlungen in einem Punkt von sich aus berichtigt hätte, konnte die
Strafkammer dem Revisionsgericht widerspruchsfrei vermitteln, weil sie die
Bekundungen zweier Zeugen verschwiegen hatte, die dazu auch in der
[36]
[37]
Vgl. Beitchman u. a., A review of the long-term effects of child sexual abuse, Child
Abuse & Neglect, Vol. 16, S.101 (114 ff.); s. a. Stone in Kernberg-Dulz-Sachsse (Hrsg.),
Handbuch der Borderline-Störungen, S. 3 (7 f); Paris, a. a. 0., S. 159 (161 f.); Dulz und
Jensen, a. a. 0., S. 167 (168); Dulz, Schreyer und Nadolny: »Wir sind keine
Staatsanwälte, die zu investigieren und Tatbestände aufzuklären haben, nicht einmal
Rechtsanwälte des Patienten. Wir folgen ihm empathisch, wobei sich dieses mehr auf die
Bedeutung des Gesagten für inter- und intrapsychische Prozesse als auf dessen
>objektiven< Wahrheitsgehalt bezieht: Wir achten die zwangsläufig subjektiven
Erinnerungen sowie die begleiten-den Gefühle und gehen auf sie als persönliche
>Wahrheit< des Patienten ein, auch wenn die Situationsschilderung eines Patienten
einmal als >abstrus< erscheint« (a. a. 0., S. 483 [491 f.]).
Die beiden in der Wiederaufnahme Freigesprochenen waren in zwei verschiedenen
Hauptverhandlungen abgeurteilt worden – in den Gründen des später ergangenen Urteils
hatte der Erstrichter die Feststellungen des früheren wörtlich wiedergegeben.
Hauptverhandlung gehört worden waren. Die Wiedergabe ihrer Bekundungen hätte
die Urteilsausführungen mit einem – weiteren – Erörterungsmangel belastet[38].
2. In einer anderen Sache war der Generalbundesanwalt der auf das Zurückweisen
eines auf die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens gerichteten
Beweisantrags durch die damals schon mit einem der zuvor dargestellten
Wiederaufnahmeverfahren befaßte Jugendkammer des LG Oldenburg[39]
aufgebauten Verfahrensrüge mit dem Einwand begegnet, die Sachkunde des
Tatrichters überfordernde Besonderheiten lägen nicht vor. Aus dem angefochtenen
Urteil ergab sich indessen, daß sich die Nebenklägerin wegen Angst- und
Panikattacken, Bulimie und eines Waschzwanges in Behandlung befand und
außerdem begonnen hatte, sich Verletzungen an den Armen zuzufügen [40]. Aufgrund
des Ergebnisses der Anhörung der im Wiederaufnahmeverfahren beigebrachten
Sachverständigen in der Probation ließ die Nebenklägerin durch ihren Vertreter
erklären, sie werde von dem ihr wegen Gefahr der Selbstbelastung eröffneten
Auskunftsverweigerungsrecht vollen Umfanges Gebrauch machen. Das LG
Osnabrück hob das Urteil des Erstrichters auf und sprach den Verurteilten durch
Beschluß frei[41]. Auch diese Revision hatte der 3. Strafsenat als offensichtlich
unbegründet verworfen.
3. Mit Beschluß v. 09. 08.2005[42] hatte der 3. Strafsenat die einem Urteil des LG
Hannover geltende Revision eines der bei-den Angeklagten dem Antrag des
Generalbundesanwalts entsprechend vollen Umfanges verworfen und das
angefochtene Urteil auf die des anderen unter Berichtigung des Schuldspruchs nur
im Strafausspruch aufgehoben. Dem 3. Strafsenat erschien damals schon fraglich,
ob der Tatrichter verpflichtet gewesen wäre, angesichts der als »intelligente
Realschülerin« geschilderten, zur Zeit der Hauptverhandlung 17 Jahre alten
[38]
[39]
[40]
[41]
[42]
Es handelt sich um einen besonders krassen Fall des Phänomens »falscher Film«
(Begriff bei Nack FS Rieß, 2002, S. 361 [368] – siehe dazu auch Eschelbach FS
Widmaier, 2008, 5.137 [131 ff.] und Geipel StraFo 2010, 272 [273 f.]) – gegen den
Vorwurf der Rechtsbeugung (vgl. BGHSt 43, 212 [216] = StV 1997, 561) nahm das OLG
Oldenburg die Berufsrichter der Strafkammer im Klageerzwingungsverfahren mit dem
Hinweis in Schutz, es sei nicht die Aufgabe des Tatrichters, »alle nach den
Beweisergebnissen nicht ganz fern liegenden Möglichkeiten der Würdigung umfassend
zu erörtern und die Erwägungen, die ihn zu einer bestimmten Überzeugung bewogen
haben, in ihrer Gesamtheit in den schriftlichen Urteilsgründen erschöpfend darzustellen«
(Beschl. v. 23.05.2007, 2 Ws 07/07 [Hervorhebung dort]). Das hatten die Verletzten nicht
verlangt: Die schwerwiegende Entfernung vom Recht sahen sie darin, daß die
Beschuldigten mit ihrem »Kunstgriff« des Verschweigens von Zeugen nicht nur den
Erfolg der Sachrüge vereitelt, sondern zugleich sichergestellt hatten, daß die unerwähnten
Zeugen und deren Bekundungen nicht mit Aussicht auf Erfolg als neue Beweismittel und
eine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr.5 StPO beigebracht werden konnten.
Die Strafkammer war damals mit der jüngeren der beiden unter 1. behandelten Sachen
befaßt und hatte schon die Wiederaufnahme angeordnet.
Zu den Schlußfolgerungen, die sich dem Tatrichter bei dieser Symptomatik aufdrängen
müssen, vgl. BGH StV 2002, 350 (352).
LG Osnabrück, Beschl. v. 03.09.2009, 3 AR/103 Js 3479/04, 4/07.
3 StR 464/04 = StV 2006, 14 – vgl. dazu Fischer, der ausgerechnet diesen Beschluß
beispielgebend für seine Auffassung anführt, der BGH verlange mitnichten eine
Aussageanalyse auf der Basis der Nullhypothese (FS Widmaier [Fn. 38], S. 191 [211 f.]).
Nebenklägerin, auf die Hilfe eines aussagepsychologischen Sachverständigen
zurückzugreifen, zumal der psychiatrische Sachverständige die von ihr berichteten
Selbstverletzungshandlungen eher als Folge eines Mißbrauchsgeschehens im Sinne
einer posttraumatischen Belastungsstörung gedeutet hatte. Die Beweiswürdigung
des Tatrichters weise »jedenfalls keinen Rechtsfehler auf. Das Landgericht hat
dargelegt, dass das von dem Mädchen geschilderte Geschehen zahlreiche
Realitätskennzeichen und zudem Besonderheiten aufweist, die eine falsche Aussage
ausgeschlossen erscheinen lassen. Ihre Angaben stimmen mit tatzeitnah verfassten
E-mail- und SMS-Nachrichten überein und werden zum Randgeschehen, aber auch
zu erlittenen Verletzungen von anderen Beweismitteln bestätigt.«[43]
Verfaßt worden waren die tatzeitnahen E-mails und SMS-Nachrichten sämtlich von
der Nebenklägerin. Nach den Urteilsausführungen hatte sie sich die von ihr
vorgewiesenen Verletzungen teils selbst zugefügt, teils konnte sie sie bei einer der
angeklagten Taten erlitten haben. Der 3. Strafsenat hielt eine unwahre Aussage für
ausgeschlossen, meinte, unter solchen Umständen sei ein aussagepsychologisches
Gutachten überflüssig, weshalb es auf die von der Revision geltend gemachten
Mängel dieses Gutachtens und die Behandlung des präsent gestellten
Sachverständigen nicht ankomme. Die spätere Freisprechung der beiden
Angeklagten durch das LG Lüneburg[44] versuchte die Nebenklägerin durch eine erst
mit dem Schlußvortrag ihrer Vertreterin vorgelegte Totalfälschung eines Attests der
Medizinischen Hochschule Hannover zu verhindern, das ihr die operative Entfernung
eines Ovarialcarzinoms bescheinigte - Ursache der behaupteten Erkrankung sollten
nach den Worten der Nebenklägervertreterin die vom Erstrichter festgestellten Taten
sein. Entstanden waren die Bezichtigungen im Gespräch mit einer von der Stadt
Hannover eingerichteten Beratungsstelle, deren Mitarbeiterin noch in der
Hauptverhandlung des Wiederaufnahmegerichts stolz auf ihre Weiterbildung durch
Fürniß war[45].
Nach der Zulassung der Wiederaufnahme hat das Überwinden der vor allem durch
die OLGe zum Schutz der Rechtskraft errichteten Barrieren[46] entweder eine
spannungsarme Hauptverhandlung oder einen freisprechenden Beschluß des
Wiederaufnahmegerichts gem. § 371 StPO zur Folge: Weil es regelmäßig zu keiner
Revision der Staatsanwaltschaft kommt, bleiben dem BGH Rückläufer erspart. Sie
könnten dessen Strafsenaten vor Augen führen, welche Folgen das Verständnis der
mit der allgemeinen Sachrüge verbundenen Kontrolltiefe für den jeweiligen
Verurteilten hatte[47]. In den vier Beispielsfällen aus der Rechtsprechung des 3.
Strafsenats war die Wiederaufnahme kein Surrogat für das Fehlen der Berufung [48]:
Adition und Probation mußten letztlich leisten, was Aufgabe der Revision gewesen
wäre. Zwar war die Wiederaufnahme jeweils auf der Revision fremde nova i. S. d §
359 Nr. 5 StPO gestützt. Überraschen konnten die neuen Tatsachen und
[43]
[44]
[45]
[46]
[47]
[48]
Vgl. Fn. 42.
Vgl. Fn. 16.
Siehe vorstehend Fn. 23.
Vgl. dazu Peters FS Dünnebier,1982, S. 53 ff.
Zu besorgen steht, daß der 3. Strafsenat es in den dargestellten Fällen aus seiner
damaligen Sicht mit »goldrichtigen Urteilen« zu tun hatte (zu diesem apokryphen
Verwerfungsgrund Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen – eine
empirische Untersuchung der Rechtspraxis, S. 261 f.).
Vgl. KMR-StPO/Eschelbach (Fn. 18), Vorb. § 359 Rn. 18.
Beweismittel indessen niemanden: Stets hatte das erstrichterliche Urteil durch die
Lücken und Widersprüche seiner Gründe den Weg zu den nova gewiesen. Fatal ist
die deliktsspezifische Zurückhaltung des Revisionsgerichts nicht nur für den
Beschwerdeführer. Tatrichter, die das Revisionsgericht nicht fürchten, mögen sich
hier und da ermuntert fühlen, von der Freiheit der Beweiswürdigung noch beherzter
Gebrauch zu machen und Umstände gering zu achten, durch die der Schuldspruch
in Frage gestellt wird[49]. Diese Vermutung wird durch das Schicksal zweier Urteile
des LG Flensburg gestützt, die der neuerdings wieder für Revisionen aus dem Bezirk
des Schleswig-Holsteinischen OLG zuständige 5. Strafsenat kürzlich auf die
Sachrüge der Angeklagten aufgehoben hat:
Im ersten Fall[50] hatte den noch an die Langmut des 3. Strafsenats gewöhnten
Tatrichter nicht beschäftigt, welche Um-stände die Nebenklägerin veranlaßt hatten,
den Angeklagten fast zwölf Jahre nach dessen Trennung von ihrer Mutter
anzuzeigen. Dem Verdacht, sie leide an einer Persönlichkeitsstörung vom
Borderline-Typ, war der Tatrichter nicht nach-gegangen, sondern hatte in
Übereinstimmung mit der aussagepsychologischen Sachverständigen gefunden, die
psychische Auffälligkeit der Zeugin spreche für das Erlebnisbezogene ihrer
Angaben[51]. Im zweiten Fall[52] konnte sich der Tatrichter nicht auf von der
Nebenklägerin unabhängige Beweismittel stützen und hatte sowohl ihren Angaben
entgegenstehende frühere eigene Äußerungen als auch Bekundungen von Zeugen
durch besser bewertete, mit den Feststellungen schlecht verträgliche Erklärungen
der Nebenklägerin für entkräftet gehalten.
XI. Seit die Verständigung im Strafverfahren auch bei Verbrechensvorwürfen eine
gesetzliche Grundlage hat, droht die Zunahme derartiger Erledigungen auch bei
Sachen der hier behandelten Art: Vor die Alternative gestellt, ob er die Vollstreckung
der ihm angedrohten mehrjährigen Freiheitsstrafe ohne jede Vollzugslockerung mit
anschließender Führungsaufsicht und damit die Zerstörung seiner psychischen
Gesundheit, seiner beruflichen Existenz und seiner sozialen Bindungen der
Aussetzung einer entsprechend bemessenen Strafe zur Bewährung als
Gegenleistung für ein auf der Grundlage der Akten zusammengelogenes Geständnis
vorziehen will, wird sich mancher Unschuldige für die Lüge entscheiden[53].
[49]
[50]
[51]
[52]
[53]
Zur Ausschöpfung sich aufdrängender Erkenntnisquellen: Graf-StPO/ Eschelbach,
2010, § 261 Rn. 6 ff.
BGH, Beschl. v. 27.04.2010, 5 StR 127/10.
S. o. Fn. 34, 36.
BGH, Beschl. v. 17. 05. 2010, 5 StR 157/10.
Bernhard M., der jüngere der beiden vom LG Osnabrück Verurteilten, hatte ein
solches »Vergleichsangebot« - Bewährung gegen Rudimentärgeständnis abgelehnt. Hätte er gewußt, was auf ihn zukommt, so hätte er das Angebot
angenommen,
sagte
er
mir
nach
seiner
Freisprechung
im
Wiederaufnahmeverfahren. Die Zerstörung seiner Gesundheit, seiner
Existenzgrundlage und die mit der Vollstreckung und dem Vollzug von Strafe und
Führungsaufsicht verbundene Demütigung werden auch durch die
Rekordsumme nicht aufgewogen, die das Land Niedersachsen wegen des
Versagens von Richtern, Staatsanwälten, Sachverständigen und Polizeibeamten
für die Haftzeit und die durch diese herbeigeführte Berufsunfähigkeit bereits an
ihn hat zahlen müssen und für die Zukunft zahlen muß.
C. Rechtsfrieden kann die Wiederaufnahme nur schaffen, wenn der Respekt vor dem
Opfer auch dem Justizopfer gilt und im erstrichterlichen Verfahren begangene, oft
sogar leicht vermeidbare Fehler nicht mit dem Mantel kollegialer Rücksicht verhüllt
werden[54]. Daß die Strafverfolgung der Verantwortlichen kaum einmal durchsetzbar
sein wird, stellt die Justiz nicht von der Verpflichtung frei, den Ursachen für ihre
Fehlleistungen auf den Grund zu gehen. Sie sollte dazu umso eher imstande sein,
als kein Richter oder Staatsanwalt ernstlich zu fürchten braucht, für ein
Amtsverständnis einstehen zu müssen, das zu einem Fehlurteil geführt hat. Der in
Mode gekommenen Forderung, das Opfer solle »im Mittelpunkt des Strafverfahrens«
stehen[55], kann allein die Wiederaufnahme gerecht werden.
[54]
[55]
Mitunter kann man erleben, daß nach dem Wegfall des Ursprungsopfers die für
das Fehlurteil Verantwortlichen in die erste Reihe der Opfer drängen und
Anteilnahme einfordern.
Basdorf, in: Fahrig, Kleines Strafrichterbrevier, (Hrsg.) Basdorf/Harms/
Mosbacher, 2008, S. 134 — das Wort gilt einem verstorbenen Berliner
Strafkammervorsitzenden. Man darf annehmen, daß in Hauptverhandlungen
unter dessen Vorsitz mögliche Opfer anständig behandelt worden sind. Darauf
hat sogar der falsche Opferzeuge Anspruch — nicht ein-mal die
Hauptverhandlung im Wiederaufnahmeverfahren bietet die Gelegenheit, der ihm
drohenden Sanktion vorzugreifen.
Herunterladen