Beitragstyp: Aufsatz Fundstelle: StV 2010, 705-711 Normen: § 359 StPO, § 244 StPO, § 52 StPO, § 199 StPO, § 153a StPO ... mehr Johann Schwenn „Fehlurteile und ihre Ursachen - die Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs“ Kurzreferat Der Verfasser beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit Fehlurteilen und ihren Ursachen und der Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Einleitend trifft er dazu hauptsächlich allgemeine Aussagen, welche Konsequenzen sich für einen Angeklagten eines Sexualdelikts ergeben, auch wenn dessen Unschuld später im Urteil als erwiesen festgestellt wird. Darauf wird sich näher mit Fehlurteilen und deren Ursachen befasst. Als Ursachen werden dabei die faktische Beseitigung der Unschuldsvermutung und die Belastung des Vorsitzenden des erkennenden Gerichts mit der gerichtlichen Aufklärungspflicht im Strafverfahren genannt. Weiter erläutert der Autor die Fehleranfälligkeit von Strafverfahren, wenn das vermeintliche Opfer Symptome einer psychischen Störung zeigt. Zudem legt der Verfasser dar, dass die Staatsanwaltschaft dazu neigt, in die Rolle einer Partei zu schlüpfen. Problematisch sei weiter, dass mögliche Missbrauchsopfer zu einer Nebenklage berechtigt sind und im selben Umfang wie der Verteidiger das Recht zu einer Akteneinsicht haben. Aufgrund der Aktenkenntnis entstehe häufig bei deren Aussagen ohne Bedenken der Eindruck der Glaubwürdigkeit. Darauf folgend werden einige Beispiele für die Entstehung von Fehleinschätzungen angebracht. Der Autor kommt letztendlich zu dem Ergebnis, dass den Ursachen für Fehlleistungen auf den Grund zu gehen ist. Fehlurteile und ihre Ursachen - die Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Johann Schwenn, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Hamburg[1] A. Wer für einen als Sexualtäter Verurteilten die Wiederaufnahme in Angriff nimmt, legt sich mit dem Zeitgeist an. Schon der bloße Verdacht, jemand habe das Recht eines anderen auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt, macht ihn in den Augen der Öffentlichkeit zum Täter. Bei keinem anderen Straftat-bestand ist die Bereitschaft zum Vorurteil so groß, die Unschuldsvermutung so unpopulär. In den inzwischen mehr als dreißig Jahren eigener Erfahrung mit dem Strafprozeß hat sich die Haltung der Gesellschaft gegenüber Personen, die sich als Opfer eines Sexualdelikts vorstellen, grundlegend geändert: Waren Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte früher oft geneigt, solche Vorwürfe schon beim Fehlen eindeutiger Tatspuren als erfunden zu betrachten, bei deren Vorhandensein Ein-vernehmen zu unterstellen [1] Der Beitrag beruht auf zwei vom Verf anläßlich der Frühjahrstagung 2009 der Evangelischen Akademie Arnoldshain »Das Fehlurteil im Strafverfahren – unabwendbares Schicksal oder korrigierbarer Irrtum?« und der 10. Veranstaltung des Arbeitskreises »Psychologie im Strafverfahren« am 07.11.2009 gehaltenen Vorträgen. oder dem Beschuldigten abzunehmen, er habe Widerstand für Zustimmung gehalten, so bedeutet heutzutage schon der Haftbefehl das soziale Aus für den Verdächtigen. Nicht einmal die im späteren Urteil getroffene überschießende Feststellung, die Unschuld des Angeklagten sei erwiesen[2], kann daran etwas ändern. Nach dem Eintritt der Rechtskraft ist die Lage des Verurteilten sogar dann hoffnungslos, wenn schon die schriftlichen Urteilsgründe verraten, daß kaum alles zur Wahrheitsfindung Nötige getan worden sein kann. Zwar bleibt die Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet und muß deshalb auch zugunsten des Verurteilten die Wiederaufnahme betreiben, wenn bessere Erkenntnisse für dessen Unschuld sprechen und zugleich einen Wiederaufnahmegrund hergeben. Aber diese Verpflichtung gilt schon allgemein nicht viel. Warum sollte der Staatsanwalt es gerade angesichts eines rechtskräftigen Urteils wegen eines Sexualdelikts anders halten? Der alte Verteidiger, oft mitverantwortlich für das Urteil, findet den Mandanten lästig und behandelt ihn auch so, ein neuer ist schwer zu gewinnen [3] und muß ohne die Hilfe der Ermittlungsbehörden sehen, wie er Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr.5 StPO belegt und also neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Verurteilten zu begründen geeignet sind[4]. B. Die Dunkelziffer unentdeckter Sexualdelikte mag hoch sein. Hoch ist jedenfalls die Dunkelziffer unentdeckter Fehlurteile. An der Gleichartigkeit der Fehlerquellen erkannter Fehlurteile zeigt sich, daß man es weder mit untypischen Einzelfällen noch mit unvermeidbaren Mißgriffen zu tun hat, die mit dem Euphemismus »Justizirrtum« zutreffend gekennzeichnet wären. Besonders unangebracht ist dies Etikett angesichts »unechter« nova – solchen Tatsachen und Beweismitteln also, auf die der Erstrichter gestoßen wäre, hätte er sich nur von dem mit dem Eröffnungsbeschluß stets verbundenen Vorurteil frei gemacht. War das Gericht durch die Aktenlage dazu verleitet worden, dem aussagebereiten Angeklagten ein Geständnis nahezulegen, ohne ihn zuvor im Zusammenhang zu hören und einen Eindruck von ihm zu gewinnen[5], so wird es sich später kaum bereit finden, von der frühen Festlegung abzurücken. Solche Beobachtungen mögen das Desinteresse von Gerichten, Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, nicht aber das der [2] [3] [4] [5] S. dazu: Krack, Die Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, 2002, S. 90 ff. Die Kontamination durch Mandate der hier behandelten Art wird gefürchtet. Mancher Rechtsanwalt hält sich sogar öffentlich etwas darauf zugute, niemandem beizustehen, der einschlägiger Straftaten auch nur beschuldigt wird. Als Verteidiger auftretende Hochschullehrer setzen in dieser Rolle ohnehin andere Schwerpunkte: Daß nur lukrative Mandate die erwünschte Wechselwirkung mit Forschung und Lehre erwarten lassen, steht offenbar fest. Durch die Vorschrift alternativ eröffnete Wiederaufnahmeziele (»[...] in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung [...]«) haben für Verfahren der hier behandelten Art keine praktische Bedeutung. Mit dem Opferschutzgedanken ist die verbreitete Praxis nicht zu recht-fertigen. Erklären läßt sie sich nur als Ausdruck übertriebenen Respekts vor der Knappheit der »Ressource Recht« (Die griffige Formel hat an-scheinend Tipke geprägt [in: FS Zeidler, 1987, S. 716 ff. [734]]) oder dem Mangel des Willens, sich Verfahren dieses Typs ergebnisoffen zu widmen. Wissenschaft[6] erklären, Lehren aus dem Ertrag mit Erfolg durchgeführter Wiederaufnahmeverfahren zu ziehen und den Ursachen der Ersturteile auf den Grund zu gehen: Einer Journalistin blieb es überlassen, das Zustandekommen zweier Fehlurteile und deren Rechtskraft zu untersuchen und exemplarisch darzustellen[7]. 1. Eine naheliegende Ursache einschlägiger Fehlurteile ist die faktische Beseitigung der Unschuldsvermutung durch den Opferschutz im tatrichterlichen [8] Erkenntnisverfahren . Zum Nachteil schon des Beschuldigten wirkt sich die Furcht aus, das vermeintliche Opfer zu »reviktimisieren«[9]. Daß schon einer erkennbar ergebnisoffenen Verfahrensgestaltung diese Wirkung zukommen soll, ist in der Hauptverhandlung die unausgesprochene Leitlinie gerade solcher Vorsitzender, die gern ihre langjährige Erfahrung herauskehren und deshalb von einschlägigen Fortbildungsangeboten keinen Gebrauch zu machen pflegen. Mitunter wird der Konflikt der beiden Maximen — Unschuldsvermutung versus Opferschutz — nicht einmal erkannt. So will der Große Senat für Strafsachen des BGH in seinem Beschluß zur Urteilsabsprache in der opferschützenden Teileinstellung oder Verfolgungsbeschränkung und dem damit verbundenen Verzicht auf die Sachaufklärung nur eine Entlastung auch des Angeklagten sehen[10]. Dabei werden auf solchem Wege mitunter gerade Vorwürfe erledigt, deren Prüfung den Tatrichter an der Berechtigung der verbliebenen hätte zweifeln lassen müssen[11]. II. Mit der Erfüllung der gerichtlichen Aufklärungspflicht ist im Strafverfahren vor allem der Vorsitzende des erkennenden Gerichts belastet: Er entscheidet, welche Beweismittel das Gericht nutzen will, er befragt als erster Angeklagte, Zeugen und Sachverständige, er leitet die Verhandlung und hat außerdem sicherzustellen, daß deren Ergebnis gerichtsintern so sorgfältig erfaßt wird, daß die Erinnerung an den Verhandlungsinbegriff nicht im Laufe der Hauptverhandlung verloren geht. Denn eine vollständige, dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten jederzeit zugängliche Dokumentation des Hauptverhandlungsinhalts sieht das Gesetz ungeachtet des technischen Fortschritts nicht vor[12]. Derart überfordert[13], scheint dem Vorsitzenden [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] S. allerdings Eisenberg FS Amelung, 2009, S. 585 ff., und Eschelbach FS Stöckel, 2010, S.199 ff. Rücken, Unrecht im Namen des Volkes, 2007 – weder an den beiden von der Autorin behandelten noch an einem der nachstehend dargestellten Verfahren war der Verf vor dem Eintritt der Rechtskraft beteiligt. Vgl. BGHSt 50, 40 = StV 2005, 311; BGH StraFo 2006, 497; BGHR StPO § 241 Abs. 2 Zurückweisung 12 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Zeugenvernehmung 17. Sogar nach der Aufhebung der Feststellungen belasten die Strafsenate des BGH Entscheidungsgründe neuerdings mit der suggestiven Benennung des bloß möglichen Opfers als der »Geschädigten«. Daß auch der Gesetzgeber seit jeher dem bloß möglichen Verletzten diesen Status schon bei der Benennung seiner Verfahrensrolle zuweist, wird offenbar als Einladung begriffen, diese Suggestion durch eigene Schöpfungen zu variieren. Auch das Modewort »Opferzeugin« gehört in diese Kategorie. Vgl. BGHSt 50, 40 (55) = StV 2005, 311; BGH, Beschl. v. 11.01.2005, 1 StR 498/04. Zu dieser Fallgruppe siehe BGHSt 44, 153 (160) = StV 1998, 580. Bei dem über seine Notizen gebeugten Vorsitzenden – oder Berichterstatter – hat man es mit einer vermeidbaren Variante des blinden Richters zu tun (vgl. BGHSt 34, 236 = StV 1987, 90; 35, 164 = StV 1988, 191). Wie sich die Bindung des Tatrichters an den Inbegriff der Hauptverhandlung einschließlich ihres mit der Verpflichtung, die Hauptverhandlung nun auch noch dem Opferschutz dienstbar zu machen, mehr aufgebürdet zu werden als einem einzelnen zugemutet werden kann. Der Vorrang des Opferschutzes vor der Unschuldsvermutung geht stets mit der Aufgabe der professionellen Distanz des Gerichts zum vermeintlichen Opfer einher: In einer im späteren Wiederaufnahmeverfahren durch Freisprechung im Beschlußwege erledigten Sache wollte die vor dem Gerichtsgebäude im Auto ihres Freundes sitzende Nebenklägerin ihre als Zeugin geladene Therapeutin für Bekundungen zu der Frage, ob sie in der Therapie auch von sexuellen Übergriffen anderer Personen als des Angeklagten berichtet habe, nur für eine Aussage in dessen Abwesenheit von der Verschwiegenheitspflicht entbinden. Der Vorsitzende der Jugendkammer begab sich zu dem Wagen und redete der Nebenklägerin im Beisein ihrer Vertreterin, ihrer Mutter, ihres Freundes und der Therapeutin gut zu. Darauf entband die Nebenklägerin die Therapeutin vollen Umfanges von der Schweigepflicht und sagte entgegen ihrer bei dieser Gelegenheit erklärten Absicht an einem späteren Hauptverhandlungstermin sogar selbst weiter aus. Das Gericht enttäuschte sie nicht, glaubte ihr jedes Wort und verurteilte den Angeklagten [14]. In Schleswig-Holstein ist die gefährliche Nähe durch das vom dortigen Generalstaatsanwalt verantwortete Zeugenbegleitprogramm sogar zu einer Variante des Betreuungsstandards erhoben worden: Um dem Opfer die Angst vor der Hauptverhandlung zu nehmen, soll die Begleitperson nicht nur die Besichtigung des Gerichtssaals organisieren, sondern auch »evtl. Kontakt zum(r) Vorsitzenden Richter(in) herstellen«[15]. III. Besonders fehleranfällig ist das Strafverfahren, wenn das vermeintliche Opfer Symptome einer psychischen Störung zeigt und diese Besonderheit mit der Gestaltung »Aussage gegen Aussage« zusammentritt. Sie erhöht die Gefahr, daß die Störung nicht als Ursache der Vorwürfe erkannt, sondern als Folge der Tat mißdeutet wird. Hat das Gericht einen psychiatrischen Sachverständigen hinzugezogen, der sein Gutachten an der ihm durch die dem Eröffnungsbeschluß innewohnende Verurteilungsprognose deutlich gemachten Erwartung des Gerichts orientiert, so wird das Verwechseln von Ursache und Wirkung noch wahrscheinlicher. Solche Sachverständigen sind geneigt, Warnsignale zu mißachten und Auffälligkeiten im Verhalten der Belastungszeugin als Tatfolgen zu erklären. So verhielt es sich in einem Verfahren des LG Hannover, dessen Urteil im Wiederaufnahmeverfahren unter Freisprechung der beiden Angeklagten aufgehoben worden ist[16]. Der vom Erstrichter für sachverständig gehaltene Psychiater hatte die Nebenklägerin im Beisein ihrer Betreuerin untersucht, war der Ansicht. die vorgefundene Borderline-Symptomatik stelle die Aussagetüchtigkeit nicht in Frage[17] [13] [14] [15] [16] [17] nonverbalen Inhalts (vgl. BGHSt 35, 164 [167 f.] = StV 1988, 191) mit der Notwendigkeit vertragen soll, die Verlautbarungen der Beteiligten auch nur halbwegs zuverlässig fest-zuhalten, bleibt eine offene Frage. Zu diesem Aspekt siehe auch Salditt StraFo 1990, 54 (59). LG Oldenburg, Urt. v. 19.05.2005, 6 KLs 16/04 (siehe nachstehend X.II.). www.schleswigholstein.de/MJGI/DE/Justiz/DaslstIhrRecht/Zeugen/PDF/Zeugenbegleitprogramm Sexueller Mißbrauch.html. LG Lüneburg, Urt. v. 08.09.2010, 20 Kls/1304 Js 10340/09 (5/09) – siehe nachstehend IX. und X.3. Vgl. BGH StV 2002, 350 (352); NStZ 2010, 100; s. auch Urt. v. 12.08.2010, 2 StR 185/10. und stützte sein Gutachten, die Nebenklägerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung auf den – ihm, dem Erstrichter und dem Revisionsgericht verborgen gebliebenen – Kreisschluß, die Angeklagten hätten die ihnen vorgeworfenen Taten begangen. Solchen Mängeln eines Sachverständigengutachtens ist mit der Wiederaufnahme beizukommen. Im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO neu oder geeignet[18], die Freisprechung des Angeklagten herbeizuführen, ist das beigebrachte Gutachten ja nur, wenn auch der Erstrichter zur Vernehmung eines weiteren Sachverständigen verpflichtet gewesen wäre: War das Gutachten des vom Erstrichter gehörten Sachverständigen nicht durch einen oder mehrere der in § 244 Abs. 4 StPO bezeichneten Mängel beeinträchtigt oder beruht das von dem Verurteilten bei-gebrachte Gutachten nicht auf dem Einsatz überlegener Forschungsmittel, so kann er sich darauf nur berufen, wenn ein anderes novum dem früher entgegengenommenen mindestens einen Teil seiner Grundlage entzogen hat. IV. Auf der Gewißheit des Richters, die Beurteilung der Glaubwürdigkeit sei seine »Domäne«[19] beruht die Geringschätzung des aussagepsychologischen Sachverständigen manchmal sogar angesichts besonderer Umstände in der Person des Zeugen. Zu der Fehlhaltung haben Psychologen ihren Teil beigetragen: Die bedrückende Erkenntnis, angesichts der Mittellosigkeit vieler einschlägig Beschuldigter von Aufträgen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft abhängig zu sein, scheint verbreitet zu einer mehr oder minder bewußten Tendenz zu führen, diese Auftraggeber nicht allzu oft zu enttäuschen. Auch der forensische Psychologe weiß ja nach dem Eröffnungsbeschluß, wo die Reise hingehen soll. V. Vorwürfe der hier behandelten Tat führen bei manchen Staatsanwaltschaften zu dem Mißverständnis, ihre Verfahrens-rolle sei jedenfalls nach der Anklageerhebung die einer Partei. Dabei wird mitunter nicht nur das Prozeßrecht verletzt: So entschloß sich die StA Hannover mit der Billigung ihres Behördenleiters in einer Sache, in der die beiden Angeklagten, der Vater der Nebenklägerin und ein Bekannter der Familie, im Jahre 2004 jeweils wegen mehrfacher Vergewaltigung zu lang-jährigen Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt worden waren, eine Aussage der Nebenklägerin, die diese im Herbst 2004 noch vor der Entscheidung über die Revision gegenüber dem Sonderdezernenten gemacht hatte, entgegen § 199 Abs. 2 S.2 StPO den Akten und damit dem BGH und den Verteidigern vorzuenthalten. Darin hatte die Nebenklägerin ihre dem Bekannten ihrer Familie angelastete Defloration nicht existierenden Tätern zugeschrieben, gegen die sie weitere monströse Bezichtigungen erhoben hatte. Weil sie sich nach Angaben ihrer Vertreterin zu sehr fürchtete, stand sie danach der StA Hannover für ergänzende Angaben nicht mehr zur Verfügung, wohl aber der [18] [19] Zum Streitstand s. BGHSt 39, 75 (83 f.); HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (382) m. Anm. Gössel; Meyer-Goßner, 53. Aufl. 2010, § 359 Rn. 35; KK-StPO/Schmidt, 6. Aufl. 2008, § 359 Rn. 26; dagegen KMR-StPO/ Eschelbach, Stand: 20. Lfg. § 359 Rn. 174. Nack StV 1994, 555 (555) – »Domäne des Tatrichters« ist die Würdigung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ja nicht etwa, weil dem Richter überlegenes Fachwissen zu Gebote stünde. Anders als der Sachverständige, dessen Analyse auf die jeweilige Aussage und ihr immanente Umstände beschränkt bleibt, ob-liegt dem Richter eine Gesamtwürdigung, die dem Inbegriff der Hauptverhandlung gilt und deshalb auch solche Tatsachen einzubeziehen hat, die auf den Angaben des Angeklagten und dem übrigen Ertrag der Hauptverhandlung beruhen können (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 29). Jugendzeitschrift »Bravo«: Trotz der angeblichen Sorge um ihre Sicherheit war die inzwischen neunzehn Jahre alte Nebenklägerin bereit, für verschiedene Fotos ohne optische Anonymisierung zu posieren. Sogar der Umstand, daß man es mit einem Verfahren aus Hannover zu tun hatte, war auf einem der Bilder deutlich zu erkennen. Beanstandet hatten beide Beschwerdeführer vor allem das unwürdige Verfahren des Tatrichters mit dem präsent gestellten aussagepsychologischen Sachverständigen. Das LG Hannover hatte ihn so lange nicht zu Wort kommen lassen, bis dem Bekannten des Vaters der Nebenklägerin die Mittel ausgegangen waren, um die Präsenz des Sachverständigen, eines auch vom BGH geachteten Hochschullehrers, sicherzustellen[20] In diesem Zusammenhang hatten die Beschwerdeführer vorgebracht, das Gutachten der im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft ausgewählten Aussagepsychologin genüge nicht den Anforderungen des 1. Strafsenats [21] an eine wissenschaftliche Aussageanalyse. Im Januar 2008 deckte die StA Hannover in einem weiteren, wiederum allein auf Bezichtigungen dieser Nebenklägerin gegen ihren Vater eingeleiteten Verfahren nach dem Beginn der Hauptverhandlung die von ihr verschwiegene Aussage und das dazu Ermittelte auf. Dieser Umstand veranlaßte die Nebenklägerin zu einer Kehrtwende. Nun berief sie sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Auch auf Antrag ihrer Vertreterin wurde der Angeklagte freigesprochen. Die gegen ihn in der rechtskräftig erledigten Sache verhängte Strafe war längst vollständig vollstreckt worden. Erst nach fünfeinhalb Jahren Freiheitsentzug – im Juni 2009 – wurde der zu einer Ge samtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und acht Monaten verurteilte Bekannte der Familie der Nebenklägerin freigelassen. Auf die auch für sie erkennbar bevorstehende Vollstreckungsunterbrechung durch das Wiederaufnahmegericht war die StA Hannover nicht eingerichtet: Als der Beschluß nach § 360 Abs. 2 StPO bei ihr einging, war diese Behörde durch einen Betriebsausflug in Anspruch genommen. Nur mit Mühe war der zurück-gelassenen und entsprechend verstimmten »Stallwache« zu vermitteln, daß die Vollstreckungsbehörde die – von der für das Wiederaufnahmeverfahren zuständigen StA Lüneburg nicht an-gefochtene – Entscheidung ohne Verzug umzusetzen hatte. Zu-vor war das Wiederaufnahmeverfahren von der StA Hannover durch zögerliches Übersenden der Akten und eine bemerkenswert abwegige Stellungnahme gegenüber dem Wiederaufnahmegericht belastet worden[22]. [20] [21] [22] In seinem die wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten betreffenden Urteil v. 30.07.1999 hat sich der 1. Strafsenat auf eine Veröffentlichung des Sachverständigen berufen (s. BGHSt 45, 164 [168, 173] = StV 1999, 473 m. Hw. auf MschrKrim 1997, S. 290; vgl. auch BGH, Urt. v. 14. 05.2002, 1 StR 46/02). Zu den Anforderungen an die Würdigung möglichen Wiedererkennens des Angeklagten durch Zeugen weisen BVerfG und BGH auf die Ergebnisse der Forschungen dieses Sachverständigen hin (BVerfG StV 2003, 591; BGHR StPO § 261 Identifizierung 13; BGH StV 1995, 452 [453]). In BGHSt 45, 164 = StV 1999, 473. Die Kritiker der geltenden Fassung des § 140 a GVG sollte die Verfahrensgeschichte auch deshalb interessieren, weil sie den vermißten Beweis für den Vorwurf einer »gewissen Solidarisierung« erbringt (ERGVG/Franke, 25. Aufl. 1997, Vorb. § 140 a Rn. 1); zum Widerstand von Richtern und Staatsanwälten während des Gesetzgebungsverfahrens Krägeloh NJW 1975, 137 (138). Nicht nur dies Beispiel zeigt, daß die Regel »Je katholischer die Region, desto verbohrter deren Staatsanwaltschaft« nicht etwa bedeutet, daß sich der Unschuldige im evangelisch geprägten Norden seiner Freisprechung vom Mißbrauchsvorwurf stets sicher sein kann. So bedurfte es in einem Verfahren des LG Flensburg – nach vergeblichen Anstrengungen im Zwischenverfahren – eines Beschlagnahmeantrages in der Hauptverhandlung, um Jugendkammer und Staatsanwaltschaft für von einer Zeugin mitgeführte Unterlagen der örtlichen Beratungsstelle »Wagemut« und der durch die Nebenklägerin von ihrer Schweigepflicht entbundenen Therapeutin zu interessieren und deren Mitwirkung am Entstehen der – einzigen – Belastungsaussage nachzuweisen[23] Erst auf diesem Wege kam her-aus, daß die Nebenklägerin vor ihrer Strafanzeige bei der StA Flensburg ein auch auf das Sonderdezernat Sexualdelikte aus-gedehntes »berufsorientierendes Praktikum« absolviert hatte, ohne daß dort festgehalten worden war, zu welchen Vorgängen sie Zugang hatte. Nicht nur bei der StA Flensburg eint die meist weiblichen Sonderdezernenten der unerschütterliche Glaube an die Wahrheit des Mißbrauchsvorwurfs, der offenbar – neben der Verbundenheit mit durch das Zuweisen von Geldauflagen gem. § 153 a Abs. 1 Nr. 2 StPO unterhaltenen »Beratungsstellen« wie Wildwasser, Zartbitter, Allerleirauh, Wagemut oder Violetta – als Qualifikationsausweis genügt[24]. VI. Werden Mitarbeiterinnen der genannten Vereine in der Hauptverhandlung vernommen, so wird regelmäßig deutlich, daß die belastende Aussage durch deren Hilfe erstmals Kontur erhalten hat. Bei ihnen bekommen die Rat- und Hilfesuchenden Literatur in die Hand wie etwa den Bestseller »Trotz Allem« [25]. Das vulgärfeministische Werk enthält eine – neuerdings halbwegs camouflierte – Anleitung zum Erfinden von Realkennzeichen und wird zum Aushebeln dieses Kontrollkriteriums der wissenschaftlichen Aussageanalyse eingesetzt [26]. In den Vorauflagen werden die »Schreibübungen« für erfolgreiches Lügen noch unverhohlen dargeboten: »In Wirklichkeit erinnerst du dich an den Lichtschein auf der Treppe, an den Schlafanzug, den du anhattest, den Geruch nach Alkohol in seinem Atem, das [23] [24] [25] [26] Dabei ergab sich, daß die Therapeutin durch den das Suggerieren von Aussagen propagierenden Fürniß »fortgebildet« worden war – zu dessen Vorgehen bei der Begutachtung vgl. Scholz/Endres NStZ 1995, 6 (9 f.) und Scholz StV 2004, 104 (106): »Dann und wann konfrontieren Interviewer die Zeugen mit Vermutungen und Eventualitäten. In Mißbrauchsfällen befragten beispielsweise parteilich engagierte Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater Kinder, was passiert sein <könnte<. Dabei wird dem Zeugen mitunter gesagt, daß ein anderes Kind dieses oder jenes gesagt habe, daß aber die Sache selbst als ein Geheimnis behandelt werden müsse.«; zum Wirken F.'s und dessen Folgen siehe auch Salditt StV 2002, 273 (274). Die spezifische Voreingenommenheit spiegelt sich auch in der Dissertation Jägers (Das staatsanwaltschaftliche Sonderdezernat »Gewalt gegen Frauen« – Erfahrungen aus Strafverfahren wegen sexualbezogener Gewaltkriminalität gegen Frauen; eine empirische Untersuchung bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth). Dessen wiederholte Gegenüberstellung von »Tatverdächtigem und Opfer« (s. nur a. a. 0., 5.103) nötigt zu dem Schluß, die Opfereigenschaft in dieser Rolle auftretender Zeuginnen sei für die Gewährspersonen des Autors eine unumstößliche Tatsache. Bass/Davis, Trotz Allem, 15. Aufl. 2009. Bass/Davis (Fn. 25), S.136 ff. Gefühl der Steine zwischen deinen Schultern, als du auf den Kies geworfen wurdest, dieses furchtbar leise Lachen, du hörst, wie unten im Wohnzimmer der Fernseher läuft (...). Schaff den Kontext noch einmal neu, die Situation, in der Missbrauch geschah (...).«[27] VII. Einfluß auf die Präsentation der Aussage droht überdies durch sinistre Therapien: Ungeachtet der Lehren des Montessori-Prozesses wird vermeintlichen Opfern immer noch mit suggestivem Vorgehen nach Fürniß, dem so genannten EMDR-Verfahren nach Reddemann und neuerdings vermehrt mit Traumatherapien zu Leibe gerückt. Deren Verfechtern bietet das Mißbrauchsthema ein ideales Betätigungsfeld, um mit dem »interessengesteuerten Modekonstrukt« [28] der posttraumatischen Belastungsstörung auf Kundenfang zu gehen. Erstes Ziel solcher Therapien ist das Annehmen der Opferrolle. Daß damit zwangsläufig das kontrollierte Einüben einer beeindruckenden Selbstdarstellung verbunden ist, wird oft erst im Wiederaufnahmeverfahren erkannt und mitunter auch vom Wiederaufnahmegericht alsbald wieder vergessen[29]. VIII. Im Wirken eines neuen Anwaltstypus, des wiederum meist weiblichen und in seiner strafrechtlichen Praxis auf diese Funktion beschränkten Opferanwalts, begegnet uns eine weitere, zu Zeiten von Karl Peters noch unbekannte Fehlerquelle im Strafprozeß von erheblicher Gefährlichkeit: Mögliche Mißbrauchsopfer sind zur Nebenklage und deshalb auch dazu berechtigt, sich in dieser Eigenschaft vertreten zu lassen. Weil Nebenklägervertreter/innen Anspruch auf Akteneinsicht im selben Umfange wie der Verteidiger haben, läßt sich kaum ein-mal ausschließen, daß die Aktenkenntnis zur Sicherung der Aussagekontinuität genutzt wird, aus der das erkennende Gericht später ein Glaubwürdigkeitsmerkmal ableitet. Auch das Einstreuen erfundener Realkennzeichen in ihre Aussage gelingt vertretenen Zeuginnen verdächtig oft besser als solchen ohne Beistand dieses Typs[30]. Den unerwarteten Anforderungen der Wiederaufnahme sind Opferanwälte/innen dagegen kaum einmal gewachsen und versagen vielfach gerade dann, wenn ihr Schützling den Beistand bitter nötig hat: Waren sie für das frühere Urteil mitverantwortlich, so sind sie schon deshalb außerstande, die Wiederaufnahme als Gelegenheit zu begreifen, den Beitrag des Beratungsumfeldes und der Strafverfolgungsbehörden zum Festhalten des vermeintlichen Opfers an falschen Angaben geltend zu machen und damit zu verhindern, daß später allein das Scheinopfer die Zeche zahlt. Die andere Strategievariante ist die Kombination von Zeugnisverweigerung und Aufrechterhalten der Nebenklage – ein Aussageverhalten von besonderer Verschlagenheit[31]. [27] [28] [29] [30] [31] Bass/Davis, Trotz Allem, 12. Aufl. 2004, S. 75. Dörner in: Trauma und Berufskrankheit, 2004, S. 327; zum inflationären Umgang mit dem Phänomen und zum Fehlen der Sachverständigeneignung von Traumatherapeuten und -forschem s. Steller NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer, 69 (70 ff.) und Kröber in: Fabian/Nowara (Hrsg.), Neue Wege und Konzepte in der Rechtspsychologie, 2006, S. 53 ff. S. den unter X.2. behandelten Fall. Zum »Zeugencoaching« siehe Deckers StV 2006, 353 (355). Der Sache nach hat es das Gericht mit der larvierten Inanspruchnahme des Auskunftsverweigerungsrechts aus § 55 StPO zu tun. Weil die Wahrnehmung des IX. Als Fehlerquelle kann sich im Wiederaufnahmeverfahren der behandelten Gattung auch der Verteidiger des erstrichterlichen Verfahrens erweisen. Immer wieder unterlassen es Verteidiger, dem Gericht das Erfordernis eines forensischpsychiatrischen und eines aussagepsychologischen Gutachtens nahe zu bringen, durch Fragen an den »Haussachverständigen« von Gericht und Staatsanwaltschaft den Anspruch des Angeklagten auf ein weiteres Gutachten zu begründen oder durch sachgerechten Umgang mit dem Ablehnungsrecht des Angeklagten dafür zu sorgen, daß dessen Revision später die Verletzung dieses Anspruchs mit Erfolg geltend machen kann. Auch die mit der Präsentstellung eines anderen Sachverständigen verbundene Chance wird nur selten genutzt. Eine derartige »Verteidigung« erscheint nicht selten von dem Bestreben beherrscht, Gericht und Staatsanwaltschaft nicht zu verstimmen[32]. X. Namentlich vom 3. Strafsenat des BGH wird die der Revision auch bei den hier interessierenden Tatvorwürfen zugewiesene Aufgabe, innerhalb der ihr durch den Gesetzgeber gezogenen Grenzen die Gerechtigkeit im Einzelfall zu wahren [33], nicht nur abgesprochen, wenn der Beschwerdeführer eine zu deren Durchsetzung geeignete Verfahrensrüge erhoben hat: Auch die mit der allgemeinen Sachrüge verbundene Gelegenheit, dem Verfasser der Revisionsbegründung entgangene tatrichterliche Erörterungsmängel aufzugreifen, bleibt oft ungenutzt. Diese die soziale Funktion der Sachrüge[34] verfehlende Zurückhaltung hat in der Vergangenheit zu einer Mehrzahl von Beschlüssen nach § 349 Abs. 2 StPO geführt, die von einem durch die Grenzen der Revision nicht gerechtfertigten Übermaß an Respekt gegenüber dem Tatrichter beeinflußt zu sein scheinen: 1. So hatte das LG Osnabrück im früheren der beiden von Sabine Rucken entdeckten Fehlurteile[35] seine Überzeugung, die massiven, auf eine [32] [33] [34] [35] Zeugnisverweigerungsrechts nur der Würdigung zu Lasten des Angeklagten entzogen ist (BGHSt 22, 113; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 3; BGH StV 1987, 188; KKStPO/Schoreit [Fn. 18], § 261 Rn. 42), kann diesem evidenten Mißbrauch prozessualer Rechte jeden-falls mit der freien Beweiswürdigung begegnet werden. Eine erwägenswerte Folge wäre die Unzulässigkeit der Nebenklage: Daß Nebenkläger, die ihnen möglichen Beiträge zur Aufklärung des angeklagten Geschehens verweigern, das Verfahren durch ihre weitere Mitwirkung belasten dürfen, ist schwer zu verstehen. Zum Vorbereiten der eigenen Verteidigung ist deren Rolle nicht geschaffen. Einschlägig Beschuldigte setzen bei der Verteidigerwahl offenbar auf die Unschuldsanmutung, die mit dem Fehlen von Sachkunde einhergeht. Vgl. BGHSt 40, 138 (145) = StV 1994, 306; BVerfGE 57, 250 (275); siehe dazu auch KK-StPO/Kuckein (Fn. 18), Vorb. § 333 Rn. 4; LR/Hanack (Fn. 22), Vorb. § 333 Rn. 7; Langner FS Meyer-Goßner, 2001, S. 497 (504). Neben dem Amtsermittlungsgrundsatz gibt die vom Grad der Vertrautheit des Verfassers der Revisionsbegründung mit dem Verfahrensrecht unabhängige Sachrüge auch dem Mittellosen die Chance, nicht Opfer eines rechtskräftigen Fehlurteils zu werden. Daß der an einen inkompetenten Tatrichter geratene Unschuldige erst in der Wiederaufnahme zu seinem Recht kommen soll, läßt sich mit dem Wesen der Revision als Rechtsbeschwerde allein nicht erklären. LG Osnabrück, Urt. v. 31. 03. 1995, 17 Js 36603/94 20 KLs (III 9/95) und v. 29.01. 1996, 15 Js 11659/95 20 Kls (III 30/95); die Verurteilten wurden jeweils in getrennten Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen, weil ihre Unschuld erwiesen war (vgl. dazu LG Oldenburg, Beschl. v. 02.10.2006, 6 KLs 16/06 und Urt. v. 14.12.2005, 6 KLs 2/04). Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ deuten-den Auffälligkeiten der einzigen Belastungszeugin seien die Folge der von ihr behaupteten Taten und nicht die Ursache der Vorwürfe. ausweislich der Urteilsausführungen nicht etwa mit Hilfe des Gutachtens eines unabhängigen Sachverständigen, sondern durch die Vernehmung der als Zeugen vernommenen Ärzte der Nebenklägerin gewonnen und diesen – auch noch in der falschen Verfahrensrolle – Gelegenheit zur Mitteilung des nicht bestehenden[36] Erfahrungssatzes gegeben, selbstverletzendes Verhalten lasse sich durch erlittene Mißbrauchshandlungen erklären. Ferner war dem 3. Strafsenat bei beiden Beschlußberatungen[37] ein offensichtlicher Erörterungsmangel entgangen: Die Nebenklägerin wollte versucht haben, ihren Vater von einer der insgesamt zehn Vergewaltigungen mit der Lüge abzuhalten, die letzte – neunzehn Monate zurückliegende – Tat habe zu einer Schwangerschaft geführt, worauf ihr Vater einen Abtreibungsversuch mit einem Kleiderbügel unternommen habe. Weitere Taten hatte die Strafkammer weder festgestellt noch auch nur für möglich gehalten. Den Mangel der Erörterung, wie sich der angenommene Beweggrund für diese Körperverletzung mit den zur Person dieses nicht etwa minder-begabten Angeklagten getroffenen Feststellungen vertragen sollte, erkannte der 3. Strafsenat nicht als den Bestand des Schuldspruchs gefährdenden sachlich-rechtlichen Fehler. In ihrem auf den Angaben derselben Nebenklägerin beruhen-den späteren Urteil gegen deren Onkel hatte dieselbe Strafkammer des LG Osnabrück überdies die Mitteilung vermieden, was der von ihr gehörte rechtsmedizinische Sachverständige zur Vereinbarkeit des nach einer Vielzahl angeblich von ihr erlittener Vergewaltigungen durch zwei verschiedene Männer erhalten gebliebenen (!) Hymens der Nebenklägerin mit den übrigen Feststellungen ausgeführt hatte. Im Urteil wiedergegeben waren lediglich die Ausführungen dieses Sachverständigen zu der Frage, ob nach dem behaupteten Manipulieren mit einem Kleiderbügel durch den Vater bleibende Narben im Scheidengewebe zu erwarten gewesen wären. Die Zurückhaltung des 3. Strafsenats galt einem Tatrichter, dessen Respekt vor dem Revisionsgericht nur schwach ausgeprägt war. Daß die Nebenklägerin ihre Aussage während der Ermittlungen in einem Punkt von sich aus berichtigt hätte, konnte die Strafkammer dem Revisionsgericht widerspruchsfrei vermitteln, weil sie die Bekundungen zweier Zeugen verschwiegen hatte, die dazu auch in der [36] [37] Vgl. Beitchman u. a., A review of the long-term effects of child sexual abuse, Child Abuse & Neglect, Vol. 16, S.101 (114 ff.); s. a. Stone in Kernberg-Dulz-Sachsse (Hrsg.), Handbuch der Borderline-Störungen, S. 3 (7 f); Paris, a. a. 0., S. 159 (161 f.); Dulz und Jensen, a. a. 0., S. 167 (168); Dulz, Schreyer und Nadolny: »Wir sind keine Staatsanwälte, die zu investigieren und Tatbestände aufzuklären haben, nicht einmal Rechtsanwälte des Patienten. Wir folgen ihm empathisch, wobei sich dieses mehr auf die Bedeutung des Gesagten für inter- und intrapsychische Prozesse als auf dessen >objektiven< Wahrheitsgehalt bezieht: Wir achten die zwangsläufig subjektiven Erinnerungen sowie die begleiten-den Gefühle und gehen auf sie als persönliche >Wahrheit< des Patienten ein, auch wenn die Situationsschilderung eines Patienten einmal als >abstrus< erscheint« (a. a. 0., S. 483 [491 f.]). Die beiden in der Wiederaufnahme Freigesprochenen waren in zwei verschiedenen Hauptverhandlungen abgeurteilt worden – in den Gründen des später ergangenen Urteils hatte der Erstrichter die Feststellungen des früheren wörtlich wiedergegeben. Hauptverhandlung gehört worden waren. Die Wiedergabe ihrer Bekundungen hätte die Urteilsausführungen mit einem – weiteren – Erörterungsmangel belastet[38]. 2. In einer anderen Sache war der Generalbundesanwalt der auf das Zurückweisen eines auf die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens gerichteten Beweisantrags durch die damals schon mit einem der zuvor dargestellten Wiederaufnahmeverfahren befaßte Jugendkammer des LG Oldenburg[39] aufgebauten Verfahrensrüge mit dem Einwand begegnet, die Sachkunde des Tatrichters überfordernde Besonderheiten lägen nicht vor. Aus dem angefochtenen Urteil ergab sich indessen, daß sich die Nebenklägerin wegen Angst- und Panikattacken, Bulimie und eines Waschzwanges in Behandlung befand und außerdem begonnen hatte, sich Verletzungen an den Armen zuzufügen [40]. Aufgrund des Ergebnisses der Anhörung der im Wiederaufnahmeverfahren beigebrachten Sachverständigen in der Probation ließ die Nebenklägerin durch ihren Vertreter erklären, sie werde von dem ihr wegen Gefahr der Selbstbelastung eröffneten Auskunftsverweigerungsrecht vollen Umfanges Gebrauch machen. Das LG Osnabrück hob das Urteil des Erstrichters auf und sprach den Verurteilten durch Beschluß frei[41]. Auch diese Revision hatte der 3. Strafsenat als offensichtlich unbegründet verworfen. 3. Mit Beschluß v. 09. 08.2005[42] hatte der 3. Strafsenat die einem Urteil des LG Hannover geltende Revision eines der bei-den Angeklagten dem Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend vollen Umfanges verworfen und das angefochtene Urteil auf die des anderen unter Berichtigung des Schuldspruchs nur im Strafausspruch aufgehoben. Dem 3. Strafsenat erschien damals schon fraglich, ob der Tatrichter verpflichtet gewesen wäre, angesichts der als »intelligente Realschülerin« geschilderten, zur Zeit der Hauptverhandlung 17 Jahre alten [38] [39] [40] [41] [42] Es handelt sich um einen besonders krassen Fall des Phänomens »falscher Film« (Begriff bei Nack FS Rieß, 2002, S. 361 [368] – siehe dazu auch Eschelbach FS Widmaier, 2008, 5.137 [131 ff.] und Geipel StraFo 2010, 272 [273 f.]) – gegen den Vorwurf der Rechtsbeugung (vgl. BGHSt 43, 212 [216] = StV 1997, 561) nahm das OLG Oldenburg die Berufsrichter der Strafkammer im Klageerzwingungsverfahren mit dem Hinweis in Schutz, es sei nicht die Aufgabe des Tatrichters, »alle nach den Beweisergebnissen nicht ganz fern liegenden Möglichkeiten der Würdigung umfassend zu erörtern und die Erwägungen, die ihn zu einer bestimmten Überzeugung bewogen haben, in ihrer Gesamtheit in den schriftlichen Urteilsgründen erschöpfend darzustellen« (Beschl. v. 23.05.2007, 2 Ws 07/07 [Hervorhebung dort]). Das hatten die Verletzten nicht verlangt: Die schwerwiegende Entfernung vom Recht sahen sie darin, daß die Beschuldigten mit ihrem »Kunstgriff« des Verschweigens von Zeugen nicht nur den Erfolg der Sachrüge vereitelt, sondern zugleich sichergestellt hatten, daß die unerwähnten Zeugen und deren Bekundungen nicht mit Aussicht auf Erfolg als neue Beweismittel und eine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr.5 StPO beigebracht werden konnten. Die Strafkammer war damals mit der jüngeren der beiden unter 1. behandelten Sachen befaßt und hatte schon die Wiederaufnahme angeordnet. Zu den Schlußfolgerungen, die sich dem Tatrichter bei dieser Symptomatik aufdrängen müssen, vgl. BGH StV 2002, 350 (352). LG Osnabrück, Beschl. v. 03.09.2009, 3 AR/103 Js 3479/04, 4/07. 3 StR 464/04 = StV 2006, 14 – vgl. dazu Fischer, der ausgerechnet diesen Beschluß beispielgebend für seine Auffassung anführt, der BGH verlange mitnichten eine Aussageanalyse auf der Basis der Nullhypothese (FS Widmaier [Fn. 38], S. 191 [211 f.]). Nebenklägerin, auf die Hilfe eines aussagepsychologischen Sachverständigen zurückzugreifen, zumal der psychiatrische Sachverständige die von ihr berichteten Selbstverletzungshandlungen eher als Folge eines Mißbrauchsgeschehens im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung gedeutet hatte. Die Beweiswürdigung des Tatrichters weise »jedenfalls keinen Rechtsfehler auf. Das Landgericht hat dargelegt, dass das von dem Mädchen geschilderte Geschehen zahlreiche Realitätskennzeichen und zudem Besonderheiten aufweist, die eine falsche Aussage ausgeschlossen erscheinen lassen. Ihre Angaben stimmen mit tatzeitnah verfassten E-mail- und SMS-Nachrichten überein und werden zum Randgeschehen, aber auch zu erlittenen Verletzungen von anderen Beweismitteln bestätigt.«[43] Verfaßt worden waren die tatzeitnahen E-mails und SMS-Nachrichten sämtlich von der Nebenklägerin. Nach den Urteilsausführungen hatte sie sich die von ihr vorgewiesenen Verletzungen teils selbst zugefügt, teils konnte sie sie bei einer der angeklagten Taten erlitten haben. Der 3. Strafsenat hielt eine unwahre Aussage für ausgeschlossen, meinte, unter solchen Umständen sei ein aussagepsychologisches Gutachten überflüssig, weshalb es auf die von der Revision geltend gemachten Mängel dieses Gutachtens und die Behandlung des präsent gestellten Sachverständigen nicht ankomme. Die spätere Freisprechung der beiden Angeklagten durch das LG Lüneburg[44] versuchte die Nebenklägerin durch eine erst mit dem Schlußvortrag ihrer Vertreterin vorgelegte Totalfälschung eines Attests der Medizinischen Hochschule Hannover zu verhindern, das ihr die operative Entfernung eines Ovarialcarzinoms bescheinigte - Ursache der behaupteten Erkrankung sollten nach den Worten der Nebenklägervertreterin die vom Erstrichter festgestellten Taten sein. Entstanden waren die Bezichtigungen im Gespräch mit einer von der Stadt Hannover eingerichteten Beratungsstelle, deren Mitarbeiterin noch in der Hauptverhandlung des Wiederaufnahmegerichts stolz auf ihre Weiterbildung durch Fürniß war[45]. Nach der Zulassung der Wiederaufnahme hat das Überwinden der vor allem durch die OLGe zum Schutz der Rechtskraft errichteten Barrieren[46] entweder eine spannungsarme Hauptverhandlung oder einen freisprechenden Beschluß des Wiederaufnahmegerichts gem. § 371 StPO zur Folge: Weil es regelmäßig zu keiner Revision der Staatsanwaltschaft kommt, bleiben dem BGH Rückläufer erspart. Sie könnten dessen Strafsenaten vor Augen führen, welche Folgen das Verständnis der mit der allgemeinen Sachrüge verbundenen Kontrolltiefe für den jeweiligen Verurteilten hatte[47]. In den vier Beispielsfällen aus der Rechtsprechung des 3. Strafsenats war die Wiederaufnahme kein Surrogat für das Fehlen der Berufung [48]: Adition und Probation mußten letztlich leisten, was Aufgabe der Revision gewesen wäre. Zwar war die Wiederaufnahme jeweils auf der Revision fremde nova i. S. d § 359 Nr. 5 StPO gestützt. Überraschen konnten die neuen Tatsachen und [43] [44] [45] [46] [47] [48] Vgl. Fn. 42. Vgl. Fn. 16. Siehe vorstehend Fn. 23. Vgl. dazu Peters FS Dünnebier,1982, S. 53 ff. Zu besorgen steht, daß der 3. Strafsenat es in den dargestellten Fällen aus seiner damaligen Sicht mit »goldrichtigen Urteilen« zu tun hatte (zu diesem apokryphen Verwerfungsgrund Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen – eine empirische Untersuchung der Rechtspraxis, S. 261 f.). Vgl. KMR-StPO/Eschelbach (Fn. 18), Vorb. § 359 Rn. 18. Beweismittel indessen niemanden: Stets hatte das erstrichterliche Urteil durch die Lücken und Widersprüche seiner Gründe den Weg zu den nova gewiesen. Fatal ist die deliktsspezifische Zurückhaltung des Revisionsgerichts nicht nur für den Beschwerdeführer. Tatrichter, die das Revisionsgericht nicht fürchten, mögen sich hier und da ermuntert fühlen, von der Freiheit der Beweiswürdigung noch beherzter Gebrauch zu machen und Umstände gering zu achten, durch die der Schuldspruch in Frage gestellt wird[49]. Diese Vermutung wird durch das Schicksal zweier Urteile des LG Flensburg gestützt, die der neuerdings wieder für Revisionen aus dem Bezirk des Schleswig-Holsteinischen OLG zuständige 5. Strafsenat kürzlich auf die Sachrüge der Angeklagten aufgehoben hat: Im ersten Fall[50] hatte den noch an die Langmut des 3. Strafsenats gewöhnten Tatrichter nicht beschäftigt, welche Um-stände die Nebenklägerin veranlaßt hatten, den Angeklagten fast zwölf Jahre nach dessen Trennung von ihrer Mutter anzuzeigen. Dem Verdacht, sie leide an einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, war der Tatrichter nicht nach-gegangen, sondern hatte in Übereinstimmung mit der aussagepsychologischen Sachverständigen gefunden, die psychische Auffälligkeit der Zeugin spreche für das Erlebnisbezogene ihrer Angaben[51]. Im zweiten Fall[52] konnte sich der Tatrichter nicht auf von der Nebenklägerin unabhängige Beweismittel stützen und hatte sowohl ihren Angaben entgegenstehende frühere eigene Äußerungen als auch Bekundungen von Zeugen durch besser bewertete, mit den Feststellungen schlecht verträgliche Erklärungen der Nebenklägerin für entkräftet gehalten. XI. Seit die Verständigung im Strafverfahren auch bei Verbrechensvorwürfen eine gesetzliche Grundlage hat, droht die Zunahme derartiger Erledigungen auch bei Sachen der hier behandelten Art: Vor die Alternative gestellt, ob er die Vollstreckung der ihm angedrohten mehrjährigen Freiheitsstrafe ohne jede Vollzugslockerung mit anschließender Führungsaufsicht und damit die Zerstörung seiner psychischen Gesundheit, seiner beruflichen Existenz und seiner sozialen Bindungen der Aussetzung einer entsprechend bemessenen Strafe zur Bewährung als Gegenleistung für ein auf der Grundlage der Akten zusammengelogenes Geständnis vorziehen will, wird sich mancher Unschuldige für die Lüge entscheiden[53]. [49] [50] [51] [52] [53] Zur Ausschöpfung sich aufdrängender Erkenntnisquellen: Graf-StPO/ Eschelbach, 2010, § 261 Rn. 6 ff. BGH, Beschl. v. 27.04.2010, 5 StR 127/10. S. o. Fn. 34, 36. BGH, Beschl. v. 17. 05. 2010, 5 StR 157/10. Bernhard M., der jüngere der beiden vom LG Osnabrück Verurteilten, hatte ein solches »Vergleichsangebot« - Bewährung gegen Rudimentärgeständnis abgelehnt. Hätte er gewußt, was auf ihn zukommt, so hätte er das Angebot angenommen, sagte er mir nach seiner Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren. Die Zerstörung seiner Gesundheit, seiner Existenzgrundlage und die mit der Vollstreckung und dem Vollzug von Strafe und Führungsaufsicht verbundene Demütigung werden auch durch die Rekordsumme nicht aufgewogen, die das Land Niedersachsen wegen des Versagens von Richtern, Staatsanwälten, Sachverständigen und Polizeibeamten für die Haftzeit und die durch diese herbeigeführte Berufsunfähigkeit bereits an ihn hat zahlen müssen und für die Zukunft zahlen muß. C. Rechtsfrieden kann die Wiederaufnahme nur schaffen, wenn der Respekt vor dem Opfer auch dem Justizopfer gilt und im erstrichterlichen Verfahren begangene, oft sogar leicht vermeidbare Fehler nicht mit dem Mantel kollegialer Rücksicht verhüllt werden[54]. Daß die Strafverfolgung der Verantwortlichen kaum einmal durchsetzbar sein wird, stellt die Justiz nicht von der Verpflichtung frei, den Ursachen für ihre Fehlleistungen auf den Grund zu gehen. Sie sollte dazu umso eher imstande sein, als kein Richter oder Staatsanwalt ernstlich zu fürchten braucht, für ein Amtsverständnis einstehen zu müssen, das zu einem Fehlurteil geführt hat. Der in Mode gekommenen Forderung, das Opfer solle »im Mittelpunkt des Strafverfahrens« stehen[55], kann allein die Wiederaufnahme gerecht werden. [54] [55] Mitunter kann man erleben, daß nach dem Wegfall des Ursprungsopfers die für das Fehlurteil Verantwortlichen in die erste Reihe der Opfer drängen und Anteilnahme einfordern. Basdorf, in: Fahrig, Kleines Strafrichterbrevier, (Hrsg.) Basdorf/Harms/ Mosbacher, 2008, S. 134 — das Wort gilt einem verstorbenen Berliner Strafkammervorsitzenden. Man darf annehmen, daß in Hauptverhandlungen unter dessen Vorsitz mögliche Opfer anständig behandelt worden sind. Darauf hat sogar der falsche Opferzeuge Anspruch — nicht ein-mal die Hauptverhandlung im Wiederaufnahmeverfahren bietet die Gelegenheit, der ihm drohenden Sanktion vorzugreifen.