FHNW Marco Bassanello Thesenpapier zum Text: Die Öffnung des Schulsystems: Fakt oder Fiktion? Empirische Befunde zum Zusammenhang von Grundschulübertritt und Übergang in die gymnasiale Oberstufe Ein Text von Ulrich Trautwein, Franz Baeriswyl, Oliver Lüdtke und Christian Wandeler im ZfE (Zeitung für Erziehungswissenschaft) aus dem Jahre 2008. „Kein Bildungsgang darf in einer Sackgasse enden. Das Bildungswesen muss so eingerichtet sein, dass der lernende früher gefällte Entscheidungen für dieses oder jenes Bildungsziel korrigieren kann. Es soll grundsätzlich möglich sein, versäumte Chancen einzuholen.“ - Deutscher Bildungsrat 1970 Unter Offenheit im Bildungswesen versteht der Deutsche Bildungsrat 1970 allgemein die Möglichkeit, getroffene Bildungsentscheidungen korrigieren zu können. Insbesondere die nach der Grundschule getroffene Entscheidung sollte aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit und der optimalen Entwicklung revidierbar sein (Köller, Baumert & Schnabel, 1999; Köller et al., 2004; Cortina, Baumert & Leschinski, 2008). Im Artikel von Ulrich Trautwein wird auf die Thematik des Grundschulübertritts und dessen verschiedenen Perspektivmöglichkeiten nach einem Übertritt (in Real-/ Sekundarschule oder Progymnasium) untersucht. In einer Studie im Kanton Freiburg wurden 525 Schülerinnen und Schüler aus „Deutschfreiburger Schulen“ zwischen Ende der Grundschule und dem Übertritt in ein Gymnasium oder alternative Ausbildung, begleitet. Um sich dem Begriff des „Deutschfreiburger Übergangsmodells“ ein gewisses Verständnis zu erlangen, bedarf es einer kurzen Erläuterung, welche ich durch die SKBF (Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung) erhalten habe: Mitte der 1990er Jahre hat der Kanton Freiburg für seine deutschsprachigen Schulen ein neues Modell für den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I entwickelt und eingeführt. Seine Hauptmerkmale: • • • • Standardisierung der Leistungsbeurteilung durch einen zentralisierten Test, der als Vergleichselement zur Übertrittsempfehlung der Primarlehrperson dient Berücksichtigung von Motivation und Arbeitsverhalten in der Übertrittsempfehlung Intensive Einbindung der Eltern bei der Übertrittentscheidung Öffnung des Zugangs zur Sekundarstufe II auch für Schüler aus nicht progymnasialen Zügen der Sekundarstufe I. Eine angelegte Untersuchung zur Evaluation des „Deutschfreiburger Übergangsmodells“ Basel, 26.01.2018 1 FHNW Marco Bassanello von 1999 kam zum Schluss, dass das untersuchte Übergangsmodell die Effekte des familiären Hintergrunds beim Übertritt von der Primarschule in die Sekundarschule relativ gering hält. Der sozioökonomische Hintergrund wirkt sich über die Übertrittsempfehlung von Lehrkräften und Eltern zwar auf den tatsächlichen Übertritt aus; die absoluten Effekte des familiären Hintergrunds fallen jedoch nach Kontrolle der Schulleistung insgesamt vergleichsweise schwach aus. Der eingesetzte Bewertungsbogen, den die Lehrkräfte und die Eltern zusätzlich zu den Noten als Grundlage für die Übergangsempfehlung einsetzen, scheint gegenüber Effekten des familiären Hintergrunds weitgehend resistent zu sein (SKBF, 2006). Zurück zum Artikel von Trautwein et al. Von den in der Studie begleiteten Schülerinnen und Schüler, welche ins Gymnasium übertraten, besuchten 39.7% zunächst die Sekundarschule und nicht das Progymnasium. Gleichzeitig entschieden sich 45.5% von den Schülerinnen und Schüler, welche das Progymnasium besuchten, nicht für das Gymnasium. Also fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, welche ins Gymnasium übertraten kamen aus der allgemeinen Sekundarschul. Im Gegenzug entschieden sich ebenfalls fast die Hälfte der Progymnasiasten gegen das Gymnasium. Dies lässt bereits auf eine Entkopplung des Bildungsgangs deuten. In Anbetracht auf das Deutschfreiburger Modell, können sich dessen angestrebten Hauptmerkmale anhand dieses Studienbefunds bereits wiederfinden. Des Weiteren wurde in der Studie anhand von Regressionanalysen versucht, durch die Prädikatoren Schulleistung, Geschlecht, Mathematikleistung und Deutschleistung auf eine Vorhersage des Übertritts ins Gymnasium zu deuten. Es konnte gezeigt werden, dass auch bei vergleichsweise schwachen Schulleistungen am Ende der Grundschule noch der Sprung ins Gymnasium gelingen kann. Ausserdem ist die Chance, für Progymnasiasten etwa doppelt so hoch, ins Gymnasium zu wechseln, als bei vergleichbaren Schülerinnen und Schüler der allgemeinen Sekundarschule. Zudem konnte gezeigt werden, dass ein günstiger sozialer Hintergrund eines Schülers bzw. einer Schülerin, die Chancen auf ein Gymnasiumsübertritt begünstigt. Anhand dieser Erkenntnisse lässt sich nun fragen, wieso trotzdem fast die Hälfte aller Progymnasiasten schliesslich nicht ins Gymnasium übertreten. Eine Antwort auf diese Frage, lässt sich mit grosser Wahrscheinlichkeit durch die hoch attraktiven Ausbilungsrichtungen im beruflichen Sektor in der Schweiz beantworten. Viele Berufslehren sind heutzutage vor allem in der Schweiz sehr attraktiv ausgerichtet und seit der Einführung der Berufsmatura, welche ebenfalls den Zugang zu Fachhochschulen garantiert, kann diese Entscheidung begünstigt werden. Viele leistungsstarke Jugendliche sehen in diesem Ausbildungsweg offenbar gleichwertige Alternativen zum Besuch eines Gymnasiums. Die zu Beginn dieses Thesenpapers zitierten „Sackgassen“ im Bildungsstem konnten durch die Öffnung des Bildungssystems inzwischen vermindert werden, wie auch anhand dieser Studie gezeigt werden konnte. Basel, 26.01.2018 2 FHNW Marco Bassanello Es gilt jedoch anzumerken, dass diese Erkenntnisse sich nicht ganzheitlich Verallgemeinern lassen, da wir in der Schweiz, wie auch in Deutschland, kantonsweise verschiedene Schulsysteme haben. Trotzdem kann die aus der Studie herausklingenden Erkenntnisse als Beleg dafür heranziehen, dass die Entkopplung an Freiburger Schulen weit vorangeschritten ist. Die Thematik der Öffnung des Bildungssystems ist sehr interessant und aussagekräftig. Es zeigt einen kritischen Bezug zum aktuellen Schulsystem in der Schweiz. Gerade für angehende Lehrpersonen sind diese Erkenntnisse und Problematiken, mit welcher unsere Jugend konfrontiert ist, als sehr aufschlussreich und im Unterricht einer pädagogischen Hochschule von grosser Bedeutung. Basel, 26.01.2018 3