Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Expertise für den EWSA Zivilgesellschaften in den vier östlichen Nachbarstaaten der Europäischen Union (EU) (Autor: Dr. Ernst Piehl, Brüssel/Bordeaux) CESE 1709/2004 (DE) av DE -1INHALTSVERZEICHNIS VORWORT (Karin Alleweldt, Mitglied und Berichterstatterin im EWSA) 3 VORBEMERKUNG des Autors 4 A. 5 EINLEITUNG - B. Ausgangsdokumente des EWSA Begriffserklärung "Zivilgesellschaft" und Anwendung des Begriffs im EWSA Konzentration auf die östlichen Nachbarn der erweiterten EU Hauptfragen und Kernpunkte in den Kurz-Analysen der vier Länder Etappe im langwierigen Transformations- und Integrationsprozess Europas LÄNDERANALYSEN 8 1. 8 RUSSLAND Porträt 1.1 Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage 1.2 Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen 1.3 Arbeitgeber- und Unternehmerverbände sowie informelle Wirtschaftsclans ("Oligarchen") 1.4 Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/NichtRegierungs-Organisationen (NRO) 1.5 Fazit und Ausblick 2. UKRAINE Porträt 2.1 Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage 2.2 Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen 2.3 Arbeitgeberverbände und Unternehmerclans (Oligarchen) 2.4 Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/NichtRegierungs-Organisationen (NRO) 2.5 Fazit und Ausblick 3. WEISSRUSSLAND UND ZIVILGESELLSCHAFT Porträt 3.1 Hintergrund, besondere Bedingungen und aktuelle Lage 3.2 Arbeitnehmerorganisationen/Gewerkschaften 3.3 Arbeitgeberverbände/Organisierte Unternehmerschaft 3.4 Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) als Hoffnungsträger im autoritären Staat mit einem Präsidenten auf Lebenszeit 3.5 Fazit und Ausblick CESE 1709/2004 (DE) av 8 9 11 13 15 22 22 24 26 28 31 38 38 40 42 43 45 .../... -24. C. MOLDAU UND ZIVILGESELLSCHAFT 53 Porträt 4.1 Basisinformationen, Aktueller Überblick und spezifische Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln 4.2 Arbeitnehmerganisationen/Gewerkschaften 4.3 Arbeitgeberverbände und Unternehmensrepräsentanz 4.4 Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) 4.5 Fazit und Ausblick 53 54 56 57 58 GESAMT–KONKLUSIONEN UND ANREGUNGEN 64 1. GESAMT–KONKLUSIONEN 64 1.1 1.2 64 1.3 2. Generell Konklusionen in Bezug auf die organisierte Zivilgesellschaft der Sozialpartner Vergleichende Konklusionen in Bezug auf die NichtRegierungs-Organisationen ANREGUNGEN UND VORSCHLÄGE 65 67 68 ANHANG Abkürzungen 75 Bibliographie 78 Kurz – CV des Autors 84 CESE 1709/2004 (DE) av .../... -3VORWORT Als die EU-Erweiterung vom Mai 2004 nach Jahren der Verhandlungen endlich "beschlossene Sache" war, richtete sich der Blick auf die neuen EU-Nachbarstaaten. Die Grenzen, die wir mit der Erweiterung überwinden, schaffen zugleich neue. Sie reißen andere Grenzregionen und Länder auseinander, die zuvor wirtschaftlich und menschlich miteinander verbunden waren. Diese neuen Grenzen sollten Europa nicht erneut spalten. Mit dieser Zielsetzung begann der EWSA Anfang 2003 seine Arbeit zum Thema "Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn". Es erstaunte mich damals, wie wenig Aufmerksamkeit der EWSA auf Osteuropa richtete. Zu vielen Regionen in der Welt bestehen intensive, sehr fruchtbare Arbeitskontakte. Allein, die unmittelbaren Nachbarstaaten an den neuen EU-Außengrenzen im Osten blieben wenig beachtet. Darin liegt keine Wertung. Ich bin davon überzeugt, dass einzig das Fehlen eines intensiven kulturellen Austausches zwischen diesen Ländern und den alten EU-Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahrzehnten den Grund dafür lieferte. Dies haben wir nun im EWSA geändert, nicht zuletzt weil die Mitglieder aus den neuen EU-Staaten unsere Erfahrungen in dieser Hinsicht bereichert haben. Aus den Gesprächen mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen in Belarus, der Ukraine, der Republik Moldau und der Russischen Föderation im Jahre 2003 und vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Arbeit der neuen Kontaktgruppe "Östliche Nachbarstaaten" des EWSA gaben wir die vorliegende Expertise in Auftrag. Ernst Piehl hat uns als Sachverständiger während der Arbeit zur ersten Stellungnahme zur Verfügung gestanden und es wurde rasch deutlich, dass wir ein aktuelles Kompendium "unserer" Ansprechpartner und der spezifischen Strukturen und Voraussetzungen des sozialen und zivilen Dialogs in den betreffenden Ländern zusammenstellen müssten, als Grundlage für unseren Dialog. Diese Studie sollte kurz sein, informativ, Verständnis füreinander aufbauen und als Einstieg und zur raschen Orientierung dienen. Es ist Ernst Piehl gelungen, dies mit einem Gespür zum Detail und kritischen Bewertungen zu verbinden, die vielleicht nicht jede/r teilt, aber die damit hervorragend zum Nachdenken anregen. Karin Alleweldt CESE 1709/2004 (DE) av Berlin, 25. November 2004 .../... -4VORBEMERKUNG des Autors Diese Expertise soll vorrangig als Information und Diskussionsvorlage für die am 19. Januar 2005 stattfindende Konferenz des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel dienen. Beide Vorhaben des EWSA wollen sowohl zur besseren Kenntnis über "Die Zivilgesellschaften in den östlichen Nachbarländern" als auch zur Vernetzung transnationaler Kontakte unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren beitragen. Damit diese Vorlage rechtzeitig in drei Arbeitssprachen der EU und in die drei Amtssprachen der vier östlichen Nachbarn übersetzt und rechtzeitig den Teilnehmern zugesandt werden konnte, war am 25.11.2004 Redaktionsschluss. So konnte nur noch die Rolle der Zivilgesellschaften beim Beginn der "Orange Revolution" in der Ukraine im Kontext der weichenstellenden Präsidentenwahlen in der Ukraine angedeutet, nicht mehr in all ihren Auswirkungen analysiert werden. Die eingetretenen Ereignisse haben eindrucksvoll bestätigt, welch aktuelles und wichtiges Thema der EWSA lange vor den historischen Ereignissen in der Ukraine gewählt hatte. Mein erster Dank gilt Frau Karin Alleweldt, die als Mitglied im EWSA und Verfasserin der Stellungnahme 2003 die Initiative für das gesamte Unterfangen ergriffen hatte und die auch die Expertise stets mit inhaltlichen Ratschlägen begleitet hat. Gleichermaßen sei Jacques Kemp aus dem Sekretariat des EWSA gedankt, der unermüdlich organisatorisch hilfreich war. In der knapp bemessenen Zeit und auf weitgehend unerforschtem Gelände war technische Unterstützung nötig; für deren freiwillige Bereitstellung in turbulenten Wochen danke ich in alphabetischer Reihenfolge: Ulrike Karbjinski (Berlin), Renate Peltzer (Brüssel), Annie Piehl-Larue (Paris/Brüssel) und Kathrin Renner (Brüssel). Lacanau/Brüssel, 25. November 2004 CESE 1709/2004 (DE) av Ernst Piehl .../... -5A. EINLEITUNG (1) Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat schon frühzeitig aus eigener Initiative begonnen, an der Debatte über die künftige Gestaltung der Beziehungen zu den Ländern teilzunehmen, die nach der Ost-Erweiterung unmittelbar an die EU angrenzen. Seit Mai 2004 hat sich die politische Landkarte in Europa verändert, was auch den EWSA eingeladen hat, die Neuorientierung seiner Außenbeziehungen genauer zu beginnen. Eine Dringlichkeit, auf diese Einladung einzugehen, ergibt sich daraus, dass in Europa keine neuen Mauern errichtet oder Gräben gezogen werden, sondern – im Gegenteil – ein gemeinsamer Raum für wirtschaftliche Entwicklung und für sozialen Fortschritt geschaffen wird. Der Ausschuss sieht seine Rolle in diesem Prozess vor allem als aktiver Mitgestalter, der seine Erfahrungen und Expertise, gewonnen in der Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa (MOEL), sowie seine komplementären Kontakte über die fachliche Arbeit mit den Partnerorganisationen aus der organisierten Zivilgesellschaft der MOEL einbringen möchte. Vor diesem Hintergrund hat der EWSA im Dezember 2003 seine Stellungnahme zu der "Wider Europe"-Mitteilung der Europäischen Kommission (EK) verabschiedet, die sich auf Vorschlag von Frau Karin Alleweldt auf die vier östlichen Nachbarländer konzentriert und die Ergebnisse des Berichts einer Delegationsreise des Ausschusses vom Juli 2003 aufnimmt. Darin wurde beschlossen, über die komplexe Lage der Zivilgesellschaften in den vier östlichen Nachbarländern die nachfolgende Studie in Auftrag zu geben. Diese soll zur inhaltlichen Vorbereitung des ebenfalls beschlossenen Kolloquiums dienen, das am 19. Januar 2005 Mitglieder des EWSA, verantwortliche Repräsentanten der anderen EU-Organe und Vertreter bzw. Experten aus den Zivilgesellschaften der vier östlichen Länder zu einem ersten Kolloquium in Brüssel zusammenführen wird. (2) Der Begriff Zivilgesellschaft hat wie kaum ein anderer in der politischen Diskussion eine wechselvolle Geschichte vorzuweisen: Als "societas civilis", "civil society" oder "société civile" gehört er zu den klassischen Ideengeschichten und fristete in den Jahrzehnten vor dem Sturz des Sowjetimperiums ein Schattendasein in inner-universitären Zirkeln, bevor er sozusagen als Re-Import aus den MOEL in aller Munde geriet. Ausgehend vom Selbstverständnis der Dissidenten- und Oppositionsbewegung im sowjetisch beherrschten Ostmitteleuropa rückte der im Westen dieser Jahre fast vergessene Begriff der "societas civilis" ins Zentrum der konzeptionell-theoretischen Diskurse wie auch der politischpraktischen Auseinandersetzungen. In den Debatten der demokratischen Opposition zu den autoritären Systemen unter Führung der Kommunistischen Partei (KP) schwankte der Begriff zwischen einem Synonym für die Werte einer "Demokratie von unten", für eine marktwirtschaftliche Orientierung bei rechtsstaatlicher Garantie der Freiheit des Individuums und für eine politische Strategie zur Bildung gesellschaftlicher Gegenmacht. So wurde der Begriff um CESE 1709/2004 (DE) av .../... -61989/90 zum "Fokus gesellschaftlicher Gegenidentität"1 und bekam mehr oder weniger Bedeutung für die Oppositionsbewegungen in allen vormals sowjetisch beherrschten Ländern. So wurde der Begriff Zivilgesellschaft auch zu einer Chiffre für die erstrebte "Rückkehr nach Europa", insbesondere in den baltischen Republiken, in Polen und in der (West-)Ukraine. (3) Freilich trug die Fülle der Bedeutungen des Begriffes bzw. seine beliebige Benutzung dazu bei, dass er in den postkommunistischen Auseinandersetzungen in den MOEL bald seine Orientierungsfunktion verliert. Dagegen wird er gleichzeitig in den (späten) neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts (wieder) zu einem Leitbegriff in den Debatten zur Reform der westlichparlamentarischen Demokratien auf nationaler Ebene und der institutionellen Gestaltung der Europäischen Union (EU). So ist es kein Zufall, dass das "Forum der Zivilgesellschaft", initiiert von der Europäischen Bewegung Mitte der neunziger Jahre, Anregungen in Richtung einer "Europäischen Verfassung" gibt, die über den Konventsprozess jetzt in die Verbindungsgruppe ("Liaison Group") des EWSA mit den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen auf europäischer Ebene einmündet. Dabei hat der Ausschuss konkret Einfluss auf den Entwurf der Europäischen Verfassung genommen, der gegenwärtig in allen 25 Mitgliedstaaten der EU zur Ratifizierung ansteht. In den teilweise hochkontroversen Debatten haben Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die aktiven NRO eine durchaus historische Aufgabe, denn das Verfassungsprojekt ist gegenwärtig in einigen Ländern höchst umstritten, oft aus innenpolitischen und innerparteilichen Gründen. Als Akteure im Alltag zur Lösung der zunehmend europäisch werdenden Probleme wird vermutlich die überwiegende Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Akteure darauf achten, dass die Europäische Verfassung nicht an national orientierten Politikern scheitert, die vor allem ihre eigene Macht bewahren oder erringen wollen. In dieser Studie zur Vorbereitung des Kolloquiums 2005 wird der Begriff Zivilgesellschaft in der praxisorientierten EWSA-Definition angewendet, also die Vertreter der drei organisierten Gruppen: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und "Verschiedene Interessen" meint, wobei die Gruppe III zunehmend auch die NRO umfasst, die in den weiten Bereichen des wirtschaftlich und sozialen Gestaltens praktisch in allen europäischen Ländern zunehmend aktiv sind. (4) Da die Vielfalt der gesellschaftlich handelnden Gruppen nach 15 Jahren Transformation auch in den Nachbarländern inzwischen immer größer wird, ist die Konzentration auf den Raum der östlichen Nachbarländer auch deshalb gerechtfertigt, zumal dieser Raum mit der Russischen Föderation den größten Flächenstaat der Welt und mit der Ukraine denjenigen Europas umfasst. Bei der Größe des Territoriums zwischen Bug und Pazifik sowie zwischen Polarmeer und dem Schwarzen Meer sind allgemeine Aussagen behutsam zu formulieren. Ausgehend von unterschiedlicher Geschichte und Kultur haben die politischen Akteure auch in diesen vier Ländern ihren eigenen Weg der Transformation beschritten. 1 Winfried THAA, Zivilgesellschaft – ein schwieriges Erbe aus Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift OSTEUROPA, Berlin, Heft 5- 6/2004, S. 196. CESE 1709/2004 (DE) av .../... -7Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen sowjetischen Erbes über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten im 20. Jahrhundert gibt es ähnliche Fragestellungen, ihrer vermutlich unterschiedlichen Beantwortung ist in den vier Länderanalysen nachzugehen – wenn auch nur kurz, um die Begrenzung auf diesen Kurzstudien-Umfang nicht zu sprengen: Wie haben sich die zentralistisch – nach sowjetischem Muster strukturierten – vier Länder, in denen ein Befehlssystem von Oben nach Unten herrschte, unabhängige Akteure der Zivilgesellschaft (also nicht nur von der KP-Allmacht abhängige Organisationen) seit 1990/91 aufgebaut und sich entwickeln lassen? Wodurch wurde dem Mangel an zivilgesellschaftlichen Tugenden wie Selbstbestimmung und -verantwortung, Zivilcourage, Toleranz und Gemeinwohlorientierung entgegengewirkt? Welche Hauptprobleme stellen sich gegenwärtig den Akteuren der Zivilgesellschaft in den vier Ländern und welche Perspektiven sind zu erkennen, insbesondere im Blick auf die Gestaltung der Beziehungen zur erweiterten EU? (5) Die vier Länder-Analysen haben – um Transparenz und Vergleichbarkeit zu erleichtern – jeweils fünf Kapitel: In einer kurzen Einführung werden vor dem Hintergrund unterschiedlicher Geschichte und Kultur die spezifischen Länderbedingungen der Gegenwart vorangestellt; In den drei folgenden Kapiteln werden die entsprechenden Akteure der organisierten Zivilgesellschaft näher untersucht; Am Schluss der vier Analysen wird jeweils pro Land ein Fazit gezogen. (6) Im abschließenden Teil der Studie sollen in den Gesamt-Konklusionen sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den vier Ländern zusammengefasst und bewertet werden. Darüber hinaus werden einige Anregungen an den EWSA selbst und an die anderen Hauptorgane der EU gegeben, die zur Förderung der Zivilgesellschaften in den vier Ländern ebenso beitragen können wie zum künftigen Auf- und Ausbau der Kontakte zwischen den EWSA-Mitgliedern und den zivilgesellschaftlichen Partnern in den vier östlichen Nachbarländern. Alle Beteiligten mögen sich nicht von der Einsicht auf die Langwierigkeit dieses Prozesses entmutigen lassen, auf den der deutsch-britische Soziologe und ehemaliges Mitglied der Europäischen Kommission, Sir Ralf Dahrendorf, bereits 1990 hinwies: "Der Formalprozess einer Verfassungsreform braucht mindestens sechs Monate, Wirtschaftsreformen können nach sechs Jahren im allgemeinen Empfinden wirken; um die Fundamente für den Weg in die Freiheit zu legen, sind sechzig Jahre kaum genug"2. 2 Zitiert aus einem Interview in der Zeitschrift EU-MAGAZIN, 5 / 1997, S. 24. CESE 1709/2004 (DE) av .../... -8B. LÄNDERANALYSEN 1. RUSSLAND PORTRÄT der Russischen Föderation (am Ende des Kapitels) 1.1 Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage Die Russische Föderation (RF), die gleichzeitig den Staatsnamen Russland trägt, hat die Rechtsnachfolge der Ende 1991 untergegangenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) angetreten. Unter den 15 ehemaligen Sowjetrepubliken, die jetzt eigene Völkerrechtssubjekte sind, verkörpert die RF den mit Abstand größten und mächtigsten Nachfolgestaat der UdSSR. Mit über 17 Millionen Quadratkilometern ist Russland immer noch der bei weitem größte Flächenstaat der Erde, auch wenn das Land nur etwa 75% des ehemaligem sowjetischen Territoriums umfasst. Die RF erstreckt sich zu einem Viertel der Fläche auf dem europäischen Kontinent, während drei Viertel des Riesenreiches in Asien liegen. Die Bevölkerung umfasst der jüngsten Volkszählung zufolge etwa 145 Mill. Einwohner, wovon sich ca. 80% zu den ethnischen Russen zählen; die übrigen Bewohner gehören über hundert ethnischen Gruppen an, worunter die Tataren mit 4% und die Ukrainer mit 3% von Bedeutung sind3. Die Sozialstruktur der RF wandelte sich infolge des Übergangs von der sowjetischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft grundlegend. Die ökonomische Transformation seit 1991 hatte in einer ersten Welle die Privatisierung zum Hauptinhalt; Anfang 1992 wurden die Preise freigegeben, was mit einer grassierenden Inflation und einem drastischen Rückgang der Industrieproduktion einherging. Die Folge war auch die wachsende soziale Differenzierung: Dies gilt sowohl für die berufliche Gliederung als auch für die Einkommensverteilung. Zu den auffallenden Merkmalen gehören das Anwachsen der gesellschaftlichen Schicht der Unternehmer bzw. der Geschäftsleute auf der oberen Skala sowie die zunehmenden Massen der Arbeitslosen und Armen auf der unteren Skala der Gesellschaft. Gegenwärtig kann über die Hälfte der russischen Bevölkerung nur knapp ihr Leben fristen. Der Anteil der Bevölkerung, dessen Pro-Kopf-Einkommen unter dem Existenzminimum liegt, ist deutlich gestiegen. Das Geldeinkommen konzentriert sich auf eine zahlenmäßig kleine Oberschicht; eine neue Mittelschicht entsteht erst langsam4. Das politische System befindet sich auch ein Jahrzehnt nach Verabschiedung der neuen Verfassung noch auf einem widerspruchsvollem Wege zur Demokratie: Weiterhin herrscht institutionelle Unbestimmtheit, wobei außerhalb der Verfassungsorgane informelle Strukturen der 3 Siehe „Porträt Russische Föderation" in dieser Studie, Punkt 1.6.und den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 7. 8. 2004. 4 Vergleiche den Bericht in: Der Spiegel, 38/2003, S. 121 und die „Erklärung der Teilnehmer der Gesamtrussischen Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.10.2003. CESE 1709/2004 (DE) av .../... -9Macht dominieren. Die Ansätze zu einer vertikalen wie zu einer horizontalen Gewaltenteilung werden unter Präsident Wladimir Putin eher abgebaut als gestärkt, auch wenn er Russlands Rolle in der Weltpolitik offenkundig effizienter als seine Vorgänger ausfüllt. Solange sich die politische Führung im vom Präsidialsystem der 5. Republik Frankreichs beeinflussten "Superpräsidentialismus Putinscher Prägung"5 nicht auf gesellschaftlich verankerte politische Parteien stützt, stellen bürokratische Clans oder Seilschaften und ökonomische Komplexe bzw. Oligarchen die treibenden Akteure in Staat und Gesellschaft dar. In einer Botschaft an das Parlament vor seiner Wiederwahl als Präsident deklarierte Putin einerseits, "die Entwicklung der Parteien und der Zivilgesellschaft voranzubringen", andererseits scheinen beide in der Wirklichkeit seiner zweiten Amtszeit weiter an Bedeutung zu verlieren. In der Politikwissenschaft wird das aktuelle Regime in der RF als "gelenkte" oder als "defekte Demokratie" (russische Autoren wie Michaleva und westliche Experten wie Schulze) oder als "autoritäres System mit demokratischen Elementen" (Mommsen) gekennzeichnet. 1.2 Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen Unter den formalisierten Interessenvertretungen von Arbeit und Kapital haben die Gewerkschaften in Russland eine lange Tradition als Massenorganisationen, die freilich im Kommunismus stalinistischer Prägung Transmissionsriemen der allmächtigen Partei waren. Nach der Auflösung der UdSSR organisierten sich die sowjetischen Gewerkschaften als Dachverband der alten Branchengewerkschaften um und nannten sich fortan "Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands" (FNPR). Während in der UdSSR der Organisationsgrad nahezu hundertprozentig war, sank die Mitgliederzahl der Nachfolgeorganisation drastisch: Er liegt seit Mitte der 1990er Jahre bei etwa 30% und scheint sich bei diesem vergleichsweise mittleren Niveau des Gewerkschaftsgrades für pluralistische Gesellschaften zu stabilisieren. Die FNPR zählt nach eigener Angabe rund 40 Mio. Mitglieder, setzt sich aus 44 Einzelgewerkschaften zusammen und hat starke, relativ unabhängige Regionalorganisationen. Die FNPR gehört seit 2000 dem Internationalen Bund der Freien Gewerkschaften (IBFG) an und gleichzeitig der losen Dachkonföderation der GUS-Gewerkschaften. Neben den alten Gewerkschaften bildeten sich verschiedene neue Gewerkschaften, die auf die ersten Streikwellen der Jahre 1989 und 1990 im weiten Energie- und Transportsektor zurückgingen. Dazu gehört beispielsweise die "Unabhängige Bergarbeiter-Gewerkschaft". Diese alternativen Organisationen traten bald in Konkurrenz zu den traditionellen Gewerkschaften. Unter den Alternativverbänden ist besonders die "Soziale Gewerkschaft" hervorzuheben, in der ca. 1.000 betriebliche Gruppen zusammengeschlossen sind. Diese politisch engagierte, branchenübergreifende Gewerkschaft versuchte vor allem über vorteilhafte Tarifverträge die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Sie wurde im Rahmen des IBFG und dessen Programm "Trade Union Rights Monitoring Networks and Building International Co-operations" auch von der EU über mehrere Jahre finanziell unterstützt. Beide kleine Gewerkschaften sind 5 Vgl. Margarete MOMMSEN, Das politische System Russlands, in: Ismayr, W. (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2004, S. 373. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 10 auch Mitglied im IBFG, planen eine Fusion und sind gegenwärtig für wachsende Zusammenarbeit mit der großen FNPR. Die traditionellen Gewerkschaften nehmen weiterhin maßgeblich die Funktionen der "sozialen Fürsorge" wahr: sie konzentrieren ihre Interessenvertretung stärker auf den Staat als auf die Arbeitgeber als Ansprechpartner ihrer Politik. Auf zentralstaatlicher Ebene dominieren weiterhin die alten Gewerkschaften; in den Großkonzernen haben sie weiterhin bzw. unter Putins Präsidentschaft erneut das entscheidende Sagen. Die Dominanz der Traditionalisten wird auch in der "Russischen Drittelparitätischen Kommission" deutlich, die seit 1991 als "Forum der Sozialpartnerschaft"6 besteht. Die von oben weitgehend verordnete Sozialpartnerschaft wird wesentlich von Regierung und Arbeitsministerium moderiert, festgelegt im sog. Tripartistischen Abkommen von 1999 für die gesamte RF. Darin sind die Arbeitnehmer durch die o.g. drei Gewerkschaftsbünde vertreten, während von Arbeitgeberseite ein "Koordinierungsausschuss" der insgesamt 22 Arbeitgeberverbände vertreten ist. Die formalen Rechte auf gesamtstaatlicher Ebene haben wenig praktische Wirkungen, da keine klaren Sanktionen bei Nichteinhaltung von Vereinbarungen vorgesehen sind. Tatsächliche Verhandlungsoptionen bestehen nahezu ausschließlich auf betrieblicher Ebene, auf der laut dem neuen Arbeitsgesetz die Betriebs-Gewerkschaftsleitungen realen Einfluss haben; diese werden meist von der FNPR gestellt, denn die kleineren Bünde sind nicht flächendeckend organisiert. Auch können die Belegschaften mehrheitlich einen anderen Repräsentanten als den von den Gewerkschaften zur Verhandlung mit der Betriebsleitung ad hoc bestimmen, was die Gewerkschaften in den Augen der Arbeitgeber erheblich schwächt. In von ausländischem Kapital kontrollierten Unternehmen (namentlich in denen aus den USA) werden die Gewerkschaften bekämpft bzw. bei Neugründung praktisch nicht zugelassen. Prominentes Beispiel für gewerkschaftsfeindliche Unternehmenspraxis ist Coca-Cola: In diesem amerikanisch dominierten Weltkonzern wurden im gegenwärtigen Russland Arbeitnehmer gegen international geltendes Recht (vor allem IAO-Normen) gezwungen, die Gewerkschaft zu verlassen, und einer bereits gewählten Arbeitnehmervertretung wurde der Zutritt zum Arbeitsplatz untersagt. Von Sanktionen gegenüber diesen und anderen Verletzungen von Gewerkschaftsrechten ist bisher nichts bekannt; lokal aufkommende Arbeitsniederlegungen werden von Arbeitgeberseite für illegal erklärt und die daran Beteiligten mit Entlassung bzw. Zutrittsverbot zum Betrieb bedroht. Angesichts der realen Machtverhältnisse im heutigen Russland verwundert es nicht, dass sich die Gewerkschaften auf gesamtstaatlicher Ebene – auch angesichts zunehmender Armut – vorrangig um Sozialeinrichtungen kümmern, verwalten preisgünstige Ferienhäuser und vertreten die Interessen der Arbeitnehmer bei den "Arbeitsinspektionen". Mehr und mehr hat sich ein informelles Bündnis zwischen Belegschaft, Gewerkschaft und Betriebsmanagement ent6 Siehe Olga Alexandrova, u.a. (Hg.), Russland und der postsowjetische Raum, Baden-Baden 2002. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 11 wickelt, das gemeinsam bei den Autoritäten in den Republiken und vor allem in Moskau um staatliche Ressourcen kämpft. Mindestlöhne werden zentralstaatlich vereinbart, richten sich aber nach den durchschnittlichen Löhnen in den Föderationsrepubliken. Arbeitnehmerrechte und Arbeitsschutz existieren im Alltag meist nur auf dem Papier; bei Konflikten scheitert die rechtliche Durchsetzung von Arbeitnehmeranliegen am überlasteten und noch ungenügend ausgebildetem Gerichtssystem. 1.3 Arbeitgeber- und Unternehmerverbände sowie informelle Wirtschaftsclans ("Oligarchen") Die Interessenvertretungen der Unternehmen haben sich im Zusammenhang mit der Privatisierung der Wirtschaft völlig neu gebildet. Die ersten Unternehmerverbände traten Ende der Achtziger Jahre auf; es waren anfangs die sog. Klubs der neuen erfolgreichen "bisnismeny"; seit 1992 rückten Branchenverbände in den Vordergrund. Gegenwärtig kann man vier verschiedene Typen von mehr oder weniger organisierten Arbeitgeber- bzw. Unternehmerinteressen ausmachen: Multisektorale Verbände, Branchenorganisationen, so genannte intersektorale Regionalverbände und Assoziationen kleiner und mittelständischer Unternehmer. Die bedeutendste Organisation ist der "Russische Verband der Industriellen und Unternehmer (RSPP)", der gegenwärtig 89 regionale Abteilungen unterhält und als "Partner der Macht" mit der politischen Führung kontinuierlich und mit anderen Institutionen/Organisationen gelegentlich zusammenarbeitet. Daneben ist auch die "Handels- und Industriekammer" (TPPP) der Russischen Föderation herauszustellen, die seit ihrer Gründung 1991 mittlerweile 140 regionale und territoriale Kammern aufgebaut hat; gegenwärtiger Präsident ist der ehemalige Premierminister Primakow, was darauf hindeutet, dass die TPPP der genauen Kenntnis der Regierungsmaschinerie einen hohen Stellenwert einräumt. Als dritte formalisierte Interessenorganisation auf Arbeitgeberseite tritt die "Gesellschaftliche Organisation der Klein- und Mittelunternehmen" (OPARA) auf, die 1993 gegründet, inzwischen flächendeckend und branchenübergreifend organisiert und in der Praxis vor allem in der Landwirtschaft und im Handwerk verankert ist7. 7 MOMMSEN, aaO, S. 423. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 12 Von allen drei Typen der Arbeitgeber-Organisationen werden Vertreter in die drei parteiischen Einrichtungen entsandt, die seit Amtsantritt Putins geschaffen wurden (s. vorangegangenes Kapitel zu den Arbeitnehmervertretungen). Neben den formalisierten und registrierten Interessenorganisationen besteht im heutigen Russland ein nicht-registriertes System von informellen Interessengruppen: Im Kern handelt es um konkurrierende, auf ökonomischer Macht basierende oligarchische Kartelle, die direkt oder indirekt auf die staatlichen Entscheidungsstrukturen Einfluss nehmen bzw. mit diesen Strukturen eng verflochten sind; dies wird von russischen Politologen als "System der oligarchischen Interessenabstimmung" bezeichnet, das sich "durch persönliche Seilschaften und nicht durch institutionelle Interaktionen" auszeichnet8. Diese Oligarchien trachten danach, ihre Klientel unmittelbar in der staatlichen Verwaltung unterzubringen; auf gleiche Weise werden Mitglieder von Regierung und Verwaltung direkt in die Netzwerke dieser Clans integriert. Beide Prozesse haben eine kaum durchschaubare, aber offenkundig wirksame Interessenverbindung zwischen einigen Oligarchen und der "Partei der Macht" herausgebildet. Als "Oligarchen" wurden die ab 1995 in den Vordergrund tretenden Chefs der neuen mächtigen Energie-, Industrie- und Finanzimperien bezeichnet. In ihrer Mehrheit entstammen diese Männer (eine Frau ist bisher unter den Oligarchen unbekannt) aus der "Komsomol-Ökonomie", die bereits 1986 ihren Ursprung nahm, als interessierte Vertreter des kommunistischen Jugendverbandes KOMSOMOL sich die seitdem zugelassenen Handelsstrukturen zunutze machten9. Die ersten "finanz-industriellen Gruppen" wurden von Industrieunternehmen "von oben her" geschaffen; später kamen weitere Gründungen solcher "Oligarchien" von den Banken hinzu. Seit Mitte 2000 gibt es Bestrebungen, die Beziehungen zwischen den Oligarchen und der politischen Führung zu formalisieren; in diesem Kontext sind die "Runden Tische" hervorzuheben, die zwischen Präsident Putin und einer Reihe von Wirtschaftsmagnaten regelmäßig stattfanden. Ende 2000 gründeten 30 herausragende Repräsentanten der Wirtschaft, darunter die Vorreiter und einige neue Oligarchen der reichsten Großunternehmen den "Runden Tisch der Geschäftsleute Russlands", der ein ständiges Büro im Hause des oben genannten Unternehmerverbandes RSPP hat. Die regelmäßigen Treffen zwischen den Führungspersonen des Unternehmerverbandes und der Staatsspitze, die schon mehr als 1.000 Repräsentanten im Kreml zusammenbrachten, finden ein großes Medienecho und belegen das Interesse der beteiligten Akteure am Dialog über die Hauptfragen in Wirtschaft und Gesellschaft der RF. Gleichzeitig will Präsident Putin im Unterschied zu seinem Vorgänger Jeltsin demonstrieren, dass er gegenüber allen Oligarchen "die gleiche Distanz zur Macht"10 wahren will. 8 9 10 Dieselbe, aaO, S. 405. Diese und andere Angaben von der russischen Expertin Dr.Galina MICHAELEVA, Moskau, an den Autor im August 2004 mitgeteilt. Siehe mehrere Presseerklärungen des Staatspräsidenten während der Yukos-Affäre auf seiner Internet-Homepage. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 13 Schon vorher begannen einige Oligarchen zivilgesellschaftliche Projekte und Organisationen zu fördern, vor allem in den Bereichen Bürger- und Menschenrechte sowie Bildung und Soziales, namentlich Michail Chodorkowskij als Chef des Ölriesen Yukos (Gründer der Stiftung "Offenes Russland", ausgestattet mit einem Startkapital von 10 Millionen Dollar); ihr Engagement erklärt sich erstens aus dem Interesse, ihr öffentliches Image zu verbessern, denn diese "Neureichen" Russlands standen im überwiegend negativen Ruf, sich in den 90er Jahren mit zweifelhaften Methoden die Filetstücke des Volkseigentums Russlands angeeignet zu haben"11. Zweitens haben die Oligarchen wachsendes Interesse an einer entwickelten Zivilgesellschaft als Seismograph für Rechtsstaatlichkeit und gegen staatliche Willkür. In diesem Sinne äußerte sich Chodorkowskij persönlich: "Ohne die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft wird Russland nicht prosperieren"12. Im Oktober 2003 wurde der Yukos-Chef verhaftet: Offiziell wegen der ihm zur Last gelegten Vergehen des Betrugs und der Steuerhinterziehung; vermutlich aber deswegen, weil er das inoffizielle Arrangement zwischen Kreml und den Oligarchen aufgekündigt hatte, welches diesen insbesondere völlige Politikabstinenz abverlangte13. So ist mit der Inhaftierung des gesellschaftspolitisch engagiertesten Oligarchen auch ein Signal an die Wirtschaft seitens des russischen Präsidenten zu erkennen, sich nicht in die Politik einzumischen. Seitdem kam der Yukos-Konzern unter dem Einfluss weltweiter Turbulenzen (u.a. zurückzuführen auf den globalen Ölpreis) in dramatische Schwierigkeiten, ebenso erging es der Stiftung "Offenes Russland", die seitdem keine neuen Projektinitiativen mehr annehmen kann. Gegenwärtig ist noch nicht absehbar, welche Auswirkungen die "Yukos-Affäre" auch auf die Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement haben wird. 1.4 Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) Die Gesamtzahl der "bürgerschaftlich Engagierten" in Russland umfasst nach Schätzungen von NRO zwischen einer und zwei Millionen Bürger/Innen sowie rund 300.000 registrierte zivilgesellschaftliche Organisationen; freilich gehen Experten davon aus, dass in Wirklichkeit davon nur etwa ein Zehntel, also rund 30.000 NRO, dauerhaft aktiv ist14. Einer Umfrage des "Instituts für komplexe Gesellschaftsstudien" zufolge haben 46% der Befragten schlicht keine Zeit für bürgerschaftliches Engagement, da sie mit dem alltäglichen (Über-)Lebenskampf beschäftigt sind. Die seit gut einem Jahrzehnt etablierten Organisationen konnten sich nicht nur wegen der internationalen Zuschüsse (namentlich seitens amerikanischer Stiftungen und von der EU), sondern auch dank innerrussischer Netzwerkbildung am 11 12 13 14 Mitteilung von Frau Dr. G. MICHAELEVA, August 2004. Dieselbe, August 2004. Vgl. Susanne LANG, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in Russland, Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn April 2004, S.5ff. LANG, aaO, S.8. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 14 Leben erhalten. Gegenwärtig kann man drei sich überlagernde Strukturen erkennen: Aufgabenorientiert, geografisch und engagementspezifisch. So gibt es erstens Netzwerke von Organisationen derselben thematischen Ausrichtung, z. B. der ständige "Runde Tisch: Gemeinsames Handeln", der in der Hauptstadt Vertreter von Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen versammelt sowie andere themen-orientierte Netzwerke von NRO, die sich für die Rechte der Frauen, der Migranten oder der Behinderten einsetzen. Zweitens gibt es die geografisch-orientierte Form der Vernetzung, insbesondere durch den Aufbau von Kooperationen zwischen regionalen Einheiten derselben Organisation, z.B. das "Menschenrechts-Zentrum MEMORIAL", das als eine konkrete Frucht von Glasnost und Perestroika 1988 gegründet, inzwischen durch rund 90 Mitgliedsorganisationen in den Republiken/Regionen der gesamten RF und in sechs anderen Ländern (insbesondere in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR) vertreten ist und konsequent für die transparente Aufarbeitung des Stalinismus eintritt; als anderes prominentes Beispiel für erfolgreiches NRO-Engagement ist das "Komitee der Soldatenmütter" hervorzuheben, über das die westliche Presse seit Jahren vielfach berichtet; beide Organisationen wurden u.a. auch von der EU technisch und finanziell unterstützt. Eine dritte Vernetzungsform entwickelt sich branchen-übergreifend, wo strukturpolitische Fragen des zivilgesellschaftlichen Engagements auf die Tagesordnung kommen, insbesondere in der seit 2001 gegründeten "Volksversammlung", gebildet aus den ca. 30 größten politikorientierten NRO (namentlich von der Moskauer Helsinki-Gruppe, von MEMORIAL und von der Konföderation der Verbraucherschutzorganisationen). Vor diesem Hintergrund haben sich seit 2001 zwei Plattformen entwickelt, die sich vor allem in Distanz bzw. Nähe zur herrschenden Staatsmacht unterscheiden: 15 Das im Frühling 2001 gegründete Forum "Demokratische Beratung" besteht aus mehreren unabhängigen NRO, insbesondere aus dem Bereich Menschenrechte, sowie aus regimekritischen politischen Parteien, u.a. dem demokratischen Bündnis "YABLOKO"; Ziel ist es, sich gemeinsam zu "wichtigen Fragen des öffentlichen Lebens" zu äußern15. Das im November 2001 im Kreml von Präsident Putin eröffnete "Bürger-Forum" brachte erstmals rund 3.000 Vertreter/innen der Zivilgesellschaft aus allen Arbeitsbereichen und Regionen mit ca. 2.000 Repräsentanten staatlicher Behörden zusammen; das Leitmotiv dieses Forums besteht nach eigenem Anspruch darin, zunächst Staat und Zivilgesellschaft miteinander ins Gespräch zu bringen, um anschließend den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen beiden Akteuren zu begründen. So Frau Dr. MICHALEVA, August 2004. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 15 Natürlich sind die Einschätzungen der komplexen Gründungen und der bisherigen Entfaltung beider Foren sehr verschieden – sowohl unter den Beteiligten als auch zwischen den kritischen Beobachtern –, was im anschließenden Fazit dieses Russlandkapitels zusammengefasst und bewertet werden soll. 1.5 Fazit und Ausblick In der widerspruchsvollen Gegenwart Russlands gibt es in Bezug auf die Zivilgesellschaft zwei gegenläufige Tendenzen gleichzeitig: Einerseits die "gelenkte" und gleichzeitig defekte Demokratie Putinscher Prägung, in der das Angebot an die Zivilgesellschaft zu Dialog und Kooperation zugleich mit Misstrauen und pauschalen Vorwürfen in einen Rahmen zur Regulierung eben dieser Zivilgesellschaft durch staatliche Machtstrukturen transformiert wird. In einer Rede am 26.5.2004 vor der Staatsduma zur Rolle der von "nichtpolitischen gesellschaftlichen Organisationen" führte der Staatspräsident programmatisch aus: "In unserem Land existieren und arbeiten konstruktiv Tausende von Vereinen und Verbänden von Bürgern. Aber nicht alle davon sind darauf konzentriert, reale Interessen der Bürger zu verteidigen. Für einen Teil solcher Organisationen wurde es zur Prioritätsaufgabe, Finanzierungen von einflussreichen ausländischen Fonds zu bekommen, für einen anderen Teil ist es die Bedienung von verdächtigen Gruppen- und Kommerzinteressen, und dabei bleiben die akutesten Probleme des Landes und seiner Bürger unbemerkt"16. Andererseits ist ein Auslösen von Lernprozessen auf beiden Seiten zu verzeichnen, die neu sind in einem Land, in dem das Politikmonopol stets der Staatsmacht zustand und das bisher kaum Selbstverantwortung und pluralistische Organisationen der Bürgerschaft kennt. So hat ehemalige Ministerpräsident Kasjanow im Februar 2002 in der Folge des "Bürger-Forums" nicht nur öffentlich erklärt, die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen müsse zum festen Bestandteil der Arbeit aller Behörden Russlands werden; er hat gleichzeitig die Ministerien per Verordnung verpflichtet, ihm vierteljährlich darüber Bericht zu erstatten. Die neuen zivilgesellschaftlichen Akteure berichten ihrerseits von einer Vielzahl von Konsultationsbeziehungen und auch Gesprächserfolgen (offenkundig Folge des Forums "Demokratische Beratung"); als Beispiele dafür seien festgehalten: 16 Der "Verband der Soldatenmütter" hat durchgesetzt, dass eine Kommission des Präsidenten sich mit der Situation der Kriegsgefangenen auseinandersetzt und dass in Zeiten des Tschetschenienkrieges gegen starke Vorbehalte eine "Kommission für Menschenrechte beim Präsidenten" eingerichtet wurde, in der jetzt 12 NRO vertreten sind. Siehe Homepage des Präsidenten der RF im Internet. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 16 - In den Bereichen von Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik gibt es mittlerweile funktionierende Dialogstrukturen, trotz der "sowjetischen Altlast" bei den Gewerkschaften und trotz der ambivalenten Neustrukturen und Turbulenzen in der Neu-Unternehmerschaft Russlands. Die traditionellen Interessengruppen, beispielsweise die stärker formalisierten Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften, versuchen ihren Einfluss insbesondere im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses in allen Stadien geltend zu machen. Dabei treten vor allem die rund hundert Abgeordneten aus den ökonomisch wichtigen Energiebereichen Erdgas und Erdöl in Erscheinung. Sie streben insbesondere danach, im zentralen Budget-Ausschuss der Duma ihren Einfluss nachhaltig zur Geltung zu bringen; es wurden Zusammenschlüsse von Repräsentanten einzelner Industriebranchen innerhalb der Mandatsträger beobachtet, die außerhalb und quer zu den Fraktionsgrenzen verlaufen. Seit Mitte der 1990er Jahre sind Diskussionen über die wünschenswerte Legalisierung der Lobbytätigkeit in Gang gekommen. Ein einschlägiger Gesetzentwurf wurde in der Duma auf den Weg gebracht, der allerdings bisher (Oktober 2004) noch nicht verabschiedet wurde. Bei aller Divergenz unter den Akteuren der auf Mitgliedschaft basierenden Organisationen der Sozialpartner und der NRO Russlands wächst offenkundig das Bewusstsein, dass die Chancen zur Durchsetzung eigener Gestaltungsinitiativen davon abhängen, Zugang zu den jeweiligen Entscheidungsträgern im politischen System zu gewinnen. Gleichwohl bestehen weiterhin wechselseitige Berührungsängste sowie ein Misstrauen gegenüber diesem Staat, dessen Entscheidungsorgane weiterhin als willkürlich und nicht rechtsstaatlich handelnd erfahren werden. Es bleiben Vorbehalte auch gegen die demokratisch gewählten Regierenden, da auch bei ihnen Deklarationen und Handeln auseinander fallen, namentlich beim wieder gewählten Präsidenten. Putin erklärt einerseits, "Bedingungen zu schaffen, die die Konsolidierung einer echten Zivilgesellschaft im Land fördern, die ein Gegengewicht zur Staatsmacht bildet und sie kontrolliert"17; andererseits werden in seinem Regime Gesetze insbesondere im Steuerrecht beschlossen, die der Entwicklung selbstständiger NRO zuwiderlaufen. Auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen wächst das Selbstverständnis über die eigenen Möglichkeiten ebenso wie über deren Grenzen, gerade durch ihre Konsolidierung in den themenübergreifenden Netzwerken. Mehrheitlich befürworten die NRO offenkundig die Strategie, einen beratenden Zugang zu den staatlichen Institutionen zu suchen, die sie in einigen Fällen bereits durchgesetzt haben; mittlerweile sind sie in präsidialen Kommissionen vertreten oder haben andere Formen des Dialogs mit Vertretern des Staates gefunden. Im Ergebnis befinden sich die wichtigsten Akteure der Zivilgesellschaft im postsowjetischen Russland in einem Entwicklungs- und Lernprozess; dieser geht offensichtlich von einer Taktik der Opposition und der folgenlosen Konfrontation über zu einer Strategie der Partizipation, die freilich in pluralistischen Gesellschaften Kritik sowie demokratisch ausgetragene Auseinandersetzungen um Mehrheiten einschließt. 17 Ebenda. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 17 - In diesem Kontext sind weitere neue Entwicklungen auf beiden Seiten des begonnenen Dialogs festzuhalten: Unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren verschieben sich die Gewichte in den Auseinandersetzungen von an Moral und Demokratie orientierten Appellen zu Argumenten der Nützlichkeit und der Wirksamkeit für die Adressaten; so wird die in den NRO vereinigte fachliche Kompetenz zu den jeweiligen Themen sowie die größere Effizienz gegenüber staatlichen Bürokratien in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Soziales auch von maßgeblichen Vertretern der Staatsmacht anerkannt. Freilich überschätzen sich offenkundig einige NRO, wenn sie sich zu "Kontrolleuren der Staatsmacht" erklären18. Auf Seiten des Staates und der von ihm (weiterhin bzw. aufs neue) "gelenkten" Großkonzerne scheint sich die Einsicht zu verstärken, dass bürgerschaftliches Engagement förderlich ist und dass aktive zivilgesellschaftliche Organisationen innovative Partner sein können im Rahmen der mannigfachen Modernisierungen, die Russland am Beginn des 21. Jahrhundert besonders dringend benötigt. In diesen sich wechselseitig überlagernden Prozessen könnte erhöhte internationale Aufmerksamkeit, gerade seitens der EU-Institutionen und von Seiten ihrer Zivilgesellschaft sowie in den Medien ihrer Mitgliedstaaten, hilfreich sein, damit die zivilgesellschaftsfreundlichen Absichtserklärungen von Präsident Putin tatsächlich in der legislativen und in der administrativen Praxis umgesetzt werden. Hilfreich wäre gleichzeitig, dass die verschiedenen Netzwerke der NRO in Russland sich noch stärker untereinander über ihre komplementären Aufgaben abstimmen; auch sollte zumindest die Avantgarde unter den vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit in Russland verstärken; vor allem sollten sie sich noch stärker an die neue Generation in der postsowjetischen RF wenden, die ohne eigene totalitäre Erfahrungen aufgewachsen ist. Die bisherigen Unterstützungsprogramme der EU für die russische Zivilgesellschaft, die teilweise in enger Kooperation und mit komplementärer Finanzierung durch den Europarat seit Jahren durchgeführt werden, sollten künftig stärker die Organisationen auf regionaler und lokaler Ebene fördern, gerade weil gegenwärtig eine Re-Zentalisierung staatlicher Macht in der RF im Gange ist. Die Rolle der russischen Zivilgesellschaft während des Wahlkampfes und den verschiedenen Wahlgängen in der Ukraine von Oktober bis Dezember 2004 wird sicher auch Thema künftiger Aussprachen und Untersuchungen sein, sowohl in Bezug auf die Aktionen von Präsident Putin und seiner Staatspartei als auch in ihren Beziehungen zu den entsprechenden Organisationen im größten Nachbarland. 18 Vgl. die unterschiedlichen Bewertungen zitiert bei LANG, aaO, S. 8ff. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 18 - LANDESPORTRÄT: RUSSISCHE FÖDERATION 1. BASISINFORMATIONEN 1.1 Bevölkerung 145,2 Millionen Einwohner (2003) Städtisch (in Prozent der Gesamtbevölkerung): 73,4 Bevölkerungswachstum (in Prozent per annum): -0,6 Alphabetisierungsgrad (in Prozent der Bevölkerung): 99,8 1.2 Lebenserwartung 64,8 Jahre (im Durchschnitt) 2003 1.3 Fläche 17,075 Millionen qkm (größter Flächenstaat der Welt) 1.4 Dichte 8,43 Einwohner pro qkm 1.5 Hauptstadt Moskau (8,75 Mill. Einwohner) 1.6 Ethnische Struktur/Minderheiten 79,8% Russen; 3,84% Tartaren; 23% Ukrainer; 13% andere Nationalitäten wie Baschkiren, Tschuwaschen u.a.m (insg. 160 ethnische Gruppen). 1.7 Sprachen Russisch; Nationalsprachen einiger Republiken 1.8 Religionen Christen (insgesamt 82%): Russisch-Orthodoxe, Protestanten, Armenische Kirche; Muslime (18%) 2. POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN 2.1 Unabhängigkeit Erklärung als RF nach Auflösung der UdSSR 1991 2.2 Verfassung Dezember 1993 2.3 Staatsform/Politisches System Föderation mit 89 Föderationssubjekte (Republiken oder Regionen), zusammengefasst in 7 Föderale Distrikte. Präsidiales System mit Direktwahl des Staatspräsidenten auf 4 Jahre (seit 2000 Wladimir Putin Präsident hat umfassende Vollmachten inklusive eines Vetorechts; ernennt Premierminister und Kabinett und bestimmt die Richtlinien der Politik, insbesondere der Außenpolitik. Bislang fanden drei Präsidentschaftswahlen statt: 1996, 2000 und 2004. Boris Nikolajewitsch Jelzin war von 1993 bis 2000 erster gewählter Präsident der Russischen Föderation. Wladimir Wladimirowitsch Putin amtiert als Präsident seit 2000 und wurde in den Präsidentschaftswahlen 2004 bestätigt. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 19 Präsident ernennt ständige Vertreter bei den Föderalen Distrikten. 2.4 Regierung ► Ministerpräsident (seit 2004: Michail Fradkow) ► Außenminister (seit 2004: Sergei Lawrow) Verwaltungsreform im März 2004 reduzierte die Zahl der Ministerien und föderalen Behörden. 2.5 Parlament ► Föderalversammlung aus zwei Kammern: Staatsduma mit 450 Abgeordneten gewählt aus Listen und Direktmandaten; gegenwärtig 4 Fraktionen: Edinaja Rossia, Rodina, LDPR,KPRF und Fraktionslose; Vorsitzender (Speaker): Boris W. Gryslow Föderationsrat mit 178 entsandten Vertretern aus den regionalen Regierungen und Parlamenten der Föderationssubjekte, Vorsitzender seit 05.12.2001 Sergej M. Mironow Staatsrat, kein Verfassungsorgan, sondern beratende Repräsentanz der Präsidenten und Gouverneure aus den 89 Föderationssubjekten. Der Staatsrat tagt mehrmals im Jahr und der Vorsitz rotiert. Sicherheitsrat: Koordinationsorgan für innen- und außenpolitische Entscheidungen von strategischer Reichweite, die die Sicherheit des Landes berühren, Sekretär des Sicherheitsrats: Igor S. Iwanow 2.6 Beziehungen zur EU ► "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen" (PKA=PCA) mit der EU, in Kraft seit 1997, mit einer Laufzeit von 10 Jahren. ► Sektorielle Abkommen (z. B. Stahl, Textilien). 2.7 Mitgliedschaft in Internationalen Institutionen ► Gründungsmitglied der Vereinten Nationen als Rechtsnachfolger der UdSSR (ständiger Sitz im VN-Sicherheitsrat: UdSSR seit 1945, Russland seit 24.12.1991) ► OSZE seit Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 ► Europarat seit 28.2.1996 Ostseerat seit seiner Gründung im März 1992 Internationaler Währungsfonds (IWF), seit Mai 1992 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 20 Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD, ehem. Weltbank), seit Mai 1992 Internationale Entwicklungsorganisation (IDA), seit Mai 1992 Nordatlantischer Kooperationsrat (UdSSR seit seiner Gründung 1991) Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), seit Dezember 1991 "Einheitlicher Wirtschaftsraum" mit der Ukraine, Belarus und Kazachstan (unterzeichnet 2003, noch nicht in Kraft) APEC seit 1998 CSTO (Common Security Treaty Organisation) seit 1992 Eurasian Economic Community (seit 1995) Shanghai Cooperation Organisation (seit 1996). Conference on Interaction and Confidence Building Measures in Asia (seit 2002) 3. ÖKONOMISCH-SOZIALE DATEN 3.1 BIP je Einwohner (2002) 2.382 Euro 3.2 BIP in Prozent des Durchschnitts der EU25 8,3% 3.3 Wachstum des (realen) BIP 7.3% (2003); 4.7% (2002) 5,1% (2001); 10.0% (2000) Staatsbudget in Prozent am BSP 36.9% (2000), 37.3% (2001), 37.6% (2002), 36.6% (2003) 3.4 Inflationsrate 12.0% (2003); 16,7% (2001) 3.5 Arbeitslosenquote (IAO Definition) 8,1% 2003 (6,3% 2002, 9,0% 2001, 10,5% 2000) 3.6 Ausländische Direkt-Investitionen 2,835 Milliarden Euro (2001) 3.7 Gesamt- Exporte 91,864 Milliarden Euro (2002) 3.8 Gesamt-Importe 41,006 Milliarden Euro (2002) Zahlungsbilanz/Saldo in Mrd. US Dollar 33.4% (2001), 30.9% (2002), 35.9% (2003) Exporte in die EU 59,654 Mrd. Euro (52,5% des Russischen Handelsvolumens) 3.9 3.10 Importe aus der EU CESE 1709/2004 (DE) av 27,411 Mrd. Euro (50.5% des Russischen Handelsvolumens) .../... - 21 3.11 Reallohn, jährl. Veränderung in % -23,2% (1999), 18.0% 2000), 20.0% (2001), 16.2% (2002), 9.8% (2003) 3.12 Gewerkschafts-Dachverbände FNPR (Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands) mit rd. 40 Mio. Mitgliedern in 44 Einzelgewerkschaften Neue Gewerkschaften wie "Unabhängige Bergarbeiter-Gewerkschaft" und "Soziale Gewerkschaft" mit weit weniger Mitgliedern (keine offiziellen Statistiken) Zusammenarbeit der drei Bünde, die Mitglieder des IBFG sind 3.13 Dachverbände der Arbeitgeber "Russischer Verband der Industriellen und Unternehmer (RSPP)" mit 89 regionalen Abteilungen; "Handels- und Industriekammer der Russischen Föderation (TPPP)" mit 140 territorialen Kammern; "Gesellschaftliche Organisation der Klein- und Mittelunternehmen(OPARA)", vor allem im Handwerk und in der Landwirtschaft; 2003 in RSPP eingegliedert Zahlreiche branchenspezifische Assoziationen, darunter auch "Runder Tisch der Geschäftsleute Russlands" aus ca.30 Konzernrepräsentanten 3.14 Nicht-Regierungs-Organisationen Ca. 300.000 registrierte, wovon ca. 30.000 als aktive (NRO=NGO) Organisationen gelten Seit 2001 zwei "Plattformen": "Forum Demokratische Beratung" aus mehreren unabhängigen NRO; "Bürger-Forum" von Präsident Putin initiierte Begegnung von ca. 3.000 Repräsentanten der Zivilgesellschaft und 2.000 Vertretern der nationalen und regionalen Behörden. Quellen: Fischer Weltalmanach 2005; Harenberg Länderlexikon; Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; eigene Berechnungen und Schätzungen soweit keine Statistiken auffindbar. Dr. Ernst Piehl /Dr. Peter W. Schulze November 2004 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 22 2. UKRAINE PORTRÄT (am Ende des Kapitels) 2.1 Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage Die Ukraine ist mit über 600.000 Quadratkilometern der größte Flächenstaat Europas. (Russland versteht sich selbst zu Recht als eurasische Föderation). Sein Name "UKRAINA" bedeutet "Grenzland", historisch an der Grenze zwischen römisch-katholischer Welt mit lateinischer Schrift und der russisch-orthodoxen Welt mit kyrillischer Schrift, später Grenzland der zaristischen und sowjetischen Imperien, gegenwärtig im Sinne des unmittelbaren Nachbarn an der Ostgrenze der erweiterten EU und als Scharnier zu den anderen Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres, insbesondere zu Georgien und Armenien, die historisch-kulturell europäische Länder sind und folgerichtig Mitglieder des Europarates wurden. Der Anteil der ukrainischen Titularnation an der Gesamtbevölkerung von ca. 48 Millionen Menschen beträgt nach der letzten Volkszählung (2001) nahezu 78%; die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind mit über 17% die Russen, die damit die größte russische Bevölkerungsgruppe außerhalb der RF stellen. Der mannigfaltige Einfluss Russlands wirkt auch auf die heutige Ukraine durch die gemeinsame Geschichte über viele Jahrhunderte auch nach knapp 15 Jahren Unabhängigkeit nach, verstärkt dadurch, dass auch ethnische Ukrainer Russisch sprechen, allerdings weniger im Zentrum und fast gar nicht im Westen der Ukraine 19. Die übrigen 5% der Einwohnerschaft kommen von einer Vielzahl anderer nationalen Minderheiten, die aber alle weniger als 1% der Bevölkerung ausmachen. Beim Zerfall des sowjetischen Vielvölkerreiches spielte die Ukraine eine entscheidende Rolle: Als die ukrainische Bevölkerung Ende 1991 mit 90% Mehrheit die Unabhängigkeitserklärung des Parlaments bestätigte, bedeutete dies faktisch das Ende der Sowjetunion. Der Transformationsprozess des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ist in der Ukraine wie in den meisten der postsowjetischen Republiken keinesfalls abgeschlossen. Die Defizite in den demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen werden von dem innen- und außenpolitisch widerspruchsvollen Regime nicht abgebaut, das von Präsident Kutschma, der seit 1994 im Amt ist, autoritär repräsentiert wird. Freilich hinderte Kutschma der doch schon erkämpfte Grad an pluralistisch-demokratischen Strukturen nach der 1996 verabschiedeten Verfassung an der rein formal möglichen dritten Kandidatur. Die für den 21. November 2004 angesetzte Stichwahl ist durchaus offen, was trotz aller Manipulationen seitens der "Partei der Macht" vor allem der demokratischen Reife einer erstaunlich weit entwickelten Zivilgesellschaft zu verdanken ist. 19 Siehe Landes-PORTRÄT in dieser Studie; eingehende Analyse des "regionalen" und des "russischen Faktors" folgt im UkraineTeil des Januar 2005 erscheinenden Buches zu den vier östlichen Nachbarn der EU, das vom Autor und je einem Experten für die RF und Weißrussland verfasst ist. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 23 - Die unzureichenden Strukturreformen in der ukrainischen Wirtschaft sind ursächlich für die mangelnden Investitionstätigkeiten durch die führenden Volkswirtschaften Europas, Amerikas und Asiens, so dass die Ukraine wirtschaftlich von Russland abhängig bleibt. Die Erfolge der letzten Jahre, vor allem hinsichtlich der eindrucksvollen Wachstumsraten, können die strukturellen Probleme nicht lösen, zumal die ukrainische Wirtschaft von Oligarchen beherrscht wird; die sowohl direkt mit der einflussreichen Präsidialadministration von Präsident Kutschma verbunden sind als auch über Parlamentsmandate mit der "Partei der Macht"; Letzteres verschafft ihnen Immunität vor Strafverfolgung bei ihren undurchsichtigen Geschäften, die nach Auffassung kritischer Beobachter in das Milieu der organisierten internationalen Kriminalität hineinreichen. Die antisowjetische Protestbewegung als erstmalige Manifestation einer Zivilgesellschaft in der Ukraine in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, die sich sowohl aus National-Demokraten der "ukrainischen Wiedergeburtsbewegung RUCH" als auch aus den Reformkräften in der KP und den ihr nahe stehenden Massenorganisationen zusammensetzte, fiel spätestens mit der Wahl Kutschmas 1994 auseinander. Das historisch erklärbare Fehlen eines bürgerschaftlichen Bewusstseins und die Zersplitterung in viele aktive, aber kleine Einzelgruppen der Zivilgesellschaft sind paradoxerweise Elemente der Stabilität in der postsowjetischen Ukraine, denn keine westliche Gesellschaft hätte vermutlich vergleichbar dramatische soziale Einbrüche mit relativer Gleichmütigkeit ertragen wie die ukrainische (wohl nur vergleichbar mit der Situation in Russland). Die im vergangenen Jahrzehnt massiv gewachsene Kluft zwischen den Massen der Bedürftigen, deren Einkommen teilweise unter die Armutsgrenze gefallen sind20, und den wenigen Wohlhabenden hat bisher kaum soziale Unruhen ausgelöst. Die Oligarchen, gleichermaßen mächtig in Wirtschaft und Politik, sind die unbestrittenen Gewinner der Transformation in der gegenwärtigen Ukraine. Sie haben ein hohes Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo und treten gegen die Rückkehr zum Kommunismus ebenso wie gegen einen demokratischen Wechsel und marktwirtschaftliche Reformen auf. Gegenüber dieser enormen OligarchenMacht (offenkundig noch stärker als in Russland und in den anderen postsowjetischen Gesellschaften) haben in der heutigen Ukraine sowohl die organisierte Zivilgesellschaft wie die Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen als auch die schwach organisierten und noch zersplitterten NRO einen schweren Stand. In der erst 1996 (später als in den drei Nachbarstaaten) und auf Druck der europäischen Institutionen, insbesondere seitens des Europarates im Zuge der Aufnahme der Ukraine, zustande gekommenen Verfassung sind formal "Verbände, Vereinigungen und Interessen- 20 Bei einer gesamtukrainischen Umfrage im Jahre 2002 stuften 49,7% "ihre Situation als elend" ein, während das Prädikat „sehr gut" lediglich von 1,9% gebraucht wurde, zit. in: Gerhard SIMON, Die neue Ukraine. Gesellschaft-Wirtschaft-Politik, Köln, 2002, S. 20. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 24 gruppen jeglicher Orientierung" in Artikel 36 verankert, jedoch gibt es in der Verfassungswirklichkeit seitens der Verfassungsorgane keine Förderung, sondern eher Behinderungen. 2.2 Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen Als Nachfolgeorganisation der sowjetischen Gewerkschaften konstituierte sich 1991 die "Föderation der Gewerkschaften der Ukraine" (FPU), der im Jahre 1999 42 Branchenverbände und 26 regionale gewerkschaftliche Gliederungen angehören. Nach eigenen Angaben vertritt die FPU "über 20" bzw. gemäß der Schätzung des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) 12,6 Millionen Mitglieder; dies entspricht fast 40% (FUP) bzw. über 25% (IBFG) der gesamten Bevölkerung und 97% (FPU) bzw. ca. 66% (IBFG) der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in der Ukraine. Auch wenn die eigenen Angaben vermutlich übertrieben und die entsprechenden Zahlen des IBFG21 schwierig überprüfbar sind, bleibt unbestritten, dass die FPU die mit weitem Abstand größte Konföderation in der Ukraine ist; mit diesen Zahlen gehört die FPU gegenwärtig zu den mitgliederstärksten Gewerkschaftsbünden Europas ; sie hat bis heute in den meisten Branchen ein Monopol bei der Vertretung der Beschäftigten aufrecht erhalten. Obwohl die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft freiwillig ist, müssen Arbeitnehmer bei einem Austritt aus der FPU faktisch den Verlust bestimmter Vorteile und Beihilfen in Kauf nehmen22. Als Ausdruck auch politischer Vertretungsinteressen der FPU kann die Wahl des Vorsitzenden Oleksandr Stojan (gewählt 1992; wiedergewählt 1997 und 2002) bei den Parlamentswahlen 1998 auf der Liste der "AllUkrainischen Partei der Werktätigen" gewertet werden, zumal gegenwärtig vier weitere hochrangige FPU-Repräsentanten im ukrainischen Parlament vertreten sind. Ohne die komplexen Entwicklungen in der seitherigen Innenpolitik hier analysieren zu können, sei festgehalten, dass dieser dominierende Gewerkschaftsbund sich mit der "Partei der Macht" des Staatspräsidenten - bei aller Einzelkritik an den sozialen Verschlechterungen – und somit mit dem herrschenden Regime wie seit jeher arrangiert hat. Der Gewerkschaftsvorsitzende Stojan war in der Wendezeit "Berater für Arbeitsbeziehungen" beim ersten Präsidenten Krawtschuk. Dieser sorgte dann für seine Wahl zum Vorsitzenden der Gewerkschaftsföderation. Die FPU hat sich seit 1991 mit Forderungen oder gar Streikandrohungen an den Staatspräsidenten und dessen Regierungen sehr zurückgehalten, obgleich die soziale Verschlechterung reichlich Anlässe zu massiven Protesten gegeben hätte. Die FPU wird von kritischen Beobachtern deshalb insgesamt als "Schaf im Wolfspelz"23 charakterisiert. Neben der FPU sind seit 1989 auch vom herrschenden Regime unabhängige Gewerkschaften entstanden: Insgesamt wurden rund 90 registriert, wovon gegenwärtig noch 42 bestehen, die alle relativ klein, meist nur auf einen Sektor konzentriert und oft von vorübergehender Lebensdauer sind. sie verfügen faktisch über sehr begrenzten Einfluss, auch wenn sie vom 21 22 23 Alle IBFG-Angaben basieren auf dem "Mission Report of the ICFTU Executive Board in Ukraine" vom 14.11.2003, der dem Autor vorliegt. So der Experte Paul KUBICEK zit. bei Ellen BOS, Das politische System der Ukraine, 2004, in: Ismayr, Köln 2004, S. 500. KUBICEK,aaO., S.34 . CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 25 Kutschma-Regime zu verschiedenen "Konsultationsgremien" wie in den "Nationalen Rat für Soziale Partnerschaft" einbezogen werden, um getroffene Entscheidungen "abzusegnen". Insgesamt wird ihre Mitgliedschaft auf gegenwärtig rund 600.000 Mitglieder geschätzt , wovon namentlich die "Konföderation der freien Gewerkschaften" (KVPU) mit 125.000 (nach eigenen Angaben) den größten Anteil hat. Dieser oppositionelle Gewerkschaftsbund basiert auf den Streikkomitees der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, vor allem im Bergbausektor und wurde 1997 als branchenübergreifende Konföderation geschaffen. Allerdings bleibt der KVPU auf den Bergbau (mit 52.000) und auf den Bildungs- und Forschungsbereich (mit 30.000 Mitgliedern) konzentriert, so dass sein Einfluss branchenübergreifend begrenzt ist. Hinzu kommt, dass das herrschende Regime mittels der "legalen Anerkennungsprozeduren" ein restriktives und oft willkürliches System der Selektion anwendet, wobei die FPU als die mit Abstand größte Konföderation privilegiert wird. Die KVPU wurde jüngst in den IBFG als Vollmitglied aufgenommen, während der Beitrittsantrag seitens der FPU vom IBFG in der Schwebe gehalten wird. Nachdem die ähnlich strukturierte, traditionelle Gewerkschaftsföderation Russlands bereits Mitglied im IBFG ist, wird dieser Schwebezustand von ukrainischer Seite als ungerechtfertigte Benachteiligung empfunden. Eine besondere Erwähnung verdient die bereits 1990 entstandene "Unabhängige Bergarbeiter-Gewerkschaft NPGU", die im Wesentlichen aus den Streik- und Arbeiterkomitees der Bergarbeiter im Donbass-Industriebecken hervorging. Diese hatten sich als Interessenvertretung der Arbeiter in den Kohlegebieten während der Wendezeit gebildet. Im Unterschied zu den anderen Freien Gewerkschaften erreichte die NPGU mit rund 65.000 Mitgliedern zumindest vorübergehend erhebliches politisches Gewicht. So konnte sie 1992 den Rücktritt von Ministerpräsident Fokin (während der Präsidentschaft von Lionid Krawtschuk) und im Herbst 1993 sogar die Anberaumung vorgezogener Neuwahlen von Parlament und Präsidentschaft erzwingen. Darüber hinaus gelang es den streikenden Kohlearbeitern, weit reichende Zugeständnisse der Regierung zur erkämpfen. Freilich haben sie damit unfreiwillig den Boden für das Regime Kutschma geebnet, in dem sie nach einem Jahrzehnt stark dezimiert und ohne nennenswerten Einfluss existieren. Weitere erwähnenswerte unabhängige Gewerkschaften sind diejenigen der Lokführer und des Lufthafenpersonals. In diesen sensiblen Bereichen können auch zahlenmäßig kleine Gruppen – wie auch in westlichen Gesellschaften – die gesamte Wirtschaft lahm legen bzw. empfindlich treffen. Freilich haben diese überwiegend korporatistisch-egoistischen Charakter und tragen wenig zur Entwicklung einer auf sozialen Ausgleich bedachten Zivilgesellschaft bei. Bei aller Verschiedenheit hat sich inzwischen eine erwähnenswerte Gemeinsamkeit unter allen genannten Gewerkschaften entwickelt: Sie befürworten jetzt einmütig die "europäische Perspektive" der Ukraine, d.h. sie sind für rasche Fortschritte für die Integration in die EU. So begrüßen jetzt alle Gewerkschaftsbünder der Ukraine den Sozialen Dialog als europäische Errungenschaft und treten für zunehmende Kontakte mit den entsprechenden Organisationen der EU ein. Es wird sich nach der Klärung des stark kontroversen Ausgang der jüngsten CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 26 Präsidentenwahlen vom 21. November 2004 zeigen, ob die organisierte Arbeitnehmerschaft den europafreundlichen Absichtserklärungen konsequentes Handeln folgen lässt. 2.3 Arbeitgeberverbände und Unternehmerclans (Oligarchen) Die früheste formalisierte und bis heute wichtigste Organisation zur Interessenvertretung von Unternehmen und Arbeitgebern in der Ukraine ist der 1990 gegründete "Verband der Industriellen und Unternehmer" (UPSS); seit Mitte der 1990er Jahre gehören dem UPSS rund 15.000 wirtschaftliche Unternehmen mit zusammen knapp 5 Millionen Beschäftigten an (ca. vier Fünftel aller Erwerbstätigen). Mehr als die Hälfte der Mitglieder der UPSS zählen zum staatlichen Sektor. So repräsentiert der Verband mehr als vier Fünftel aller staatlichen Unternehmen. Der USPP unterhält sehr enge Beziehungen zu Präsident Kutschma, der vor seiner politischen Karriere selbst Vorsitzender des UPSS war, sowie zu dessen jeweiliger Regierung seit 1994. Von 1997 bis 2001 wurde der Unternehmerverband von Anatolij Kinach geführt, bevor dieser von Präsident Kutschma zum neuen Ministerpräsidenten ernannt wurde. Der Ernennung ging bezeichnenderweise der Sturz des Reformpremiers Juschtschenko voraus, der vom Präsidenten nur anderthalb Jahre im Amt belassen wurde. Der UPSS plädierte von der Wendezeit an für ein langsames Reformtempo und nutzte die ersten Jahre zur Privatisierung im persönlichen Interesse der Nomenklatura. Der UPSS gilt von Gründung an als Interessenvertretung der konservativen "roten Direktoren"24, von denen offenkundig viele dem sowjetischen Imperium weiterhin nachtrauern. Dieser Verband sichert(e) den Mächtigen in der Sowjetwirtschaft weiterhin Einfluss, der vormals über die Parteihierarchie geltend gemacht wurde. Die Teilhabe an der neuen Macht stellt eine Fortsetzung der korporatistischen und republikübergreifenden Beziehungen dar, die Systemmerkmale der UdSSR waren. Die UPSS wurde und wird von den Mitgliedern der Nomenklatura als "sicherer Hafen" genutzt, um sich auch bei der Privatisierung strategische Vorteile zu verschaffen25. Freilich war die UPSS auch politisch aktiv und zwar als treueste Stütze des herrschenden Präsidialregimes. Sein Vorsitzender Kinach hielt auch dann zu Präsident Kutschma, als dieser im Verdacht stand, das Verschwinden und die Ermordung des regimekritischen Journalisten Gongadse angeordnet zu haben. Unbeeindruckt von den entsprechenden Massenkundgebungen und der Kritik seitens internationaler Institutionen im Frühjahr 2001, die zum Rücktritt von Kutschma aufriefen bzw. erwarteten, erklärte der Vorsitzende dieser Unternehmerkonföderation auf deren Sonderkongress im März 2001: "Wir unterstützen weiterhin die Bemühungen des Präsidenten, gesetzwidrige Aktionen zur Änderung der Verfassungsordnung zu unterbinden"26. 24 25 26 KUBICEK, aaO., S. 64f. Martina HELMERICH, Die Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie, Berlin 2003, S. 191. Zitiert aus dem Monatsbericht des Kiewer Zentrums für politische Studien und Konfliktologie, März 2001, S. 14. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 27 Gemeinsam mit dem eng verbundenen "Ukrainischen Arbeitgeber-Verband", der 1998 als Komplementärverband zur Vertretung der Arbeitgeberinteressen gegründet wurde, ist der UPSS in den Konsultationsgremien der von Kutschma von oben verordneten "Sozialen Partnerschaft" an prominentester Stelle beteiligt. Gemeinsam unterzeichnen sie Tarifverträge mit den Gewerkschaftsbünden ebenso wie Kollektivvereinbarungen mit staatlichen Stellen, wenn diese weiterhin die Eigentumsrechte von Unternehmen innehaben27. Der UPSS ist das ukrainische Mitglied in der Internationalen Arbeitgeberorganisation (IOE) mit Sitz in Genf. Generell ist in der postsowjetischen Ukraine die Einflussnahme von Unternehmen über personalisierte Netzwerke die vorherrschende Form ihrer Interessendurchsetzung. Diese Netzwerke oder Clans ersetzen den regelgerechten Wettbewerb von Interessengruppen und ihren Organisationen; dabei haben im Kutschma-Regime 1994-2004 vier Haupt-OligarchenGruppen eine herausragende Rolle: - Die DONEZK-Gruppe wird seit Jahren vom Großindustriellen Rinat Achmetow (zu dessen engerem Clan auch der amtierende Ministerpräsident und Präsidentschaftskandidat Janukowitsch gezählt wird) und vom Vorsitzenden der Liberalen Partei, Schtscherban, geführt: Donezk war die einzige Region, in der die "Partei der Macht" um Präsident Kutschma bei den letzten Parlamentswahlen 2002 gesiegt hatte. - Zur DNJEPROPETROWSKER-Gruppe, die im nationalen Parlament mit der Partei "Werktätige Ukraine" engstens verbunden ist, gehören an leitender Stelle die Oligarchen Pintschuk (Schwiegersohn von Kutschma), Derkatsch (Patensohn des Präsidenten) und der Industrielle Tihipko (Wahlkampfchef von Janukowitsch bis zum 2. Wahlgang im Herbst 2004). - Die einflussreichen Clanchefs WOLKOW (u.a. Leiter des Wahlkampfstabes von Präsidenten Kutschma) und BAKAJ führen die dritte Oligarchengruppe "Finanzen und Kredit", die nicht nur große Finanz- und Energieunternehmen, sondern auch Medienanstalten wie den populärsten privaten TV-Kanal "Eins+Eins" kontrolliert. - Das Oligarchenduo MEDWEDTSCUK und SURKIS führt den "Kiewer Clan", der die sich selbst Vereinigte Sozialdemokratische Partei/SDPU nennende Parlamentariergruppe, die vor allem im Zentrum und im Süden der Ukraine Kernunternehmen kontrolliert; Medwedtschuk als gegenwärtiger Chef der mächtigen "Präsidial-Administration" gilt als "graue Eminenz" des Kutschma-Regimes. Diese vier polit-ökonomischen Konglomerate unter Führung von Oligarchen, die beste Verbindungen zur Staatsspitze haben und meist als Mandatsträger rechtliche Immunität genießen, beherrschen gegenwärtig weitgehend die Ukraine, zumindest bis zur kommenden Präsidentenwahl im Spätherbst 2004. Diese Wendegewinner und Profiteure des Status quo unterneh27 Basis sind die Gespräche mit Vertretern beider Verbände, die der Autor im Juli 2003 auf der Studienreise des EWSA in die CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 28 men alles, damit das bestehende System durch keine Strukturreformen verändert wird. Im Namen eines kurzfristig zu enormem Reichtum führenden Kapitalismus sind sie die stärksten Gegner von marktwirtschaftlichen Reformen. Einflussreiche Unternehmer aus den vier Oligarchengruppen ließen sich zu Parlamentsabgeordneten wählen und besetzten dort dank ihrer Netzwerke rasch Führungspositionen in mehreren bestehenden Fraktionen oder bauten eigene auf. Simultan zur Ausdehnung des polit-ökonomischen Einflusses setzte seit Mitte der 1990er Jahre ein Wettlauf unter den Oligarchen um die Kontrolle wichtiger Massenmedien ein, vor allem der Fernsehsender, was für ihre Wiederwahl von offensichtlichem Vorteil war. 2.4 Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) Wie in anderen Nachfolgestaaten der UdSSR ist auch in der Ukraine die Kultur der Selbstorganisation der Gesellschaft von unten und der Interessenartikulation in lokalen politischen Gruppen noch schwach ausgeprägt. Eine Ausnahme sind die kulturellen Zentren in Galizien (Lemberg), der Bukowina (Cernowitz) und Transkarpatiens (Ushorod) im Westen des Landes, wo offenkundig die Erinnerungen an die Zivilgesellschaften in der Zwischenkriegszeit und in der Donaumonarchie konstruktiv nachwirken. Auf der Ebene der Gesamtnation freilich dominieren immer noch paternalistische Erwartungen an den Staat und der Glaube an einen starken Mann, der von oben die Probleme lösen wird. Dass die ukrainische Bevölkerung in dieser Hinsicht über eine realistische Selbsteinschätzung verfügt, ist einer vom Soziologischen Dienst "Socis Gallup" durchgeführten Umfrage Ende der 1990er Jahre zu entnehmen: Auf die Frage "Welche Eigenschaften sind für das ukrainische Volk charakteristisch?" entschied sich die größte Gruppe (48%) für "Passivität und die Hoffnung, dass jemand unsere Probleme löst"28. Die Einschätzung, keinen oder nur geringen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können, ist weit verbreitet, insbesondere bei der älteren Generation. Zu der vorherrschenden Passivität und dem geringen Interesse an der Politik in weiten Teilen der Bevölkerung (die um ihr tägliches Überleben kämpft) kommt hinzu, dass das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit sowohl der legislativen und exekutiven Institutionen als auch der politischen Parteien äußerst gering zu sein scheint. Vor diesem Hintergrund und angesichts der analysierten Vereinnahmung der zivilen Massenorganisationen auf beiden Seiten des "sozialen Dialogs" durch das politische Regime unter Präsident Kutschma, bleiben die Nicht-Regierungs-Organisationen als einzig vorhandenes Ventil zum Ausdruck gesellschaftlicher Probleme und als Signal der Hoffnung auf neue Eliten in der Zukunft. So ist in den letzten Jahren (ausgehend von einem niedrigen Niveau von rund 4.000 NRO im Jahr 1995 in einer Gesellschaft von fast 50 Millionen Bürgern) eine rasch angewachsene Zahl an NRO’s entstanden: Rund 35.000 waren 2003 registriert mit steigender Tendenz, vor allem getragen von der Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen, die östlichen Nachbarländer der EU führen konnte. 28 Vgl. Alexander OTT, Präsident, Parlament, Regierung - Wie konsolidiert ist das System der obersten Machtorgane, Köln 2002 (Zitat von 1999, bei Bos, aaO., S. 501). CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 29 inzwischen "die Transformation in eine moderne, pluralistische und zivile Gesellschaft" anzeigt und die "sowohl landesweit als auch in den Regionen eine Balance zur offiziellen Macht herstellt und zum Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte wird"29. Allerdings sind die Kapazitäten der NRO und die Nachhaltigkeit ihrer Aktionen bisher eng begrenzt. Vor allem bleiben sie überwiegend von der Finanzierung dritter Geldgeber abhängig, sei es von undurchsichtigen "Spenden" ukrainischer oder russischer Oligarchen, sei es von den Zuschüssen amerikanischer "Privatstiftungen" wie namentlich der "Mott Foundation" oder seitens der EU. Noch nahezu unbekannt ist Finanzierung über Mitgliedsbeiträge und kommerzielle Aktivitäten30. Ein Faktor für die mangelnde Transparenz ist neben der Fülle an NRO, deren Anzahl inzwischen mehr als 40.000 "Organisationen" umfassen dürfte, das vage, übertriebene und von der realen Entwicklung überholte Regelungssystem. Zum Beispiel geht die Rechtsbasis auf ein "Gesetz über Bürgerassoziationen" von 1992 zurück. Außerdem handeln die staatlichen Organe offenkundig willkürlich, insbesondere hinsichtlich die Besteuerung der NRO (sensible Felder sind u.a. mögliche Steuerabzüge für die Sponsoren wie in anderen Ländern auch). Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass sich unter der eindrucksvollen Quantität auch unseriöse NRO befinden, die lediglich zu einem wirtschaftlichen Zweck gegründet wurden, um finanzielle Förderungen aus dem Ausland zu erhalten. Allerdings hat der Autor genug berufliche Erfahrung um zu wissen, dass es dieses Problem mehr oder weniger in allen Ländern besteht. Darüber hinaus gibt es jetzt durch die aufgewertete Rolle der ständigen EU-Delegationen in der Ukraine wie in den anderen TACIS-Ländern eine unmittelbare Kenntnis aller örtlichen Organisationen, so dass "schwarze Schafe" in einem gründlichen Auswahlverfahren entdeckt werden können. Zur Transparenz möge nachfolgend eine eigene Zuordnung in drei Typen von NRO in der Ukraine beitragen, die sich mit notwendiger Aktualisierung auf eine französische Expertise von 2001 stützt: 29 30 Regimetreue NRO, die ausreichend Mittel seitens staatlicher Institutionen und von den ihr nahestehenden Wirtschaftsclans erhalten und die als Auffangbecken für Politiker nützlich sind, deren Mandat aus welchen Gründen auch immer ausgelaufen ist bzw. nicht verlängert wurde; Regimekritische NRO, die statt Unterstützung zusätzliche Schwierigkeiten seitens staatlicher Stellen bekommen und die existenziell von ausländischen Sponsoren abhängig sind, was jedoch für ihre Reputation in der Ukraine misslich ist; Zum dritten Typus gehören vor allem diejenigen NRO, die alle Anstrengungen darauf konzentrieren, zur Finanzierung auch "Drittmittel" zu erhalten, beispielsweise für lokale Europäische Kommission, Länderbericht Ukraine vom 12.5.2004, Brüssel, S.9 (im englischen Original). Vgl. die eingehende Studie des International Centre for Policy Studies, The Non-Profit Governance Practices in Ukraine, Kiev, 7/2003, S. 6 ff. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 30 Projekte durch die Kommunen in den besonders daniederliegenden Problembereichen der medizinischen und der pädagogischen Grundversorgung31. Unter den vielfältigen Aktivitäten der in der Hauptstadt ansässigen NRO, die es trotz aller von den Behörden gesetzten Barrieren geschafft haben, eine mehr oder weniger organisierte Struktur landesweit aufzubauen, ist die "Kampagne gegen die Korruption" hervorzuheben; freilich konnten wegen mangelnder Ressourcen (nur ausländische Geldgeber zeigten dafür Interesse) und besonders zahlreicher Schikanen des sich durch die Themenstellung direkt angegriffen fühlenden Regimes nur einige punktuelle Erfolge erzielt werden, beispielsweise gegen die Bestechungsgeldpraxis bei den Zulassungsverfahren an der renommierten "Mohyla Akademie" der Universität in Kiew32. Erwähnenswert sind auch die engagierten Aktivitäten vieler kritischer NRO, die sich fast vollkommen auf das freiwillige, monatelange und unbezahlte Engagement von Schülern, Studenten und anderen jungen Erwachsenen stützen, in den Wahlkampagnen sowohl 2002 als auch für die Wahlen am 31. Oktober und 21. November 2004; dabei geht es vor allem darum, den massiven Interventionen der Behörden auf allen Ebenen zugunsten der Kandidaten der "Partei der Macht" entgegenzuwirken, da diese "administrative Ressource" bei allen bisherigen postsowjetischen Wahlen vermutlich entscheidende Stimmen für oppositionelle Kräfte gekostet hat. Dabei haben die NRO das sog. Monitoring unabhängiger Beobachter unterstützt, das sowohl während der Wahlkampagne als auch bei der Auszählung der Stimmen von großer Bedeutung ist und vor allem durch die dafür seit 1991/92 vorgesehenen EU-Mittel in den Staaten der ehemaligen UdSSR finanziert wird. Gegenwärtig haben sich vor allem NRO, die die Jugendlichen ansprechen wollen, unter dem Namen "PORA" ("Es ist Zeit") als gut organisierte Studentenbewegung und als loser Dachverband "New choice coalition" zusammengefunden, die insbesondere Aufklärung über die Rolle der Oligarchen und über deren Beziehungen zu den Kandidaten der "Partei der Macht" betreiben. Ein Großteil der NRO hat sich trotz vielfältiger Schwierigkeiten in den drei Wochen zwischen dem ersten Wahlgang und der Stichwahl am 21. November erfolgreich bemüht, die bisher niedrige Wahlbeteiligung der jungen Erstwähler beispielsweise durch Rockkonzerte zu erhöhen. Nach den durch Wahlfälschungen entfachten Auseinandersetzungen nach dem 21.11.2004 hat die PORA mit ihren schätzungsweise 3.000 Aktivisten mindestens 300.000 Mitglieder und Sympathisanten mobilisiert, die wesentlich zu der europa- und weltweit beachteten "OrangeRevolution" beigetragen. Auch wenn deren Ausgang bei Redaktionsschluss dieser Expertise noch offen war, so bleibt deren spektakuläre Erfolge, die das Interesse an der Ukraine wochenlang in nahezu allen Medien Europas weckte, festzuhalten, dass diese zivilgesellschaftliche Massenbewegung ab dem 21. November auf den soliden Fundamenten von NRO 31 32 Basierend auf der soziologischen Analyse von Annie DAUBENTON, Société Civile en Ukraine: Les vigiles de la démocratie, in: Courrier des pays de l’Europe Centrale et de l’Est, Paris 2001, S. 283-302. Diese und andere Informationen basieren auf den Gesprächen des Autors, die er 2003 und 2004 in der Ukraine und in Brüssel führte, namentlich mit Vertretern von NRO, deren Namen ungenannt bleiben, um ihnen mögliche Schwierigkeiten zu ersparen. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 31 basierte, die seit Beginn der 1990er Jahre beispielsweise durch das Demokratieprogramm der EU und durch weltweite Stiftungen wie die von George Soros gefördert wurden. 2.5 Fazit und Ausblick Vor allem die Arbeitgeberverbände und weitgehend auch die Arbeitnehmerorganisationen sind in der postkommunistischen Ukraine (ähnlich wie in Russland) in hohem Maße mit dem "ancien régime" verbunden. Sie sind bis heute insofern korporatistisch organisiert, als diese Interessenvertretungen mit Zustimmung oder während der zehnjährigen Kutschma-Präsidentschaft mit aktivem Zutun des Staates entwickelt worden sind. Die mit großem Abstand gegenüber anderen Organisationen führenden Verbände auf beiden Seiten der "Sozialpartner" (die auch von Präsident Kutschma so genannt werden, ohne damit den Inhalt des gleichen Begriffs in der EU zu übernehmen, den namentlich Jacques Delors am Beginn seiner zehnjährigen Präsidentschaft der Europäischen Kommission 1985 EU-weit einführte) haben faktisch in ihrem jeweiligen Bereich eine Monopolstellung erreicht. Sowohl die FPUGewerkschaftsföderation auf Arbeitnehmerseite als auch der UPSS-Verband im Lager der Arbeitgeber und Unternehmer können nach europäischen Standards nur deshalb zur (organisierten) Zivilgesellschaft gerechnet werden, weil die Mitgliedschaft zu ihren Verbänden formal freiwillig ist; in der Praxis ist es jedoch wegen der faktischen Monopol- bzw. Dominanzstellung beider Verbände allen Betroffenen auf beiden Seiten sehr nahe liegend bzw. stark angeraten, jeweils Mitglied zu werden und auch bei Bedenken nicht auszutreten, da sie sonst mit Nachteilen rechnen müssen. Der Einfluss auf staatliche Politik wird eingetauscht durch staatliche Interventionen auf Verbandsebene, wobei die Verbände von Vertrauensleuten der "Partei der Macht" geleitet werden und so bisher von der Staatsmacht nicht unabhängig sein können. Der Staat appelliert an die führenden Interessenorganisationen der Sozialpartner vor allem, um zur Erhaltung des sozialen Friedens beizutragen. Da die führenden Verbände sich das Wohlwollen des Staates erhalten wollen, sind sie bereit, sich anzupassen bzw. ihre teilweise kritischen Forderungen zurückzustellen. So tragen diese korporatistischen Interessenorganisationen einerseits zur Stabilität und zum relativen ökonomischen Aufschwung in den letzten Jahren bei, andererseits werden die Interessen der Mitglieder hintangestellt, strukturelle Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft werden mitblockiert. Zudem hat der Korporatismus in der Ukraine die negative Folge, dass die Prozesse der ökonomischen Reform und der politischen Demokratisierung von den Sozialpartnern bisher nicht befördert wurden, eher ist das Gegenteil anzunehmen. Die NRO in der Ukraine als Teil einer echten Zivilgesellschaft entwickeln sich unter den Nachwirkungen einer Geschichte und Kultur, die Jahrhunderte lang durch ausländische Imperien beherrscht wurde und vor der staatlichen Unabhängigkeit über Jahrzehnte hinweg durch einen Totalitarismus verformt wurde, mit einer gewissen Ausnahme in den Städten der Westukraine. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 32 - Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass eine tatsächlich unabhängige und pluralistische Zivilgesellschaft erst in wenigen Ländern besteht und überall Zeit zur eigenen Entwicklung benötigt. Der Übergang vom totalitären Ein-Parteien-System, das alles Wesentliche von oben bestimmte, zu einem vom Staate getrennten und von unten sich selbst organisierenden System demokratischer Zivilgesellschaft ist in der postsowjetischen Ukraine seit weniger als 15 Jahren noch nicht abgeschlossen. Neben den organisatorischen Problemen, vor allem der Finanzierung, ist bezüglich der wesentlichen Aktivitäten festzuhalten, dass sie zwischen den Wahlen nur geringes Interesse in der Öffentlichkeit erzeugen können. Der Präsident und seine Regierung (oft aus Technokraten und unpolitischen Experten gebildet) stellen sich so dar, als ob sie über den Interessen von Gruppen in der Bevölkerung stehen, obwohl sie in Wirklichkeit eng mit den Oligarchenclans und deren Partikularinteressen verbunden sind. Dies hat sich bisher eher negativ ausgewirkt auf die Möglichkeiten der NRO, für sich einen Raum zu finden, innerhalb dessen sie wirksam funktionieren und sich festigen könnten. Positiv ist festzuhalten, dass seit den letzten Parlamentswahlen 2002 mehrere parlamentarische Ausschüsse in der Duma "Beratende Ausschüsse" gebildet haben, in denen auch Vertreter der NRO mitwirken; so gibt es jetzt öffentliche Plattformen, im Rahmen derer sie ihre Fachkompetenz und ihre Nähe zur "Gesellschaft von unten" bekannt machen können, was auch bei den bei den Präsidentenwahlen 2004 geschehen ist und sich vermutlich noch besser vorbereitet bei den nächsten Parlamentswahlen 2006 wiederholen wird. Auf diese Weise können sie besser zur Lösung des Hauptproblems: mangelnde Finanzen beitragen, sowohl um die Notwendigkeit einer Basisunterstützung für ihre zivilgesellschaftlichen Organisationen durch den nationalen Haushalt zu unterstreichen als auch um Projektmittel für gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten zu erhalten. So kann auch die für alle Beteiligten missliche Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern abgebaut werden, zumal auf Dauer die Steuerzahler anderer Länder die Hilfsbereitschaft ihrer Institutionen nicht goutieren werden. Die dann verbleibenden Finanziers sind die wenigen reichen Privatstiftungen, meist mit Hauptsitz in den USA, was eine neue Abhängigkeit der ukrainischen Gesellschaft von fremden Imperien bedeuten würde. Auf jeden Fall wird die gegenwärtig bestehende finanzielle "Abhängigkeit vom Ausland" der meisten NRO vom Kutschma-Regime ausgenutzt, um die Aktivitäten der regierungskritischen Zivilgesellschaft in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Ein Weg, um das Kernproblem abzuschwächen, ist die verstärkte Beteiligung ukrainischer Akteure an den vielfältigen Programmen der EU, insbesondere in den Jugend-, Bildungs-, Berufsbildungs- und Forschungsbereichen, in denen auch schon andere europäische Länder mitwirken, die (noch) nicht Mitglieder der EU sind und die eine finanzielle Selbstbeteiligung (unter Anrechnung eigenen Personals und lokaler Logistik) mit Projektzuschüssen kombiniert. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 33 Auf jeden Fall sollte die Kommission darauf drängen, dass in der Umsetzung des jüngst beschlossenen neuen "Aktions-Plans" zwischen der Ukraine und der EU, auch die ukrainische Zivilgesellschaft konkret beteiligt wird, beispielsweise bei Machbarkeitsstudien im Vorfeld neuer Aktionsprojekte und im Monitoring gesellschaftlich besonders relevanter Tätigkeitsfelder. So könnten sowohl die "konservativen Massenorganisationen" auf beiden Seiten des Sozialen Dialogs, für die die "europäische Option" bisher bestenfalls ein Lippenbekenntnis oder eine vage Kongressresolution wert waren, als auch die wichtigsten NRO auf dem "europäischen Dampfer" eine perspektivreiche Aufgabe bekommen. Die Ukraine ist das von der Osterweiterung der EU am stärksten betroffene Nachbarland sowohl in Bezug auf die Länge der gemeinsamen Grenze als auch auf die indirekten Wirkungen wie insbesondere der "brain drain" von jungen, hochqualifizierten Erwachsenen, die auf ukrainische Kosten ausgebildet wurden, aber jetzt überwiegend den EU-Mitgliedstaaten nutzen. Trotz der Widersprüchlichkeit der Europapolitik des zehnjährigen Kutschmaregimes fällt der Ukraine doch die Rolle eines Motors für seine beiden kleineren Nachbarn Belarus und Moldau zu. Diese Antriebsfunktion zeigt sich bereits in der begonnenen Zusammenarbeit in den Grenzregionen, insbesondere in den verbesserungswürdigen Euroregionen im Karpatenraum. Die nach langem und heftigem Wahlkampf vor der Präsidentenwahl 2004 entstandene Möglichkeit eines Wechsels an der Staatsspitze, zu der offenkundig gerade viele NRO beigetragen haben (insbesondere die breite Studenten- und Schülerbewegung PORA, s. vorangegangenes Kapitel), ist bereits ein Zeichen der positiven Entwicklung von einer autoritär-postsowjetischen zu einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft. Erwähnenswert ist auch, dass in der "Orange Revolution", die sofort nach den Wahlmanipulationen am 21. November von internationalen Presseagenturen, Zeitungen und Fernsehstationen der gesamten interessierten Welt vermittelt wurde, auch solidarische Akteure aus den Zivilgesellschaften der Nachbarländer (insbesondere aus Belarus, Polen, Georgien und Serbien eine wichtige Rolle ausübten, denn sie hatten schon jahrelangen Erfahrungen im Kampf gegen autoritär-totalitäre Regime in ihren Ländern. Der EWSA begrüßt die Entwicklung zu einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung und die gemeinsame Verabschiedung des "Aktions-Plans 2004-2006" zwischen der EU und der Ukraine; allerdings sollten mit der neuen Präsidentschaft wesentliche Teile aktualisiert werden. Die Sprecher der Zivilgesellschaften in der Ukraine und diejenigen im EWSA als europäische Plattform derselben in der EU sollten vorab informiert und konsultiert werden. Der EWSA unterstützt die Empfehlung des EP, die politischen und ökonomischen Beziehungen der EU im Lichte des Ergebnisses der Präsidentenwahl in der Ukraine neu zu bewerten und nach einem möglichen, auf jeden Fall verdienten Erfolg der reformorientierten Kräfte in der Ukraine diese aufzuwerten. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 34 Empfehlenswert ist sicher auch die Schaffung einer "Kontaktgruppe" im EWSA, die so bald als möglich in ein "Civil Society Advisory Committee" einmünden könnte, wie dies prinzipiell in Artikel 88 des weiterhin geltenden "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommens – PKA" vorgesehen ist; im administrativen Rahmen des EWSA sollten paritätisch Vertreter der Ukraine und der EU zusammenkommen, die ihrerseits die verschiedenen Gruppen in der Zivilgesellschaft repräsentieren. Nähere Einzelheiten werden wohl auf dem am 19. Januar 2005 stattfindenden Kolloquium auch im Lichte ihrer vielfältigen Aktivitäten in allen Phasen des Europa bewegenden Kampfes vor der Wahl des neuen Präsidenten ihres Landes diskutiert und danach den erneuerten Entscheidungsorganen in Brüssel wie in Kiew angetragen werden. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 35 - LANDESPORTRÄT: UKRAINE 1. BASISINFORMATIONEN 1.1 Bevölkerung Ca. 48 Mio. (2004); 49,5 Mio. (2001); 52,5 Mio. (1991) negative Bevölkerungsrate 0,4% 1.2 Lebenserwartung (2003) 61,6 Jahre (Männer); 72,8 Jahre (Frauen) 1.3 Fläche 603.700 qkm (größter Flächenstaat Europas) 1.4 Dichte (2003) 85 Einwohner pro qkm 1.5 Hauptstadt Kiew/Kyiv: 2,6 Mio. Einwohner (2001) 1.6 Ethnische Strukturen/Minderheiten Ukrainer 77,7%; Russen 17,3%; Andere (namentlich Weißrussen, Polen) 5% 1.7 Sprachen Ukrainisch, Russisch (insbesondere in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim) 1.8 Religionen Ukrainisch-Orthodoxe; Griechisch-Katholische; Russisch-Orthodoxe; Unierte; Römisch-Katholische 2. POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN 2.1 Unabhängigkeit Erklärung 24.08.1991; Referendum 01.12.1991 2.2 Verfassungs-Gesetz 28.06.96 2.3 Präsidiales System ► Staatspräsident auf 5 Jahre vom Volk direkt gewählt ► November 1999 wieder gewählt: Leonid Kutschma; jüngste Wahlen: 31.10. und 17.11.2004 2.4 Regierung ► Ministerpräsident: Viktor Janukovitsch (seit 21.11. 2002); ► Außenminister): Konstantin Grischenko (seit 2.10.2003 2.5 Parlament (Werchowna Rada) ► 450 Abgeordnete, 4 Jahre, 14 Fraktionen; ► nächste Wahl: Frühjahr 2006 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 36 2.6 Beziehungen zur EU ► Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen" mit der EU: Unterzeichnet 1994, ratifiziert 1998 ► "Gemeinsame Strategie" der EU-Mitgliedstaaten für die Ukraine Dezember 1999 ► "Aktions-Plan" der EU im Rahmen der ENP Unterzeichnet Herbst 2004 2.7 Mitgliedschaft in Internationalen ► Institutionen ► ► ► 3. ÖKONOMISCH-SOZIALPOLITISCHE DATEN 3.1 BIP je Einwohner 3.2 BIP in Prozent des Durchschnitts 3,4% von EU-15 3.3 Wachstum des BIP 9,4% (2003); 5,2% (2002); 9,2% (2001) 3.4 Inflationsrate 5,2% (2003); 8,0% (2002); 12,0% (2001) 3.5 Arbeitslosenquote (2004) Ca. 11% geschätzt; offiziell 5% (weit verbreitete Schattenwirtschaft) 3.6 Ausländische Direkt-Investitionen 1248 Mio. Euro (2003) 3.7 Gesamt-Exporte 21,0 Milliarden Euro (2003) 3.8 Gesamt-Importe 21,2 Milliarden Euro (2003) 3.9 Exporte in die EU-25) 7,0 Milliarden Euro (2003) Vereinte Nationen (UN) seit Gründung 1945 OSZE seit Gründung 1974 Europarat seit 1995 Laufende Beitrittsverhandlungen mit der WTO 3.10 Importe aus der EU-25) 6,9 Milliarden Euro (2003) 3.11 Gewerkschafts-Bünde ► "Föderation der Gewerkschaften der Ukraine /FPU" ► "Konföderation der freien Gewerkschaften/KVPU" Zwei 20 Mio. Mitglieder (eigene Angabe); geschätzt 12 Mio. (IBFG) 125.000 Mitglieder (eigene Angabe) CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 37 3.12 Formelle und informelle Verbände/ Netzwerke der Arbeitgeber ► "Verband der Industriellen und 15.000 Unternehmen mit ca. 5 Mio Beschäftigten Unternehmer/UPSS" ► "Ukrainischer ArbeitgeberFormalisierte Arbeitgeberfunktion für den UPSS Verband" ► "Informelle Netzwerke/WirtVier führende Oligarchen schaftsclans" 3.13. Nicht-Regierungs-Organisationen Geschätzt auf ca. (NRO=NGO) ca. 4.000 (1995) 40.000 (2004) gegenüber Quellen: Fischer Weltalmanach 2005; Harenberg Länderlexikon; Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER Kiew), eigene Berechnungen/Schätzungen bei fehlenden Statistikken. Dr. Ernst Piehl, November 2004 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 38 3. WEISSRUSSLAND und ZIVILGESELLSCHAFT PORTRÄT (am Ende des Kapitels) 3.1 Hintergrund, besondere Bedingungen und aktuelle Lage Die Republik Belarus gehörte bis zur Auflösung der UdSSR Ende 1991 zum sowjetischen Staatsgebiet. Auf dem gut 200.000 Quadratkilometer großen Territorium leben gegenwärtig rund 10 Millionen Menschen (etwa soviel wie in Belgien, allerdings stärker abnehmend), von denen rund 80% weißrussischer und 13% russischer Nationalität sind. Die restlichen Einwohner setzen sich aus Polen, Ukrainern und anderen Ethnien der ehemaligen UdSSR zusammen. In Bezug auf die drastisch schwindende Bevölkerungszahl sind als Gründe neben den seit längerem wirkenden Faktoren wie Alkoholismus, AIDS und Geburtenrückgang auch die jüngst enorm ansteigende Zahl an (meist illegalen) Emigranten (nicht nur nach Russland und in die Ukraine, sondern vermehrt in die USA und in die EU) hervorzuheben, insbesondere aus der jüngeren Generation. Der 1990/91 auch in Weißrussland begonnene politische, gesellschaftliche und ökonomische Wandel ist nicht nur unvollständig geblieben, sondern seit 1996 hat sich eine "dramatische Rückwärtsentwicklung"33 vollzogen. Die ersten Erfolge auf dem Wege zu politischem Pluralismus und Marktwirtschaft wurden so stark zurückgedrängt, dass der gesamte Transformationsprozess inzwischen als zumindest vorläufig gescheitert angesehen werden muss. Das von Staatspräsident Lukaschenko seitdem beherrschte politische System in Belarus kann als "autoritäre Diktatur" mit "gewissen Tendenzen zu totalitären Strukturen" charakterisiert werden34. In den ersten Jahren der postsowjetischen Unabhängigkeit zeigte sich rasch, wie wenig die Entscheidung zur Auflösung der UdSSR von der Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung getragen wurde. Das nach dem Verfassungscoup 1996 etablierte Lukaschenko-Regime brach die Beziehungen zum Westen im allgemeinen und insbesondere zu den europäischen Institutionen ab; infolgedessen setzte der Europarat den Beobachterstatus aus, den Belarus seit 1992 inne gehabt hat (allerdings unterhält Weißrussland bis heute ein Büro im Straßburger Europaratsgebäude ebenso wie eine diplomatische Mission in Strassburg). Das bereits ausgehandelte Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen (PKA) mit der EU wurde von den EU-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert; allerdings gibt es auch in Brüssel eine ständige diplomatische Mission unter Leitung eines offensichtlich wichtigen Botschafters (der ehemalige Amtsinhaber Martynow ist der gegenwärtige Außenminister). 33 34 Vgl. den aktuellen Überblick von Silvia von STEINSDORFF, Das politische System Weißrusslands (Belarus), in: Ismayr (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2004, S.429-467, die auch auf die geschichtlichen Hintergründe eingeht. Vgl. Andrei SANNIKOV: Belarussian totalitarianism is a reality (www.charter97.org) und Kurt KLEIN, Keine autoritäre Diktatur entstehen lassen, in: Das Parlament, Nr. 29 /1997, S. 14 und aktueller Heinz TIMMERMANN, Die EU und ihre neuen Nachbarn Ukraine und Belarus, SWP-Studie 41, Berlin 2003. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 39 Die (bei Staatsgründung) mehrheitlich ungewollte Eigenstaatlichkeit zählt ebenso zu den wichtigsten Gründen für das bisherige Scheitern des Systemwandels in Weißrussland wie die verschleppte Liberalisierung auf wirtschaftlichem Gebiet. Das mittels geschickt eingesetzter Volksabstimmungen formal legalisierte autoritäre Regime hat selbst das dem Präsidenten nahestehende Parlament dadurch entmachtet, dass der Präsident alle sensiblen Probleme auf dem Verordnungsweg entscheidet; so sind unter den rund 130 präsidialen Dekreten auch diejenigen, die die Zivilgesellschaft betreffen. Die weißrussische Verfassung aus der Wendezeit, selbst in der von Lukashenko im November 1996 staatsstreichlässig veränderten Fassung, bekennt sich zum "politischen Pluralismus" und betont in Art. 5 ausdrücklich die "Rolle der gesellschaftlichen Vereinigungen bei der Förderung der politischen Willensbildung der Bürger"; außerdem werden in Art. 35 die Versammlungsfreiheit und in Art. 36 die Vereinigungsfreiheit garantiert. Allerdings werden in der politischen Wirklichkeit seit 1996 diese Verfassungsbestimmungen systematisch ausgehöhlt, indem diese konstitutionellen Rechte entgegen europäischen Standards durch eine Serie von Präsidialdekreten stark beschnitten wurden: So schränkte Lukashenko das Streikrecht und die Demonstrationsfreiheit drastisch ein und schuf neue polizeirechtliche Auflagen; so dürfen nach einem Dekret vom März 1997 alle Demonstrationen "den Verkehr nicht behindern" und sind nur noch auf Bürgersteigen gestattet; bei Verstößen gegen diese Bestimmungen ist die Polizei u.a. autorisiert, "ohne Gerichtsverfahren empfindliche Geldstrafen in Höhe von 10 bis 20 Durchschnittslöhnen zu verhängen"35. Die in den letzten Jahren verschärften Unterdrückungsmethoden lassen vermuten, dass das polizeistaatliche Regime Lukashenkos auf diese Weise sein politisches Überleben sichern wollte; dieser Annahme widersprachen bis 2002/03 jedoch die Ergebnisse vieler Meinungsumfragen und der relativ korrekten Wahlen, wie die internationalen Beobachter feststellten und die vergleichsweise hohen Sympathiewerte um 50% für den Staatspräsidenten bis zum Ende der 1990er Jahre. Allerdings sind letztere seitdem stark gesunken: Im April 2000 auf ca. 38% und im Juli 2003 auf 23,2%36. Die überwiegend auf verlustbringenden Staatsbetrieben basierende Wirtschaft von Belarus verschlechtert und die Versorgungslage der Bevölkerung verschärft sich besorgniserregend: Vor 1991 war Weißrussland die "Montagehalle" der UdSSR, vor allem für technologisch hochwertige Produkte wie in der Feinmechanik und in der Rüstungsgüterindustrie; die westlichste Republik der UdSSR hatte (mit Ausnahme der Hauptstadt) mit den baltischen Republiken den höchsten Lebensstandard mit vergleichsweise gut entwickelter Konsumgüterversorgung. Freilich war und ist die weißrussische Wirtschaft von Russland schon deshalb abhängig, weil ca. 90% der benötigten Energie und Rohstoffe aus Russland kommen; im Außenhandel ist die Dominanz mit ca. 56% geringer, aber mit enormen Abstand zu allen anderen Ländern (Deutschland folgt mit ca. 6% an 2. Stelle). 35 36 Dekrete zit. bei STEINSDORFF, 2004, aaO, S. 453. So eines der wenigen verbliebenen unabhängigen Meinungsforschungs-Institute NISEPI im Juli 2003, zit. bei: STEINSDORFF, 2004, aaO, S.456. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 40 Wirtschaft und Politik sind im Kontext der Parlamentswahlen und des Lukaschenko-Referendum am 17. Oktober 2004 unübersichtlich und überlagert von der Ungewissheit über die künftigen Beziehungen mit dem dominierenden großen Bruder im Osten: Da sich die Beziehungen zwischen den Präsidenten Putin und Lukaschenko in den vergangenen Jahren verschlechterten, wurden die Gründungsfristen der seit Jahren vorbereiteten Projekte einer "Großrussischen Vereinigung" und einer Währungsunion mit dem russischen Rubel nicht eingehalten. Gleichwohl bleibt die (Wieder-)Vereinigung für einen Teil der politischen Elite einschließlich einiger Sprecher der demokratischen Opposition die erstrangige Option, da für sie ein rechtsstaatliches Russland wichtige Einflüsse auf die Demokratisierung ihres Landes ausüben kann, während sie auf Seiten der EU bisher wenig Interesse an Belarus zu erkennen vermögen. 3.2 Arbeitnehmerorganisationen/Gewerkschaften Laut offiziellen Angaben aus dem Justizministerium soll es 2003 acht "gewerkschaftliche Konföderationen" gegeben haben, denen 38 Branchen- oder Fachgewerkschaften angehören sollen. Von landesweiter Bedeutung sind in der Praxis allerdings: Der aus der sowjetischen Massenorganisation hervorgegangene "Weißrussische Gewerkschafts-Bund" (FPB) mit über vier Millionen und der "Kongress der Demokratischen Gewerkschaften in Belarus" mit ca. 15.000 Mitgliedern. Die traditionelle FPB-Gewerkschaft wurde im Oktober 1990 auf dem 17. Kongress des sowjetischen Einheitsbundes in der SSR von Belarus gegründet und ist die repräsentativste Organisation, die in allen sechs Landesteilen und in den meisten Branchen am stärksten vertreten ist. Das Lukaschenko-Regime unternahm seit seiner Etablierung im Jahre 1994 alle Anstrengungen, diese mit Abstand größte Gewerkschafts-Organisation "unter Staatsregie" zu stellen, um so eine "potentielle Gegenmacht auszuschalten"37. Im Vorfeld der Präsidentenwahlen 2001 einigten sich die vorher zerstrittenen regimekritischen Akteure in der Zivilgesellschaft in der "Bewegung für ein neues Weißrussland" auf einen einzigen Gegenkandidaten, den Gewerkschaftschef Vladimir Gontscharik; trotz des unfairen Wahlkampfes, in dem die Massenmedien den amtierenden Präsidenten massiv unterstützten und trotz der von den internationalen Beobachtern attestierten Wahlfälschungen gelang Gontscharik mit fast 16% ein europaweit gewürdigter Achtungserfolg, der auch in Weißrussland selbst eine öffentliche Diskussion über das Verschwinden mehrerer Oppositionspolitiker auslöste. Daraufhin verstärkte der (mit ca. 75%) wiedergewählte Staatspräsident den Druck derart massiv, dass Gontscharik im Dezember 2001 von seinem Amt als Vorsitzender des FTB zurücktreten musste. Seither beschränkt sich dieser "Gewerkschafts-Bund" – jetzt unter Vorsitz von Leonid Kozik, vormals Leiter der mächtigen Präsidial-Administration und, nach putschartigem Austausch der vormaligen Leitungsgruppe um Gontscharik, auf zentraler Ebene und in den regionalen Gliederungen ganz auf die in der Sowjetzeit vorrangigen Gewerkschaftstätigkeiten, wie bei- 37 Diese und folgende Zitate stammen aus den Interviews, die im Juli 2003 beim Informationsbesuch der EWSA-Delegation in Minsk aufgezeichnet wurden. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 41 spielsweise die Anmahnung der Lohnrückstände in den Staatsbetrieben und die Verbesserung der Freizeitangebote für alle beitragszahlenden Mitglieder38. In der internationalen Arbeit werden die traditionell guten Kontakte mit den Gewerkschaften der Russischen Föderation und denen anderer Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR gepflegt, aber auch mit denen aus Polen und anderen Neumitgliedern der EU. Der FPB wünscht auch Kontakte mit dem EGB bzw. dem IBFG, konzentriert sich aber auf die Zusammenarbeit mit Russland, denn für ihn liegt "der Schlüssel zur Lösung der Probleme von Weißrussland in Moskau". Der "Kongress der Demokratischen Gewerkschaften WeißRusslands/BKDP" geht auf die Streikkomitees in der Wendezeit zurück und wurde nach harten Auseinandersetzungen mit dem Lukaschenko-Regime 1993 gegründet und erst ab 1996/97 auch auf internationalen Druck registriert, nachdem ihm vorher die Registrierung als "Nichtregierungsorganisation" verweigert wurde. Die noch sehr bescheidene Mitgliederzahl erklärt sich vor allem daraus, dass BKDP-Mitglieder in den vorherrschenden Staatsbetrieben ständig von Entlassung bedroht sind bzw. nicht eingestellt werden; das bedeutet praktisch ein Organisationsverbot angesichts der dramatischen Wirtschaftslage und der sich verbreiteten Armut im gegenwärtigen Belarus. Gegen diese und andere anti-gewerkschaftliche Interventionen sind seit Jahren Verfahren bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf anhängig, da die weißrussische Regierung die IAO-Konventionen 85, 94 und 98 belegbar verletzt. Gleichwohl lässt sich das Lukaschenko-Regime davon offensichtlich wenig beeindrucken, da die zwischenstaatliche UN-Fachorganisation allenfalls über deklaratorische Druckmittel verfügt. Die Verantwortlichen des "Demokratischen Verbandes" hoffen durch die verstärkten Solidaritätsaktionen gegen die vom herrschenden Regime begangenen Verletzungen von IAOKonventionen auf internationaler Ebene und durch die Annahme des Beitrittsantrags des BKDP auf Mitgliedschaft im IBFG 2003, was auch Kontakte zu den europäischen Gewerkschaftsstrukturen eröffnen könnte, auf mehr Anerkennung und Unterstützung aus dem Ausland; so würde auch die Stellung des "Demokratischen Kongresses" aufgewertet und die Chancen auf Mitgliedererhöhung deutlich verbessert. Auf jeden Fall sei festgehalten, dass trotz oder möglicherweise wegen der Schwierigkeiten seitens des autoritär-totalitärem Regimes unter Präsident Lukaschenko eine (zumindest noch bis Oktober 2004) lebendige Gewerkschaftsszene mit mutigen Führungspersonen in Weißrussland besteht, die sich auch durch einen vergleichsweise fairen Wettbewerb unter zwei jetzt deutlich zu unterscheidenden Konföderationen ergibt. Der traditionelle Bund hat zwar bei weitem mehr Mitglieder und wohl die besseren Beziehungen zu den Gewerkschaften Russlands, der kleinere kann mit mehr westlicher Unterstützung rechnen (beispielsweise in Form von Solidaritätskampagnen des IBFG und in Form der "Internationalen Solidaritäts- 38 Vgl. Astrid SAHM, Verstaatlichung der Gewerkschaften?, in: BELARUS-News, 18/2002, S.7. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 42 Konferenz" vom November 2003) sowie möglicherweise auf Verbündete unter den übrigen regimekritischen Akteuren der Zivilgesellschaft. 3.3 Arbeitgeberverbände/Organisierte Unternehmerschaft Angesichts des anhaltenden außergewöhnlich hohen Staatsanteils in der Wirtschaft von Belarus und als Konsequenz des zunehmend totalitär agierenden Regimes unter Präsident Lukashenko gibt es bisher nur Organisationen, die formal den entsprechenden Organisationen der europäischen Nachbarländer ähneln und auch nach deren Denaturierung durch das Regime nur noch den gleichen Namen tragen: Die "Weißrussische Union von Unternehmern und Arbeitgebern" wurde in den frühen 1990er Jahren, während der kurzen Periode tatsächlicher Transformation gegründet und konnte im Dienstleistungsbereich Fuß fassen; allerdings liegt dessen Anteil am BIP weit unter dem europäischen Durchschnitt. Nach Lukaschenkos Machtübernahme und der systematischen Umsetzung seiner Korporatismus-Konzeption, bei der er offen Ansätze des totalitären Hitlerregimes übernahm, sind den "Arbeitgeber"-Repräsentanten bloße Repräsentanzrollen zugewiesen, vor allem in den zahlreichen trilateralen Gremien auf regionaler und nationaler Ebene. Dabei wirkt auch die stalinistisch-sowjetische Tradition nach: Auf allen drei "Bänken" sitzen in vorderster Reihe führende Mitglieder derselben Nomenklatura, die alle Gefolgsleute des Präsidenten sind und vertrauensvoll den angeblich unfehlbaren Führer unterstützen. Die "Industrie- und Handelskammern" in Belarus bemühen sich einerseits um Ausweitung und Beschleunigung des seit 1996 stagnierenden Privatisierungsprozesses und sind sowohl landesweit als auch branchenübergreifend verankert; andererseits haben sich diese IHK offensichtlich mit dem Regime arrangiert und füllen die ihnen zugewiesene Rolle professionell aus: Sie sind auch mit Unterstützung entsprechender IHK (vor allem aus Deutschland) die Ansprechstelle auf lokaler und regionaler Ebene für die Unternehmen; Die IHK haben in Belarus einen ständigen Kontakt mit den Generaldirektoren der staatlichen Unternehmen und mit den Schlüsselpositionen in der Präsidialverwaltung und in der Regierung, wobei die Herkunft bzw. Zugehörigkeit zum gleichen Führungskader sicher von Vorteil ist; Sie teilen sich die lukrativen Plätze in Beratungsgremien wie dem Rat für Unternehmensentwicklung und dem Rat für Ausländische Investitionen, deren wenige Sitzungen vom Staatspräsidenten persönlich geleitet werden, auch wenn dieser als ehemaliger Kolchosenchef nicht gerade als Experte für internationale Investitionen gelten kann. Zur Ehrenrettung der Arbeitgeberschaft und eines unabhängigen Unternehmergeistes in Weißrussland sei angemerkt, dass es sowohl bis 1996 als auch kurzzeitig im Umfeld der Präsidentenwahlen 2001 einige Repräsentanten gab, die während der Wahlkampagne regime- CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 43 kritische Positionen einnahmen und sogar den Kandidaten der demokratischen Opposition unterstützten39. Seitdem diese jedoch dann vom Lukaschenko-Regime angeklagt und verhaftet wurden, sind keine Stimmen gegen die totalitäre Unterordnung der Wirtschaft und gegen die Gleichschaltung der Interessen innerhalb des politischen Regimes laut geworden. Auch sind dem Autor bisher keine Erklärungen oder gar Aktionen seitens der internationalen bzw. der europäischen Arbeitgeberorganisationen für die Unabhängigkeit der Wirtschaft und für das freie Wirken von Arbeitgebervertretern bekannt geworden, obgleich sie die o.g. weißrussischen Verbände zu ihren Mitgliedern bzw. "Ständigen Gästen" zählen. 3.4 Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) als Hoffnungsträger im autoritären Staat mit einem Präsidenten auf Lebenszeit In den Publikationen westlicher Experten zu Weißrussland werden die NRO als "die derzeit zweifellos wichtigste zivilgesellschaftliche Kraft in Belarus"40 herausgestellt, deren Zahl nach der vom Lukaschenko-Regime verordneten Neuregistrierung im Jahre 1999 wieder auf ca. 2.500 bis 3.000 angestiegen ist. In Relation zur Bevölkerungszahl und angesichts der besonders repressiven Staats- und Regierungsmacht (beispielsweise wurde ein Drittel der Antragsteller beim neuen Registrierungsverfahren abschlägig beschieden) ist die belarussische NRO-Szene bemerkenswert stark. Diese relative Stärke hat drei wichtige Ursachen: Die komplizierten Re-Registrierungs-Verfahren und die ständigen Schikanen seitens des Staates konnten nur die gefestigsten NRO überleben, die spätestens auf Grund dieser existenziellen Erfahrung einen hohen Grad an Motivation und Professionalität aufweisen (müssen). Seit der Machtübernahme Lukaschenkos Ende 1996 sind die politischen Parteien fast vollständig aus dem institutionellen Entscheidungsprozess ausgeschlossen; so haben sich viele Parteiaktivisten in bestehenden NRO engagiert oder neue gegründet. Da Europarat und die EU sowie andere Unterstützer, internationale Regierungsinstitutionen oder private Stiftungen, zwar seit dem "kalten Staatsstreich" von 1996 Boykottmaßnahmen gegen das derzeitige Belarus verhängt, aber dabei stets die weitergehende Unterstützung der Zivilgesellschaft ausgenommen haben, sind Aktivitäten der NRO die einzige Möglichkeit, um (ausländische) Fördermittel zu erhalten. Es soll nicht ausführlich darüber spekuliert werden, ob bei demokratischen Bedingungen in Weißrussland, die Zahl der NRO höher ausfallen würde; nur eine Überlegung sei genannt: Vielleicht wäre die Quantität höher, wohl aber nicht unbedingt die Qualität der Aktionen und sicher nicht die Intensität des Engagements der Beteiligten, was unter autoritären Staatsfor39 40 STEINSDORFF, 2004, aaO, S. 457. SAHM, Zivilgesellschaft als eigenständige Veranstaltung,in: OSTEUROPA, 2/2004, S.106. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 44 men auch anderenorts erfahren wurde. Freilich weist der NRO-Sektor in Belarus strukturelle Mängel (die auch anderswo existieren) auf, die durch die repressiven Bedingungen seitens der Staatsmacht verschärft werden. So sind rund die Hälfte der registrierten NRO in der Hauptstadt Minsk aktiv. In den fünf Großregionen konzentriert sich die NRO-Tätigkeit entsprechend auf deren Zentren. In kleineren Städten und auf dem Land gibt es zwar auch NRO, aber ihre Arbeitsbedingungen sind noch schwieriger als die der NRO in den Städten. Zivilgesellschaftliches Engagement zeigte sich in Weißrussland (wie in anderen Republiken der ehemaligen UdSSR) als Folge von Glasnost und Perestroika in den späten 1980er Jahren , wobei in Belarus die Nachwirkungen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 besonders viele Initiativen und Aktionen beförderten, die bis heute funktionierende Netzwerke mit internationaler Dimension (wie das von "Den Kindern von Tschernobyl") haben entstehen lassen. In den frühen 1990er Jahren kam wie in den anderen postsowjetischen Transformationsstaaten eine Vielzahl an politischen "Bewegungen" hinzu, deren große Mehrheit seit Lukaschenkos Machtübernahme in die Systemopposition gedrängt wurde. Zumindest vorübergehend gelang es den oppositionellen Kräften auf die wachsende Repression mit Vereinigungsinitiativen zu antworten: Im Herbst 1997 gründeten verschiedene Oppositionsgruppen gemeinsam die Bewegung "CHARTA 97", die sich ausdrücklich auf die "Charter 77" der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung berief und alle weißrussischen Bürger aufrief "gemeinsam für unsere Rechte und Freiheiten zu kämpfen sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in unserem Land wieder herzustellen"41. Bereits nach wenigen Monaten hatten 60.000 Menschen den Appell unterzeichnet, auch wenn sonst die breiten Bevölkerungsschichten aus den eingangs geschilderten Gründen eher passiv sind. In den Jahren 1999 bis zu den Präsidentschaftswahlen 2001 konnte die Oppositionsbewegung ihre Aktivitäten (auch in Form von öffentlichen Demonstrationen wie dem "Marsch der Freiheit" im Oktober 1999) verstärken; sie vermochte nicht immer, aber in wiederholter Weise, ihre Aktivitäten zu vereinigen (wie bei der gemeinsamen Unterstützung des Gewerkschaftsvorsitzenden Gontscharik als Kandidat bei der Präsidentenwahl mit Achtungserfolg, siehe obiges Kapitel 3.2.). Insgesamt sei festgehalten: Trotz aller Repression und Schikane (z.B. bei den Registrierungsverfahren und bei Steuererklärungen im Falle ausländischer Unterstützungen) konnten die gefestigten NRO (nach eigener Schätzung nach vielen Gesprächen 2003 und 2004 mit Experten gut 800, wovon etwa 200 regelmäßige Auslandskontakte haben) als aktiver Kern der belarussischen Zivilgesellschaft bis heute überleben, auch wenn dies den Betroffenen enormes Engagement abverlangte. 41 Zitiert bei STEINSDORFF, aaO, 2004, S. 456. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 45 Die gegenwärtig aktiven NRO kann man vereinfachend drei Kategorien zuordnen, was zum Überblick und zum besseren Verständnis beitragen möge: 3.5 Organisationen unter "staatlicher Schirmherrschaft"42, die sich regimefreundlich betragen, von diesem teilweise großzügig finanziell ausgehalten werden, keinerlei Interesse an einer Änderung der politischen Verhältnisse haben und so zu den Stabilisatoren des Regimes gerechnet werden müssen; NRO als vom Regime erzwungener Ersatz für politische Parteien oder Bewegungen, die für die Ablösung des Lukaschenko-Regimes mit allem Engagement kämpfen und Bündnisse/Netzwerke mit Gleichgesinnten suchen; allein 2003 ließ der Präsident ca. 600 NRO schließen und alle, die Unterstützungen aus dem Ausland bekommen, müssen 40% "Gewinnsteuer" an den Staat abführen. NRO, die von einer Polarisierung zwischen den beiden o.g. Gruppierungen Abstand nehmen wollen, um sich auf ein themenbezogenes Arbeitsfeld wie Behinderte oder andere Personengruppen oder auf ökologische Projekte zu konzentrieren; allerdings wittern die Statthalter des offenkundig von Verfolgungswahn befallenen Staatspräsidenten dahinter eine besonders raffinierte Oppositionstaktik, die deshalb auch vom Lukaschenko-Regime schikaniert bzw. verfolgt wird. Fazit und Ausblick Seit der totalen Machtübernahme Ende 1996 hat Staatspräsident Lukashenko Belarus in einen autoritären Polizeistaat transformiert: Nach der Ausschaltung politischer Oppositionsparteien wurden führende Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft (namentlich der ehemalige Vorsitzende Gontscharik des mit Abstand größten Gewerkschaftsbundes, der aus dem sowjetischen Einheitsbund hervorgegangen war) mit direkten Einmischungen in innerverbandliche Entscheidungen kaltgestellt. Willkürliche Verhaftungen, verzögerte und nicht rechtsstaatliche Gerichtsverfahren, hohe Geld- und Haftstrafen bei Nichtbeachtung unsinniger Auflagen bei Versammlungen, Misshandlungen in Polizeigefängnissen sowie Überfälle durch Schlägerkommandos der Sicherheitsorgane kennzeichnen die Behandlung belarussischer Bürger durch Institutionen ihres Staates, der nach außen die Fassade von angeblich weiterhin geltenden Verfassungsbestimmungen und der unterzeichneten internationalen Normen vorzeigen möchte43. Ab der manipulierten Wiederwahl Lukaschenkos als Staatspräsident im Herbst 2001 schien die Autokratie in Belarus weitgehend gefestigt; die vorübergehende Hoffnung auf eine allmähliche Liberalisierung des politischen Regimes unter dem Einfluss der internationalen Gemeinschaft hat sich offenkundig zerschlagen, zumindest vorläufig. Allerdings erscheint auf 42 43 SAHM,aaO, 2/2004, S.106. Vgl. die Jahresberichte von AMNESTY INTERNATIONAL von 1999 und 2000, der diese und andere massive Menschenrechtsverletzungen auflistet, ausführlich zitiert bei STEINSDORFF, 2004, aaO, S. 455. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 46 längere Sicht die (Re-)Demokratisierung Weißrusslands nach wie vor möglich; vor allem weil das Land in Bezug auf Energie von Russland abhängig ist und seine wirtschaftlich-technologische Verspätung nur mit westlicher Technologie aufholen kann; diese objektiven, sich zunehmend verschärfenden Probleme werden zwar durch das autoritäre Regime nach innen verschleiert, sind aber dank der internationalen Kooperation aktiver Teile der Zivilgesellschaft bekannt. Im gegenwärtigen Belarus prallen zwei prinzipiell unterschiedliche Konzepte von Zivilgesellschaft aufeinander: Während der Staatspräsident und sein System die totalitäre Ideologie staatlich geführter, systemloyaler Gesellschaftsstrukturen mit wenigen hierarchisch aufgebauten Massenorganisationen verfolgt (bei Übernahme von Elementen aus dem Zarenreich und vom stalinistischen Sowjetimperium, engagieren sich die vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihrer Mehrheit für Pluralismus und Demokratisierung, also für die Abschaffung bzw. prinzipielle Veränderung des derzeitig herrschenden Systems. In dieser Konfrontation, wo die Mehrheit der Zivilgesellschaft so im Vordergrund des innenpolitischen Lebens steht wie in keinem anderen Land Europas, nehmen die "Sozialpartner" gegenwärtig eine passiv-abwartende und mehrheitlich eher das Regime stützende Haltung ein: Die Gewerkschaften, nach Zerschlagung pluralistischer Kräfte in den traditionellen Großorganisationen, stehen jetzt durch einen Vorsitzenden, der vorher Chef der Präsidialadministration von Lukaschenko war, unter ständiger Kontrolle; die Arbeitgeber-Organisationen lassen sich offensichtlich freiwillig als Transmissionsorganisation der letzten Diktatur auf europäischem Territorium benutzen. Dagegen gibt es im gegenwärtigen Belarus eine beeindruckende Reihe an NRO, die trotz sehr beschränkter Ressourcen und trotz – und vermutlich auch dank – der Repressionen des Staates seit fast zehn Jahren unter Dauerstress aktiv sind und eine hohe Professionalität und Ausdauer aufweisen, wobei diese zivilgesellschaftlichen Gruppen auch mit ausländischen Partnern gut zu kooperieren wissen. Damit tragen sie zum internationalen Know-how-Transfer in ein von der Staatsführung selbstisoliertes Land bei und können auch innovative Impulse für die dringende Modernisierung der belarussischen Gesellschaft geben. Allerdings wird sich das Potenzial von zivilgesellschaftlichen Akteuren nur dann richtig entfalten, wenn entsprechende Reformen im wirtschaftlichen und im politischen Bereich durchgeführt werden. Die polizeistaatlichen Unterdrückungsmethoden sind offenkundig Ausdruck des jetzt total offenkundigen Wunsches von Lukashenko als Person auf Dauer die Macht zu behalten: Die Parlamentswahlen vom 17. Oktober 2004 haben durch systematische Behinderungen von Oppositionellen, durch Verfolgung kritischer Medien (einschließlich des russischen Fernsehjournalisten Scheremet) und durch von der OSZE festgestellten Manipulationen der Ergebnisse in mehreren Wahlbezirken das von Lukaschenko vorher angekündigte Ergebnis gebracht, nämlich alle 110 Mandate sind jetzt von der "Partei der Macht" besetzt. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 47 Bei dem gleichzeitig abgehaltenen "Referendum" stimmten über 77% der Wählenden für die verfassungswidrige Beteiligung Lukashenkos an den nächsten Präsidentenwahlen, was ihm eine dritte Amtszeit eröffnet; nach Angaben der vom Regime kontrollierten "Zentralen Wahlkommission" lag die Beteiligung bei über 90% der Wahlberechtigten, von denen 77,3% für die Abschaffung der Amtszeitbegrenzung für Lukaschenko gestimmt haben sollen. Nach Angaben des weißrussischen Büros des Meinungsforschungsinstituts GALLUP stimmte zwar die Mehrheit der Suggestivfrage zu, aber es nahmen abzüglich der manipulierten Zusatzstimmen nur 48,8% der Wahlberechtigten am Referendum teil; so ist die verfassungsmäßige Beteiligung von 50% plus einer Stimme eigentlich nicht erreicht, was aber das Lukashenko-Regime nicht von Jubelfeiern abhielt. Die Zukunft von Belarus hängt nun erst recht maßgeblich von der nächsten Etappe in den wechselvollen Beziehungen zu Russland und genauer zwischen den beiden PräsidentenAutoritäten ab: Wird Präsident Putin den seit längerem lästigen "slawischen Bruder" fallen lassen und die Pläne einer Union, die er von seinem Vorgänger Jeltzin geerbt hat, aufgeben oder kommt es zu ihrer Wiederbelebung aus geostrategischen oder anderen Interessen? Wenn diese drei innen- wie außenpolitisch gegenwärtig offenen Entwicklungen geklärt sind, wird die EU das auch für Belarus vorgesehene neue Konzept der Nachbarschaftspolitik im Detail entwickeln und in Gang bringen; dafür liegen aus dem generellen Strategiepapier der Europäischen Kommission umsetzbare Maßnahmen vor, und die anderen EU-Organe wie der EWSA sind eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten. Ausdrückliches Ziel der EU ist es, "Belarus auf einen messbaren, allmählichen Prozess zu verpflichten, der sich auf die Schaffung der Voraussetzungen für freie und faire Wahlen und, sobald dies erreicht ist, auf die Einbeziehung von Belarus in die Nachbarschaftspolitik konzentriert, ohne das Eintreten der EU für die gemeinsamen demokratischen Werte Europas zu kompromittieren"44. Da durch diese "Europäische Nachbarschafts-Politik (ENP)" die Demokratisierung im Mittelpunkt steht, sind in Weißrussland keine staatlichen Organe, sondern die (aktiven) zivilgesellschaftlichen Organisationen der Hauptpartner der Zusammenarbeit; dafür werden in den bisherigen Papieren noch zu vage "die durch Hilfsmechanismen der EU geförderten Kontakte der Bevölkerung (people-to-people)" erwähnt. Deshalb können die folgenden, auf Vorschlägen aus der belarussischen Zivilgesellschaft selbst basierenden Anregungen hilfreich sein: 44 Unterstützung unabhängiger Medien auf lokaler und nationaler Ebene, gerade durch Ausbau der schon ansatzweise bestehenden Kooperation mit Partnern in den Nachbarländern Polen und Litauen; EK, Strategiepapier zur Europäischen Nachbarschafts-Politik, 12.5.2004, S.11. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 48 Fortführung und Aufstockung der Hilfsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche aus den von der Tschernobyl-Tragödie betroffenen Regionen, wobei auch die Jugendinstitutionen des Europarates (Europäisches Jugendzentrum und Jugendwerk) mit einbezogen werden sollten; Konkretisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit aktiven NRO aus den Nachbarländern durch Austauschmaßnahmen in den Bereichen Bildung (z. B. durch präzise Fernstudien-Projekte unter Nutzung der elektronischen Medien), Kultur (durch Austausch von Verantwortlichen in lokalen Aktivitäten), Forschung (beispielsweise durch Einbeziehung der renommierten Universität in Minsk) und im Sozialbereich (beispielsweise durch Modernisierung von Krankenhäusern); Aufforderung an die Kommission, die laufenden, spontan entstandenen Austauschprogramme "Von Mensch zu Mensch" zwischen weißrussischen Gemeinschaften von Tschernobyl-Kindern und einigen Gemeinden in den Mitgliedstaaten der Union bestmöglich zu nutzen; Vorschlag an die europäischen Gesetzgeber, einen geeigneten Rahmen zu schaffen, mit dem die Gemeinden in Belarus unterstützt werden können, die sich ernsthaft den demokratischen Werten verpflichtet fühlen. Darüber hinaus sollte Belarus im Rahmen des neuen "Europäischen NachbarschaftsInstruments (ENI)" ab 2007 förderfähig werden, wozu so bald als möglich mehrjährige Projekte vorbereitet werden müssen; diese können auf den Erfahrungen von Projekten in den drei "Nachbarschaftsprogrammen" aufbauen, an denen Belarus bereits beteiligt ist: "Ostsee-Programme", Lettland-Litauen-Belarus, Polen-Ukraine-Belarus. Der EWSA könnte trotz der Unvollkommenheiten gerade bei den bestehenden Organisationen insbesondere auf Seiten der Arbeitgeberschaft, eine Kontaktgruppe mit Vertretern der Zivilgesellschaft auch aus Weißrussland einrichten; darin könnten die Projekte konkretisiert werden, die im Rahmen des künftigen ENP-Programms mit Mitteln des ENI auf mehrere Jahre gefördert werden. Hierfür bestehen bereits Ansprechpartner auf Seiten der Zivilgesellschaft in Belarus, z. B. das jüngst geschaffene Netzwerk "European coalition for a free Belarus", in dem besonders aktive NRO mit Vertretern aus den Gewerkschaften, aus der Unternehmerschaft, aus der Wissenschaft und aus dem Medienbereich zusammenarbeiten. Angesichts der epochalen Ereignisse vor und nach dem 21. November 2004 in der Ukraine, wo auf Seiten der demokratischen Kräfte auch offenkundig viele gesellschaftliche Akteure aus Belarus beteiligt waren, könnten sich positive Perspektiven für die Zivilgesellschaft in Belarus ergeben, trotz und weil in diesem Land der letzte Diktator Europas herrscht. Die CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 49 transnationale Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Ukraine und Weißrusslands sowie möglicherweise auch Russlands (von der vereinzelt Augenzeugen der Demonstrationen in Kiew bereits berichteten) sollte auch von der EU und seinen entsprechenden Programmen in Zukunft stärker als bisher gefördert werden. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 50 - LANDESPORTRÄT: BELARUS 1. BASISINFORMATIONEN 1.1 Bevölkerung 10,2 Mio. Einwohner (2003) 1.2 Lebenserwartung 68,6 Jahre (im Durchschnitt) 2003 1.3 Fläche 207 600 qkm 1.4 Dichte 49,4 Einwohner pro qkm 1.5 Hauptstadt Minsk (1,7 Mio. Einwohner) 1.6 Ethnische Struktur/Minderheiten Weißrussen 81%; Russen 11%; Polen 4,1%; Ukrainer 2,9%; Andere (insbesondere Juden) 1% 1.7 Sprachen Weißrussisch; Russisch 1.8 Religionen Russisch-Orthodoxe (60%); Römisch-Katholische (8%),sonstige Christen (2%); Konfessionslose (30%) 2. POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN 2.1 Unabhängigkeit Erklärung 25.8.1991 2.2 Verfassung 30.3.1994, revidiert durch fragwürdiges Referendum zugunsten umfassender Vollmachten für den Präsidenten im November 1996 2.3 Präsidiale Republik ► Staatspräsident auf 5 Jahre vom Volk gewählt; ► seit 1994: Aleksander Lukaschenko 2.4 Regierung ► Ministerpräsident (seit 2003): Sergej Sidorskij ► Außenminister (seit 2003): Sergej Martynow) 2.5 Parlament ► Oberster Sowjet: 110 Abgeordnete, 4 Jahre, eine dem Präsidenten ergebene Fraktion; alle regimekritischen Parteien nicht mehr im Parlament vertreten ► jüngste Wahl: 17.10.2004 Nationalitätenrat: 64 Abgeordnete CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 51 2.6 Beziehungen zur EU ► "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen" mit der EU 1995 unterzeichnet; von der EU wegen des demokratiefeindlichen LukaschenkoRegimes 1997 nicht ratifiziert ► "TACIS Nationales Programm" seit 1997 storniert, mit Ausnahme gezielter Unterstützung für die Zivilgesellschaft wie das "DemokratieProgramm" der EU 2.7 Mitgliedschaft in Internationalen Institutionen Gründungsmitglied der Vereinten Nationen Mitglied der OSZE 3. ÖKONOMISCH-SOZIALE DATEN 3.1 BIP je Einwohner (2002) 3.2 BIP in Prozent des Durchschnitts 5,7% der EU-25 3.3 Wachstum des (realen) BIP 5% (2003); 3,0% (2001) 3.4 Inflationsrate 35% (2003); 355,1% (im Durchschnitt zwischen 1990-2001) 3.5 Arbeitslosenquote (IAO Definition) 3,1% 2003 (im Durchschnitt der Personengruppen) 3.6 Ausländische Direkt-Investitionen 674,5 Mio Euro (2003) 3.7 Gesamt- Exporte 8.286 Mio. Euro (2002) 3.8 Gesamt-Importe 8.966 Mio. Euro (2002) 1.352 Euro 3.10 Importe aus der EU 1.387 Mio. Euro (2002) 3.9 917 Mio. Euro (2002) Exporte in die EU CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 52 3.11 Gewerkschafts-Dachverbände Zwei: - Weißrussischer Gewerkschafts-Bund (FPB) mit ca. 4 Mio. Mitglieder; nach Maßregelung und Interventionen durch Lukaschenko jetzt regimeverbunden; - Kongress der demokratischen Gewerkschaften Weißrusslands (BKDB), mit ca. 15.000 Mitgliedern regimekritisch 3.12 Dachverbände der Arbeitgeber Zwei: ► "Industrie- und Handelskammer" mit regionalen und lokalen Gliederungen, regimenah; ► "Weißrussische Union von Unternehmern und Arbeitgebern", vertreten in allen Gremien, regimeintegriert 3.13 Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO=NGO) Ca. 3.000 registrierte NRO auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vertreten, ca. 800 trotz aller Repressionen aktiv bleiben, wovon 200 regelmäßige Auslandskontakte haben Quellen: Harenberg Länderlexikon; Fischer Weltalmanach 2005, Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; eigene Berechnungen und Schätzungen, soweit keine Statistiken auffindbar. Dr. Ernst PIEHL / Dr. Heinz TRIMMERMANN, November 2004 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 53 4. MOLDAU und ZIVILGESELLSCHAFT PORTRÄT (am Ende des Kapitels) 4.1 Basisinformationen, Aktueller Überblick und spezifische Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln Mit einer Fläche von ca. 34.000 Quadratkilometern und knapp 4,4 Millionen Einwohnern ist die Republik Moldau45 vergleichsweise dicht besiedelt. Von den gegenwärtig verbliebenen ca. 4 Millionen Moldauern (in Folge starker, meist illegaler Emigration) gehören fast zwei Drittel zur Titularnation mit Rumänisch als Muttersprache und lateinischer Schrift. Die (dort meist Russisch sprechenden) Ukrainer mit rd. 14% und die Russen mit 13% stellen die größten Minderheiten dar. Da sie beide hauptsächlich im Osten Moldaus in der selbst ernannten, abtrünnigen "Republik Transnistrien" (Republik Dnjestr, benannt nach der russischen Bezeichnung des Grenzflusses Nistru) leben, bilden sie dort die Bevölkerungsmehrheit unter den rd. 600.000 Bewohnern mit Russisch als Amtssprache und kyrillischer Schrift. Die im Süden der Djnestr-Republik lebenden Gaugasen (türkischstämmig und -sprachig, orthodoxchristlich, kyrillisch schreibend) stellen gut 3% der Bevölkerung, die restlichen 3% verteilen sich auf weitere Minderheiten. Zwar zeichnet sich das Agrarland durch fruchtbare Böden aus (einschließlich guter Weine), ansonsten ist es jedoch arm an Bodenschätzen. Gegenwärtig hat Moldau europaweit das geringste Pro-Kopf-Einkommen (weniger als 2% des EU-Durchschnitts) und gilt als das "Armenhaus Europas"46. Die fast totale Abhängigkeit von Energielieferungen aus Russland gehört zu den schwierigsten Problemen, zumal die Rohstoffabhängigkeit mit zur enormen Staatsverschuldung des Landes beiträgt. Kennzeichnend für die bisherige Transformation der postsowjetischen Republik Moldau ist insgesamt ein überdurchschnittliches Absinken des Lebensstandards, verschleppte Strukturreformen und eine lückenhafte politische Konsolidierung. Zusätzlich besteht das trotz aller Bemühungen ungelöste Problem des seit dem Bürgerkrieg 1992 abtrünnigen Transnistriens im Osten des Landes, das unter dem populistischen Clanchef Smirnow, einem ehemaligen Sowjetgeneral, enge Beziehungen zu großrussisch agierenden Personen in Moskau und zu internationalen Netzwerken von illegalem Waffen-, Drogen- und Menschenhandel pflegt. Transnistrien ist zu einer Drehscheibe der international organisierten Kriminalität geworden. Vor diesem politisch und ökonomisch problemvollen Hintergrund sind die Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln denkbar ungünstig; insbesondere durch die wachsende Emigration meist junger Erwachsener mit guter Ausbildung verringert sich die Zahl der 45 46 "Republik Moldau" (Kurzform: Moldau) ist die amtliche, in Berlin und Brüssel autorisierte Bezeichnung; der Name Moldawien geht auf die in sowjetischer Zeit übliche russische Bezeichnung "Moldavija" zurück und wird außer im Russischen nicht mehr verwandt. Vgl. Klemens BÜSCHER, Das politische System Moldaus, in Ismayr W. (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2004, S. 516. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 54 Frauen und Männer, die als potenzielle Akteure entweder in der organisierten (landesweit mit Ausnahme Transnistriens agierenden) Zivilgesellschaft oder bei den meist lokal handelnden NRO in Frage kommen. Die Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Stellen verläuft sporadisch und selten spannungsfrei: Zentralisierte Verwaltungsstrukturen (mit Ausnahme Gaugasiens gibt es keine anerkannten regionalen Einheiten) behindern die Entfaltung sozialer Bewegungen und die Vertretung sozialpartnerschaftlicher Interessen. (Auf Druck des Europarates, dem Moldau seit 1995 als Mitglied verpflichtet ist, entsteht eine jedoch erst schwach ausgebildete lokale Selbstverwaltung.) Darüber hinaus ist in der Bevölkerung offenkundig ein Paternalismus tief verankert. Zufolge einer Umfrage von Ende 2002 weisen über 80% der Moldauer dem "Staat die Hauptverantwortung für das Wohlergehen der Menschen" zu, der somit "in erster Linie für den Niedergang im letzten Jahrzehnt verantwortlich" gemacht wird47. Das Amt des Präsidenten (seit 2001 von dem ehemaligen Chef der vorübergehend verbotenen Kommunistischen Partei Voronin besetzt, der von der KP, die im Parlament über eine Mehrheit von zwei Dritteln verfügt, bis 2006 gewählt wurde) verkörpert augenscheinlich den Wunsch breiter Bevölkerungskreise nach einem starken Mann im Staat. Mit Ausnahme von Parteien finden weder gesellschaftliche Vereinigungen Erwähnung noch das sonst in den meisten Verfassungen Europas explizite Recht auf Vereinigungsfreiheit. Genannt wird allerdings das Recht, "Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten" (Art. 42), und durch das spätere "Gesetz über öffentliche Vereinigungen und über Stiftungen" (1997) wurden die Bedingungen für nicht-staatliche Organisationen verbessert. In der politischen Praxis Moldaus gibt es Überschneidungen zwischen einerseits den Staatsämter bekleidenden Personen mit den sie tragenden Parteien und andererseits den ökonomisch oder politisch orientierten Interessenorganisationen. Dieses Phänomen erklärt sich aus der relativ dünnen Rekrutierungsschicht eines in mehrfacher Hinsicht gespaltenen Landes (u. a. durch die Sezession Transnistriens, zwischen Kommunisten und Altkommunisten, zwischen der älteren sowjetisch geprägten und der jüngeren nach Westen orientierten Generation). 4.2 Arbeitnehmerganisationen/Gewerkschaften Der aus den sowjetischen Gewerkschaften hervorgegangenen, 1990 neu gegründeten "Gewerkschafts-Föderation Moldaus (GFM)" kommt auf Arbeitnehmerseite entscheidende Bedeutung zu: In ihren in 9 Branchen gegliederten Mitgliedsgewerkschaften sind mit ca. 500.000 Mitgliedern weiterhin rund 80% der "legalen" bzw. registrierten Erwerbstätigen organisiert. In Moldau ist die "Schwarzarbeit" bzw. verschiedenste Formen unangemeldeter Tätigkeiten besonders stark verbreitet, demzufolge erscheint deren Beitrag zum Volkseinkommen in keiner Statistik. Die Dominanz der GFM beruht auch darauf, dass sie als neuer Einheitsbund das Vermögen des sowjetischen Einheitsverbandes ebenso übernommen hat wie die Verwaltung des Systems der Sozialen Sicherung. Bei der Wahrnehmung des in der Verfassung verankerten Rechts auf Kollektivverhandlungen ist die GFM stets federführend, 47 BÜSCHER, aaO., S. 538. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 55 zumal sie bis Ende 2000 eine Alleinstellung hatte und außerdem in der Arbeitnehmerschaft eine Vermittlerrolle zwischen der Rumänisch sprechenden Mehrheit und der Russisch sprechenden Minderheit innehat. Die zwischen dem führenden Gewerkschaftsbund, der Regierung und den Unternehmensvertretern ausgehandelten Manteltarifverträge werden durch Abkommen zwischen den Einzelgesellschaften und den Branchenvertretern sowie Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene konkretisiert. Wie in anderen Ländern auch treten in einem Einheitsbund Konflikte auf, insbesondere bei der Festsetzung bzw. Anpassung des Mindestlohnes oder dem Bestreben, die ausgehandelten Tarifverträge als allgemein verbindlich zu erklären. In einigen Branchen streben die entsprechenden Gewerkschaften nach mehr Selbständigkeit, insbesondere in der "relativ florierenden Branche der Lebensmittel produzierenden und verarbeitenden Industrie"48. Dank enger Zusammenarbeit mit einigen Gewerkschaftsbünden Westeuropas, namentlich mit der französischen CFDT und dem niederländischen FNV wurde die GFM 1997 (mit dreijähriger Probezeit) in den IBFG aufgenommen. Daneben entstand im Dezember 2000 in Folge längerer interner Auseinandersetzungen im GFM der unabhängige Gewerkschafts-Bund "Solidaritate", dem gegenwärtig rund 200.000 organisierte Arbeitnehmer, also etwa das verbleibende Fünftel der Gewerkschaftsmitglieder des Landes angehört49. Er entstand auch im Kontext der in den 1990er Jahren zahlreich organisierten Streiks und Massendemonstrationen, die sich (seinerzeit) vor allem gegen Verspätungen bei der Lohnauszahlung und gegen die katastrophale Unterfinanzierung insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen richteten. Der "Solidaritate"-Bund ist vor allem im Öffentlichen Dienst vertreten und unterhält enge Beziehungen mit den Vertretern der Regierung, insbesondere seit 2001, seitdem die KP mit einer Mehrheit von über zwei Dritteln im Parlament die Alleinregierung stellt. Im GFM setzte sich in Folge der "Solidaritate"-Gründung eine neue Führungsspitze durch, die – nach eigener Angabe – regierungskritischer ist als diejenige bei "Solidaritate". Als Beleg dafür kann die Einreichung von Beschwerdeverfahren gegen die Regierung Moldaus in den letzten Jahren im Rahmen der IAO gewertet werden. Die vom IBFG unterstützen (Wieder-) Vereinigungsbestrebungen zwischen beiden Bünden sind bisher erfolglos geblieben, aber sie könnten unter veränderten allgemeinpolitischen Bedingungen, etwa als Folge der kommenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2006, auch zur Vereinigung führen; auf jeden Fall setzt der IBFG seine Zusammenarbeit mit beiden Bünden fort50. Die Tatsache, dass in Moldau praktisch alle erwachsenen und registrierten Arbeitnehmer weiterhin Mitglied einer Gewerkschaft sind, wobei gegenwärtig zwei rivalisierende Bünde bestehen, führt dazu, dass das "Armenhaus Europas" bezüglich der Mitgliederzahl eine Spitzen48 49 50 Zitate aus den Gesprächen der EWSA-Delegation mit den Vertretern beider Bünde in Chisinau im Juli 2003. Zahlen vom U.S. Department of State von 2003, zitiert bei BÜSCHER, 2004, S. 523. Vgl. "ICFTU Report of the Mission to evaluate the Trade Union situation in Moldova" vom 10.-12. März 2004. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 56 position einnimmt, nicht nur europa- sondern weltweit. Beide Gewerkschaftsbünde pflegen enge Beziehungen zu den ihnen jeweils nahe stehenden Partnern in Rumänien, wobei diese sich sicher noch verstärken werden, je näher der Termin des rumänischen Beitritts in die EU rückt. Bei den politischen Spannungen mit dem abtrünnigen und im Innern stalinistisch geprägten Transnistrien ist es bemerkenswert, dass die Vertreter beider Bünde Mitte 2003 äußerten, "gute Kooperationen mit den Gewerkschaften jenseits des Nistru zu unterhalten." 4.3 Arbeitgeberverbände und Unternehmensrepräsentanz Als offizielle Vertretung der Arbeitgeber und Unternehmerschaft in Moldau fungiert die aus sowjetischer Zeit stammende Industrie- und Handelskammer; sie repräsentiert nach eigenen Angaben 4.000 wirtschaftliche Akteure in 16 Branchen und 6 große Unternehmen51. Die IHK Moldaus stellt Ursprungszertifikate für alle in den Handel gelangenden Produkte aus, um vom "Allgemeinen Präferenzsystem" im Rahmen der WTO zu profitieren, in die die Republik Moldau schon Mitte der 1990er Jahre als erstes Land unter den vier östlichen Nachbarn der EU aufgenommen wurde. Die IHK bemüht sich, "Joint Ventures" zwischen moldauischen und ausländischen Unternehmen herzustellen. Momentan ist die IHK Moldaus in allen von der Republik angebotenen Strukturen vertreten, darüber hinaus übernimmt sie die Interessenvertretung der Arbeitgeber in internationalen Gremien wie der IAO in Genf und der Internationalen Arbeitgeberorganisation (International Employers Organisation, IEO) sowie zunehmend in Bezug auf die EU, denn sie fürchtet nach dem rumänischen Beitritt (in Vorbereitung auf 2007) die Isolierung Moldaus. Derzeit werden wohl 40% des moldauischen Exports mit den EU-Mitgliedstaaten abgewickelt. Um Nachteile aus der Einführung der Visumpflicht zu umgehen, haben bereits rund 300.000 moldauische Bürger die rumänische Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten; deren Zahl wird bis 2007 vermutlich gerade in Kreisen der Wirtschaft noch erheblich wachsen. Offenbar im organisatorischen Verbund mit der IHK haben sich Kleinunternehmen mit bis zu 30 Mitarbeitern in der "Small Business Association" zusammengeschlossen52. Wichtiger als die formell-traditionellen Interessenorganisationen scheint der informelle "Republikanische Klub der Wirtschaftsleute TIMPUL" zu sein, in dem über 900 Repräsentanten aus Banken, Handel und Industrie zusammenkommen; dessen Präsident, der offensichtlich einflussreiche Unternehmer Babii, galt Ende der 1990er Jahre als möglicher Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Babii rief 1999 mit anderen Unternehmern, die dem vormaligen Staatspräsidenten Lucinschi nahe standen, die zivilgesellschaftlich-politische Organisation "Plai natal" (Heimat) ins Leben, die später in der liberal orientierten "Sozialdemokratischen Allianz" aufging. 51 52 Diese und weitere Informationen erhalten bei den Gesprächen mit den Wirtschaftsvertretern am 7. Juli 2003 in Chisinau. BÜSCHER, 2004, S. 523. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 57 Der gegenwärtige Ministerpräsident Tarcev, der vom seit 2001 gewählten kommunistischen Staatspräsidenten berufen wurde, hatte vorher Funktionen in der IHK Moldaus ausgeübt. Wie in anderen Staaten mit noch schwach entwickelter Rechtsstaatkultur sind persönliche Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik bedeutender als formelle Organisationen. Außergesetzliche Absprachen und Korruption wirken auf allen Ebenen als weit verbreitete Mechanismen der Interessenvertretung von Wirtschaft und Gesellschaft. 4.4 Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) Die Zahl der registrierten NRO stieg in Moldau auf lokaler und nationaler Ebene in den letzen Jahren auf 2.800 an. Allerdings gelten davon nur 10 bis 15% als aktiv, also etwa 250 bis 300; viele der auf dem Papier des staatlichen Registers aufgeführten NRO, namentlich von Wirtschaftsakteuren oder Behörden initiiert, hatten einen vorübergehenden politischen Zweck zu erfüllen; sie können nicht als zivilgesellschaftliche Akteure gelten. Dazu müssen auch die Organisationen gerechnet werden, die große Demonstrationen im Verbund mit der seit 2001 im Parlament schwach vertretenen pro-rumänischen Opposition zur kommunistisch geführten Regierung durchführten. Bei den wenigen auf Dauer angelegten NRO in Moldau53 steht die Beschäftigung mit den Problemen in den Bereichen Bildung, Kultur und Menschenrechte im Mittelpunkt; vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten Basisfakten Moldaus verwundert es nicht, dass sich die historisch-kulturelle, sprachliche und politisch-ökonomische Spaltung des Landes auch bei den NRO widerspiegelt, wobei ihre große Mehrheit aus dem Rumänisch sprechenden Bevölkerungsteil kommt, die gesellschaftlich weit aktiver ist als die Russisch sprechende Bevölkerung, was freilich bei der Lage in Transnistrien nicht verwunderlich ist. Auf jeden Fall tragen die Auseinandersetzungen zwischen den Sprachgruppen in Moldau und das ungelöste Kernproblem Transnistrien erheblich zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft bei. Wie in anderen Transformationsländern konzentrieren sich die Aktivitäten auf die Hauptstadt des Landes, um vor allem Einfluss auf die Regierenden zu erreichen, was der gegenwärtig amtierenden Regierung unter Präsident Woronin nicht gefällt; so nehmen Schikanierungen gegenüber NRO zu, gerade in deren neuen Betätigungsfeldern wie in der Jugendpolitik sowie im Verbraucher- und Umweltschutz. Angesichts der sich zuspitzenden Probleme – wirtschaftlich-sozial in Form zunehmender Armut und politisch ausgedrückt in der Ratlosigkeit hinsichtlich der Transnistrien-Frage und in den Beziehungen zu Russland – werden die Aktionen vermutlich an Bedeutung gewinnen, auch wenn es nur wenige aktive Akteure in der moldauischen Zivilgesellschaft gibt. Namentlich die Vertreter der Jugendorganisationen, deren Rekrutierungsreservoir wegen der wachsenden Emigration in Länder der erweiterten Europäischen Union schwindet, fordern von ihrer Regierung eine tatsächliche und nicht nur 53 Der deutsche Botschafter in Moldau vertrat auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chisinau 2003 die Ansicht, dass "es bisher nur Ansätze für eine Zivilgesellschaft mit bestenfalls einigen Dutzend von NRO gibt", Dokumentation der FES, 2003, S. 79. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 58 deklamatorische pro-europäische Politik. Von Seiten der EU wünschen sie sich Angebote der Partizipation mit finanzieller Unterstützung, da sonst die Öffnung der Gemeinschaftsprogramme für alle europäischen Länder ihrerseits nur eine uneingelöste Absichtserklärung bleibt. Für die meisten Vertreter der Zivilgesellschaft sollten die künftigen Unterstützungs-Programme der EU nicht nur mit der Regierung – wie bei TACIS – ausgehandelt und durchgeführt werden, sondern auch mit den Vertretern der aktiven NRO. 4.5 Fazit und Ausblick Trotz aller politischen Instabilität, zu erkennen an der Tatsache, dass in 12 Jahren Wendezeit schon 8 Regierungen im kurzzeitigen Amt waren, gibt es einige Konstanten in Bezug auf die organisierte Zivilgesellschaft: Die von den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden gemeinsam erhobene Forderung nach Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates und einer Arbeitsgerichtsbarkeit wird bisher von allen Regierungen abgelehnt. Seit dem Erdrutschsieg der Kommunistischen Partei Moldaus bei den letzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2001 (bei der die KP, die nach der Wende für einige Zeit offiziell verboten war, über zwei Drittel der Mandate errang) und nach der durch diese Mehrheit im Parlament erfolgten Wahl des ehemaligen KP-Vorsitzenden Woronin zum Staatspräsidenten im Herbst 2001 enthalten sich die Vertreter beider Sozialpartner nahezu jeder Kritik am Präsidenten und dessen Regierung; dieses nach sowjetischem Vorbild geprägte Verhalten fällt offenkundig leichter, da die wichtigsten Organisationen auf Arbeitnehmerwie auf Arbeitgeberseite aus den ehemaligen Einheitsverbänden der sowjetischen Zeit hervorgegangen sind. Gegenwärtig finden in den Organisationen beider Seiten offenkundig innere Auseinandersetzungen statt, deren Ausgang sowohl in Bezug auf die politisch-programmatische Orientierung als auch hinsichtlich des Führungspersonals offen ist. Die erst bescheidenen Ansätze von tatsächlich aktiven NRO in Moldau sind stark auf die ethnisch-sprachlich-kulturelle Spaltung des Landes zurückzuführen: einerseits in den Rumänisch sprechenden Hauptteil der Bevölkerung (nahezu 70%) und andererseits den Russisch sprechenden Teil. Zwar beträgt der Anteil der ethnischen Russen nur etwa 13%, deren gesellschaftliche Bedeutung – auch in der Zivilgesellschaft – ist aus folgenden bis heute nachwirkenden Gründen jedoch weitaus größer: - Russland ist als Nachfolgestaat der UdSSR sowohl für die Führung als auch die (vermutlich) große Mehrheit der Bevölkerung in Transnistrien (ca. eine halbe Million) das "slawische Großreich", aus dem der Führungsclan um den ehemaligen Sowjetgeneral Smirnow kommt CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 59 und an das Transnistrien nach dessen Willen (wieder) angeschlossen bzw. verbunden werden soll (etwa im Sinne eines "Kaliningrad am Schwarzen Meer"). - Russland ist die Garantiemacht des Waffenstillstands nach dem Krieg 1992 zwischen der moldauischen Armee und der Sezessionsgruppe um Smirnow, die militärisch wohl auch deshalb obsiegte, weil diese Truppe im Notfall mit der Unterstützung durch die in Transnistrien stationierte, ehemalige 14. Armee der UdSSR rechnen konnte; auch nach dem (Teil-) Abzug von der russischen Armee und deren enormen Waffenarsenalen bleibt Russland der einflussreichste Akteur im Rahmen der OSZE, in der seit über einem Jahrzehnt versucht wird, eine von allen Beteiligten getragene Lösung des Transnistrien-Problems zu finden. Die bisherige Erfolglosigkeit in der Lösung dieses politischen Kernproblems und die Ratlosigkeit der bisherigen Regierungen hinsichtlich der wachsenden Armut und der dadurch verstärkten Emigration mit verlustreichem "brain drain" der dünnen Schicht hochqualifizierter Erwachsener, erschwert zunehmend die Arbeit der Zivilgesellschaft in Moldau. Ein besonders aktiver Kern unter den (rumänischsprachigen) NRO tritt leidenschaftlich für die Einbindung ihres Landes in die europäischen Institutionen ein: Sie unterstützen seit Mitte der 1990er Jahre die (aus Finanzmangel bescheidenen) Initiativen des Europarates, des "Stabilitätspaktes für Südosteuropa" und besonders der EU, auch weil sie durch deren Programme wie TACIS und der "Europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte" (Demokratisierungsprogramm der EU, in dem zwischen 1993 und 1999 25 Projekte von NRO mit einer Gesamtunterstützung von etwa 3 Millionen Euro gefördert wurden) begrenzte, aber tatsächlich geleistete Finanzhilfen erhielten. In der gegenwärtigen Diskussion um die Weiterführung der Unterstützungen durch die EU im Rahmen von ENP und "Aktionsplan" kritisieren diese NRO einerseits, dass die neuen Programme – wie deren Vorläufer (mit Ausnahme des "Demokratisierungsprogramms", in dem die Europäische Kommission direkt mit den Akteuren der Zivilgesellschaft Projekte vertraglich durchführte) – nur mit den jeweiligen Regierungen ausgehandelt wurden und werden; andererseits hoffen sie, dass die Unterstützung der EU für Moldau als unmittelbarer Nachbar in Zukunft – spätestens ab 2007, wenn Rumänien Vollmitglied der EU sein wird – wachsen wird. Nachdem die Machthaber in Transnistrien gegen Schulen vorgegangen sind, die in moldauisch-rumänischer Sprache und in lateinischer Schrift unterrichten, hat die EU für die Revision dieser rechtswidrigen Aktionen teilweise effektiv Druck ausgeübt, der allerdings im Zuge der Umsetzung des künftigen Aktionsplanes verstärkt werden sollte. Da in dem im Frühsommer vereinbarten, aber bis Spätherbst 2004 noch nicht unterzeichneten Aktionsplan für Moldau ein Kapitel der Ausweitung der sogenannten "people-to-people-contacts" gewidmet ist, sind die zivilgesellschaftlichen Akteure in Moldau gegenwärtig aufgerufen, konkrete Initiativen und Projekte vorzuschlagen; die in den bisherigen Förder-Projekten CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 60 gemachten Positiverfahrungen, vor allem in der Bekämpfung der weit verbreiteten Korruption, sind vor allem mit den NRO weiter zu entwickeln, zumal Regierungsstellen, gleich welcher politischen Couleur, in Bestechungsaffären verwickelt waren und sind. Gerade weil die staatlichen Organe augenscheinlich schwächer und im Vorfeld der Neuwahlen 2005 immer widerspruchsvoller agieren, könnte die EU und seine Institutionen vor allem die verstärkte Unterstützung auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen Moldaus konzentrieren. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 61 - LANDESPORTRÄT: MOLDAU 2. 1. BASISINFORMATIONEN 1.1 Bevölkerung 4,2 Mio (2003); incl. ca. 600.000 in Transnistrien 1.2 Lebenserwartung 67 Jahre (im Durchschnitt) 2003 1.3 Fläche 33.800 qkm (incl. 2.500 qkm Transnistrien und 2.000 qkm Gaugasien; ohne Zugang zum Schwarzen Meer) 1.4 Dichte 125 (2002) 1.5 Hauptstadt Chisinau (780.000 Einwohner) 1.6 Ethnische Struktur/Minderheiten Rumänisch-sprechende Moldauer 65%; Russisch-sprechende Ukrainer 14%; Russen 13%, Gaugasier 3,5%; Bulgaren 2%; Andere (insbesondere Roma) 2,5% 1.7 Sprachen Moldauisch = Rumänisch; Russisch 1.8 Religionen Christen 98,5%: Rumänisch-Orthodoxe, RussischOrthodoxe; Sonstige (insbesondere Juden) 1,5% POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN 2.1 Unabhängigkeit Souveränitätserklärung 23.6.1990; Proklamation 27.8.1991 2.2 Verfassung Beschluss 29.07.1994 2.3 Parlamentarisch-präsidiales Mischsystem ► Staatspräsident auf 4 Jahre vom Parlament gewählt; ► seit April 2001:Wladimir Voronin 2.4 Regierung ► Ministerpräsident ( seit April 2001): Vasile Tarlev ; ► Außenminister Andrei Stratan (seit Sept. 2003) 2.5 Parlament ► 101 Abgeordnete im Ein-Kammer-Parlament, 4 Jahre, 3 Fraktionen seit 2001; ► nächste Wahl: zwischen Februar und Mai 2005 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 62 2.6 Beziehungen zur EU ► "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen" mit der EU seit Juli 1998 ► "TACIS Nationales Programm" seit 1991 Action-Plan (unterzeichnet Ende 2004) 2.7 Mitgliedschaft in Internationalen Institutionen ► WTO (Antrag1997, Beitritt 2001) GUS 1991 (ratifiziert 1994) ► OSZE seit 1991; ► Europarat seit 1995; ► Mitglied im "Stabilitäts-Pakt für den Balkan" seit 2001 3. ÖKONOMISCH-SOZIALE DATEN 3.1 3.2 BIP je Einwohner (2002) BIP in Prozent des Durchschnitts der EU-25 417 Euro 2% 3.3 Wachstum des (realen) BIP 6% (2003); 7,2% (2002); 6,1% (2001) 3.4 Inflationsrate 18% (2003); 5,3% (2002); 103% (im Durchschnitt zwischen 1990-2001) 3.5 Arbeitslosenquote (IAO Definition) 7,3% 2003 (im Durchschnitt der Personengruppen) 3.6 Ausländische Direkt-Investitionen 167 Mio. Euro (2001) 3.7 Gesamt- Exporte 636 Mio. Euro (2002) 3.8 Gesamt-Importe 998 Mio. Euro (2002) 3.9 Exporte in die EU 136 Mio. Euro (2002) 3.10 Importe aus der EU 278 Mio. Euro (2002) 3.11 Gewerkschafts-Dachverbände Zwei: ► "Gewerkschafts-Föderation Moldaus/GFM" mit ca. 500.000 Mitgliedern; ► Unabhängiger Gewerkschafts-Bund "Solidaritate" mit ca. 200.000 Mitgliedern CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 63 3.12 Dachverbände der Arbeitgeber Zwei: ► "Industrie- und Handelskammer Moldaus" mit 4.000 Mitgliedern; ► "Republikanischer Klub der Wirtschaftsleute" mit 900 Repräsentanten 3.13 Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO=NGO) Ca. 2.800 NRO auf lokaler und regionaler Ebene Quellen: Fischer Weltalmanach 2005; Harenberg Länderlexikon; Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; eigene Berechnungen und Schätzungen soweit keine Statistiken auffindbar. Dr. Ernst Piehl, November 2004 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 64 C. GESAMT–KONKLUSIONEN UND ANREGUNGEN 1. GESAMT–KONKLUSIONEN 1.1 Generell (1) Bei allen Unterschieden zwischen den Völkern und Staaten – auch in Osteuropa – wirkt in allen vier östlichen Nachbarländern das sowjetisch-zaristische Erbe offenkundig nach. Damit ist eine spezifische soziale Verhaltensweise der Mehrheit in den jeweiligen Bevölkerungen gemeint, unabhängig von historisch-ethnischen, politisch-ökonomischen und kulturell-sprachlichen Verschiedenheiten. Diese Verhaltensweise ist insbesondere geprägt vom Mangel an sozialem Vertrauen. Die Menschen neigen dazu, einander zu misstrauen, wenn es sich nicht um Mitglieder der eigenen Familie, Verwandte oder nahe Freunde und Partner handelt. Weil die staatlichen Institutionen in der Sowjetzeit Güter und Dienstleistungen nicht effizient anbieten konnten, mussten sich die Menschen auf persönliche Beziehungen und Netzwerke verlassen. Vermutlich ist diese Denk- und Verhaltensweise einer der Gründe, die zur Clan- oder Oligarchenbildung der postkommunistischen Transformationszeit führten, vor allem in den beiden größten Republiken der Sowjetunion Russland und der Ukraine. Dieses gemeinsame Erbe der Sowjetzeit ist meines Erachtens ein ernsthaftes Hindernis oder zumindest Handikap sowohl für eine erfolgreiche Demokratisierung des Staates als auch für eine breite und dauerhafte Entwicklung der Zivilgesellschaft. (2) Erfreulicherweise gibt es Ausnahmen von dieser allgemeinen Einschätzung: In der WestUkraine, namentlich in Lviv (russisch und polnisch: Lwow, deutsch: Lemberg) entwickeln sich seit der Wende vielfältiges Bürgerengagement, in kultureller, ökonomischer und sozialer Hinsicht, aber auch in diesem historischen Zentrum Ostmitteleuropas wirken sowohl die Jahrhunderte lange russisch-zaristische Beherrschung als auch die Sowjetzeit von fast fünf Jahrzehnten (1945 bis 1990) in der Westukraine und von nahezu acht Jahrzehnten in der übrigen Ukraine genau so wie in Russland und in Belarus bis heute nach (was der Autor bei mehreren Besuchen unmittelbar erleben konnte). In Moldau gab und gibt es auch eine Spaltung des Landes, aber beide Teile haben eine Vergangenheit, die für Demokratie und Zivilgesellschaft nicht förderlich ist (s. Moldaukapitel). (3) Der Aufbau einer organisierten, aktiven und einflussreichen Zivilgesellschaft braucht längere Zeit. Die Spanne von weniger als 15 Jahren seit der Wende ist gegenüber den fünf bzw. acht Jahrzehnten nicht ausreichend, um Demokratie und bürgerschaftliches Engagement in den vier Ländern zu verankern. Schon die totalitäre Herrschaft der russischen Zaren in den Jahrhunderten vor 1917 hat kein Bürgertum, geschweige denn zivilgesellschaftliche Organisationen entwickeln lassen. So sind alle vier Länder (wiederum mit Ausnahme der Westukraine) ein Neuland für demokratische und zivilgesellschaftliche Entwicklungen und sie benötigen längere Transformationsprozesse im Innern und kenntnisreiche Unterstützung von Außen. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 65 (4) In allen vier Ländern gibt es wohl keinen Mangel an Institutionen, aber es gibt Defizite im Institutionengefüge der Gewaltenteilung, im Rahmen dessen die Funktionen klar definiert und voneinander getrennt sind. Der politische Entscheidungsprozess ist ebenso undurchsichtig wie das wirtschaftliche Umfeld. Der Zusammenhang zwischen den Absichtserklärungen und den beschlossenen Gesetzen ist gering. Hinzu kommt, dass gerade die für die demokratische Entwicklung nützlichen Gesetze nicht umgesetzt werden, weil es an Mechanismen des Monitoring und der Sanktionsmöglichkeit bei Nichtbeachtung der gesetzlichen Vorschriften fehlt. (5) Bürgerschaftliches Engagement und Beteiligung am Willensbildungsprozess im Staate erfordern Rechtsstaatlichkeit, d.h. konkret, dass die jeweilige Obrigkeit willens und fähig ist, die Rechte der Bürger ihres Staates zu achten und zu schützen. Ohne ausreichende Rechtsstaatlichkeit und staatlichen Institutionen können zivilgesellschaftliche Organisationen nur schwerlich gedeihen. Auch wegen der in dieser Beziehung noch schwachen Staatskapazität und unzureichenden Rechtsstaatlichkeit konnten sich Seilschaften, Wirtschaftsclans und Oligarchien entwickeln, die sich mit Abgeordnetenmandaten sowohl Straffreiheit bei ungesetzlichem Handeln verschaffen als auch über engste persönliche Beziehungen mit der jeweiligen "Partei der Macht" eine politische Parallelmacht aufgebaut haben. Die zivile Gesellschaft und die staatliche Gemeinschaft wird durch gegeneinander rivalisierende Clans sowie sektoral oder regional verankerte Oligarchen untergraben, die miteinander um politische Ämter, ökonomische Privilegien und Macht konkurrieren, ohne Rücksicht auf die Interessen des gesamten Landes und das Gemeinwohl ihrer Völker. (6) 1.2 Gleichwohl gibt es auch erstaunlich positive Entwicklungen bei den vier östlichen Nachbarn, die günstige Einflüsse auf die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen haben. Gemeint sind vor allem die relativ große Toleranz unter den simultan und oft an gleichen Orten existierenden Religionen und Konfessionen; deren Bereitschaft zum Zusammenleben ist gewiss nirgendwo konfliktfrei, aber auf jeden Fall weit höher als in manchen Ländern der EU, was sich insbesondere in Nordirland mit seit Jahrhunderten andauernder gegenseitiger Gewalt zeigt. Gleichermaßen sind die ethnisch-sprachlich-kulturellen Minderheiten, selbst die starke russische Minderheit vor allem in der Ukraine, seit der Wende in geradezu beispielhafter Weise integriert. Auf jeden Fall sind anders als im westlichen Balkan Bürgerkriege vermieden sowie wechselseitige Beschuldigungen und Anfeindungen, die zwischen der Titularnation und den regionalen Minderheiten auch in EU-Staaten wie in Großbritannien oder Spanien seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung bleiben, überwunden worden. Konklusionen in Bezug auf die organisierte Zivilgesellschaft der Sozialpartner (1) Die politischen Systeme in den vier östlichen Nachbarländern der EU sind seit der Wende vor allem von der Macht der (direkt gewählten) Präsidenten und der Präsidialverwaltungen geprägt. Das Erbe des Sowjetsystems wird nicht nur in der Ähnlichkeit der PräsidialAdministration mit dem Zentralkomitee der KPdSU sichtbar; auch die Regierungen tragen CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 66 die Wesensmerkmale ihrer sowjetischen Vorläufer fort. Das gilt insbesondere für den hierarchischen Aufbau und für den typischen Charakter als so genannte technokratische Wirtschaftskabinette. In Belarus hat sich daraus ein autoritäres Regime mit totalitären Zügen – wie der Personenkult um Präsident Lukaschenko – mit katastrophalen Folgen für das Land und seine Zivilgesellschaft entwickelt; in Moldau hat der Präsident seit 2001, obgleich nicht direkt vom Volk gewählt, dennoch durch die Zweidrittelmehrheit seiner eigenen Partei, der KP Moldaus, alle Fäden in der Hand. Insgesamt betrachtet, sind die bisherigen Regierungen in allen vier Ländern Präsidialkabinette, in denen Vertreter ökonomischer Clans, technokratischer Seilschaften und der "oligarchischen Familien" dominieren. (2) Die traditionellen Interessensorganisationen auf Arbeitnehmer- und auf Arbeitgeberseite, die auf Mitgliedschaft basieren und stärker formalisiert sind als die NRO, versuchen trotz aller Behinderungen, ihren Einfluss im Rahmen der Entscheidungsprozesse geltend zu machen; freilich in den vier Ländern auf jeweils verschiedene Weise und auch mit unterschiedlichem Erfolg. Diese Organisationen der "Sozialpartner" tragen überwiegend die charakteristischen Züge, die schon in den acht neuen Mitgliedsländern der EU vor gut zehn Jahren zu erkennen waren: Die Verbände privater Unternehmen sind (noch) vergleichsweise klein und konzentrieren sich auf eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit mit den jeweils herrschenden Präsidenten und deren Regierungen; insbesondere die Industrie- und Handelskammern sind offensichtlich sehr aktiv und sie haben zu den relativ hohen Wachstumsraten der Wirtschaft der vergangenen Jahre (namentlich in der Ukraine) beigetragen. Es gibt eine wohl die Repräsentanten der Verbände beider Sozialpartner subjektiv zufriedenstellende Zusammenarbeit, sowohl auf beiden Seiten der Wirtschaft als auch in einigen trilateralen Gremien, die von den jeweiligen Präsidialregimes seit Jahren eingerichtet wurden. Objektiv gibt es (noch) keine funktionierenden sektoralen Beziehungen oder gar Tarifverhandlungen. Die trilateralen Gespräche sind in der Praxis weniger Verhandlung als vielmehr teils ein Ritual, teils die einzige Möglichkeit, wesentliche Verbesserungen beispielsweise für Arbeitnehmerrechte zu erzielen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass der autonome Dialog zwischen den Tarifparteien ein eklatantes Manko in allen vier östlichen Nachbarländern ist. (3) Eine Reminiszenz an das System vor 1991 ist die Vertretung korporatistischer Interessen, die mehr oder weniger nahtlos aus den obligatorischen Wirtschafts-Organisationen der Sowjetzeit hervorgegangen sind. Im postsowjetischen Russland und in der Ukraine, wo nach der Wende marktwirtschaftliche Reformen begonnen bzw. durchgesetzt wurden, sind zusätzlich neue Wirtschaftsoligarchien entstanden (siehe die Analysen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in den vier Länder-Analysen), was Juri Durkot als ukrainischer Journalist und zivilgesellschaftlicher Akteur auf die griffige Formel brachte: "Vom Plan zum Clan". (4) Der überwiegende Teil der Gewerkschaften ist in allen vier östlichen Nachbarländern der EU – abgesehen von den bemerkenswerten neuen Organisationen (siehe entsprechende Kapitel in den voranstehenden Länder-Analysen) – ein Teil der paternalistischen Strukturen von mehr oder weniger autoritär geführten Präsidialregimes geblieben. So können die gewerkschaftlichen Organisationen de facto kaum die Interessen der Arbeitnehmer unmiss- CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 67 verständlich vertreten. So verwundert es nicht, dass die oft nur deklaratorisch erneuerten, real weiterbestehenden alten Verbände unter fortschreitendem Mitgliederschwund leiden. Die neuen Gewerkschaftsverbände konnten sich bisher nur bescheiden entwickeln. Maßgeblich hierfür ist wohl zum einen, dass – vor allem in Belarus – die existierenden, staatlich kontrollierten Eigentums- und Preisstrukturen bisher keine Auflösung der paternalistischen Versorgungsmechanismen erlaubt haben; zum anderen werden in der Privatwirtschaft auch die neuen Gewerkschaften von den Arbeitgebern, namentlich von amerikanisch kontrollierten bzw. beeinflussten Unternehmen, nicht zugelassen oder zumindest bei ihrem Aufbau behindert. (5) In allen vier Ländern haben auch die Gewerkschaften einen erheblichen Reformbedarf und benötigen sicher dringend weitere Unterstützung seitens der internationalen Institutionen, in denen sie bzw. ihr Staat Mitglied sind, wie insbesondere vom dafür eingerichteten Internationalen Arbeits-Organisation (IAO) in Genf und vom Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) in Brüssel. In Weißrussland ist es der "alten" Gewerkschaftsföderation vor den letzten Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2000/2001 gelungen, mit den "neuen" Gewerkschaften und anderen Reformkräften ein Bündnis einzugehen und so eine wichtige politische Rolle zu spielen, im Rahmen dessen ihr seinerzeitiger Vorsitzender Goncaryk als gemeinsamer Gegenkandidat der vereinigten Opposition einen europaweit gewürdigten Achtungserfolg errang. Obwohl das zunehmend totalitär werdende Lukaschenko-Regime seitdem die Gleichschaltung der Gewerkschaften betrieb, ist diese bis heute nicht vollständig erfolgt. So blieb beispielsweise der Vorsitzende der Metallgewerkschaft (Aleksander Buchvastau) trotz seiner erklärten Gegnerschaft zu Lukaschenko weiterhin im Amt. Freilich wird der Druck auf Gleichschaltung aller Gewerkschaften nach dem manipulierten Referendum von 2004 im Vorfeld der nächsten Präsidentenwahlen im Jahre 2006 leider eher zu- als abnehmen. In Russland und der Ukraine scheinen insbesondere die bisherigen Führungen der Arbeitgeberverbände mit dem "ancien régime" verbunden, das Präsident Kutschma seit Jahren und Präsident Putin seit Monaten in wesentlichen Elementen zur Renaissance verhalf. Da aber neue Bewegung in der Unternehmerschaft, vor allem bei der jüngeren Generation in der Ukraine erkennbar ist, sind die Anregungen zu begrüßen, dass die regelmäßig stattfindenden "Industrie-Rundtisch-Gespräche" zwischen dynamischen Unternehmerpersönlichkeiten aus der EU und aus Russland auf diejenigen aus der Ukraine erweitert werden bzw. ein eigener Runder Tisch zwischen der EU und der Ukraine ins Leben gerufen wird. 1.3 Vergleichende Konklusionen in Bezug auf die Nicht-Regierungs-Organisationen (1) Die seit seinem Machtantritt 1994-96 eingeleitete und in der sog. "Volksabstimmung" vom 17. Oktober 2004 auf die Spitze getriebene Politik vom weißrussischen Präsidenten Lukaschenko zur Kontrolle, Lenkung und Repression aller Teile einer unabhängigen Zivilgesellschaft zeigen anschaulich und brutal zugleich, wie schwer es die Akteure einer Zivil- CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 68 gesellschaft haben, die auf den Prinzipien der freiwilligen Assoziation basiert, individuelle Bürgerrechte schützt und die Beteiligung der Öffentlichkeit am politischen Willensbildungsprozess fördern will. Die amtierenden Präsidenten der anderen drei Länder (Oktober 2004) unterscheiden sich einerseits in ihren Erklärungen mehr oder weniger deutlich von der autoritär-totalitären Strategie ihres Amtskollegen in Minsk, aber andererseits bleiben die Ankündigungen zur "Förderung der Zivilgesellschaft" ohne konkrete Folgen. Es handelt sich offenkundig um Lippenbekenntnisse, welche die Gestaltung guter Beziehungen zum Westen im Allgemeinen und zur EU im Besonderen förderlich sein sollen. Letztlich verfolgen wohl Putin, Kutschma und Woronin ihr aus ihrer Jugend in der Sowjetzeit stammende "Idealbild" einer vom Staat gelenkten Gesellschaft, wobei allerdings die Vorstellungen in dessen organisatorischen Umsetzung den unterschiedlichen Bedingungen der Länder angepasst werden. (2) In allen vier Ländern gilt es trotz oder wegen der Behinderungen seitens der staatlichen Gewalten weit gestreute und (noch wenig koordinierte) Netze an NRO, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene aktiv sind. Allerdings sagen die beeindruckenden Zahlen an registrierten und die Schätzungen an nicht-registrierten NRO (s. Länderkapitel) wenig über die tatsächliche Bedeutung in den jeweiligen Ländern aus. Nur einige NRO sind offenkundig in der Lage über längere Dauer in Unabhängigkeit zu überleben, weil sie Mitgliedsbeiträge, Spenden und/oder Einkommen durch bezahlte Dienstleistungen erzielen können; die meisten sind auf auswärtige Finanzierungen aus verschiedenen Quellen angewiesen. (3) In einer zusammenfassenden Übersicht der NRO in allen vier Ländern (deren unterschiedliche Einzelheiten in den voranstehenden Länderanalysen behandelt wurden) lassen sich drei Gruppierungen erkennen: 2. Organisationen unter staatlicher Autorität (von bloßer Schirmherrschaft bis zur direkten Lenkung), die sich selbstredend systemloyal verhalten und nicht bzw. wenig zum Reformprozess ihrer jeweiligen Länder beitragen; Organisationen unter Schirmherrschaft oppositioneller Strukturen, die dementsprechend regimekritisch sind und den führenden Orientierungen bzw. Personen ihrer jeweiligen Bewegung dienen; Organisationen, die sich der Politisierung und Polarisierung zu entziehen suchen und ihre Arbeit auf konkrete Themenfelder konzentrieren (insbesondere Betroffenengruppen, soziale und ökologische Themen). Letzteres gelingt ihnen zunehmend weniger, da sich die autoritären Tendenzen in den vier Ländern (mit der möglichen Ausnahme der Ukraine nach dem Präsidentenwechsel ab Ende 2004) verstärkt haben. ANREGUNGEN und VORSCHLÄGE (1) Die EU ist gut beraten, wenn sie verstärkt zeigt, dass der kontinuierliche Auf- und Ausbau des Rechtsstaates, der sozialen Marktwirtschaft und der Zivilgesellschaften (auf der Basis der gemeinsamen europäischen Werte, die in den Rechtsakten des Europarates verankert CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 69 sind, dem alle vier Länder freiwillig beigetreten sind) den Bürgern ihrer Länder mehr bringt, als das widerspruchsvolle Lavieren zwischen mehreren angeblichen "Optionen", wie es namentlich das Regime Kutschma in der Ukraine zwischen 1994 bis 2004 praktizierte. Zu dieser Einsicht könnten die acht neuen Mitgliedstaaten Ostmitteleuropas beitragen, die seit Mai 2004 Vollmitglied der EU sind und – wie namentlich Polen – bereits viele Erklärungen zur "europäischen Integration", vor allem der Ukraine, abgegeben haben. Letztendlich wird es aber an den jeweils gewählten Regierenden in Kiew, in Minsk, in Chisinau und nicht zuletzt in Moskau liegen, ob sie die von der EU vorgeschlagenen Brücken begehen wollen oder nicht, oder noch nicht. Wie weit und wie schnell sich die Beziehungen der EU zu den Nachbar- und Partnerländer entwickeln, hängt maßgeblich davon ab, inwiefern diese sich zu den gemeinsamen Werten Europas bekennen und in der Lage sind, die vereinbarten Prioritäten tatsächlich umzusetzen. (2) Die seit Mai 2004 neuen EU-Mitglieder in Mittel- und Osteuropa haben begonnen, sowohl ihre bilateralen Beziehungen mit den östlichen Nachbarn auszubauen als auch bei der anlaufenden "Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)" die Nachbarn im Osten ihrer Bedeutung entsprechend zu behandeln. Namentlich Polen ist wegen der eigenen Erfahrungen in den vergangenen 15 Jahren und dank seiner Grenzregionen und der erworbenen Erfahrungen vieler polnischer NRO gut geeignet, um konkrete Kooperationen über die neue Ostgrenze der EU hinaus anzuregen, mit zu unterstützen und dauerhaft zu begleiten. Nach Meinung der politischen Akteure in Polen (Präsident, Regierung, Sozialpartner und NRO) müssen die östlichen Nachbarn die nach dem EU-Vertrag mögliche Aussicht erhalten, der EU dann beitreten zu können, wenn diese Länder (insbesondere die Ukraine, nicht die eurasische RF) die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen sollten. (3) Durch die Weiterentwicklung verschiedener Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit, über die Einbeziehung lokaler und regionaler Behörden (insbesondere in den großen Flächenstaaten Russland und Ukraine) sowie nicht zuletzt durch die Beteiligung wichtiger Akteure der Zivilgesellschaft können die EU und ihre östlichen Nachbarn zusammenarbeiten, auch wenn deren aktuelle Führungen, insbesondere in Minsk und in Moskau, vom populistischen Paternalismus geprägt sind. Der Demokratisierungsprozess in den früheren Zentren des Sowjetkommunismus hat durch die jüngsten Entwicklungen, insbesondere durch Lukaschenko in Europas letzter Diktatur, einen herben Rückschlag bekommen: Die seit Jahren betriebene Verfolgung unabhängiger Akteure der Zivilgesellschaft und der Medien, die Verhaftung, Ermordung und Vertreibung oppositioneller Politiker sowie die eklatanten Manipulationen von Wahlen und Volksabstimmungen sind Belege für die Rückkehr von Totalitarismus in Osteuropa. Um so mehr sollte die EU die trotz allem weiter agierenden mutigen Akteure der Zivilgesellschaft auf strategisch intelligente Weise unterstützen; dabei sollte eine Instrumentalisierung vermieden werden, wie sie jüngst im amerikanischen Wahlkampf – durch die Ankündigung von George W. Bush zur Finanzierung Amerika-freundlicher NRO und von Androhung wirtschaftlicher Sanktionen – geschehen ist; so hatte es CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 70 Lukaschenko im Fernsehen wenige Tage vor dem Referendum leicht, sich als populärer Retter gegen den "westliche Imperialismus" aufzuspielen. (4) Die entsprechenden Organisationen der Sozialpartner und Vertreter der NRO in den drei osteuropäischen Nachbarländern haben der Delegation des EWSA während einer Studienreise im Juli 2003 übereinstimmend erklärt, dass sie an der Vertiefung und Verstetigung der Kontakte mit dem EWSA als Beitrag zu dessen "strukturiertem Dialog" mit Drittstaaten sehr interessiert sind. Die Einrichtung einer ständigen "Kontaktgruppe" im EWSA und die Abhaltung regelmäßiger Treffen und Kolloquien mit den entsprechenden Organisationen dieser Länder wurde ausdrücklich begrüßt. Vor diesem Hintergrund ist die Idee für das Kolloquium des EWSA im Januar 2005 geboren worden. Das Interesse der meisten zivilgesellschaftlichen Akteure in diesen Nachbarländern am praxisorientierten Erfahrungsaustausch, zum Beispiel über Verbandsstrukturen, Dialog- und Verhandlungsverfahren im sozialen Dialog und in den dreiparteiischen Institutionen, mit den entsprechenden Akteuren in der EU ist groß. (5) Der Austausch von jeweils aktualisierten Informationen und Erfahrungen ist deshalb besonders dringend, weil auf beiden Seiten bestenfalls grobe Kenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse und Entwicklungen hinsichtlich der neuen Ostgrenze der EU bestehen. Obgleich ukrainische und weißrussische Städte wie Lviv/Lemberg und Brest westlich der Hauptstädte mehrerer Mitgliedstaaten der EU liegen, scheinen für viele in der EU diese europäischen Städte und die dazu gehörigen Länder im "Fernen Osten" zu liegen. Es ist zu hoffen, dass im Rahmen der von der EK begonnenen ENP nicht nur Absichtserklärungen zur "Schaffung eines Rings von Freunden" abgegeben werden, sondern dass auch die entsprechenden Mittel und Instrumente bereitgestellt werden, damit gerade die neue Ostgrenze der EU nicht zu einer neuen Mauer in Europa führt. In diesem Kontext ist die Unterstützung unabhängiger Medien auf nationaler und lokaler Ebene wichtig, insbesondere durch den konkreten Ausbau der schon vereinzelt bestehenden Kooperationen mit den westlichen Nachbarn, namentlich mit Polen, Litauen, Ungarn und Rumänien (in Bezug auf die Republik Moldau). (6) Die EU hat den von der ENP erfassten Ländern seit Anfang der Neunziger Jahre organisatorische und finanzielle Unterstützung gewährt; für die östlichen Nachbarn hauptsächlich im Rahmen von TACIS, dem Rahmenprogramm zur "Technischen Assistenz der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten". Die im Rahmen von TACIS eingesetzten Mittel konzentrierten sich in Russland und den anderen postsowjetischen Staaten bisher auf die Unterstützung des ökonomischen und politischen Reformprozesses sowie auf die Modernisierung der staatlichen Institutionen ("institution building") auf nationaler oder regionaler Ebene. Die Bewertungen über die bisherige Förderpolitik der EU sind überwiegend kritisch, vor allem in Bezug auf den bürokratischen Aufwand, auf die langen Antrags-, Beschlussfassungs- und Abrechnungszeiträume sowie auf den vielfachen Wechsel der jeweils geltenden Leitlinien und der verantwortlichen Personen in der EK. CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 71 (7) Dank der Initiative des Europäischen Parlaments wurde Mitte der Neunziger Jahre auch ein komplementäres "Demokratie-Programm" für alle MOEL geschaffen, aus dem auch nicht-staatliche Organisationen gefördert werden konnten. Dieses Programm ist seit Ende der Neunziger Jahre in die weltweit handelnde "Europäische Initiative für Demokratie und Menschenrechte" integriert; und obgleich es quantitativ nur einen Bruchteil der EU-Förderprogramme für die staatlichen Institutionen darstellt, konnte es politisch ermutigende Anstöße zur Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft leisten. Das in der englischen Abkürzung EIDHR genannte Instrument der EU, stellt hauptsächlich in Partnerschaft mit in komplexen Ausschreibungsverfahren ausgewählten Akteuren der Zivilgesellschaft (NRO, Vertreter der Sozialpartner, Verschiedene Interessen) Mittel für Projekte zur Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte bereit: Zwischen 2000 und 2003 rund 19 Millionen für die vier östlichen Nachbarn und ca. 41 Millionen für entsprechende Projekte in den südlichen Mittelmeerländern. Die Aufstockung der EIDHR-Mittel ist vor allem durch die dringende Notwendigkeit von mehr Projekten für die junge Generation dieser Nachbarländer gerechtfertigt, die sich vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit immer stärker von autoritär-totalitären oder fundamentalistischen Populisten in diesen Ländern angesprochen fühlt. (8) Durch die Erweiterung hat die EU im Osten neue Nachbarn gewonnen und im Süden sind alte Nachbarn näher gerückt. Auf diesem geostrategischen Hintergrund haben die EU-Organe in grundlegenden Dokumenten vom 11. März und 1. Juli 2003 sowie vom 12. Mai 2004 zunächst eine Mitteilung zum "Größeren Europa/Wider Europa" zur Diskussion gestellt, um schließlich die "Europäische Nachbarschafts-Politik/ENP" zu beschließen. Die ENP richtet sich im Osten an die Russische Föderation (bei Betonung ihrer Sonderstellung als globaler Akteur), an die Ukraine, an die Republik Moldau und Weißrussland (sobald das undemokratische Regime Lukaschenko‘s überwunden ist), an die drei Südkaukasus-Republiken Georgien, Armenien und Azerbaidschan und an die 10 Anrainerstaaten im Südlichen Mittelmeer: Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, Palästina, Jordanien, Libanon und Syrien. In dieser enormen geographischen Weite von der russischen Grenze am nördlichen Polarkreis bis zur Südgrenze Algeriens in der Sahara sind wenig Gemeinsamkeiten zu erkennen und die Erwartungen der siebzehn sehr verschiedenen Länder an die EU divergieren entsprechend. Einerseits die sieben europäischen Länder im Osten, die heute alle Mitglieder des Europarates sind, laut Artikel 49 des EU-Vertrages eine prinzipielle Beitrittsperspektive haben (mit Ausnahme der Russischen Föderation, die sich als euroasiatische Welt- und Atommacht selbst versteht), andererseits die außereuropäischen Länder in Nordafrika und Vorderasien. Aber auch innerhalb der Ländergruppen, beispielsweise unter den drei Nachbarn dieser Studie, sind die Länder sehr heterogen, gerade in Bezug auf ihre europäische Perspektive: Die Ukraine nach relativ demokratischen Wahlen bei starker Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Bürgerschaft hat im Herbst 2004 einen wichtigen Schritt auf dem langen Wege zur EU geleistet, die Republik Moldau mit eher restaurativen Entwicklungen seit 2001 und dem weiterhin ungelösten Transnistrienproblem stagniert bei CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 72 seiner "europäischen Option" und das Weißrussland mit dem autoritären Präsidenten Lukaschenko auf Lebenszeit hat sich in Europa total selbstisoliert. (9) Im Wesentlichen ist die ENP an sich keine Neuheit, denn die EU betreibt seit jeher mit ihren Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen (PKA) eine präventive Strategie mit dem Hauptziel, Demokratie, Stabilität und Prosperität in ihre Nachbar- und Partnerländer zu transferieren. Neu und begrüßenswert ist jedoch, dass die EU zum ersten Mal einen umfassenden außen-, entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Ansatz auf die Nachbarländer entwickelt hat. So ist zu hoffen, dass durch Unterstützungen, Konditionalität und durch "benchmarking" unter den betroffenen Ländern verstärkt Einfluss auf die notwendigen Reformen ausgeübt wird. Fraglich bleibt allerdings, ob das Pauschalangebot des ehemaligen EK-Präsidenten Prodi "everything but institutions" (im Sinne von ökonomischer Partnerschaft bis zur Integration in den europäischen Binnenmarkt ohne politische Beteiligung mit Beitrittsperspektive) überhaupt praktikabel ist und dafür Partner zu motivieren sind. (10) Die EK hat angeregt, die bestehenden Instrumente mit der neuen ENP-Strategie zu verknüpfen, was detailliert in der Mitteilung vom Juli 2003 "Paving the way for a New Neighbourhood Instrument" erläutert ist. Im Kern wird seitdem zweistufig vorgegangen: Für die Jahre 2004 bis 2006 werden "Nachbarschafts-Programme" eingeführt, die laut Kommission "auf einer vertieften Koordinierung bestehender Instrumente aufbauen" soll; allerdings ist real bereits eine Verzögerung dadurch eingetreten, dass die entsprechenden "Aktions-Pläne" pro Land statt im Frühjahr jetzt erst im Spätherbst 2004 beschlossen werden konnten; der EWSA ist mit der Forderung gut beraten, dass die für die drei östlichen Nachbarn (Belarus ist wegen des undemokratischen Verhaltens seines Präsidenten vorerst "auf Eis gelegt") ohnehin eng begrenzten Projekte bis Ende 2006 dennoch voll durchgeführt und finanziert werden. Ab 2007 soll das "Europäische Nachbarschafts-Instrument /ENI" in Kraft treten, das die "grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die regionalen Kooperationsprogramme mit den Instrumenten der wirtschaftlichen Kooperation" in einem Instrument integrieren soll; das ENI ist im Vorschlag der EK für den neuen Finanzrahmen der EU 2007-2013 enthalten, der allerdings erst noch vom Rat einstimmig und vom Parlament mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden muss. Der EWSA wird sicher den komplexen Prozess, in dem sowohl rechtliche als auch finanzielle Hürden in den kommenden Monaten überwunden werden müssen, darauf drängen, dass die wesentlichen Elemente des neuen ENI (wie die künftige Möglichkeit grenzüberschreitende Kontakte zwischen Bevölkerungsgruppen zu fördern) rechtzeitig beschlossen werden und dass das jährliche Budget im künftigen Finanzzeitraum gegenüber den relativ bescheidenen Mittel, die im gegenwärtigen Zeitraum bis 2006 zugewiesen werden, deutlich aufgestockt wird. (11) Für die Umsetzung der neuen Aktionspläne und die Begleitung der Finanzinstrumente sind die Institutionen der jeweiligen Assoziations- bzw. Partnerschafts- und Kooperations- CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 73 abkommen verantwortlich. Dabei spielt der jeweilige PKA-Rat die entscheidende Rolle, aber auch die entsprechende "Gemeinsame Delegation" zwischen EP und dem jeweiligen Landesparlament kann durchaus politische Einflussnahme ausüben. Vor diesem rechtlichen Hintergrund und in Folge fortschreitender Bedeutung der Zivilgesellschaften gerade in den östlichen Nachbarländern ist anzuregen, dass dem EWSA eine konkrete und kontinuierliche Möglichkeit eingeräumt wird, die künftige ENP konstruktiv-kritisch zu begleiten. Diese Begleitung in einer "Kontakt- und Beratungsgruppe" und später in einem vom EWSA koordinierten "Unterausschuss für die Begleitung der sozio-ökonomischen und zivilgesellschaftliche Entwicklungen", wie dies in den PKA (z.B. in Artikel 88 für die Ukraine) bereits prinzipiell vorgesehen ist, könnte meines Erachtens zum besseren Management und zur Qualität der Ergebnisse gerade bei einem der angekündigten Projektschwerpunkte beitragen, die sich auf die Bekämpfung der Korruption in Wirtschaft und Gesellschaft der Nachbarländer in Verbindung mit der international agierenden Kriminalität, insbesondere in Bezug auf Frauen- und Kinderhandel, konzentrieren wollen. (12) Darüber hinaus könnte dieser mit dem EWSA verbundene "Begleit- und Beratungsausschuss" für jedes östliche Nachbarland der EU die von diesen vier Ländern eingegangenen Verpflichtungen der einschlägigen IAO-Übereinkommen überwachen ebenso wie diejenigen Normen, die sich aus der Mitgliedschaft dieser Länder im Europarat ergeben (mit Ausnahme der weißrussischen Republik, deren Mitgliedschaft wegen der Verstöße durch Lukaschenko seit 1996 suspendiert ist) und nicht zuletzt der Vereinbarungen, die in den neuen "Aktionsplänen" der EU niedergelegt sind. Auf diese Weise würde der EWSA sowohl im Sinne der gemeinsamen Werte Europas handeln, als auch konkret zur Umsetzung der neuen ENP beitragen. Zu den europäischen Werten und dem mehrheitlich begrüßten Europäischen Gesellschaftsmodell gehört der soziale und der zivile Dialog in der EU wie auf nationaler Ebene, ebenso wie die Autonomie der Tarif- und Sozialpartner sowie die Aktionsfreiheit aller Akteure der Zivilgesellschaft. In dieser Perspektive könnte der EWSA im bisher noch vagen ENPArbeitsfeld "People-to-people exchange" seine konkreten Erfahrungen diesbezüglich einbringen, gerade in Bezug auf die künftigen Beziehungen mit den aktiven zivilgesellschaftlichen Akteure in der Ukraine unter neuer Präsidentschaft. (13) Nicht nur wünschenswert, sondern auch dringend ist nach Auffassung des Autors, dass repräsentative Akteure der ukrainischen Zivilgesellschaft als Beobachter zu den Sitzungen der im EWSA neugeschaffenen "Verbindungs-Gruppe" mit den Sprechern der zivilgesellschaftlichen Organisationen auf europäischer Ebene eingeladen werden. Es ist sicher kein Zufall, dass "Narodna Dopomoha", eine NRO in der Ukraine, die sich seit 1993 für die benachteiligsten Personengruppen in der Gesellschaft einsetzt, am 9. November 2004 im Europäischen Parlament von Margot Wallström, der ersten Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, den "Solidar price for Social Justice" verliehen bekommen hat. Viele andere CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 74 NRO, so auch die Europäische Bewegung in der Ukraine, haben sich in den letzten Jahren herauszustellende Verdienste erworben. Da in der vorliegenden Expertise aus zeitlichen Gründen Ablauf, Ergebnisse und Auswirkungen der hart umkämpften Präsidentenwahl in der Ukraine am 31. Oktober und am 21. November 2004 und der ihr folgenden "Orange Revolution" nur angedeutet und nicht mehr analysiert werden konnten, liegt es nahe, zu einem geeigneten Zeitpunkt in naher Zukunft eine Ergänzungsstudie über die Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure in diesem spannenden Prozess europäischer Zeitgeschichte für den EWSA und für die interessierte Öffentlichkeit zu erstellen. Die diesbezüglichen Hauptfragen wurden am Ende der vier Länderanalysen jeweils gestellt, ihre Beantwortung sollte nach der Aussprache auf dem Kolloquium am 19. Januar 2005 in Brüssel unter Auswertung der wichtigsten Berichte und Einschätzungen vorgenommen werden. * * CESE 1709/2004 (DE) av * .../... - 75 – ANHANG ABKÜRZUNGEN BIP Bruttoinlandsprodukt EBWE/ EBRD Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung European Bank for the Reconstruction of Europe, London ECOSOC Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen EG Europäische Gemeinschaft EGB Europäischer Gewerkschaftsbund EIB Europäische Investitionsbank, Luxemburg EIDHR European Initiative for Democracy and Human Rights (weltweit ausgeweitetes Demokratieprogramm der EU) EK Europäische Kommission ENI Europäisches Nachbarschaftsinstrument der EU ENP Europäische Nachbarschaftspolitik der EU EP Europäisches Parlament ESVP Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EUROSTAT Statistisches Amt der EU EWSA Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss FES Friedrich-Ebert-Stiftung GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (ehemalige Sowjetunion mit Ausnahme der drei baltischen Republiken) CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 76 – ANHANG Hg. = Ed. Herausgeber / Editor / Editeur IAO / ILO / BIT Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organisation Bureau International du Travail IBFG / ICFTU / CISL Internationaler Bund Freier Gewerkschaften International Confederation of Free Trade Unions Confédération des Syndicats Libres IHK Industrie- und Handelskammer INTERREG Gemeinschaftsinitiative der EU zur Förderung der Regionen in Europa IOE Internationale Arbeitgebervereinigung IWF / IMF / FMI Internationaler Währungsfonds International Monetary Fund Fonds Monétaire International KAS Konrad-Adenauer-Stiftung KGB Komitet Gosudarstvennogo Besopasnosti (Komitee für Staatssicherheit, UdSSR) KMU Kleine und Mittlere Unternehmen KP Kommunistische Partei KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion MOEL Mittel- und Osteuropäische Länder NGO / NRO Non Governmental Organisations Nichtregierungsorganisationen ODHIR Office for Democratic Institutions and Human Rights (OSCE) OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PA Präsidial-Administration (in den östlichen Nachbarländern der EU) CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 77 – ANHANG PHARE Poland and Hungary Aid for Reconstruction of the Economy (Förderprogramm für die mitteleuropäischen Beitrittsländer) PKA/PCA Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU RF Russische Föderation SWP Stiftung Wissenschaft und Politik TACIS Technical Assistance for the Community of Independent States UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken US / USA United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) WTO World Trade Organisation = Welt-Handels-Organisation * * CESE 1709/2004 (DE) av * .../... - 78 – ANHANG BIBLIOGRAPHIE ALEXANDROWA, Olga / GÖTZ, Roland, HALBACH Uwe (Hg.) Russland und der postsowjetische Raum, Baden-Baden 2002 ALEXANDROWA, Olga / TIMMERMANN,Heinz Russie-Biélorussie-CEI: Efforts d’intégration et tendances à la désintégration, in: Politique étrangère 1/1998, S. 93-108 ASTROV, Vasily / HAVLIK,Peter European Union, Russia and Ukraine: creating new neighbourhoods, in: Research Report No 305 of the Vienna Institute, S. 1-26, Wien April 2004 BISTER, Anita Handlungsspielräume der zivilen Gesellschaft in Russland, in: Mangott, Gerhard (Hg.), Zur Demokratisierung Russlands, Baden-Baden 2002 BOS, Ellen Das politische System der Ukraine, in: Ismayr,Wolfgang (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, S. 469 – 514, Opladen 2004 BÜSCHER, Klemens, Das politische System Moldovas, in: Ismayr,W:; Die politischen Systeme Osteuropas S. 515-552, Opladen 2004 CIVICUS (Editor) Belarus Civil Society: In Need of a Dialogue, A Preliminary Report on Civil Society Project in Belarus Author: Dr. Yury Zagoumennov, Minsk 2001 CIVICUS (Editor) Deepening the Roots of Civil Society in Ukraine A Preliminary Report on Civil Society Project in Ukraine, Kiew 2001 CLAUSS, Jan Ulrich Bibliographie Belarus/Weißrussland 1990-2000 Vom Aufbruch zum Umbruch? Belarus-Studien Nr. 1, Berlin 2003 DANNREUTHER, Roland European Union Foreign and Security Policy: Towards a Neighbourhood Policy, London 2004 DAUBENTON, Annie Regards russes et ukrainiens sur l’Europe, in: Courrier des Pays de l’Est, S. 54-62, Oktober 2003 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 79 – ANHANG DAUBENTON, Annie Société Civile en Ukraine: Les vigiles de la démocratie, in: Courrier des pays de l’Est, Bilan 2001, S. 283-302, Paris 2001 DAUDERSTÄDT, Michael Die EU und ihre armen Nachbarn. Eurokolleg Online der Friedrich-Ebert-Stiftung [http://www.fes.de/fes-publ/eurokolleg/nachbarn_1.html] DURKOT, Juri Ukrainische Wirtschaft: Vom Plan zum Clan in: Auslands-Informationen der Konrad-AdenauerStiftung, Heft 5/2003, S. 29-45, St. Augustin 2003 EMERSON, Michael The Wider Europe Matrix, Centre for Policy Studies, Brüssel 2004 European Commission Wider-Europe Neighbourhood Communication: A New Framework for Relations with our Eastern and Southern Europe Neighbours – Communication COM(2003)104 final, Brüssel 11.3.2003 European Commission Paving the way for a New Neighbourhood Instrument, Communication COM (2003) 393 final, Brüssel 1.7.2003 Europäische Kommission Europäische Nachbarschaftspolitik. Strategiepapier, Mitteilung KOM (2004) 373 endg., Brüssel 12.5.2004 DUBE, N. Belarusian Civil Society Between Repression and Dialogue, SEAL – Social Economy and Law/European Foundation Centre, Minsk 2001 EWSA Bericht der Delegation der Studiengruppe "Die Neuen Europäischen Nachbarn der EU", Informationsreise nach Chisinau (Moldau), Kiew (Ukraine) und Minsk (Weißrussland) im Juli 2003, Brüssel, September 2003 Friedrich-EbertStiftung (FES) ABC der ukrainischen Politik. Handbuch (ukrainisch), Redaktion: M. Tomenko, L. Badeschko, W.Grebelnik u.a., Kiew, 2002 FES (Hg.) Gewerkschaften in Belarus: Perspektive, Minsk 2003 CESE 1709/2004 (DE) av Transformation und .../... - 80 – ANHANG FES (Hg.) Nationale Identität in Belarus, Minsk 2003 FES (Hg.) Dokumentation der Kiew/Chisinau 2003 GUICHERD, Cathérine The Enlarged EU’s Eastern Border, SWP-Studie 20, Berlin 2002 HELMERICH,Martina Die Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie, Berlin 2003 International Centre for Policy Studies (Ed.) Nonprofit Governance Practices in Ukraine Kiew, Juli 2003 (http://www.icps.kiev.ua/) ISMAYR, Wolfgang Die politischen Systeme in Osteuropa, Opladen 2004 ICFTU Report of the mission of the International Trade Union Confederation to evaluate the trade union situation in Moldova, Chisinov/Brüssel, März 2003 KASIANENKO, A. Belarus NGOs: Developing or Surviving Belarus Association of Think Tanks Analytical, Minsk 2001 KEMPE, Iris / VAN MEURS, Wim Neues Denken für ein Großes Europa, in: Zeitschrift Osteuropa, S.1547-1561, Berlin 8/2003 KUBICEK, Paul Civil Society, Trade Unions and Post-Soviet Democratisation: Evidence from Russia and Ukraine, in: Europe-AsiaStudies, S. 603-624, 4/2002 KUZIO, Taras Staatskapazität, nationale Integration und Zivilgesellschaft, in: G. Simon, Die neue Ukraine, S. 51-73, Wien 2002 KUZIO, Tara EU and Ukraine:a turning point in 2004? European Institute for Security Studies, Paris 2003 KHUDOLEY, Konstantin(Hg.) Post-Communist Countries in the Globalizing World, St. Petersburg, 2004 CESE 1709/2004 (DE) av Konferenz über Moldau, .../... - 81 – ANHANG LANG, Susanne Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in Russland, in: Europäische Politik/Politikinformation Osteuropa, Bonn 2004 LEVCHENKO, E. Research on NGOs: International Experience and Belarus, Minsk 1999 LEWIS, Ann(Ed.) The EU and Belarus, Between Moscow and Brussels, London 2002 LEWIS, Ann (Ed.) The EU and Ukraine. Neighbours, Friends, Partners? London 2002 LINDNER, Rainer / MEISSNER Boris (Hg.) Die Ukraine und Belarus in der Transformation. Eine Zwischenbilanz, Köln 2001 MANGOTT, Gerhard Zur Demokratisierung Russlands, zwei Bände. Bd. 1: Russland als defekte Demokratie Bd. 2: Leadership, Parteien, Regionen und Zivilgesellschaft, Baden-Baden 2002 MILDNER, Karl Belarus: Kritische Überlegungen zu Politik und Wirtschaft des Lukaschenko-Regimes, Köln 2000 MOMMSEN, Margarete Das politische System Russlands in: Ismayr, W., Die politischen Systeme Osteuropas, S. 373 – 428, Opladen 2004 MICHALEVA, Galina Die politischen Parteien in der russischen Staatsduma, in: Bos/Mommsen/Steinsdorff (Hg.), Das russische Parlament, S. 199-222, Opladen 2003 MÜLLER, Susanne Bausteine der Zivilgesellschaft Belarus-News Nr. 17, Minsk-Berlin, 2002 OTT, Alexander Präsident, Parlament, Regierung, in: Simon G., Die neue Ukraine, Köln 2002 PIEHL, Ernst Phare-Tacis-Demokratie-Programm – Kleine Zwischenbilanz, in: EU-Magazin, S. 24 ff. Baden-Baden-Brüssel, 5/1997 CESE 1709/2004 (DE) av .../... - 82 – ANHANG PIEHL,Ernst / SCHULZE, Peter / TIMMERMANN Heinz Die offene Flanke der EU: Russland, Belarus, Ukraine und Moldau, Berlin 2005 RUCKER Roland La Russie et les autres pays de la Communauté des Etats Indépendants, in: Courrier de l’Est, S. 3-21, Paris 1-2/2004 SAHM, Astrid Zivilgesellschaft als eigenständige Veranstaltung in: Zeitschrift, Osteuropa, S.96-110, Berlin, 2/2004 SAHM, Astrid Verstaatlichung der Gewerkschaften?, in: BELARUS News, 18/2002, S.7, Minsk/Berlin 2002 SANNIKOV, Andrei Belarussian totallitarianism is a reality in: http:/www.charter97.org SIMON, Gerhard Die neue Ukraine. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, Köln 2002 STEINSDORFF, Silvia von Das politische System Weißrusslands (Belarus), in: Ismayr, W., Die politischen Systeme Osteuropas, S. 429 – 468, Opladen 2004 STRATENSCHULTE, Eckart Wandel durch Annäherung, in: Zeitschrift Integration S. 95-100, Bonn 1-2/2004 THAA, Winfried Zivilgesellschaft – ein schwieriges Erbe aus Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift Osteuropa, S. 146-215, Bd. 5-6, Berlin 2004 TIMMERMANN, Heinz Die widersprüchlichen Beziehungen Russland-Belarus im europäischen Kontext, SWP-Studie 37, Berlin 2002 TIMMERMANN, Heinz Die EU und die "Neuen Nachbarn" Ukraine und Belarus, SWP-Studie 41, Berlin 2003 UNITED WAY Belarus Belarus Non-Government Minsk 2000 VOVK, Viktor Sustainable Development for the Second World: Ukraine and the nations in transition, Washington 2003 CESE 1709/2004 (DE) av Organisations Directory, .../... - 83 – ANHANG WEBBER, Mark Russia and the Council of Europe in: Ders. (Hg.), Russia and Europe: Conflict or Cooperation, S. 125-151, Basingstoke/London 2000 WOSTOCK Spezial Belarus im Zentrum Europas in: Zeitschrift Wostock, S. 1-80, Berlin 1/2002 ZAGORSKI, Andrei Policies towards Russia, Ukraine, Moldova and Belarus in: Dannreuther, R. (Hg.), S.79-97, London 2004 ZAGOUMENNOV Democracy Corridors: Strategy for Change in Belarus, European Foundation Centre, Brüssel 2000 ZIEMER, Klaus (Hg.) Die Neuorganisation der politischen Gesellschaft, Staatliche Institutionen und intermediäre Instanzen in postkommunistischen Staaten Europas, Berlin 2000 * * CESE 1709/2004 (DE) av * .../... - 84 – ANHANG KURZ–CV des Autors Ernst Piehl geboren am 1.11.1943 in Konin (Polen), 1964-1969 Studium der Politischen Wissenschaften in Berlin, mit Abschluss als Diplom-Politologe und Promotion als Dr.rer.pol. Verheiratet mit Annie Larue (Paris) seit 1974; drei Kinder; doppelter Wohnsitz in Frankreich und in Brüssel. Sieben Berufsetappen: 1969 – 1975 Wissenschaftlicher Referent beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Düsseldorf. 1980 – 1984 fünf Jahre politischer Sekretär im Europäischen Gewerkschafts-Bund in Brüssel (u.a. Verbindungsmann zum Wirtschafts- und Sozialausschuss). Dazwischen Direktor des Europäischen Jugendwerks des Europarates in Straßburg (u.a. zu gesamteuropäischen Jugend-Projekten als Beitrag zum Helsinki-Prozess). 1984 – 1994 Direktor des Europäischen Zentrums zur Förderung der Beruflichen Bildung (CEDEFOP) der EU in Berlin, dort danach Leiter des Informationsbüro des Europäischen Parlaments für Berlin und die östlichen Bundesländer Deutschlands. 1996 – 2001 Verantwortlich für das Demokratie-Programm der Europäischen Kommission für die mittel- und osteuropäischen Länder (im Rahmen von PHARE und TACIS). Seit 2002 im Vorruhestand der EK mit Expertisen und Beratungen für die genannten Institutionen der EU sowie ehrenamtliche Tätigkeiten der Europäischen Bewegung mit besonderem Engagement für die Kandidaten- und Nachbarländer der Europäischen Union. Schwerpunktthemen in den Veröffentlichungen (fünf Bücher und ca. fünfzig Aufsätze) betrafen sowohl wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklungen in Deutschland und Europa als auch die Außenpolitik der EU im Werden, mit besonderem Augenmerk auf die Länder des ehemaligen Ostblocks. Aktuelle Publikationen betreffen die östlichen Nachbarländer und deren Zivilgesellschaften (s. Bibliographie in der vorliegenden EWSA-Studie). _____________ CESE 1709/2004 (DE) av