1. russland - EESC European Economic and Social Committee

Werbung
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
Expertise für den EWSA
Zivilgesellschaften in den vier östlichen Nachbarstaaten
der Europäischen Union (EU)
(Autor: Dr. Ernst Piehl, Brüssel/Bordeaux)
CESE 1709/2004 (DE) av
DE
-1INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT (Karin Alleweldt, Mitglied und Berichterstatterin im EWSA)
3
VORBEMERKUNG des Autors
4
A.
5
EINLEITUNG
-
B.
Ausgangsdokumente des EWSA
Begriffserklärung "Zivilgesellschaft" und Anwendung des Begriffs im
EWSA
Konzentration auf die östlichen Nachbarn der erweiterten EU
Hauptfragen und Kernpunkte in den Kurz-Analysen der vier Länder
Etappe im langwierigen Transformations- und Integrationsprozess
Europas
LÄNDERANALYSEN
8
1.
8
RUSSLAND
Porträt
1.1
Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage
1.2
Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen
1.3
Arbeitgeber- und Unternehmerverbände sowie informelle
Wirtschaftsclans ("Oligarchen")
1.4
Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/NichtRegierungs-Organisationen (NRO)
1.5
Fazit und Ausblick
2.
UKRAINE
Porträt
2.1
Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage
2.2
Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen
2.3
Arbeitgeberverbände und Unternehmerclans (Oligarchen)
2.4
Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/NichtRegierungs-Organisationen (NRO)
2.5
Fazit und Ausblick
3.
WEISSRUSSLAND UND ZIVILGESELLSCHAFT
Porträt
3.1
Hintergrund, besondere Bedingungen und aktuelle Lage
3.2
Arbeitnehmerorganisationen/Gewerkschaften
3.3
Arbeitgeberverbände/Organisierte Unternehmerschaft
3.4
Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) als Hoffnungsträger
im autoritären Staat mit einem Präsidenten auf Lebenszeit
3.5
Fazit und Ausblick
CESE 1709/2004 (DE) av
8
9
11
13
15
22
22
24
26
28
31
38
38
40
42
43
45
.../...
-24.
C.
MOLDAU UND ZIVILGESELLSCHAFT
53
Porträt
4.1
Basisinformationen, Aktueller Überblick und spezifische
Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln
4.2
Arbeitnehmerganisationen/Gewerkschaften
4.3
Arbeitgeberverbände und Unternehmensrepräsentanz
4.4
Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO)
4.5
Fazit und Ausblick
53
54
56
57
58
GESAMT–KONKLUSIONEN UND ANREGUNGEN
64
1.
GESAMT–KONKLUSIONEN
64
1.1
1.2
64
1.3
2.
Generell
Konklusionen in Bezug auf die organisierte Zivilgesellschaft
der Sozialpartner
Vergleichende Konklusionen in Bezug auf die NichtRegierungs-Organisationen
ANREGUNGEN UND VORSCHLÄGE
65
67
68
ANHANG
Abkürzungen
75
Bibliographie
78
Kurz – CV des Autors
84
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
-3VORWORT
Als die EU-Erweiterung vom Mai 2004 nach Jahren der Verhandlungen endlich "beschlossene Sache"
war, richtete sich der Blick auf die neuen EU-Nachbarstaaten. Die Grenzen, die wir mit der Erweiterung überwinden, schaffen zugleich neue. Sie reißen andere Grenzregionen und Länder auseinander,
die zuvor wirtschaftlich und menschlich miteinander verbunden waren. Diese neuen Grenzen sollten
Europa nicht erneut spalten. Mit dieser Zielsetzung begann der EWSA Anfang 2003 seine Arbeit zum
Thema "Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren
östlichen und südlichen Nachbarn".
Es erstaunte mich damals, wie wenig Aufmerksamkeit der EWSA auf Osteuropa richtete. Zu vielen
Regionen in der Welt bestehen intensive, sehr fruchtbare Arbeitskontakte. Allein, die unmittelbaren
Nachbarstaaten an den neuen EU-Außengrenzen im Osten blieben wenig beachtet. Darin liegt keine
Wertung. Ich bin davon überzeugt, dass einzig das Fehlen eines intensiven kulturellen Austausches
zwischen diesen Ländern und den alten EU-Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahrzehnten den
Grund dafür lieferte. Dies haben wir nun im EWSA geändert, nicht zuletzt weil die Mitglieder aus den
neuen EU-Staaten unsere Erfahrungen in dieser Hinsicht bereichert haben.
Aus den Gesprächen mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen in Belarus, der Ukraine, der
Republik Moldau und der Russischen Föderation im Jahre 2003 und vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Arbeit der neuen Kontaktgruppe "Östliche Nachbarstaaten" des EWSA gaben wir die vorliegende Expertise in Auftrag. Ernst Piehl hat uns als Sachverständiger während der Arbeit zur ersten
Stellungnahme zur Verfügung gestanden und es wurde rasch deutlich, dass wir ein aktuelles Kompendium "unserer" Ansprechpartner und der spezifischen Strukturen und Voraussetzungen des sozialen und zivilen Dialogs in den betreffenden Ländern zusammenstellen müssten, als Grundlage für
unseren Dialog. Diese Studie sollte kurz sein, informativ, Verständnis füreinander aufbauen und als
Einstieg und zur raschen Orientierung dienen. Es ist Ernst Piehl gelungen, dies mit einem Gespür zum
Detail und kritischen Bewertungen zu verbinden, die vielleicht nicht jede/r teilt, aber die damit hervorragend zum Nachdenken anregen.
Karin Alleweldt
CESE 1709/2004 (DE) av
Berlin, 25. November 2004
.../...
-4VORBEMERKUNG des Autors
Diese Expertise soll vorrangig als Information und Diskussionsvorlage für die am 19. Januar 2005
stattfindende Konferenz des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel dienen.
Beide Vorhaben des EWSA wollen sowohl zur besseren Kenntnis über "Die Zivilgesellschaften in
den östlichen Nachbarländern" als auch zur Vernetzung transnationaler Kontakte unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren beitragen.
Damit diese Vorlage rechtzeitig in drei Arbeitssprachen der EU und in die drei Amtssprachen der vier
östlichen Nachbarn übersetzt und rechtzeitig den Teilnehmern zugesandt werden konnte, war am
25.11.2004 Redaktionsschluss. So konnte nur noch die Rolle der Zivilgesellschaften beim Beginn der
"Orange Revolution" in der Ukraine im Kontext der weichenstellenden Präsidentenwahlen in der
Ukraine angedeutet, nicht mehr in all ihren Auswirkungen analysiert werden. Die eingetretenen
Ereignisse haben eindrucksvoll bestätigt, welch aktuelles und wichtiges Thema der EWSA lange vor
den historischen Ereignissen in der Ukraine gewählt hatte.
Mein erster Dank gilt Frau Karin Alleweldt, die als Mitglied im EWSA und Verfasserin der Stellungnahme 2003 die Initiative für das gesamte Unterfangen ergriffen hatte und die auch die Expertise stets
mit inhaltlichen Ratschlägen begleitet hat. Gleichermaßen sei Jacques Kemp aus dem Sekretariat des
EWSA gedankt, der unermüdlich organisatorisch hilfreich war. In der knapp bemessenen Zeit und auf
weitgehend unerforschtem Gelände war technische Unterstützung nötig; für deren freiwillige Bereitstellung in turbulenten Wochen danke ich in alphabetischer Reihenfolge: Ulrike Karbjinski (Berlin),
Renate Peltzer (Brüssel), Annie Piehl-Larue (Paris/Brüssel) und Kathrin Renner (Brüssel).
Lacanau/Brüssel, 25. November 2004
CESE 1709/2004 (DE) av
Ernst Piehl
.../...
-5A.
EINLEITUNG
(1) Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat schon frühzeitig aus eigener Initiative begonnen, an der Debatte über die künftige Gestaltung der Beziehungen zu den Ländern
teilzunehmen, die nach der Ost-Erweiterung unmittelbar an die EU angrenzen. Seit Mai 2004
hat sich die politische Landkarte in Europa verändert, was auch den EWSA eingeladen hat, die
Neuorientierung seiner Außenbeziehungen genauer zu beginnen. Eine Dringlichkeit, auf diese
Einladung einzugehen, ergibt sich daraus, dass in Europa keine neuen Mauern errichtet oder
Gräben gezogen werden, sondern – im Gegenteil – ein gemeinsamer Raum für wirtschaftliche
Entwicklung und für sozialen Fortschritt geschaffen wird.
Der Ausschuss sieht seine Rolle in diesem Prozess vor allem als aktiver Mitgestalter, der seine
Erfahrungen und Expertise, gewonnen in der Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten
in Mittel- und Osteuropa (MOEL), sowie seine komplementären Kontakte über die fachliche
Arbeit mit den Partnerorganisationen aus der organisierten Zivilgesellschaft der MOEL einbringen möchte.
Vor diesem Hintergrund hat der EWSA im Dezember 2003 seine Stellungnahme zu der
"Wider Europe"-Mitteilung der Europäischen Kommission (EK) verabschiedet, die sich auf
Vorschlag von Frau Karin Alleweldt auf die vier östlichen Nachbarländer konzentriert und die
Ergebnisse des Berichts einer Delegationsreise des Ausschusses vom Juli 2003 aufnimmt. Darin wurde beschlossen, über die komplexe Lage der Zivilgesellschaften in den vier östlichen
Nachbarländern die nachfolgende Studie in Auftrag zu geben. Diese soll zur inhaltlichen Vorbereitung des ebenfalls beschlossenen Kolloquiums dienen, das am 19. Januar 2005 Mitglieder
des EWSA, verantwortliche Repräsentanten der anderen EU-Organe und Vertreter bzw. Experten aus den Zivilgesellschaften der vier östlichen Länder zu einem ersten Kolloquium in
Brüssel zusammenführen wird.
(2) Der Begriff Zivilgesellschaft hat wie kaum ein anderer in der politischen Diskussion eine
wechselvolle Geschichte vorzuweisen: Als "societas civilis", "civil society" oder "société
civile" gehört er zu den klassischen Ideengeschichten und fristete in den Jahrzehnten vor dem
Sturz des Sowjetimperiums ein Schattendasein in inner-universitären Zirkeln, bevor er sozusagen als Re-Import aus den MOEL in aller Munde geriet.
Ausgehend vom Selbstverständnis der Dissidenten- und Oppositionsbewegung im sowjetisch
beherrschten Ostmitteleuropa rückte der im Westen dieser Jahre fast vergessene Begriff der
"societas civilis" ins Zentrum der konzeptionell-theoretischen Diskurse wie auch der politischpraktischen Auseinandersetzungen. In den Debatten der demokratischen Opposition zu den
autoritären Systemen unter Führung der Kommunistischen Partei (KP) schwankte der Begriff
zwischen einem Synonym für die Werte einer "Demokratie von unten", für eine marktwirtschaftliche Orientierung bei rechtsstaatlicher Garantie der Freiheit des Individuums und für
eine politische Strategie zur Bildung gesellschaftlicher Gegenmacht. So wurde der Begriff um
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
-61989/90 zum "Fokus gesellschaftlicher Gegenidentität"1 und bekam mehr oder weniger Bedeutung für die Oppositionsbewegungen in allen vormals sowjetisch beherrschten Ländern.
So wurde der Begriff Zivilgesellschaft auch zu einer Chiffre für die erstrebte "Rückkehr nach
Europa", insbesondere in den baltischen Republiken, in Polen und in der (West-)Ukraine.
(3) Freilich trug die Fülle der Bedeutungen des Begriffes bzw. seine beliebige Benutzung dazu bei,
dass er in den postkommunistischen Auseinandersetzungen in den MOEL bald seine Orientierungsfunktion verliert. Dagegen wird er gleichzeitig in den (späten) neunziger Jahren des
20. Jahrhunderts (wieder) zu einem Leitbegriff in den Debatten zur Reform der westlichparlamentarischen Demokratien auf nationaler Ebene und der institutionellen Gestaltung der
Europäischen Union (EU). So ist es kein Zufall, dass das "Forum der Zivilgesellschaft", initiiert
von der Europäischen Bewegung Mitte der neunziger Jahre, Anregungen in Richtung einer
"Europäischen Verfassung" gibt, die über den Konventsprozess jetzt in die Verbindungsgruppe
("Liaison Group") des EWSA mit den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen auf
europäischer Ebene einmündet. Dabei hat der Ausschuss konkret Einfluss auf den Entwurf der
Europäischen Verfassung genommen, der gegenwärtig in allen 25 Mitgliedstaaten der EU zur
Ratifizierung ansteht. In den teilweise hochkontroversen Debatten haben Gewerkschaften,
Arbeitgeberverbände und die aktiven NRO eine durchaus historische Aufgabe, denn das Verfassungsprojekt ist gegenwärtig in einigen Ländern höchst umstritten, oft aus innenpolitischen
und innerparteilichen Gründen. Als Akteure im Alltag zur Lösung der zunehmend europäisch
werdenden Probleme wird vermutlich die überwiegende Mehrheit der zivilgesellschaftlichen
Akteure darauf achten, dass die Europäische Verfassung nicht an national orientierten Politikern scheitert, die vor allem ihre eigene Macht bewahren oder erringen wollen.
In dieser Studie zur Vorbereitung des Kolloquiums 2005 wird der Begriff Zivilgesellschaft in
der praxisorientierten EWSA-Definition angewendet, also die Vertreter der drei organisierten
Gruppen: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und "Verschiedene Interessen" meint, wobei die
Gruppe III zunehmend auch die NRO umfasst, die in den weiten Bereichen des wirtschaftlich
und sozialen Gestaltens praktisch in allen europäischen Ländern zunehmend aktiv sind.
(4) Da die Vielfalt der gesellschaftlich handelnden Gruppen nach 15 Jahren Transformation auch
in den Nachbarländern inzwischen immer größer wird, ist die Konzentration auf den Raum
der östlichen Nachbarländer auch deshalb gerechtfertigt, zumal dieser Raum mit der Russischen Föderation den größten Flächenstaat der Welt und mit der Ukraine denjenigen Europas
umfasst. Bei der Größe des Territoriums zwischen Bug und Pazifik sowie zwischen Polarmeer
und dem Schwarzen Meer sind allgemeine Aussagen behutsam zu formulieren. Ausgehend von
unterschiedlicher Geschichte und Kultur haben die politischen Akteure auch in diesen vier
Ländern ihren eigenen Weg der Transformation beschritten.
1
Winfried THAA, Zivilgesellschaft – ein schwieriges Erbe aus Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift OSTEUROPA, Berlin,
Heft 5- 6/2004, S. 196.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
-7Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen sowjetischen Erbes über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten im 20. Jahrhundert gibt es ähnliche Fragestellungen, ihrer vermutlich
unterschiedlichen Beantwortung ist in den vier Länderanalysen nachzugehen – wenn auch nur
kurz, um die Begrenzung auf diesen Kurzstudien-Umfang nicht zu sprengen:

Wie haben sich die zentralistisch – nach sowjetischem Muster strukturierten – vier
Länder, in denen ein Befehlssystem von Oben nach Unten herrschte, unabhängige Akteure
der Zivilgesellschaft (also nicht nur von der KP-Allmacht abhängige Organisationen) seit
1990/91 aufgebaut und sich entwickeln lassen?

Wodurch wurde dem Mangel an zivilgesellschaftlichen Tugenden wie Selbstbestimmung
und -verantwortung, Zivilcourage, Toleranz und Gemeinwohlorientierung entgegengewirkt?

Welche Hauptprobleme stellen sich gegenwärtig den Akteuren der Zivilgesellschaft in den
vier Ländern und welche Perspektiven sind zu erkennen, insbesondere im Blick auf die
Gestaltung der Beziehungen zur erweiterten EU?
(5) Die vier Länder-Analysen haben – um Transparenz und Vergleichbarkeit zu erleichtern –
jeweils fünf Kapitel:

In einer kurzen Einführung werden vor dem Hintergrund unterschiedlicher Geschichte
und Kultur die spezifischen Länderbedingungen der Gegenwart vorangestellt;

In den drei folgenden Kapiteln werden die entsprechenden Akteure der organisierten
Zivilgesellschaft näher untersucht;

Am Schluss der vier Analysen wird jeweils pro Land ein Fazit gezogen.
(6) Im abschließenden Teil der Studie sollen in den Gesamt-Konklusionen sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den vier Ländern zusammengefasst und
bewertet werden. Darüber hinaus werden einige Anregungen an den EWSA selbst und an die
anderen Hauptorgane der EU gegeben, die zur Förderung der Zivilgesellschaften in den vier
Ländern ebenso beitragen können wie zum künftigen Auf- und Ausbau der Kontakte zwischen
den EWSA-Mitgliedern und den zivilgesellschaftlichen Partnern in den vier östlichen
Nachbarländern.
Alle Beteiligten mögen sich nicht von der Einsicht auf die Langwierigkeit dieses Prozesses
entmutigen lassen, auf den der deutsch-britische Soziologe und ehemaliges Mitglied der
Europäischen Kommission, Sir Ralf Dahrendorf, bereits 1990 hinwies: "Der Formalprozess
einer Verfassungsreform braucht mindestens sechs Monate, Wirtschaftsreformen können nach
sechs Jahren im allgemeinen Empfinden wirken; um die Fundamente für den Weg in die
Freiheit zu legen, sind sechzig Jahre kaum genug"2.
2
Zitiert aus einem Interview in der Zeitschrift EU-MAGAZIN, 5 / 1997, S. 24.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
-8B.
LÄNDERANALYSEN
1.
RUSSLAND
PORTRÄT der Russischen Föderation (am Ende des Kapitels)
1.1
Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage
Die Russische Föderation (RF), die gleichzeitig den Staatsnamen Russland trägt, hat die
Rechtsnachfolge der Ende 1991 untergegangenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
(UdSSR) angetreten. Unter den 15 ehemaligen Sowjetrepubliken, die jetzt eigene Völkerrechtssubjekte sind, verkörpert die RF den mit Abstand größten und mächtigsten Nachfolgestaat der UdSSR. Mit über 17 Millionen Quadratkilometern ist Russland immer noch der bei
weitem größte Flächenstaat der Erde, auch wenn das Land nur etwa 75% des ehemaligem
sowjetischen Territoriums umfasst. Die RF erstreckt sich zu einem Viertel der Fläche auf dem
europäischen Kontinent, während drei Viertel des Riesenreiches in Asien liegen.
Die Bevölkerung umfasst der jüngsten Volkszählung zufolge etwa 145 Mill. Einwohner,
wovon sich ca. 80% zu den ethnischen Russen zählen; die übrigen Bewohner gehören über
hundert ethnischen Gruppen an, worunter die Tataren mit 4% und die Ukrainer mit 3% von
Bedeutung sind3.
Die Sozialstruktur der RF wandelte sich infolge des Übergangs von der sowjetischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft grundlegend. Die ökonomische Transformation seit 1991 hatte
in einer ersten Welle die Privatisierung zum Hauptinhalt; Anfang 1992 wurden die Preise
freigegeben, was mit einer grassierenden Inflation und einem drastischen Rückgang der
Industrieproduktion einherging. Die Folge war auch die wachsende soziale Differenzierung:
Dies gilt sowohl für die berufliche Gliederung als auch für die Einkommensverteilung. Zu
den auffallenden Merkmalen gehören das Anwachsen der gesellschaftlichen Schicht der
Unternehmer bzw. der Geschäftsleute auf der oberen Skala sowie die zunehmenden Massen
der Arbeitslosen und Armen auf der unteren Skala der Gesellschaft. Gegenwärtig kann über
die Hälfte der russischen Bevölkerung nur knapp ihr Leben fristen. Der Anteil der Bevölkerung, dessen Pro-Kopf-Einkommen unter dem Existenzminimum liegt, ist deutlich gestiegen.
Das Geldeinkommen konzentriert sich auf eine zahlenmäßig kleine Oberschicht; eine neue
Mittelschicht entsteht erst langsam4.
Das politische System befindet sich auch ein Jahrzehnt nach Verabschiedung der neuen Verfassung noch auf einem widerspruchsvollem Wege zur Demokratie: Weiterhin herrscht institutionelle Unbestimmtheit, wobei außerhalb der Verfassungsorgane informelle Strukturen der
3
Siehe „Porträt Russische Föderation" in dieser Studie, Punkt 1.6.und den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 7. 8. 2004.
4
Vergleiche den Bericht in: Der Spiegel, 38/2003, S. 121 und die „Erklärung der Teilnehmer der Gesamtrussischen Konferenz
zivilgesellschaftlicher Organisationen" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.10.2003.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
-9Macht dominieren. Die Ansätze zu einer vertikalen wie zu einer horizontalen Gewaltenteilung
werden unter Präsident Wladimir Putin eher abgebaut als gestärkt, auch wenn er Russlands
Rolle in der Weltpolitik offenkundig effizienter als seine Vorgänger ausfüllt. Solange sich die
politische Führung im vom Präsidialsystem der 5. Republik Frankreichs beeinflussten "Superpräsidentialismus Putinscher Prägung"5 nicht auf gesellschaftlich verankerte politische Parteien stützt, stellen bürokratische Clans oder Seilschaften und ökonomische Komplexe bzw.
Oligarchen die treibenden Akteure in Staat und Gesellschaft dar. In einer Botschaft an das
Parlament vor seiner Wiederwahl als Präsident deklarierte Putin einerseits, "die Entwicklung
der Parteien und der Zivilgesellschaft voranzubringen", andererseits scheinen beide in der
Wirklichkeit seiner zweiten Amtszeit weiter an Bedeutung zu verlieren. In der Politikwissenschaft wird das aktuelle Regime in der RF als "gelenkte" oder als "defekte Demokratie" (russische Autoren wie Michaleva und westliche Experten wie Schulze) oder als "autoritäres
System mit demokratischen Elementen" (Mommsen) gekennzeichnet.
1.2
Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen
Unter den formalisierten Interessenvertretungen von Arbeit und Kapital haben die Gewerkschaften in Russland eine lange Tradition als Massenorganisationen, die freilich im Kommunismus stalinistischer Prägung Transmissionsriemen der allmächtigen Partei waren. Nach der
Auflösung der UdSSR organisierten sich die sowjetischen Gewerkschaften als Dachverband
der alten Branchengewerkschaften um und nannten sich fortan "Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands" (FNPR). Während in der UdSSR der Organisationsgrad
nahezu hundertprozentig war, sank die Mitgliederzahl der Nachfolgeorganisation drastisch:
Er liegt seit Mitte der 1990er Jahre bei etwa 30% und scheint sich bei diesem vergleichsweise
mittleren Niveau des Gewerkschaftsgrades für pluralistische Gesellschaften zu stabilisieren.
Die FNPR zählt nach eigener Angabe rund 40 Mio. Mitglieder, setzt sich aus 44 Einzelgewerkschaften zusammen und hat starke, relativ unabhängige Regionalorganisationen. Die
FNPR gehört seit 2000 dem Internationalen Bund der Freien Gewerkschaften (IBFG) an und
gleichzeitig der losen Dachkonföderation der GUS-Gewerkschaften.
Neben den alten Gewerkschaften bildeten sich verschiedene neue Gewerkschaften, die auf die
ersten Streikwellen der Jahre 1989 und 1990 im weiten Energie- und Transportsektor zurückgingen. Dazu gehört beispielsweise die "Unabhängige Bergarbeiter-Gewerkschaft". Diese
alternativen Organisationen traten bald in Konkurrenz zu den traditionellen Gewerkschaften.
Unter den Alternativverbänden ist besonders die "Soziale Gewerkschaft" hervorzuheben, in
der ca. 1.000 betriebliche Gruppen zusammengeschlossen sind. Diese politisch engagierte,
branchenübergreifende Gewerkschaft versuchte vor allem über vorteilhafte Tarifverträge die
Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Sie wurde im Rahmen des IBFG und dessen Programm "Trade Union Rights Monitoring Networks and Building International Co-operations"
auch von der EU über mehrere Jahre finanziell unterstützt. Beide kleine Gewerkschaften sind
5
Vgl. Margarete MOMMSEN, Das politische System Russlands, in: Ismayr, W. (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2004,
S. 373.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 10 auch Mitglied im IBFG, planen eine Fusion und sind gegenwärtig für wachsende Zusammenarbeit mit der großen FNPR.
Die traditionellen Gewerkschaften nehmen weiterhin maßgeblich die Funktionen der "sozialen Fürsorge" wahr: sie konzentrieren ihre Interessenvertretung stärker auf den Staat als auf
die Arbeitgeber als Ansprechpartner ihrer Politik. Auf zentralstaatlicher Ebene dominieren
weiterhin die alten Gewerkschaften; in den Großkonzernen haben sie weiterhin bzw. unter
Putins Präsidentschaft erneut das entscheidende Sagen. Die Dominanz der Traditionalisten
wird auch in der "Russischen Drittelparitätischen Kommission" deutlich, die seit 1991 als
"Forum der Sozialpartnerschaft"6 besteht.
Die von oben weitgehend verordnete Sozialpartnerschaft wird wesentlich von Regierung und
Arbeitsministerium moderiert, festgelegt im sog. Tripartistischen Abkommen von 1999 für
die gesamte RF. Darin sind die Arbeitnehmer durch die o.g. drei Gewerkschaftsbünde vertreten, während von Arbeitgeberseite ein "Koordinierungsausschuss" der insgesamt 22 Arbeitgeberverbände vertreten ist. Die formalen Rechte auf gesamtstaatlicher Ebene haben wenig
praktische Wirkungen, da keine klaren Sanktionen bei Nichteinhaltung von Vereinbarungen
vorgesehen sind.
Tatsächliche Verhandlungsoptionen bestehen nahezu ausschließlich auf betrieblicher Ebene,
auf der laut dem neuen Arbeitsgesetz die Betriebs-Gewerkschaftsleitungen realen Einfluss
haben; diese werden meist von der FNPR gestellt, denn die kleineren Bünde sind nicht flächendeckend organisiert. Auch können die Belegschaften mehrheitlich einen anderen Repräsentanten als den von den Gewerkschaften zur Verhandlung mit der Betriebsleitung ad hoc
bestimmen, was die Gewerkschaften in den Augen der Arbeitgeber erheblich schwächt. In
von ausländischem Kapital kontrollierten Unternehmen (namentlich in denen aus den USA)
werden die Gewerkschaften bekämpft bzw. bei Neugründung praktisch nicht zugelassen.
Prominentes Beispiel für gewerkschaftsfeindliche Unternehmenspraxis ist Coca-Cola: In diesem amerikanisch dominierten Weltkonzern wurden im gegenwärtigen Russland Arbeitnehmer gegen international geltendes Recht (vor allem IAO-Normen) gezwungen, die Gewerkschaft zu verlassen, und einer bereits gewählten Arbeitnehmervertretung wurde der Zutritt
zum Arbeitsplatz untersagt. Von Sanktionen gegenüber diesen und anderen Verletzungen von
Gewerkschaftsrechten ist bisher nichts bekannt; lokal aufkommende Arbeitsniederlegungen
werden von Arbeitgeberseite für illegal erklärt und die daran Beteiligten mit Entlassung bzw.
Zutrittsverbot zum Betrieb bedroht.
Angesichts der realen Machtverhältnisse im heutigen Russland verwundert es nicht, dass sich
die Gewerkschaften auf gesamtstaatlicher Ebene – auch angesichts zunehmender Armut –
vorrangig um Sozialeinrichtungen kümmern, verwalten preisgünstige Ferienhäuser und vertreten die Interessen der Arbeitnehmer bei den "Arbeitsinspektionen". Mehr und mehr hat sich
ein informelles Bündnis zwischen Belegschaft, Gewerkschaft und Betriebsmanagement ent6
Siehe Olga Alexandrova, u.a. (Hg.), Russland und der postsowjetische Raum, Baden-Baden 2002.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 11 wickelt, das gemeinsam bei den Autoritäten in den Republiken und vor allem in Moskau um
staatliche Ressourcen kämpft.
Mindestlöhne werden zentralstaatlich vereinbart, richten sich aber nach den durchschnittlichen Löhnen in den Föderationsrepubliken. Arbeitnehmerrechte und Arbeitsschutz existieren im Alltag meist nur auf dem Papier; bei Konflikten scheitert die rechtliche Durchsetzung
von Arbeitnehmeranliegen am überlasteten und noch ungenügend ausgebildetem Gerichtssystem.
1.3
Arbeitgeber- und Unternehmerverbände sowie informelle Wirtschaftsclans ("Oligarchen")
Die Interessenvertretungen der Unternehmen haben sich im Zusammenhang mit der Privatisierung der Wirtschaft völlig neu gebildet. Die ersten Unternehmerverbände traten Ende der
Achtziger Jahre auf; es waren anfangs die sog. Klubs der neuen erfolgreichen "bisnismeny";
seit 1992 rückten Branchenverbände in den Vordergrund.
Gegenwärtig kann man vier verschiedene Typen von mehr oder weniger organisierten
Arbeitgeber- bzw. Unternehmerinteressen ausmachen:




Multisektorale Verbände,
Branchenorganisationen,
so genannte intersektorale Regionalverbände und
Assoziationen kleiner und mittelständischer Unternehmer.
Die bedeutendste Organisation ist der "Russische Verband der Industriellen und Unternehmer (RSPP)", der gegenwärtig 89 regionale Abteilungen unterhält und als "Partner der
Macht" mit der politischen Führung kontinuierlich und mit anderen Institutionen/Organisationen gelegentlich zusammenarbeitet.
Daneben ist auch die "Handels- und Industriekammer" (TPPP) der Russischen Föderation
herauszustellen, die seit ihrer Gründung 1991 mittlerweile 140 regionale und territoriale
Kammern aufgebaut hat; gegenwärtiger Präsident ist der ehemalige Premierminister Primakow, was darauf hindeutet, dass die TPPP der genauen Kenntnis der Regierungsmaschinerie
einen hohen Stellenwert einräumt.
Als dritte formalisierte Interessenorganisation auf Arbeitgeberseite tritt die "Gesellschaftliche
Organisation der Klein- und Mittelunternehmen" (OPARA) auf, die 1993 gegründet,
inzwischen flächendeckend und branchenübergreifend organisiert und in der Praxis vor allem
in der Landwirtschaft und im Handwerk verankert ist7.
7
MOMMSEN, aaO, S. 423.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 12 Von allen drei Typen der Arbeitgeber-Organisationen werden Vertreter in die drei parteiischen Einrichtungen entsandt, die seit Amtsantritt Putins geschaffen wurden (s. vorangegangenes Kapitel zu den Arbeitnehmervertretungen).
Neben den formalisierten und registrierten Interessenorganisationen besteht im heutigen
Russland ein nicht-registriertes System von informellen Interessengruppen: Im Kern handelt es um konkurrierende, auf ökonomischer Macht basierende oligarchische Kartelle, die
direkt oder indirekt auf die staatlichen Entscheidungsstrukturen Einfluss nehmen bzw. mit
diesen Strukturen eng verflochten sind; dies wird von russischen Politologen als "System der
oligarchischen Interessenabstimmung" bezeichnet, das sich "durch persönliche Seilschaften
und nicht durch institutionelle Interaktionen" auszeichnet8. Diese Oligarchien trachten danach, ihre Klientel unmittelbar in der staatlichen Verwaltung unterzubringen; auf gleiche
Weise werden Mitglieder von Regierung und Verwaltung direkt in die Netzwerke dieser
Clans integriert. Beide Prozesse haben eine kaum durchschaubare, aber offenkundig wirksame Interessenverbindung zwischen einigen Oligarchen und der "Partei der Macht" herausgebildet. Als "Oligarchen" wurden die ab 1995 in den Vordergrund tretenden Chefs der neuen
mächtigen Energie-, Industrie- und Finanzimperien bezeichnet. In ihrer Mehrheit entstammen
diese Männer (eine Frau ist bisher unter den Oligarchen unbekannt) aus der "Komsomol-Ökonomie", die bereits 1986 ihren Ursprung nahm, als interessierte Vertreter des kommunistischen Jugendverbandes KOMSOMOL sich die seitdem zugelassenen Handelsstrukturen
zunutze machten9. Die ersten "finanz-industriellen Gruppen" wurden von Industrieunternehmen "von oben her" geschaffen; später kamen weitere Gründungen solcher "Oligarchien" von
den Banken hinzu.
Seit Mitte 2000 gibt es Bestrebungen, die Beziehungen zwischen den Oligarchen und der
politischen Führung zu formalisieren; in diesem Kontext sind die "Runden Tische" hervorzuheben, die zwischen Präsident Putin und einer Reihe von Wirtschaftsmagnaten regelmäßig
stattfanden. Ende 2000 gründeten 30 herausragende Repräsentanten der Wirtschaft, darunter
die Vorreiter und einige neue Oligarchen der reichsten Großunternehmen den "Runden Tisch
der Geschäftsleute Russlands", der ein ständiges Büro im Hause des oben genannten Unternehmerverbandes RSPP hat. Die regelmäßigen Treffen zwischen den Führungspersonen des
Unternehmerverbandes und der Staatsspitze, die schon mehr als 1.000 Repräsentanten im
Kreml zusammenbrachten, finden ein großes Medienecho und belegen das Interesse der beteiligten Akteure am Dialog über die Hauptfragen in Wirtschaft und Gesellschaft der RF.
Gleichzeitig will Präsident Putin im Unterschied zu seinem Vorgänger Jeltsin demonstrieren,
dass er gegenüber allen Oligarchen "die gleiche Distanz zur Macht"10 wahren will.
8
9
10
Dieselbe, aaO, S. 405.
Diese und andere Angaben von der russischen Expertin Dr.Galina MICHAELEVA, Moskau, an den Autor im August 2004
mitgeteilt.
Siehe mehrere Presseerklärungen des Staatspräsidenten während der Yukos-Affäre auf seiner Internet-Homepage.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 13 Schon vorher begannen einige Oligarchen zivilgesellschaftliche Projekte und Organisationen
zu fördern, vor allem in den Bereichen Bürger- und Menschenrechte sowie Bildung und Soziales, namentlich Michail Chodorkowskij als Chef des Ölriesen Yukos (Gründer der Stiftung
"Offenes Russland", ausgestattet mit einem Startkapital von 10 Millionen Dollar); ihr Engagement erklärt sich erstens aus dem Interesse, ihr öffentliches Image zu verbessern, denn
diese "Neureichen" Russlands standen im überwiegend negativen Ruf, sich in den 90er Jahren
mit zweifelhaften Methoden die Filetstücke des Volkseigentums Russlands angeeignet zu
haben"11. Zweitens haben die Oligarchen wachsendes Interesse an einer entwickelten Zivilgesellschaft als Seismograph für Rechtsstaatlichkeit und gegen staatliche Willkür. In diesem
Sinne äußerte sich Chodorkowskij persönlich: "Ohne die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit
und Zivilgesellschaft wird Russland nicht prosperieren"12. Im Oktober 2003 wurde der
Yukos-Chef verhaftet: Offiziell wegen der ihm zur Last gelegten Vergehen des Betrugs und
der Steuerhinterziehung; vermutlich aber deswegen, weil er das inoffizielle Arrangement zwischen Kreml und den Oligarchen aufgekündigt hatte, welches diesen insbesondere völlige
Politikabstinenz abverlangte13. So ist mit der Inhaftierung des gesellschaftspolitisch engagiertesten Oligarchen auch ein Signal an die Wirtschaft seitens des russischen Präsidenten zu
erkennen, sich nicht in die Politik einzumischen. Seitdem kam der Yukos-Konzern unter dem
Einfluss weltweiter Turbulenzen (u.a. zurückzuführen auf den globalen Ölpreis) in dramatische Schwierigkeiten, ebenso erging es der Stiftung "Offenes Russland", die seitdem keine
neuen Projektinitiativen mehr annehmen kann. Gegenwärtig ist noch nicht absehbar, welche
Auswirkungen die "Yukos-Affäre" auch auf die Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement haben wird.
1.4
Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO)
Die Gesamtzahl der "bürgerschaftlich Engagierten" in Russland umfasst nach Schätzungen
von NRO zwischen einer und zwei Millionen Bürger/Innen sowie rund 300.000 registrierte
zivilgesellschaftliche Organisationen; freilich gehen Experten davon aus, dass in Wirklichkeit
davon nur etwa ein Zehntel, also rund 30.000 NRO, dauerhaft aktiv ist14.
Einer Umfrage des "Instituts für komplexe Gesellschaftsstudien" zufolge haben 46% der
Befragten schlicht keine Zeit für bürgerschaftliches Engagement, da sie mit dem alltäglichen
(Über-)Lebenskampf beschäftigt sind. Die seit gut einem Jahrzehnt etablierten Organisationen
konnten sich nicht nur wegen der internationalen Zuschüsse (namentlich seitens amerikanischer Stiftungen und von der EU), sondern auch dank innerrussischer Netzwerkbildung am
11
12
13
14
Mitteilung von Frau Dr. G. MICHAELEVA, August 2004.
Dieselbe, August 2004.
Vgl. Susanne LANG, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in Russland, Internationale Politikanalyse der
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn April 2004, S.5ff.
LANG, aaO, S.8.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 14 Leben erhalten. Gegenwärtig kann man drei sich überlagernde Strukturen erkennen: Aufgabenorientiert, geografisch und engagementspezifisch.

So gibt es erstens Netzwerke von Organisationen derselben thematischen Ausrichtung, z. B. der ständige "Runde Tisch: Gemeinsames Handeln", der in der Hauptstadt
Vertreter von Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen versammelt sowie andere
themen-orientierte Netzwerke von NRO, die sich für die Rechte der Frauen, der
Migranten oder der Behinderten einsetzen.

Zweitens gibt es die geografisch-orientierte Form der Vernetzung, insbesondere durch
den Aufbau von Kooperationen zwischen regionalen Einheiten derselben Organisation,
z.B. das "Menschenrechts-Zentrum MEMORIAL", das als eine konkrete Frucht von Glasnost und Perestroika 1988 gegründet, inzwischen durch rund 90 Mitgliedsorganisationen
in den Republiken/Regionen der gesamten RF und in sechs anderen Ländern (insbesondere in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR) vertreten ist und konsequent
für die transparente Aufarbeitung des Stalinismus eintritt; als anderes prominentes Beispiel für erfolgreiches NRO-Engagement ist das "Komitee der Soldatenmütter" hervorzuheben, über das die westliche Presse seit Jahren vielfach berichtet; beide Organisationen
wurden u.a. auch von der EU technisch und finanziell unterstützt.

Eine dritte Vernetzungsform entwickelt sich branchen-übergreifend, wo strukturpolitische Fragen des zivilgesellschaftlichen Engagements auf die Tagesordnung kommen, insbesondere in der seit 2001 gegründeten "Volksversammlung", gebildet aus den
ca. 30 größten politikorientierten NRO (namentlich von der Moskauer Helsinki-Gruppe,
von MEMORIAL und von der Konföderation der Verbraucherschutzorganisationen).
Vor diesem Hintergrund haben sich seit 2001 zwei Plattformen entwickelt, die sich vor
allem in Distanz bzw. Nähe zur herrschenden Staatsmacht unterscheiden:
15

Das im Frühling 2001 gegründete Forum "Demokratische Beratung" besteht aus mehreren unabhängigen NRO, insbesondere aus dem Bereich Menschenrechte, sowie aus
regimekritischen politischen Parteien, u.a. dem demokratischen Bündnis "YABLOKO";
Ziel ist es, sich gemeinsam zu "wichtigen Fragen des öffentlichen Lebens" zu äußern15.

Das im November 2001 im Kreml von Präsident Putin eröffnete "Bürger-Forum"
brachte erstmals rund 3.000 Vertreter/innen der Zivilgesellschaft aus allen Arbeitsbereichen und Regionen mit ca. 2.000 Repräsentanten staatlicher Behörden zusammen; das
Leitmotiv dieses Forums besteht nach eigenem Anspruch darin, zunächst Staat und Zivilgesellschaft miteinander ins Gespräch zu bringen, um anschließend den Dialog und die
Zusammenarbeit zwischen beiden Akteuren zu begründen.
So Frau Dr. MICHALEVA, August 2004.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 15 Natürlich sind die Einschätzungen der komplexen Gründungen und der bisherigen Entfaltung
beider Foren sehr verschieden – sowohl unter den Beteiligten als auch zwischen den kritischen Beobachtern –, was im anschließenden Fazit dieses Russlandkapitels zusammengefasst
und bewertet werden soll.
1.5
Fazit und Ausblick
In der widerspruchsvollen Gegenwart Russlands gibt es in Bezug auf die Zivilgesellschaft
zwei gegenläufige Tendenzen gleichzeitig:

Einerseits die "gelenkte" und gleichzeitig defekte Demokratie Putinscher Prägung, in der
das Angebot an die Zivilgesellschaft zu Dialog und Kooperation zugleich mit Misstrauen
und pauschalen Vorwürfen in einen Rahmen zur Regulierung eben dieser Zivilgesellschaft durch staatliche Machtstrukturen transformiert wird. In einer Rede am 26.5.2004
vor der Staatsduma zur Rolle der von "nichtpolitischen gesellschaftlichen Organisationen" führte der Staatspräsident programmatisch aus: "In unserem Land existieren und
arbeiten konstruktiv Tausende von Vereinen und Verbänden von Bürgern. Aber nicht alle
davon sind darauf konzentriert, reale Interessen der Bürger zu verteidigen. Für einen Teil
solcher Organisationen wurde es zur Prioritätsaufgabe, Finanzierungen von einflussreichen ausländischen Fonds zu bekommen, für einen anderen Teil ist es die Bedienung
von verdächtigen Gruppen- und Kommerzinteressen, und dabei bleiben die akutesten
Probleme des Landes und seiner Bürger unbemerkt"16.

Andererseits ist ein Auslösen von Lernprozessen auf beiden Seiten zu verzeichnen, die
neu sind in einem Land, in dem das Politikmonopol stets der Staatsmacht zustand und das
bisher kaum Selbstverantwortung und pluralistische Organisationen der Bürgerschaft
kennt. So hat ehemalige Ministerpräsident Kasjanow im Februar 2002 in der Folge des
"Bürger-Forums" nicht nur öffentlich erklärt, die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen müsse zum festen Bestandteil der Arbeit aller Behörden Russlands
werden; er hat gleichzeitig die Ministerien per Verordnung verpflichtet, ihm vierteljährlich darüber Bericht zu erstatten.
Die neuen zivilgesellschaftlichen Akteure berichten ihrerseits von einer Vielzahl von
Konsultationsbeziehungen und auch Gesprächserfolgen (offenkundig Folge des Forums
"Demokratische Beratung"); als Beispiele dafür seien festgehalten:

16
Der "Verband der Soldatenmütter" hat durchgesetzt, dass eine Kommission des Präsidenten sich mit der Situation der Kriegsgefangenen auseinandersetzt und dass in Zeiten des
Tschetschenienkrieges gegen starke Vorbehalte eine "Kommission für Menschenrechte
beim Präsidenten" eingerichtet wurde, in der jetzt 12 NRO vertreten sind.
Siehe Homepage des Präsidenten der RF im Internet.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 16 -

In den Bereichen von Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik gibt es mittlerweile funktionierende Dialogstrukturen, trotz der "sowjetischen Altlast" bei den Gewerkschaften und trotz
der ambivalenten Neustrukturen und Turbulenzen in der Neu-Unternehmerschaft Russlands.
Die traditionellen Interessengruppen, beispielsweise die stärker formalisierten Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften, versuchen ihren Einfluss insbesondere im Rahmen des
Gesetzgebungsprozesses in allen Stadien geltend zu machen. Dabei treten vor allem die rund
hundert Abgeordneten aus den ökonomisch wichtigen Energiebereichen Erdgas und Erdöl in
Erscheinung. Sie streben insbesondere danach, im zentralen Budget-Ausschuss der Duma
ihren Einfluss nachhaltig zur Geltung zu bringen; es wurden Zusammenschlüsse von Repräsentanten einzelner Industriebranchen innerhalb der Mandatsträger beobachtet, die außerhalb
und quer zu den Fraktionsgrenzen verlaufen. Seit Mitte der 1990er Jahre sind Diskussionen
über die wünschenswerte Legalisierung der Lobbytätigkeit in Gang gekommen. Ein einschlägiger Gesetzentwurf wurde in der Duma auf den Weg gebracht, der allerdings bisher (Oktober
2004) noch nicht verabschiedet wurde.
Bei aller Divergenz unter den Akteuren der auf Mitgliedschaft basierenden Organisationen
der Sozialpartner und der NRO Russlands wächst offenkundig das Bewusstsein, dass die
Chancen zur Durchsetzung eigener Gestaltungsinitiativen davon abhängen, Zugang zu den
jeweiligen Entscheidungsträgern im politischen System zu gewinnen. Gleichwohl bestehen
weiterhin wechselseitige Berührungsängste sowie ein Misstrauen gegenüber diesem Staat,
dessen Entscheidungsorgane weiterhin als willkürlich und nicht rechtsstaatlich handelnd
erfahren werden. Es bleiben Vorbehalte auch gegen die demokratisch gewählten Regierenden,
da auch bei ihnen Deklarationen und Handeln auseinander fallen, namentlich beim wieder
gewählten Präsidenten. Putin erklärt einerseits, "Bedingungen zu schaffen, die die Konsolidierung einer echten Zivilgesellschaft im Land fördern, die ein Gegengewicht zur Staatsmacht
bildet und sie kontrolliert"17; andererseits werden in seinem Regime Gesetze insbesondere im
Steuerrecht beschlossen, die der Entwicklung selbstständiger NRO zuwiderlaufen. Auf Seiten
der zivilgesellschaftlichen Organisationen wächst das Selbstverständnis über die eigenen
Möglichkeiten ebenso wie über deren Grenzen, gerade durch ihre Konsolidierung in den
themenübergreifenden Netzwerken. Mehrheitlich befürworten die NRO offenkundig die
Strategie, einen beratenden Zugang zu den staatlichen Institutionen zu suchen, die sie in einigen Fällen bereits durchgesetzt haben; mittlerweile sind sie in präsidialen Kommissionen
vertreten oder haben andere Formen des Dialogs mit Vertretern des Staates gefunden. Im
Ergebnis befinden sich die wichtigsten Akteure der Zivilgesellschaft im postsowjetischen
Russland in einem Entwicklungs- und Lernprozess; dieser geht offensichtlich von einer Taktik der Opposition und der folgenlosen Konfrontation über zu einer Strategie der Partizipation, die freilich in pluralistischen Gesellschaften Kritik sowie demokratisch ausgetragene
Auseinandersetzungen um Mehrheiten einschließt.
17
Ebenda.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 17 -
In diesem Kontext sind weitere neue Entwicklungen auf beiden Seiten des begonnenen Dialogs festzuhalten:

Unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren verschieben sich die Gewichte in den Auseinandersetzungen von an Moral und Demokratie orientierten Appellen zu Argumenten
der Nützlichkeit und der Wirksamkeit für die Adressaten; so wird die in den NRO vereinigte fachliche Kompetenz zu den jeweiligen Themen sowie die größere Effizienz gegenüber staatlichen Bürokratien in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Soziales auch von
maßgeblichen Vertretern der Staatsmacht anerkannt. Freilich überschätzen sich offenkundig einige NRO, wenn sie sich zu "Kontrolleuren der Staatsmacht" erklären18.

Auf Seiten des Staates und der von ihm (weiterhin bzw. aufs neue) "gelenkten"
Großkonzerne scheint sich die Einsicht zu verstärken, dass bürgerschaftliches Engagement förderlich ist und dass aktive zivilgesellschaftliche Organisationen innovative Partner sein können im Rahmen der mannigfachen Modernisierungen, die Russland am
Beginn des 21. Jahrhundert besonders dringend benötigt.
In diesen sich wechselseitig überlagernden Prozessen könnte erhöhte internationale Aufmerksamkeit, gerade seitens der EU-Institutionen und von Seiten ihrer Zivilgesellschaft sowie in
den Medien ihrer Mitgliedstaaten, hilfreich sein, damit die zivilgesellschaftsfreundlichen Absichtserklärungen von Präsident Putin tatsächlich in der legislativen und in der administrativen Praxis umgesetzt werden.
Hilfreich wäre gleichzeitig, dass die verschiedenen Netzwerke der NRO in Russland sich
noch stärker untereinander über ihre komplementären Aufgaben abstimmen; auch sollte zumindest die Avantgarde unter den vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre eigene
Öffentlichkeitsarbeit in Russland verstärken; vor allem sollten sie sich noch stärker an die
neue Generation in der postsowjetischen RF wenden, die ohne eigene totalitäre Erfahrungen
aufgewachsen ist.
Die bisherigen Unterstützungsprogramme der EU für die russische Zivilgesellschaft, die teilweise in enger Kooperation und mit komplementärer Finanzierung durch den Europarat seit
Jahren durchgeführt werden, sollten künftig stärker die Organisationen auf regionaler und
lokaler Ebene fördern, gerade weil gegenwärtig eine Re-Zentalisierung staatlicher Macht in
der RF im Gange ist. Die Rolle der russischen Zivilgesellschaft während des Wahlkampfes
und den verschiedenen Wahlgängen in der Ukraine von Oktober bis Dezember 2004 wird
sicher auch Thema künftiger Aussprachen und Untersuchungen sein, sowohl in Bezug auf die
Aktionen von Präsident Putin und seiner Staatspartei als auch in ihren Beziehungen zu den
entsprechenden Organisationen im größten Nachbarland.
18
Vgl. die unterschiedlichen Bewertungen zitiert bei LANG, aaO, S. 8ff.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 18 -
LANDESPORTRÄT: RUSSISCHE FÖDERATION
1.
BASISINFORMATIONEN
1.1
Bevölkerung
145,2 Millionen Einwohner (2003)
Städtisch (in Prozent der Gesamtbevölkerung): 73,4
Bevölkerungswachstum (in Prozent per annum): -0,6
Alphabetisierungsgrad (in Prozent der Bevölkerung):
99,8
1.2
Lebenserwartung
64,8 Jahre (im Durchschnitt) 2003
1.3
Fläche
17,075 Millionen qkm (größter Flächenstaat der Welt)
1.4
Dichte
8,43 Einwohner pro qkm
1.5
Hauptstadt
Moskau (8,75 Mill. Einwohner)
1.6
Ethnische Struktur/Minderheiten
79,8% Russen; 3,84% Tartaren; 23% Ukrainer;
13% andere Nationalitäten wie Baschkiren, Tschuwaschen u.a.m (insg. 160 ethnische Gruppen).
1.7 Sprachen
Russisch; Nationalsprachen einiger Republiken
1.8 Religionen
Christen (insgesamt 82%): Russisch-Orthodoxe,
Protestanten, Armenische Kirche;
Muslime (18%)
2.
POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN
2.1
Unabhängigkeit
Erklärung als RF nach Auflösung der UdSSR 1991
2.2
Verfassung
Dezember 1993
2.3
Staatsform/Politisches System
Föderation mit 89 Föderationssubjekte (Republiken
oder Regionen), zusammengefasst in 7 Föderale
Distrikte.
Präsidiales System mit Direktwahl des Staatspräsidenten auf 4 Jahre (seit 2000 Wladimir Putin Präsident hat umfassende Vollmachten inklusive eines
Vetorechts; ernennt Premierminister und Kabinett und
bestimmt die Richtlinien der Politik, insbesondere der
Außenpolitik. Bislang fanden drei Präsidentschaftswahlen statt: 1996, 2000 und 2004. Boris Nikolajewitsch Jelzin war von 1993 bis 2000 erster gewählter
Präsident der Russischen Föderation. Wladimir Wladimirowitsch Putin amtiert als Präsident seit 2000 und
wurde in den Präsidentschaftswahlen 2004 bestätigt.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 19 Präsident ernennt ständige Vertreter bei den Föderalen Distrikten.
2.4
Regierung
► Ministerpräsident (seit 2004: Michail Fradkow)
► Außenminister (seit 2004: Sergei Lawrow)
Verwaltungsreform im März 2004 reduzierte die Zahl
der Ministerien und föderalen Behörden.
2.5
Parlament
► Föderalversammlung aus zwei Kammern:
Staatsduma mit 450 Abgeordneten gewählt aus
Listen und Direktmandaten; gegenwärtig 4 Fraktionen: Edinaja Rossia, Rodina, LDPR,KPRF und Fraktionslose;
Vorsitzender (Speaker): Boris W. Gryslow
Föderationsrat mit 178 entsandten Vertretern aus den
regionalen Regierungen und Parlamenten der
Föderationssubjekte,
Vorsitzender seit 05.12.2001 Sergej M. Mironow
Staatsrat,
kein Verfassungsorgan, sondern beratende Repräsentanz der Präsidenten und Gouverneure aus den
89 Föderationssubjekten. Der Staatsrat tagt mehrmals im Jahr und der Vorsitz rotiert.
Sicherheitsrat:
Koordinationsorgan für innen- und außenpolitische
Entscheidungen von strategischer Reichweite, die die
Sicherheit des Landes berühren, Sekretär des Sicherheitsrats: Igor S. Iwanow
2.6
Beziehungen zur EU
► "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen"
(PKA=PCA) mit der EU, in Kraft seit 1997, mit
einer Laufzeit von 10 Jahren.
► Sektorielle Abkommen (z. B. Stahl, Textilien).
2.7
Mitgliedschaft in Internationalen
Institutionen
► Gründungsmitglied der Vereinten Nationen als
Rechtsnachfolger der UdSSR (ständiger Sitz im
VN-Sicherheitsrat: UdSSR seit 1945, Russland
seit 24.12.1991)
► OSZE seit Unterzeichnung der Schlussakte von
Helsinki 1975
► Europarat seit 28.2.1996
Ostseerat seit seiner Gründung im März 1992
Internationaler Währungsfonds (IWF),
seit Mai 1992
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 20 Internationale Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung (IBRD, ehem. Weltbank), seit Mai 1992
Internationale Entwicklungsorganisation (IDA),
seit Mai 1992 Nordatlantischer Kooperationsrat
(UdSSR seit seiner Gründung 1991)
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), seit
Dezember 1991
"Einheitlicher Wirtschaftsraum" mit der Ukraine,
Belarus und Kazachstan (unterzeichnet 2003, noch
nicht in Kraft) APEC seit 1998
CSTO (Common Security Treaty Organisation)
seit 1992
Eurasian Economic Community (seit 1995)
Shanghai Cooperation Organisation (seit 1996).
Conference on Interaction and Confidence Building
Measures in Asia (seit 2002)
3.
ÖKONOMISCH-SOZIALE DATEN
3.1
BIP je Einwohner (2002)
2.382 Euro
3.2
BIP in Prozent des Durchschnitts
der EU25
8,3%
3.3
Wachstum des (realen) BIP
7.3% (2003); 4.7% (2002) 5,1% (2001); 10.0% (2000)
Staatsbudget in Prozent am BSP
36.9% (2000), 37.3% (2001), 37.6% (2002),
36.6% (2003)
3.4
Inflationsrate
12.0% (2003); 16,7% (2001)
3.5
Arbeitslosenquote (IAO Definition) 8,1% 2003 (6,3% 2002, 9,0% 2001, 10,5% 2000)
3.6
Ausländische Direkt-Investitionen
2,835 Milliarden Euro (2001)
3.7
Gesamt- Exporte
91,864 Milliarden Euro (2002)
3.8
Gesamt-Importe
41,006 Milliarden Euro (2002)
Zahlungsbilanz/Saldo in Mrd. US
Dollar
33.4% (2001), 30.9% (2002), 35.9% (2003)
Exporte in die EU
59,654 Mrd. Euro (52,5% des Russischen Handelsvolumens)
3.9
3.10 Importe aus der EU
CESE 1709/2004 (DE) av
27,411 Mrd. Euro (50.5% des Russischen Handelsvolumens)
.../...
- 21 3.11 Reallohn,
jährl. Veränderung in %
-23,2% (1999), 18.0% 2000), 20.0% (2001), 16.2%
(2002), 9.8% (2003)
3.12 Gewerkschafts-Dachverbände
FNPR (Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands) mit rd. 40 Mio. Mitgliedern in
44 Einzelgewerkschaften
Neue Gewerkschaften wie "Unabhängige Bergarbeiter-Gewerkschaft" und "Soziale Gewerkschaft" mit weit weniger Mitgliedern (keine offiziellen
Statistiken)
Zusammenarbeit der drei Bünde, die Mitglieder des
IBFG sind
3.13 Dachverbände der Arbeitgeber
"Russischer
Verband
der
Industriellen
und
Unternehmer (RSPP)" mit 89 regionalen Abteilungen;
"Handels- und Industriekammer der Russischen
Föderation (TPPP)" mit 140 territorialen Kammern;
"Gesellschaftliche Organisation der Klein- und
Mittelunternehmen(OPARA)", vor allem im Handwerk
und in der Landwirtschaft; 2003 in RSPP
eingegliedert
Zahlreiche
branchenspezifische
Assoziationen,
darunter auch "Runder Tisch der Geschäftsleute
Russlands" aus ca.30 Konzernrepräsentanten
3.14 Nicht-Regierungs-Organisationen Ca. 300.000 registrierte, wovon ca. 30.000 als aktive
(NRO=NGO)
Organisationen gelten
Seit 2001 zwei "Plattformen":
"Forum Demokratische Beratung" aus mehreren
unabhängigen NRO;
"Bürger-Forum" von Präsident Putin initiierte
Begegnung von ca. 3.000 Repräsentanten der
Zivilgesellschaft und 2.000 Vertretern der nationalen
und regionalen Behörden.
Quellen: Fischer Weltalmanach 2005; Harenberg Länderlexikon; Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; eigene Berechnungen und Schätzungen soweit keine Statistiken
auffindbar.
Dr. Ernst Piehl /Dr. Peter W. Schulze November 2004
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 22 2.
UKRAINE
PORTRÄT (am Ende des Kapitels)
2.1
Hintergrund, spezifische Bedingungen und aktuelle Lage
Die Ukraine ist mit über 600.000 Quadratkilometern der größte Flächenstaat Europas.
(Russland versteht sich selbst zu Recht als eurasische Föderation). Sein Name "UKRAINA"
bedeutet "Grenzland", historisch an der Grenze zwischen römisch-katholischer Welt mit
lateinischer Schrift und der russisch-orthodoxen Welt mit kyrillischer Schrift, später Grenzland der zaristischen und sowjetischen Imperien, gegenwärtig im Sinne des unmittelbaren
Nachbarn an der Ostgrenze der erweiterten EU und als Scharnier zu den anderen Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres, insbesondere zu Georgien und Armenien, die historisch-kulturell europäische Länder sind und folgerichtig Mitglieder des Europarates wurden.
Der Anteil der ukrainischen Titularnation an der Gesamtbevölkerung von ca. 48 Millionen
Menschen beträgt nach der letzten Volkszählung (2001) nahezu 78%; die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind mit über 17% die Russen, die damit die größte russische Bevölkerungsgruppe außerhalb der RF stellen. Der mannigfaltige Einfluss Russlands wirkt auch auf die
heutige Ukraine durch die gemeinsame Geschichte über viele Jahrhunderte auch nach knapp
15 Jahren Unabhängigkeit nach, verstärkt dadurch, dass auch ethnische Ukrainer Russisch
sprechen, allerdings weniger im Zentrum und fast gar nicht im Westen der Ukraine 19. Die
übrigen 5% der Einwohnerschaft kommen von einer Vielzahl anderer nationalen Minderheiten, die aber alle weniger als 1% der Bevölkerung ausmachen.
Beim Zerfall des sowjetischen Vielvölkerreiches spielte die Ukraine eine entscheidende
Rolle: Als die ukrainische Bevölkerung Ende 1991 mit 90% Mehrheit die Unabhängigkeitserklärung des Parlaments bestätigte, bedeutete dies faktisch das Ende der Sowjetunion.
Der Transformationsprozess des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systems
ist in der Ukraine wie in den meisten der postsowjetischen Republiken keinesfalls abgeschlossen. Die Defizite in den demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen werden
von dem innen- und außenpolitisch widerspruchsvollen Regime nicht abgebaut, das von Präsident Kutschma, der seit 1994 im Amt ist, autoritär repräsentiert wird. Freilich hinderte
Kutschma der doch schon erkämpfte Grad an pluralistisch-demokratischen Strukturen nach
der 1996 verabschiedeten Verfassung an der rein formal möglichen dritten Kandidatur. Die
für den 21. November 2004 angesetzte Stichwahl ist durchaus offen, was trotz aller Manipulationen seitens der "Partei der Macht" vor allem der demokratischen Reife einer erstaunlich
weit entwickelten Zivilgesellschaft zu verdanken ist.
19
Siehe Landes-PORTRÄT in dieser Studie; eingehende Analyse des "regionalen" und des "russischen Faktors" folgt im UkraineTeil des Januar 2005 erscheinenden Buches zu den vier östlichen Nachbarn der EU, das vom Autor und je einem Experten für die
RF und Weißrussland verfasst ist.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 23 -
Die unzureichenden Strukturreformen in der ukrainischen Wirtschaft sind ursächlich für
die mangelnden Investitionstätigkeiten durch die führenden Volkswirtschaften Europas, Amerikas und Asiens, so dass die Ukraine wirtschaftlich von Russland abhängig bleibt. Die
Erfolge der letzten Jahre, vor allem hinsichtlich der eindrucksvollen Wachstumsraten, können
die strukturellen Probleme nicht lösen, zumal die ukrainische Wirtschaft von Oligarchen
beherrscht wird; die sowohl direkt mit der einflussreichen Präsidialadministration von Präsident Kutschma verbunden sind als auch über Parlamentsmandate mit der "Partei der Macht";
Letzteres verschafft ihnen Immunität vor Strafverfolgung bei ihren undurchsichtigen
Geschäften, die nach Auffassung kritischer Beobachter in das Milieu der organisierten internationalen Kriminalität hineinreichen.
Die antisowjetische Protestbewegung als erstmalige Manifestation einer Zivilgesellschaft in
der Ukraine in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, die sich sowohl aus National-Demokraten der "ukrainischen Wiedergeburtsbewegung RUCH" als auch aus den Reformkräften in
der KP und den ihr nahe stehenden Massenorganisationen zusammensetzte, fiel spätestens mit
der Wahl Kutschmas 1994 auseinander.
Das historisch erklärbare Fehlen eines bürgerschaftlichen Bewusstseins und die Zersplitterung in viele aktive, aber kleine Einzelgruppen der Zivilgesellschaft sind paradoxerweise
Elemente der Stabilität in der postsowjetischen Ukraine, denn keine westliche Gesellschaft
hätte vermutlich vergleichbar dramatische soziale Einbrüche mit relativer Gleichmütigkeit
ertragen wie die ukrainische (wohl nur vergleichbar mit der Situation in Russland). Die im
vergangenen Jahrzehnt massiv gewachsene Kluft zwischen den Massen der Bedürftigen,
deren Einkommen teilweise unter die Armutsgrenze gefallen sind20, und den wenigen Wohlhabenden hat bisher kaum soziale Unruhen ausgelöst. Die Oligarchen, gleichermaßen mächtig
in Wirtschaft und Politik, sind die unbestrittenen Gewinner der Transformation in der gegenwärtigen Ukraine. Sie haben ein hohes Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo und
treten gegen die Rückkehr zum Kommunismus ebenso wie gegen einen demokratischen
Wechsel und marktwirtschaftliche Reformen auf. Gegenüber dieser enormen OligarchenMacht (offenkundig noch stärker als in Russland und in den anderen postsowjetischen Gesellschaften) haben in der heutigen Ukraine sowohl die organisierte Zivilgesellschaft wie die
Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen als auch die schwach organisierten und
noch zersplitterten NRO einen schweren Stand.
In der erst 1996 (später als in den drei Nachbarstaaten) und auf Druck der europäischen
Institutionen, insbesondere seitens des Europarates im Zuge der Aufnahme der Ukraine,
zustande gekommenen Verfassung sind formal "Verbände, Vereinigungen und Interessen-
20
Bei einer gesamtukrainischen Umfrage im Jahre 2002 stuften 49,7% "ihre Situation als elend" ein, während das Prädikat „sehr
gut" lediglich von 1,9% gebraucht wurde, zit. in: Gerhard SIMON, Die neue Ukraine. Gesellschaft-Wirtschaft-Politik, Köln,
2002, S. 20.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 24 gruppen jeglicher Orientierung" in Artikel 36 verankert, jedoch gibt es in der Verfassungswirklichkeit seitens der Verfassungsorgane keine Förderung, sondern eher Behinderungen.
2.2
Gewerkschaften/Arbeitnehmerorganisationen
Als Nachfolgeorganisation der sowjetischen Gewerkschaften konstituierte sich 1991 die
"Föderation der Gewerkschaften der Ukraine" (FPU), der im Jahre 1999 42 Branchenverbände und 26 regionale gewerkschaftliche Gliederungen angehören. Nach eigenen Angaben vertritt die FPU "über 20" bzw. gemäß der Schätzung des Internationalen Bundes
Freier Gewerkschaften (IBFG) 12,6 Millionen Mitglieder; dies entspricht fast 40% (FUP)
bzw. über 25% (IBFG) der gesamten Bevölkerung und 97% (FPU) bzw. ca. 66% (IBFG) der
gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in der Ukraine. Auch wenn die eigenen Angaben vermutlich übertrieben und die entsprechenden Zahlen des IBFG21 schwierig überprüfbar
sind, bleibt unbestritten, dass die FPU die mit weitem Abstand größte Konföderation in der
Ukraine ist; mit diesen Zahlen gehört die FPU gegenwärtig zu den mitgliederstärksten
Gewerkschaftsbünden Europas ; sie hat bis heute in den meisten Branchen ein Monopol bei
der Vertretung der Beschäftigten aufrecht erhalten. Obwohl die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft freiwillig ist, müssen Arbeitnehmer bei einem Austritt aus der FPU faktisch den Verlust bestimmter Vorteile und Beihilfen in Kauf nehmen22. Als Ausdruck auch politischer
Vertretungsinteressen der FPU kann die Wahl des Vorsitzenden Oleksandr Stojan (gewählt
1992; wiedergewählt 1997 und 2002) bei den Parlamentswahlen 1998 auf der Liste der "AllUkrainischen Partei der Werktätigen" gewertet werden, zumal gegenwärtig vier weitere
hochrangige FPU-Repräsentanten im ukrainischen Parlament vertreten sind. Ohne die komplexen Entwicklungen in der seitherigen Innenpolitik hier analysieren zu können, sei festgehalten, dass dieser dominierende Gewerkschaftsbund sich mit der "Partei der Macht" des
Staatspräsidenten - bei aller Einzelkritik an den sozialen Verschlechterungen – und somit mit
dem herrschenden Regime wie seit jeher arrangiert hat. Der Gewerkschaftsvorsitzende Stojan
war in der Wendezeit "Berater für Arbeitsbeziehungen" beim ersten Präsidenten Krawtschuk.
Dieser sorgte dann für seine Wahl zum Vorsitzenden der Gewerkschaftsföderation. Die FPU
hat sich seit 1991 mit Forderungen oder gar Streikandrohungen an den Staatspräsidenten und
dessen Regierungen sehr zurückgehalten, obgleich die soziale Verschlechterung reichlich
Anlässe zu massiven Protesten gegeben hätte. Die FPU wird von kritischen Beobachtern
deshalb insgesamt als "Schaf im Wolfspelz"23 charakterisiert.
Neben der FPU sind seit 1989 auch vom herrschenden Regime unabhängige Gewerkschaften entstanden: Insgesamt wurden rund 90 registriert, wovon gegenwärtig noch 42 bestehen,
die alle relativ klein, meist nur auf einen Sektor konzentriert und oft von vorübergehender
Lebensdauer sind. sie verfügen faktisch über sehr begrenzten Einfluss, auch wenn sie vom
21
22
23
Alle IBFG-Angaben basieren auf dem "Mission Report of the ICFTU Executive Board in Ukraine" vom 14.11.2003, der dem
Autor vorliegt.
So der Experte Paul KUBICEK zit. bei Ellen BOS, Das politische System der Ukraine, 2004, in: Ismayr, Köln 2004, S. 500.
KUBICEK,aaO., S.34 .
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 25 Kutschma-Regime zu verschiedenen "Konsultationsgremien" wie in den "Nationalen Rat für
Soziale Partnerschaft" einbezogen werden, um getroffene Entscheidungen "abzusegnen". Insgesamt wird ihre Mitgliedschaft auf gegenwärtig rund 600.000 Mitglieder geschätzt , wovon
namentlich die "Konföderation der freien Gewerkschaften" (KVPU) mit 125.000 (nach
eigenen Angaben) den größten Anteil hat. Dieser oppositionelle Gewerkschaftsbund basiert
auf den Streikkomitees der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, vor allem im Bergbausektor und wurde 1997 als branchenübergreifende Konföderation geschaffen. Allerdings
bleibt der KVPU auf den Bergbau (mit 52.000) und auf den Bildungs- und Forschungsbereich
(mit 30.000 Mitgliedern) konzentriert, so dass sein Einfluss branchenübergreifend begrenzt
ist. Hinzu kommt, dass das herrschende Regime mittels der "legalen Anerkennungsprozeduren" ein restriktives und oft willkürliches System der Selektion anwendet, wobei die FPU als
die mit Abstand größte Konföderation privilegiert wird. Die KVPU wurde jüngst in den IBFG
als Vollmitglied aufgenommen, während der Beitrittsantrag seitens der FPU vom IBFG in der
Schwebe gehalten wird. Nachdem die ähnlich strukturierte, traditionelle Gewerkschaftsföderation Russlands bereits Mitglied im IBFG ist, wird dieser Schwebezustand von ukrainischer
Seite als ungerechtfertigte Benachteiligung empfunden.
Eine besondere Erwähnung verdient die bereits 1990 entstandene "Unabhängige Bergarbeiter-Gewerkschaft NPGU", die im Wesentlichen aus den Streik- und Arbeiterkomitees der
Bergarbeiter im Donbass-Industriebecken hervorging. Diese hatten sich als Interessenvertretung der Arbeiter in den Kohlegebieten während der Wendezeit gebildet. Im Unterschied zu
den anderen Freien Gewerkschaften erreichte die NPGU mit rund 65.000 Mitgliedern zumindest vorübergehend erhebliches politisches Gewicht. So konnte sie 1992 den Rücktritt von
Ministerpräsident Fokin (während der Präsidentschaft von Lionid Krawtschuk) und im Herbst
1993 sogar die Anberaumung vorgezogener Neuwahlen von Parlament und Präsidentschaft
erzwingen. Darüber hinaus gelang es den streikenden Kohlearbeitern, weit reichende Zugeständnisse der Regierung zur erkämpfen. Freilich haben sie damit unfreiwillig den Boden für
das Regime Kutschma geebnet, in dem sie nach einem Jahrzehnt stark dezimiert und ohne
nennenswerten Einfluss existieren.
Weitere erwähnenswerte unabhängige Gewerkschaften sind diejenigen der Lokführer und
des Lufthafenpersonals. In diesen sensiblen Bereichen können auch zahlenmäßig kleine
Gruppen – wie auch in westlichen Gesellschaften – die gesamte Wirtschaft lahm legen bzw.
empfindlich treffen. Freilich haben diese überwiegend korporatistisch-egoistischen Charakter
und tragen wenig zur Entwicklung einer auf sozialen Ausgleich bedachten Zivilgesellschaft bei.
Bei aller Verschiedenheit hat sich inzwischen eine erwähnenswerte Gemeinsamkeit unter
allen genannten Gewerkschaften entwickelt: Sie befürworten jetzt einmütig die "europäische
Perspektive" der Ukraine, d.h. sie sind für rasche Fortschritte für die Integration in die EU.
So begrüßen jetzt alle Gewerkschaftsbünder der Ukraine den Sozialen Dialog als europäische
Errungenschaft und treten für zunehmende Kontakte mit den entsprechenden Organisationen
der EU ein. Es wird sich nach der Klärung des stark kontroversen Ausgang der jüngsten
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 26 Präsidentenwahlen vom 21. November 2004 zeigen, ob die organisierte Arbeitnehmerschaft
den europafreundlichen Absichtserklärungen konsequentes Handeln folgen lässt.
2.3
Arbeitgeberverbände und Unternehmerclans (Oligarchen)
Die früheste formalisierte und bis heute wichtigste Organisation zur Interessenvertretung von
Unternehmen und Arbeitgebern in der Ukraine ist der 1990 gegründete "Verband der Industriellen und Unternehmer" (UPSS); seit Mitte der 1990er Jahre gehören dem UPSS rund
15.000 wirtschaftliche Unternehmen mit zusammen knapp 5 Millionen Beschäftigten an (ca.
vier Fünftel aller Erwerbstätigen). Mehr als die Hälfte der Mitglieder der UPSS zählen zum
staatlichen Sektor. So repräsentiert der Verband mehr als vier Fünftel aller staatlichen
Unternehmen. Der USPP unterhält sehr enge Beziehungen zu Präsident Kutschma, der vor
seiner politischen Karriere selbst Vorsitzender des UPSS war, sowie zu dessen jeweiliger
Regierung seit 1994. Von 1997 bis 2001 wurde der Unternehmerverband von Anatolij Kinach
geführt, bevor dieser von Präsident Kutschma zum neuen Ministerpräsidenten ernannt wurde.
Der Ernennung ging bezeichnenderweise der Sturz des Reformpremiers Juschtschenko
voraus, der vom Präsidenten nur anderthalb Jahre im Amt belassen wurde.
Der UPSS plädierte von der Wendezeit an für ein langsames Reformtempo und nutzte die
ersten Jahre zur Privatisierung im persönlichen Interesse der Nomenklatura. Der UPSS gilt
von Gründung an als Interessenvertretung der konservativen "roten Direktoren"24, von denen
offenkundig viele dem sowjetischen Imperium weiterhin nachtrauern. Dieser Verband
sichert(e) den Mächtigen in der Sowjetwirtschaft weiterhin Einfluss, der vormals über die
Parteihierarchie geltend gemacht wurde. Die Teilhabe an der neuen Macht stellt eine Fortsetzung der korporatistischen und republikübergreifenden Beziehungen dar, die Systemmerkmale der UdSSR waren. Die UPSS wurde und wird von den Mitgliedern der Nomenklatura
als "sicherer Hafen" genutzt, um sich auch bei der Privatisierung strategische Vorteile zu verschaffen25.
Freilich war die UPSS auch politisch aktiv und zwar als treueste Stütze des herrschenden
Präsidialregimes. Sein Vorsitzender Kinach hielt auch dann zu Präsident Kutschma, als dieser
im Verdacht stand, das Verschwinden und die Ermordung des regimekritischen Journalisten
Gongadse angeordnet zu haben. Unbeeindruckt von den entsprechenden Massenkundgebungen und der Kritik seitens internationaler Institutionen im Frühjahr 2001, die zum Rücktritt
von Kutschma aufriefen bzw. erwarteten, erklärte der Vorsitzende dieser Unternehmerkonföderation auf deren Sonderkongress im März 2001: "Wir unterstützen weiterhin die Bemühungen des Präsidenten, gesetzwidrige Aktionen zur Änderung der Verfassungsordnung zu
unterbinden"26.
24
25
26
KUBICEK, aaO., S. 64f.
Martina HELMERICH, Die Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie, Berlin 2003, S. 191.
Zitiert aus dem Monatsbericht des Kiewer Zentrums für politische Studien und Konfliktologie, März 2001, S. 14.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 27 Gemeinsam mit dem eng verbundenen "Ukrainischen Arbeitgeber-Verband", der 1998 als
Komplementärverband zur Vertretung der Arbeitgeberinteressen gegründet wurde, ist der
UPSS in den Konsultationsgremien der von Kutschma von oben verordneten "Sozialen Partnerschaft" an prominentester Stelle beteiligt. Gemeinsam unterzeichnen sie Tarifverträge mit
den Gewerkschaftsbünden ebenso wie Kollektivvereinbarungen mit staatlichen Stellen, wenn
diese weiterhin die Eigentumsrechte von Unternehmen innehaben27. Der UPSS ist das
ukrainische Mitglied in der Internationalen Arbeitgeberorganisation (IOE) mit Sitz in Genf.
Generell ist in der postsowjetischen Ukraine die Einflussnahme von Unternehmen über personalisierte Netzwerke die vorherrschende Form ihrer Interessendurchsetzung. Diese Netzwerke oder Clans ersetzen den regelgerechten Wettbewerb von Interessengruppen und ihren
Organisationen; dabei haben im Kutschma-Regime 1994-2004 vier Haupt-OligarchenGruppen eine herausragende Rolle:
-
Die DONEZK-Gruppe wird seit Jahren vom Großindustriellen Rinat Achmetow (zu
dessen engerem Clan auch der amtierende Ministerpräsident und Präsidentschaftskandidat
Janukowitsch gezählt wird) und vom Vorsitzenden der Liberalen Partei, Schtscherban,
geführt: Donezk war die einzige Region, in der die "Partei der Macht" um Präsident
Kutschma bei den letzten Parlamentswahlen 2002 gesiegt hatte.
-
Zur DNJEPROPETROWSKER-Gruppe, die im nationalen Parlament mit der Partei
"Werktätige Ukraine" engstens verbunden ist, gehören an leitender Stelle die Oligarchen
Pintschuk (Schwiegersohn von Kutschma), Derkatsch (Patensohn des Präsidenten) und
der Industrielle Tihipko (Wahlkampfchef von Janukowitsch bis zum 2. Wahlgang im
Herbst 2004).
-
Die einflussreichen Clanchefs WOLKOW (u.a. Leiter des Wahlkampfstabes von Präsidenten Kutschma) und BAKAJ führen die dritte Oligarchengruppe "Finanzen und
Kredit", die nicht nur große Finanz- und Energieunternehmen, sondern auch
Medienanstalten wie den populärsten privaten TV-Kanal "Eins+Eins" kontrolliert.
-
Das Oligarchenduo MEDWEDTSCUK und SURKIS führt den "Kiewer Clan", der die
sich selbst Vereinigte Sozialdemokratische Partei/SDPU nennende Parlamentariergruppe,
die vor allem im Zentrum und im Süden der Ukraine Kernunternehmen kontrolliert;
Medwedtschuk als gegenwärtiger Chef der mächtigen "Präsidial-Administration" gilt als
"graue Eminenz" des Kutschma-Regimes.
Diese vier polit-ökonomischen Konglomerate unter Führung von Oligarchen, die beste Verbindungen zur Staatsspitze haben und meist als Mandatsträger rechtliche Immunität genießen,
beherrschen gegenwärtig weitgehend die Ukraine, zumindest bis zur kommenden Präsidentenwahl im Spätherbst 2004. Diese Wendegewinner und Profiteure des Status quo unterneh27
Basis sind die Gespräche mit Vertretern beider Verbände, die der Autor im Juli 2003 auf der Studienreise des EWSA in die
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 28 men alles, damit das bestehende System durch keine Strukturreformen verändert wird. Im
Namen eines kurzfristig zu enormem Reichtum führenden Kapitalismus sind sie die stärksten
Gegner von marktwirtschaftlichen Reformen.
Einflussreiche Unternehmer aus den vier Oligarchengruppen ließen sich zu Parlamentsabgeordneten wählen und besetzten dort dank ihrer Netzwerke rasch Führungspositionen in mehreren bestehenden Fraktionen oder bauten eigene auf. Simultan zur Ausdehnung des polit-ökonomischen Einflusses setzte seit Mitte der 1990er Jahre ein Wettlauf unter den Oligarchen um
die Kontrolle wichtiger Massenmedien ein, vor allem der Fernsehsender, was für ihre Wiederwahl von offensichtlichem Vorteil war.
2.4
Andere Interessenvertretungen der Zivilgesellschaft/Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO)
Wie in anderen Nachfolgestaaten der UdSSR ist auch in der Ukraine die Kultur der Selbstorganisation der Gesellschaft von unten und der Interessenartikulation in lokalen politischen
Gruppen noch schwach ausgeprägt. Eine Ausnahme sind die kulturellen Zentren in Galizien
(Lemberg), der Bukowina (Cernowitz) und Transkarpatiens (Ushorod) im Westen des Landes, wo offenkundig die Erinnerungen an die Zivilgesellschaften in der Zwischenkriegszeit
und in der Donaumonarchie konstruktiv nachwirken. Auf der Ebene der Gesamtnation freilich
dominieren immer noch paternalistische Erwartungen an den Staat und der Glaube an einen
starken Mann, der von oben die Probleme lösen wird. Dass die ukrainische Bevölkerung in
dieser Hinsicht über eine realistische Selbsteinschätzung verfügt, ist einer vom Soziologischen Dienst "Socis Gallup" durchgeführten Umfrage Ende der 1990er Jahre zu entnehmen:
Auf die Frage "Welche Eigenschaften sind für das ukrainische Volk charakteristisch?" entschied sich die größte Gruppe (48%) für "Passivität und die Hoffnung, dass jemand unsere
Probleme löst"28. Die Einschätzung, keinen oder nur geringen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können, ist weit verbreitet, insbesondere bei der älteren Generation.
Zu der vorherrschenden Passivität und dem geringen Interesse an der Politik in weiten Teilen
der Bevölkerung (die um ihr tägliches Überleben kämpft) kommt hinzu, dass das Vertrauen
der ukrainischen Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit sowohl der legislativen und
exekutiven Institutionen als auch der politischen Parteien äußerst gering zu sein scheint.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der analysierten Vereinnahmung der zivilen Massenorganisationen auf beiden Seiten des "sozialen Dialogs" durch das politische Regime unter
Präsident Kutschma, bleiben die Nicht-Regierungs-Organisationen als einzig vorhandenes
Ventil zum Ausdruck gesellschaftlicher Probleme und als Signal der Hoffnung auf neue
Eliten in der Zukunft. So ist in den letzten Jahren (ausgehend von einem niedrigen Niveau
von rund 4.000 NRO im Jahr 1995 in einer Gesellschaft von fast 50 Millionen Bürgern) eine
rasch angewachsene Zahl an NRO’s entstanden: Rund 35.000 waren 2003 registriert mit steigender Tendenz, vor allem getragen von der Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen, die
östlichen Nachbarländer der EU führen konnte.
28
Vgl. Alexander OTT, Präsident, Parlament, Regierung - Wie konsolidiert ist das System der obersten Machtorgane, Köln 2002
(Zitat von 1999, bei Bos, aaO., S. 501).
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 29 inzwischen "die Transformation in eine moderne, pluralistische und zivile Gesellschaft"
anzeigt und die "sowohl landesweit als auch in den Regionen eine Balance zur offiziellen
Macht herstellt und zum Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte wird"29. Allerdings
sind die Kapazitäten der NRO und die Nachhaltigkeit ihrer Aktionen bisher eng begrenzt. Vor
allem bleiben sie überwiegend von der Finanzierung dritter Geldgeber abhängig, sei es von
undurchsichtigen "Spenden" ukrainischer oder russischer Oligarchen, sei es von den Zuschüssen amerikanischer "Privatstiftungen" wie namentlich der "Mott Foundation" oder seitens der
EU. Noch nahezu unbekannt ist Finanzierung über Mitgliedsbeiträge und kommerzielle Aktivitäten30.
Ein Faktor für die mangelnde Transparenz ist neben der Fülle an NRO, deren Anzahl inzwischen mehr als 40.000 "Organisationen" umfassen dürfte, das vage, übertriebene und von
der realen Entwicklung überholte Regelungssystem. Zum Beispiel geht die Rechtsbasis auf
ein "Gesetz über Bürgerassoziationen" von 1992 zurück. Außerdem handeln die staatlichen
Organe offenkundig willkürlich, insbesondere hinsichtlich die Besteuerung der NRO (sensible Felder sind u.a. mögliche Steuerabzüge für die Sponsoren wie in anderen Ländern auch).
Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass sich unter der eindrucksvollen Quantität auch unseriöse NRO befinden, die lediglich zu einem wirtschaftlichen Zweck gegründet wurden, um
finanzielle Förderungen aus dem Ausland zu erhalten. Allerdings hat der Autor genug berufliche Erfahrung um zu wissen, dass es dieses Problem mehr oder weniger in allen Ländern
besteht. Darüber hinaus gibt es jetzt durch die aufgewertete Rolle der ständigen EU-Delegationen in der Ukraine wie in den anderen TACIS-Ländern eine unmittelbare Kenntnis aller örtlichen Organisationen, so dass "schwarze Schafe" in einem gründlichen Auswahlverfahren
entdeckt werden können. Zur Transparenz möge nachfolgend eine eigene Zuordnung in drei
Typen von NRO in der Ukraine beitragen, die sich mit notwendiger Aktualisierung auf eine
französische Expertise von 2001 stützt:
29
30

Regimetreue NRO, die ausreichend Mittel seitens staatlicher Institutionen und von den ihr
nahestehenden Wirtschaftsclans erhalten und die als Auffangbecken für Politiker nützlich
sind, deren Mandat aus welchen Gründen auch immer ausgelaufen ist bzw. nicht verlängert
wurde;

Regimekritische NRO, die statt Unterstützung zusätzliche Schwierigkeiten seitens staatlicher Stellen bekommen und die existenziell von ausländischen Sponsoren abhängig
sind, was jedoch für ihre Reputation in der Ukraine misslich ist;

Zum dritten Typus gehören vor allem diejenigen NRO, die alle Anstrengungen darauf
konzentrieren, zur Finanzierung auch "Drittmittel" zu erhalten, beispielsweise für lokale
Europäische Kommission, Länderbericht Ukraine vom 12.5.2004, Brüssel, S.9 (im englischen Original).
Vgl. die eingehende Studie des International Centre for Policy Studies, The Non-Profit Governance Practices in Ukraine, Kiev,
7/2003, S. 6 ff.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 30 Projekte durch die Kommunen in den besonders daniederliegenden Problembereichen der
medizinischen und der pädagogischen Grundversorgung31.
Unter den vielfältigen Aktivitäten der in der Hauptstadt ansässigen NRO, die es trotz aller
von den Behörden gesetzten Barrieren geschafft haben, eine mehr oder weniger organisierte
Struktur landesweit aufzubauen, ist die "Kampagne gegen die Korruption" hervorzuheben;
freilich konnten wegen mangelnder Ressourcen (nur ausländische Geldgeber zeigten dafür
Interesse) und besonders zahlreicher Schikanen des sich durch die Themenstellung direkt
angegriffen fühlenden Regimes nur einige punktuelle Erfolge erzielt werden, beispielsweise
gegen die Bestechungsgeldpraxis bei den Zulassungsverfahren an der renommierten "Mohyla
Akademie" der Universität in Kiew32.
Erwähnenswert sind auch die engagierten Aktivitäten vieler kritischer NRO, die sich fast
vollkommen auf das freiwillige, monatelange und unbezahlte Engagement von Schülern, Studenten und anderen jungen Erwachsenen stützen, in den Wahlkampagnen sowohl 2002 als
auch für die Wahlen am 31. Oktober und 21. November 2004; dabei geht es vor allem darum,
den massiven Interventionen der Behörden auf allen Ebenen zugunsten der Kandidaten der
"Partei der Macht" entgegenzuwirken, da diese "administrative Ressource" bei allen bisherigen postsowjetischen Wahlen vermutlich entscheidende Stimmen für oppositionelle Kräfte
gekostet hat. Dabei haben die NRO das sog. Monitoring unabhängiger Beobachter unterstützt, das sowohl während der Wahlkampagne als auch bei der Auszählung der Stimmen von
großer Bedeutung ist und vor allem durch die dafür seit 1991/92 vorgesehenen EU-Mittel in
den Staaten der ehemaligen UdSSR finanziert wird. Gegenwärtig haben sich vor allem NRO,
die die Jugendlichen ansprechen wollen, unter dem Namen "PORA" ("Es ist Zeit") als gut
organisierte Studentenbewegung und als loser Dachverband "New choice coalition" zusammengefunden, die insbesondere Aufklärung über die Rolle der Oligarchen und über deren Beziehungen zu den Kandidaten der "Partei der Macht" betreiben. Ein Großteil der NRO hat sich
trotz vielfältiger Schwierigkeiten in den drei Wochen zwischen dem ersten Wahlgang und der
Stichwahl am 21. November erfolgreich bemüht, die bisher niedrige Wahlbeteiligung der jungen Erstwähler beispielsweise durch Rockkonzerte zu erhöhen.
Nach den durch Wahlfälschungen entfachten Auseinandersetzungen nach dem 21.11.2004 hat
die PORA mit ihren schätzungsweise 3.000 Aktivisten mindestens 300.000 Mitglieder und
Sympathisanten mobilisiert, die wesentlich zu der europa- und weltweit beachteten "OrangeRevolution" beigetragen. Auch wenn deren Ausgang bei Redaktionsschluss dieser Expertise
noch offen war, so bleibt deren spektakuläre Erfolge, die das Interesse an der Ukraine
wochenlang in nahezu allen Medien Europas weckte, festzuhalten, dass diese zivilgesellschaftliche Massenbewegung ab dem 21. November auf den soliden Fundamenten von NRO
31
32
Basierend auf der soziologischen Analyse von Annie DAUBENTON, Société Civile en Ukraine: Les vigiles de la démocratie, in:
Courrier des pays de l’Europe Centrale et de l’Est, Paris 2001, S. 283-302.
Diese und andere Informationen basieren auf den Gesprächen des Autors, die er 2003 und 2004 in der Ukraine und in Brüssel
führte, namentlich mit Vertretern von NRO, deren Namen ungenannt bleiben, um ihnen mögliche Schwierigkeiten zu ersparen.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 31 basierte, die seit Beginn der 1990er Jahre beispielsweise durch das Demokratieprogramm der
EU und durch weltweite Stiftungen wie die von George Soros gefördert wurden.
2.5
Fazit und Ausblick
Vor allem die Arbeitgeberverbände und weitgehend auch die Arbeitnehmerorganisationen
sind in der postkommunistischen Ukraine (ähnlich wie in Russland) in hohem Maße mit dem
"ancien régime" verbunden. Sie sind bis heute insofern korporatistisch organisiert, als diese
Interessenvertretungen mit Zustimmung oder während der zehnjährigen Kutschma-Präsidentschaft mit aktivem Zutun des Staates entwickelt worden sind. Die mit großem Abstand
gegenüber anderen Organisationen führenden Verbände auf beiden Seiten der "Sozialpartner" (die auch von Präsident Kutschma so genannt werden, ohne damit den Inhalt des
gleichen Begriffs in der EU zu übernehmen, den namentlich Jacques Delors am Beginn seiner
zehnjährigen Präsidentschaft der Europäischen Kommission 1985 EU-weit einführte) haben
faktisch in ihrem jeweiligen Bereich eine Monopolstellung erreicht. Sowohl die FPUGewerkschaftsföderation auf Arbeitnehmerseite als auch der UPSS-Verband im Lager der
Arbeitgeber und Unternehmer können nach europäischen Standards nur deshalb zur (organisierten) Zivilgesellschaft gerechnet werden, weil die Mitgliedschaft zu ihren Verbänden formal freiwillig ist; in der Praxis ist es jedoch wegen der faktischen Monopol- bzw. Dominanzstellung beider Verbände allen Betroffenen auf beiden Seiten sehr nahe liegend bzw. stark
angeraten, jeweils Mitglied zu werden und auch bei Bedenken nicht auszutreten, da sie sonst
mit Nachteilen rechnen müssen.
Der Einfluss auf staatliche Politik wird eingetauscht durch staatliche Interventionen auf Verbandsebene, wobei die Verbände von Vertrauensleuten der "Partei der Macht" geleitet werden
und so bisher von der Staatsmacht nicht unabhängig sein können. Der Staat appelliert an
die führenden Interessenorganisationen der Sozialpartner vor allem, um zur Erhaltung des
sozialen Friedens beizutragen. Da die führenden Verbände sich das Wohlwollen des Staates
erhalten wollen, sind sie bereit, sich anzupassen bzw. ihre teilweise kritischen Forderungen
zurückzustellen.
So tragen diese korporatistischen Interessenorganisationen einerseits zur Stabilität und zum
relativen ökonomischen Aufschwung in den letzten Jahren bei, andererseits werden die Interessen der Mitglieder hintangestellt, strukturelle Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft
werden mitblockiert. Zudem hat der Korporatismus in der Ukraine die negative Folge, dass
die Prozesse der ökonomischen Reform und der politischen Demokratisierung von den Sozialpartnern bisher nicht befördert wurden, eher ist das Gegenteil anzunehmen.
Die NRO in der Ukraine als Teil einer echten Zivilgesellschaft entwickeln sich unter den
Nachwirkungen einer Geschichte und Kultur, die Jahrhunderte lang durch ausländische Imperien beherrscht wurde und vor der staatlichen Unabhängigkeit über Jahrzehnte hinweg durch
einen Totalitarismus verformt wurde, mit einer gewissen Ausnahme in den Städten der Westukraine.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 32 -
Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass eine tatsächlich unabhängige und pluralistische
Zivilgesellschaft erst in wenigen Ländern besteht und überall Zeit zur eigenen Entwicklung
benötigt. Der Übergang vom totalitären Ein-Parteien-System, das alles Wesentliche von oben
bestimmte, zu einem vom Staate getrennten und von unten sich selbst organisierenden System
demokratischer Zivilgesellschaft ist in der postsowjetischen Ukraine seit weniger als 15 Jahren noch nicht abgeschlossen.
Neben den organisatorischen Problemen, vor allem der Finanzierung, ist bezüglich der
wesentlichen Aktivitäten festzuhalten, dass sie zwischen den Wahlen nur geringes Interesse
in der Öffentlichkeit erzeugen können. Der Präsident und seine Regierung (oft aus Technokraten und unpolitischen Experten gebildet) stellen sich so dar, als ob sie über den Interessen
von Gruppen in der Bevölkerung stehen, obwohl sie in Wirklichkeit eng mit den Oligarchenclans und deren Partikularinteressen verbunden sind. Dies hat sich bisher eher negativ
ausgewirkt auf die Möglichkeiten der NRO, für sich einen Raum zu finden, innerhalb dessen
sie wirksam funktionieren und sich festigen könnten.
Positiv ist festzuhalten, dass seit den letzten Parlamentswahlen 2002 mehrere parlamentarische Ausschüsse in der Duma "Beratende Ausschüsse" gebildet haben, in denen auch Vertreter der NRO mitwirken; so gibt es jetzt öffentliche Plattformen, im Rahmen derer sie ihre
Fachkompetenz und ihre Nähe zur "Gesellschaft von unten" bekannt machen können, was
auch bei den bei den Präsidentenwahlen 2004 geschehen ist und sich vermutlich noch besser
vorbereitet bei den nächsten Parlamentswahlen 2006 wiederholen wird.
Auf diese Weise können sie besser zur Lösung des Hauptproblems: mangelnde Finanzen
beitragen, sowohl um die Notwendigkeit einer Basisunterstützung für ihre zivilgesellschaftlichen Organisationen durch den nationalen Haushalt zu unterstreichen als auch um Projektmittel für gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten zu erhalten. So kann auch die für alle Beteiligten missliche Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern abgebaut werden, zumal auf
Dauer die Steuerzahler anderer Länder die Hilfsbereitschaft ihrer Institutionen nicht goutieren
werden. Die dann verbleibenden Finanziers sind die wenigen reichen Privatstiftungen, meist mit
Hauptsitz in den USA, was eine neue Abhängigkeit der ukrainischen Gesellschaft von fremden
Imperien bedeuten würde. Auf jeden Fall wird die gegenwärtig bestehende finanzielle
"Abhängigkeit vom Ausland" der meisten NRO vom Kutschma-Regime ausgenutzt, um die
Aktivitäten der regierungskritischen Zivilgesellschaft in der Öffentlichkeit zu diskreditieren.
Ein Weg, um das Kernproblem abzuschwächen, ist die verstärkte Beteiligung ukrainischer
Akteure an den vielfältigen Programmen der EU, insbesondere in den Jugend-, Bildungs-,
Berufsbildungs- und Forschungsbereichen, in denen auch schon andere europäische Länder
mitwirken, die (noch) nicht Mitglieder der EU sind und die eine finanzielle Selbstbeteiligung
(unter Anrechnung eigenen Personals und lokaler Logistik) mit Projektzuschüssen kombiniert.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 33 Auf jeden Fall sollte die Kommission darauf drängen, dass in der Umsetzung des jüngst
beschlossenen neuen "Aktions-Plans" zwischen der Ukraine und der EU, auch die ukrainische Zivilgesellschaft konkret beteiligt wird, beispielsweise bei Machbarkeitsstudien im
Vorfeld neuer Aktionsprojekte und im Monitoring gesellschaftlich besonders relevanter
Tätigkeitsfelder. So könnten sowohl die "konservativen Massenorganisationen" auf beiden
Seiten des Sozialen Dialogs, für die die "europäische Option" bisher bestenfalls ein Lippenbekenntnis oder eine vage Kongressresolution wert waren, als auch die wichtigsten NRO auf
dem "europäischen Dampfer" eine perspektivreiche Aufgabe bekommen.
Die Ukraine ist das von der Osterweiterung der EU am stärksten betroffene Nachbarland sowohl in Bezug auf die Länge der gemeinsamen Grenze als auch auf die indirekten
Wirkungen wie insbesondere der "brain drain" von jungen, hochqualifizierten Erwachsenen,
die auf ukrainische Kosten ausgebildet wurden, aber jetzt überwiegend den EU-Mitgliedstaaten nutzen. Trotz der Widersprüchlichkeit der Europapolitik des zehnjährigen Kutschmaregimes fällt der Ukraine doch die Rolle eines Motors für seine beiden kleineren Nachbarn
Belarus und Moldau zu. Diese Antriebsfunktion zeigt sich bereits in der begonnenen Zusammenarbeit in den Grenzregionen, insbesondere in den verbesserungswürdigen Euroregionen im Karpatenraum.
Die nach langem und heftigem Wahlkampf vor der Präsidentenwahl 2004 entstandene Möglichkeit eines Wechsels an der Staatsspitze, zu der offenkundig gerade viele NRO beigetragen
haben (insbesondere die breite Studenten- und Schülerbewegung PORA, s. vorangegangenes
Kapitel), ist bereits ein Zeichen der positiven Entwicklung von einer autoritär-postsowjetischen zu einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft. Erwähnenswert ist auch, dass in der
"Orange Revolution", die sofort nach den Wahlmanipulationen am 21. November von internationalen Presseagenturen, Zeitungen und Fernsehstationen der gesamten interessierten Welt
vermittelt wurde, auch solidarische Akteure aus den Zivilgesellschaften der Nachbarländer
(insbesondere aus Belarus, Polen, Georgien und Serbien eine wichtige Rolle ausübten, denn
sie hatten schon jahrelangen Erfahrungen im Kampf gegen autoritär-totalitäre Regime in ihren
Ländern.
Der EWSA begrüßt die Entwicklung zu einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung und die
gemeinsame Verabschiedung des "Aktions-Plans 2004-2006" zwischen der EU und der
Ukraine; allerdings sollten mit der neuen Präsidentschaft wesentliche Teile aktualisiert werden. Die Sprecher der Zivilgesellschaften in der Ukraine und diejenigen im EWSA als europäische Plattform derselben in der EU sollten vorab informiert und konsultiert werden.
Der EWSA unterstützt die Empfehlung des EP, die politischen und ökonomischen Beziehungen der EU im Lichte des Ergebnisses der Präsidentenwahl in der Ukraine neu zu bewerten
und nach einem möglichen, auf jeden Fall verdienten Erfolg der reformorientierten Kräfte in
der Ukraine diese aufzuwerten.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 34 Empfehlenswert ist sicher auch die Schaffung einer "Kontaktgruppe" im EWSA, die so
bald als möglich in ein "Civil Society Advisory Committee" einmünden könnte, wie dies
prinzipiell in Artikel 88 des weiterhin geltenden "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommens – PKA" vorgesehen ist; im administrativen Rahmen des EWSA sollten paritätisch Vertreter der Ukraine und der EU zusammenkommen, die ihrerseits die verschiedenen Gruppen
in der Zivilgesellschaft repräsentieren. Nähere Einzelheiten werden wohl auf dem am
19. Januar 2005 stattfindenden Kolloquium auch im Lichte ihrer vielfältigen Aktivitäten in
allen Phasen des Europa bewegenden Kampfes vor der Wahl des neuen Präsidenten ihres
Landes diskutiert und danach den erneuerten Entscheidungsorganen in Brüssel wie in Kiew
angetragen werden.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 35 -
LANDESPORTRÄT: UKRAINE
1.
BASISINFORMATIONEN
1.1
Bevölkerung
Ca. 48 Mio. (2004); 49,5 Mio. (2001); 52,5 Mio.
(1991)
negative Bevölkerungsrate 0,4%
1.2
Lebenserwartung (2003)
61,6 Jahre (Männer); 72,8 Jahre (Frauen)
1.3
Fläche
603.700 qkm (größter Flächenstaat Europas)
1.4
Dichte (2003)
85 Einwohner pro qkm
1.5
Hauptstadt
Kiew/Kyiv: 2,6 Mio. Einwohner (2001)
1.6
Ethnische Strukturen/Minderheiten
Ukrainer 77,7%; Russen 17,3%; Andere (namentlich Weißrussen, Polen) 5%
1.7
Sprachen
Ukrainisch, Russisch (insbesondere in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim)
1.8
Religionen
Ukrainisch-Orthodoxe; Griechisch-Katholische;
Russisch-Orthodoxe; Unierte; Römisch-Katholische
2.
POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN
2.1
Unabhängigkeit
Erklärung 24.08.1991; Referendum 01.12.1991
2.2
Verfassungs-Gesetz
28.06.96
2.3
Präsidiales System
► Staatspräsident auf 5 Jahre vom Volk direkt
gewählt
► November 1999 wieder gewählt:
Leonid Kutschma;
jüngste Wahlen: 31.10. und 17.11.2004
2.4
Regierung
► Ministerpräsident: Viktor Janukovitsch
(seit 21.11. 2002);
► Außenminister): Konstantin Grischenko
(seit 2.10.2003
2.5
Parlament (Werchowna Rada)
► 450 Abgeordnete, 4 Jahre, 14 Fraktionen;
► nächste Wahl: Frühjahr 2006
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 36 2.6
Beziehungen zur EU
► Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen"
mit der EU: Unterzeichnet 1994, ratifiziert 1998
► "Gemeinsame Strategie" der EU-Mitgliedstaaten für die Ukraine Dezember 1999
► "Aktions-Plan" der EU im Rahmen der ENP
Unterzeichnet Herbst 2004
2.7
Mitgliedschaft in Internationalen ►
Institutionen
►
►
►
3.
ÖKONOMISCH-SOZIALPOLITISCHE DATEN
3.1
BIP je Einwohner
3.2
BIP in Prozent des Durchschnitts 3,4%
von EU-15
3.3
Wachstum des BIP
9,4% (2003); 5,2% (2002); 9,2% (2001)
3.4
Inflationsrate
5,2% (2003); 8,0% (2002); 12,0% (2001)
3.5
Arbeitslosenquote (2004)
Ca. 11% geschätzt; offiziell 5%
(weit verbreitete Schattenwirtschaft)
3.6
Ausländische Direkt-Investitionen 1248 Mio. Euro (2003)
3.7
Gesamt-Exporte
21,0 Milliarden Euro (2003)
3.8
Gesamt-Importe
21,2 Milliarden Euro (2003)
3.9
Exporte in die EU-25)
7,0 Milliarden Euro (2003)
Vereinte Nationen (UN) seit Gründung 1945
OSZE seit Gründung 1974
Europarat seit 1995
Laufende Beitrittsverhandlungen mit der WTO
3.10 Importe aus der EU-25)
6,9 Milliarden Euro (2003)
3.11 Gewerkschafts-Bünde
►
"Föderation der Gewerkschaften
der Ukraine /FPU"
►
"Konföderation der freien
Gewerkschaften/KVPU"
Zwei
20 Mio. Mitglieder (eigene Angabe);
geschätzt 12 Mio. (IBFG)
125.000 Mitglieder (eigene Angabe)
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 37 3.12 Formelle und informelle Verbände/
Netzwerke der Arbeitgeber
►
"Verband der Industriellen und
15.000 Unternehmen mit ca. 5 Mio Beschäftigten
Unternehmer/UPSS"
►
"Ukrainischer ArbeitgeberFormalisierte Arbeitgeberfunktion für den UPSS
Verband"
►
"Informelle Netzwerke/WirtVier führende Oligarchen
schaftsclans"
3.13. Nicht-Regierungs-Organisationen Geschätzt auf ca.
(NRO=NGO)
ca. 4.000 (1995)
40.000
(2004)
gegenüber
Quellen: Fischer Weltalmanach 2005; Harenberg Länderlexikon; Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER
Kiew), eigene Berechnungen/Schätzungen bei fehlenden Statistikken.
Dr. Ernst Piehl, November 2004
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 38 3.
WEISSRUSSLAND und ZIVILGESELLSCHAFT
PORTRÄT (am Ende des Kapitels)
3.1
Hintergrund, besondere Bedingungen und aktuelle Lage
Die Republik Belarus gehörte bis zur Auflösung der UdSSR Ende 1991 zum sowjetischen
Staatsgebiet. Auf dem gut 200.000 Quadratkilometer großen Territorium leben gegenwärtig
rund 10 Millionen Menschen (etwa soviel wie in Belgien, allerdings stärker abnehmend), von
denen rund 80% weißrussischer und 13% russischer Nationalität sind. Die restlichen Einwohner setzen sich aus Polen, Ukrainern und anderen Ethnien der ehemaligen UdSSR
zusammen. In Bezug auf die drastisch schwindende Bevölkerungszahl sind als Gründe
neben den seit längerem wirkenden Faktoren wie Alkoholismus, AIDS und Geburtenrückgang auch die jüngst enorm ansteigende Zahl an (meist illegalen) Emigranten (nicht nur nach
Russland und in die Ukraine, sondern vermehrt in die USA und in die EU) hervorzuheben,
insbesondere aus der jüngeren Generation.
Der 1990/91 auch in Weißrussland begonnene politische, gesellschaftliche und ökonomische
Wandel ist nicht nur unvollständig geblieben, sondern seit 1996 hat sich eine "dramatische
Rückwärtsentwicklung"33 vollzogen. Die ersten Erfolge auf dem Wege zu politischem Pluralismus und Marktwirtschaft wurden so stark zurückgedrängt, dass der gesamte Transformationsprozess inzwischen als zumindest vorläufig gescheitert angesehen werden muss. Das
von Staatspräsident Lukaschenko seitdem beherrschte politische System in Belarus kann als
"autoritäre Diktatur" mit "gewissen Tendenzen zu totalitären Strukturen" charakterisiert werden34. In den ersten Jahren der postsowjetischen Unabhängigkeit zeigte sich rasch, wie wenig
die Entscheidung zur Auflösung der UdSSR von der Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung getragen wurde. Das nach dem Verfassungscoup 1996 etablierte Lukaschenko-Regime
brach die Beziehungen zum Westen im allgemeinen und insbesondere zu den europäischen
Institutionen ab; infolgedessen setzte der Europarat den Beobachterstatus aus, den Belarus
seit 1992 inne gehabt hat (allerdings unterhält Weißrussland bis heute ein Büro im Straßburger Europaratsgebäude ebenso wie eine diplomatische Mission in Strassburg). Das bereits
ausgehandelte Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen (PKA) mit der EU wurde von
den EU-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert; allerdings gibt es auch in Brüssel eine ständige
diplomatische Mission unter Leitung eines offensichtlich wichtigen Botschafters (der ehemalige Amtsinhaber Martynow ist der gegenwärtige Außenminister).
33
34
Vgl. den aktuellen Überblick von Silvia von STEINSDORFF, Das politische System Weißrusslands (Belarus), in: Ismayr (Hg.),
Die politischen Systeme Osteuropas, 2004, S.429-467, die auch auf die geschichtlichen Hintergründe eingeht.
Vgl. Andrei SANNIKOV: Belarussian totalitarianism is a reality (www.charter97.org) und Kurt KLEIN, Keine autoritäre
Diktatur entstehen lassen, in: Das Parlament, Nr. 29 /1997, S. 14 und aktueller Heinz TIMMERMANN, Die EU und ihre neuen
Nachbarn Ukraine und Belarus, SWP-Studie 41, Berlin 2003.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 39 Die (bei Staatsgründung) mehrheitlich ungewollte Eigenstaatlichkeit zählt ebenso zu den
wichtigsten Gründen für das bisherige Scheitern des Systemwandels in Weißrussland wie
die verschleppte Liberalisierung auf wirtschaftlichem Gebiet.
Das mittels geschickt eingesetzter Volksabstimmungen formal legalisierte autoritäre Regime
hat selbst das dem Präsidenten nahestehende Parlament dadurch entmachtet, dass der Präsident alle sensiblen Probleme auf dem Verordnungsweg entscheidet; so sind unter den rund
130 präsidialen Dekreten auch diejenigen, die die Zivilgesellschaft betreffen.
Die weißrussische Verfassung aus der Wendezeit, selbst in der von Lukashenko im November 1996 staatsstreichlässig veränderten Fassung, bekennt sich zum "politischen Pluralismus"
und betont in Art. 5 ausdrücklich die "Rolle der gesellschaftlichen Vereinigungen bei der
Förderung der politischen Willensbildung der Bürger"; außerdem werden in Art. 35 die Versammlungsfreiheit und in Art. 36 die Vereinigungsfreiheit garantiert. Allerdings werden in
der politischen Wirklichkeit seit 1996 diese Verfassungsbestimmungen systematisch ausgehöhlt, indem diese konstitutionellen Rechte entgegen europäischen Standards durch eine Serie
von Präsidialdekreten stark beschnitten wurden: So schränkte Lukashenko das Streikrecht und
die Demonstrationsfreiheit drastisch ein und schuf neue polizeirechtliche Auflagen; so dürfen
nach einem Dekret vom März 1997 alle Demonstrationen "den Verkehr nicht behindern" und
sind nur noch auf Bürgersteigen gestattet; bei Verstößen gegen diese Bestimmungen ist die
Polizei u.a. autorisiert, "ohne Gerichtsverfahren empfindliche Geldstrafen in Höhe von 10 bis
20 Durchschnittslöhnen zu verhängen"35. Die in den letzten Jahren verschärften Unterdrückungsmethoden lassen vermuten, dass das polizeistaatliche Regime Lukashenkos auf
diese Weise sein politisches Überleben sichern wollte; dieser Annahme widersprachen bis
2002/03 jedoch die Ergebnisse vieler Meinungsumfragen und der relativ korrekten Wahlen,
wie die internationalen Beobachter feststellten und die vergleichsweise hohen Sympathiewerte um 50% für den Staatspräsidenten bis zum Ende der 1990er Jahre. Allerdings sind
letztere seitdem stark gesunken: Im April 2000 auf ca. 38% und im Juli 2003 auf 23,2%36.
Die überwiegend auf verlustbringenden Staatsbetrieben basierende Wirtschaft von Belarus
verschlechtert und die Versorgungslage der Bevölkerung verschärft sich besorgniserregend: Vor 1991 war Weißrussland die "Montagehalle" der UdSSR, vor allem für technologisch hochwertige Produkte wie in der Feinmechanik und in der Rüstungsgüterindustrie; die
westlichste Republik der UdSSR hatte (mit Ausnahme der Hauptstadt) mit den baltischen
Republiken den höchsten Lebensstandard mit vergleichsweise gut entwickelter Konsumgüterversorgung. Freilich war und ist die weißrussische Wirtschaft von Russland schon deshalb abhängig, weil ca. 90% der benötigten Energie und Rohstoffe aus Russland kommen; im
Außenhandel ist die Dominanz mit ca. 56% geringer, aber mit enormen Abstand zu allen
anderen Ländern (Deutschland folgt mit ca. 6% an 2. Stelle).
35
36
Dekrete zit. bei STEINSDORFF, 2004, aaO, S. 453.
So eines der wenigen verbliebenen unabhängigen Meinungsforschungs-Institute NISEPI im Juli 2003, zit. bei: STEINSDORFF,
2004, aaO, S.456.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 40 Wirtschaft und Politik sind im Kontext der Parlamentswahlen und des Lukaschenko-Referendum am 17. Oktober 2004 unübersichtlich und überlagert von der Ungewissheit über die
künftigen Beziehungen mit dem dominierenden großen Bruder im Osten: Da sich die Beziehungen zwischen den Präsidenten Putin und Lukaschenko in den vergangenen Jahren verschlechterten, wurden die Gründungsfristen der seit Jahren vorbereiteten Projekte einer
"Großrussischen Vereinigung" und einer Währungsunion mit dem russischen Rubel nicht eingehalten. Gleichwohl bleibt die (Wieder-)Vereinigung für einen Teil der politischen Elite einschließlich einiger Sprecher der demokratischen Opposition die erstrangige Option, da für sie
ein rechtsstaatliches Russland wichtige Einflüsse auf die Demokratisierung ihres Landes ausüben kann, während sie auf Seiten der EU bisher wenig Interesse an Belarus zu erkennen
vermögen.
3.2
Arbeitnehmerorganisationen/Gewerkschaften
Laut offiziellen Angaben aus dem Justizministerium soll es 2003 acht "gewerkschaftliche
Konföderationen" gegeben haben, denen 38 Branchen- oder Fachgewerkschaften angehören
sollen. Von landesweiter Bedeutung sind in der Praxis allerdings: Der aus der sowjetischen
Massenorganisation hervorgegangene "Weißrussische Gewerkschafts-Bund" (FPB) mit
über vier Millionen und der "Kongress der Demokratischen Gewerkschaften in Belarus"
mit ca. 15.000 Mitgliedern.
Die traditionelle FPB-Gewerkschaft wurde im Oktober 1990 auf dem 17. Kongress des
sowjetischen Einheitsbundes in der SSR von Belarus gegründet und ist die repräsentativste
Organisation, die in allen sechs Landesteilen und in den meisten Branchen am stärksten vertreten ist. Das Lukaschenko-Regime unternahm seit seiner Etablierung im Jahre 1994 alle
Anstrengungen, diese mit Abstand größte Gewerkschafts-Organisation "unter Staatsregie" zu
stellen, um so eine "potentielle Gegenmacht auszuschalten"37. Im Vorfeld der Präsidentenwahlen 2001 einigten sich die vorher zerstrittenen regimekritischen Akteure in der Zivilgesellschaft in der "Bewegung für ein neues Weißrussland" auf einen einzigen Gegenkandidaten, den Gewerkschaftschef Vladimir Gontscharik; trotz des unfairen Wahlkampfes, in dem
die Massenmedien den amtierenden Präsidenten massiv unterstützten und trotz der von den
internationalen Beobachtern attestierten Wahlfälschungen gelang Gontscharik mit fast 16%
ein europaweit gewürdigter Achtungserfolg, der auch in Weißrussland selbst eine öffentliche
Diskussion über das Verschwinden mehrerer Oppositionspolitiker auslöste. Daraufhin verstärkte der (mit ca. 75%) wiedergewählte Staatspräsident den Druck derart massiv, dass Gontscharik im Dezember 2001 von seinem Amt als Vorsitzender des FTB zurücktreten musste.
Seither beschränkt sich dieser "Gewerkschafts-Bund" – jetzt unter Vorsitz von Leonid Kozik,
vormals Leiter der mächtigen Präsidial-Administration und, nach putschartigem Austausch
der vormaligen Leitungsgruppe um Gontscharik, auf zentraler Ebene und in den regionalen
Gliederungen ganz auf die in der Sowjetzeit vorrangigen Gewerkschaftstätigkeiten, wie bei-
37
Diese und folgende Zitate stammen aus den Interviews, die im Juli 2003 beim Informationsbesuch der EWSA-Delegation in
Minsk aufgezeichnet wurden.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 41 spielsweise die Anmahnung der Lohnrückstände in den Staatsbetrieben und die Verbesserung
der Freizeitangebote für alle beitragszahlenden Mitglieder38.
In der internationalen Arbeit werden die traditionell guten Kontakte mit den Gewerkschaften der Russischen Föderation und denen anderer Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR
gepflegt, aber auch mit denen aus Polen und anderen Neumitgliedern der EU. Der FPB
wünscht auch Kontakte mit dem EGB bzw. dem IBFG, konzentriert sich aber auf die
Zusammenarbeit mit Russland, denn für ihn liegt "der Schlüssel zur Lösung der Probleme von
Weißrussland in Moskau".
Der "Kongress der Demokratischen Gewerkschaften WeißRusslands/BKDP" geht auf die
Streikkomitees in der Wendezeit zurück und wurde nach harten Auseinandersetzungen mit
dem Lukaschenko-Regime 1993 gegründet und erst ab 1996/97 auch auf internationalen
Druck registriert, nachdem ihm vorher die Registrierung als "Nichtregierungsorganisation"
verweigert wurde. Die noch sehr bescheidene Mitgliederzahl erklärt sich vor allem daraus,
dass BKDP-Mitglieder in den vorherrschenden Staatsbetrieben ständig von Entlassung
bedroht sind bzw. nicht eingestellt werden; das bedeutet praktisch ein Organisationsverbot
angesichts der dramatischen Wirtschaftslage und der sich verbreiteten Armut im gegenwärtigen Belarus. Gegen diese und andere anti-gewerkschaftliche Interventionen sind seit Jahren
Verfahren bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf anhängig, da die weißrussische
Regierung die IAO-Konventionen 85, 94 und 98 belegbar verletzt. Gleichwohl lässt sich das
Lukaschenko-Regime davon offensichtlich wenig beeindrucken, da die zwischenstaatliche
UN-Fachorganisation allenfalls über deklaratorische Druckmittel verfügt.
Die Verantwortlichen des "Demokratischen Verbandes" hoffen durch die verstärkten Solidaritätsaktionen gegen die vom herrschenden Regime begangenen Verletzungen von IAOKonventionen auf internationaler Ebene und durch die Annahme des Beitrittsantrags des
BKDP auf Mitgliedschaft im IBFG 2003, was auch Kontakte zu den europäischen Gewerkschaftsstrukturen eröffnen könnte, auf mehr Anerkennung und Unterstützung aus dem Ausland; so würde auch die Stellung des "Demokratischen Kongresses" aufgewertet und die
Chancen auf Mitgliedererhöhung deutlich verbessert.
Auf jeden Fall sei festgehalten, dass trotz oder möglicherweise wegen der Schwierigkeiten
seitens des autoritär-totalitärem Regimes unter Präsident Lukaschenko eine (zumindest noch
bis Oktober 2004) lebendige Gewerkschaftsszene mit mutigen Führungspersonen in Weißrussland besteht, die sich auch durch einen vergleichsweise fairen Wettbewerb unter zwei
jetzt deutlich zu unterscheidenden Konföderationen ergibt. Der traditionelle Bund hat zwar
bei weitem mehr Mitglieder und wohl die besseren Beziehungen zu den Gewerkschaften
Russlands, der kleinere kann mit mehr westlicher Unterstützung rechnen (beispielsweise in
Form von Solidaritätskampagnen des IBFG und in Form der "Internationalen Solidaritäts-
38
Vgl. Astrid SAHM, Verstaatlichung der Gewerkschaften?, in: BELARUS-News, 18/2002, S.7.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 42 Konferenz" vom November 2003) sowie möglicherweise auf Verbündete unter den übrigen
regimekritischen Akteuren der Zivilgesellschaft.
3.3
Arbeitgeberverbände/Organisierte Unternehmerschaft
Angesichts des anhaltenden außergewöhnlich hohen Staatsanteils in der Wirtschaft von Belarus und als Konsequenz des zunehmend totalitär agierenden Regimes unter Präsident
Lukashenko gibt es bisher nur Organisationen, die formal den entsprechenden Organisationen
der europäischen Nachbarländer ähneln und auch nach deren Denaturierung durch das
Regime nur noch den gleichen Namen tragen:
Die "Weißrussische Union von Unternehmern und Arbeitgebern" wurde in den frühen
1990er Jahren, während der kurzen Periode tatsächlicher Transformation gegründet und
konnte im Dienstleistungsbereich Fuß fassen; allerdings liegt dessen Anteil am BIP weit unter
dem europäischen Durchschnitt. Nach Lukaschenkos Machtübernahme und der systematischen Umsetzung seiner Korporatismus-Konzeption, bei der er offen Ansätze des totalitären
Hitlerregimes übernahm, sind den "Arbeitgeber"-Repräsentanten bloße Repräsentanzrollen
zugewiesen, vor allem in den zahlreichen trilateralen Gremien auf regionaler und nationaler
Ebene. Dabei wirkt auch die stalinistisch-sowjetische Tradition nach: Auf allen drei "Bänken"
sitzen in vorderster Reihe führende Mitglieder derselben Nomenklatura, die alle Gefolgsleute
des Präsidenten sind und vertrauensvoll den angeblich unfehlbaren Führer unterstützen.
Die "Industrie- und Handelskammern" in Belarus bemühen sich einerseits um Ausweitung
und Beschleunigung des seit 1996 stagnierenden Privatisierungsprozesses und sind sowohl
landesweit als auch branchenübergreifend verankert; andererseits haben sich diese IHK offensichtlich mit dem Regime arrangiert und füllen die ihnen zugewiesene Rolle professionell
aus:

Sie sind auch mit Unterstützung entsprechender IHK (vor allem aus Deutschland) die
Ansprechstelle auf lokaler und regionaler Ebene für die Unternehmen;

Die IHK haben in Belarus einen ständigen Kontakt mit den Generaldirektoren der staatlichen Unternehmen und mit den Schlüsselpositionen in der Präsidialverwaltung und in
der Regierung, wobei die Herkunft bzw. Zugehörigkeit zum gleichen Führungskader
sicher von Vorteil ist;

Sie teilen sich die lukrativen Plätze in Beratungsgremien wie dem Rat für Unternehmensentwicklung und dem Rat für Ausländische Investitionen, deren wenige Sitzungen vom
Staatspräsidenten persönlich geleitet werden, auch wenn dieser als ehemaliger Kolchosenchef nicht gerade als Experte für internationale Investitionen gelten kann.
Zur Ehrenrettung der Arbeitgeberschaft und eines unabhängigen Unternehmergeistes in
Weißrussland sei angemerkt, dass es sowohl bis 1996 als auch kurzzeitig im Umfeld der Präsidentenwahlen 2001 einige Repräsentanten gab, die während der Wahlkampagne regime-
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 43 kritische Positionen einnahmen und sogar den Kandidaten der demokratischen Opposition
unterstützten39. Seitdem diese jedoch dann vom Lukaschenko-Regime angeklagt und verhaftet wurden, sind keine Stimmen gegen die totalitäre Unterordnung der Wirtschaft und gegen
die Gleichschaltung der Interessen innerhalb des politischen Regimes laut geworden.
Auch sind dem Autor bisher keine Erklärungen oder gar Aktionen seitens der internationalen
bzw. der europäischen Arbeitgeberorganisationen für die Unabhängigkeit der Wirtschaft und
für das freie Wirken von Arbeitgebervertretern bekannt geworden, obgleich sie die o.g. weißrussischen Verbände zu ihren Mitgliedern bzw. "Ständigen Gästen" zählen.
3.4
Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) als Hoffnungsträger im autoritären Staat mit einem
Präsidenten auf Lebenszeit
In den Publikationen westlicher Experten zu Weißrussland werden die NRO als "die derzeit
zweifellos wichtigste zivilgesellschaftliche Kraft in Belarus"40 herausgestellt, deren Zahl nach
der vom Lukaschenko-Regime verordneten Neuregistrierung im Jahre 1999 wieder auf
ca. 2.500 bis 3.000 angestiegen ist. In Relation zur Bevölkerungszahl und angesichts der besonders repressiven Staats- und Regierungsmacht (beispielsweise wurde ein Drittel der Antragsteller beim neuen Registrierungsverfahren abschlägig beschieden) ist die belarussische
NRO-Szene bemerkenswert stark. Diese relative Stärke hat drei wichtige Ursachen:

Die komplizierten Re-Registrierungs-Verfahren und die ständigen Schikanen seitens des
Staates konnten nur die gefestigsten NRO überleben, die spätestens auf Grund dieser existenziellen Erfahrung einen hohen Grad an Motivation und Professionalität aufweisen
(müssen).

Seit der Machtübernahme Lukaschenkos Ende 1996 sind die politischen Parteien fast
vollständig aus dem institutionellen Entscheidungsprozess ausgeschlossen; so haben sich
viele Parteiaktivisten in bestehenden NRO engagiert oder neue gegründet.

Da Europarat und die EU sowie andere Unterstützer, internationale Regierungsinstitutionen oder private Stiftungen, zwar seit dem "kalten Staatsstreich" von 1996 Boykottmaßnahmen gegen das derzeitige Belarus verhängt, aber dabei stets die weitergehende Unterstützung der Zivilgesellschaft ausgenommen haben, sind Aktivitäten der NRO die einzige
Möglichkeit, um (ausländische) Fördermittel zu erhalten.
Es soll nicht ausführlich darüber spekuliert werden, ob bei demokratischen Bedingungen in
Weißrussland, die Zahl der NRO höher ausfallen würde; nur eine Überlegung sei genannt:
Vielleicht wäre die Quantität höher, wohl aber nicht unbedingt die Qualität der Aktionen und
sicher nicht die Intensität des Engagements der Beteiligten, was unter autoritären Staatsfor39
40
STEINSDORFF, 2004, aaO, S. 457.
SAHM, Zivilgesellschaft als eigenständige Veranstaltung,in: OSTEUROPA, 2/2004, S.106.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 44 men auch anderenorts erfahren wurde. Freilich weist der NRO-Sektor in Belarus strukturelle
Mängel (die auch anderswo existieren) auf, die durch die repressiven Bedingungen seitens
der Staatsmacht verschärft werden.
So sind rund die Hälfte der registrierten NRO in der Hauptstadt Minsk aktiv. In den fünf
Großregionen konzentriert sich die NRO-Tätigkeit entsprechend auf deren Zentren. In kleineren Städten und auf dem Land gibt es zwar auch NRO, aber ihre Arbeitsbedingungen sind
noch schwieriger als die der NRO in den Städten.
Zivilgesellschaftliches Engagement zeigte sich in Weißrussland (wie in anderen Republiken
der ehemaligen UdSSR) als Folge von Glasnost und Perestroika in den späten 1980er Jahren ,
wobei in Belarus die Nachwirkungen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 besonders viele
Initiativen und Aktionen beförderten, die bis heute funktionierende Netzwerke mit internationaler Dimension (wie das von "Den Kindern von Tschernobyl") haben entstehen lassen.
In den frühen 1990er Jahren kam wie in den anderen postsowjetischen Transformationsstaaten eine Vielzahl an politischen "Bewegungen" hinzu, deren große Mehrheit seit
Lukaschenkos Machtübernahme in die Systemopposition gedrängt wurde. Zumindest vorübergehend gelang es den oppositionellen Kräften auf die wachsende Repression mit Vereinigungsinitiativen zu antworten: Im Herbst 1997 gründeten verschiedene Oppositionsgruppen
gemeinsam die Bewegung "CHARTA 97", die sich ausdrücklich auf die "Charter 77" der
tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung berief und alle weißrussischen Bürger aufrief
"gemeinsam für unsere Rechte und Freiheiten zu kämpfen sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in unserem Land wieder herzustellen"41. Bereits nach wenigen Monaten hatten
60.000 Menschen den Appell unterzeichnet, auch wenn sonst die breiten Bevölkerungsschichten aus den eingangs geschilderten Gründen eher passiv sind. In den Jahren 1999 bis zu
den Präsidentschaftswahlen 2001 konnte die Oppositionsbewegung ihre Aktivitäten (auch in
Form von öffentlichen Demonstrationen wie dem "Marsch der Freiheit" im Oktober 1999)
verstärken; sie vermochte nicht immer, aber in wiederholter Weise, ihre Aktivitäten zu vereinigen (wie bei der gemeinsamen Unterstützung des Gewerkschaftsvorsitzenden Gontscharik
als Kandidat bei der Präsidentenwahl mit Achtungserfolg, siehe obiges Kapitel 3.2.).
Insgesamt sei festgehalten: Trotz aller Repression und Schikane (z.B. bei den Registrierungsverfahren und bei Steuererklärungen im Falle ausländischer Unterstützungen) konnten die
gefestigten NRO (nach eigener Schätzung nach vielen Gesprächen 2003 und 2004 mit
Experten gut 800, wovon etwa 200 regelmäßige Auslandskontakte haben) als aktiver Kern
der belarussischen Zivilgesellschaft bis heute überleben, auch wenn dies den Betroffenen
enormes Engagement abverlangte.
41
Zitiert bei STEINSDORFF, aaO, 2004, S. 456.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 45 Die gegenwärtig aktiven NRO kann man vereinfachend drei Kategorien zuordnen, was zum
Überblick und zum besseren Verständnis beitragen möge:
3.5

Organisationen unter "staatlicher Schirmherrschaft"42, die sich regimefreundlich betragen, von diesem teilweise großzügig finanziell ausgehalten werden, keinerlei Interesse an
einer Änderung der politischen Verhältnisse haben und so zu den Stabilisatoren des
Regimes gerechnet werden müssen;

NRO als vom Regime erzwungener Ersatz für politische Parteien oder Bewegungen, die
für die Ablösung des Lukaschenko-Regimes mit allem Engagement kämpfen und Bündnisse/Netzwerke mit Gleichgesinnten suchen; allein 2003 ließ der Präsident ca. 600 NRO
schließen und alle, die Unterstützungen aus dem Ausland bekommen, müssen 40% "Gewinnsteuer" an den Staat abführen.

NRO, die von einer Polarisierung zwischen den beiden o.g. Gruppierungen Abstand nehmen wollen, um sich auf ein themenbezogenes Arbeitsfeld wie Behinderte oder andere
Personengruppen oder auf ökologische Projekte zu konzentrieren; allerdings wittern die
Statthalter des offenkundig von Verfolgungswahn befallenen Staatspräsidenten dahinter
eine besonders raffinierte Oppositionstaktik, die deshalb auch vom Lukaschenko-Regime
schikaniert bzw. verfolgt wird.
Fazit und Ausblick
Seit der totalen Machtübernahme Ende 1996 hat Staatspräsident Lukashenko Belarus in
einen autoritären Polizeistaat transformiert: Nach der Ausschaltung politischer Oppositionsparteien wurden führende Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft (namentlich der ehemalige Vorsitzende Gontscharik des mit Abstand größten Gewerkschaftsbundes, der aus dem
sowjetischen Einheitsbund hervorgegangen war) mit direkten Einmischungen in innerverbandliche Entscheidungen kaltgestellt. Willkürliche Verhaftungen, verzögerte und nicht
rechtsstaatliche Gerichtsverfahren, hohe Geld- und Haftstrafen bei Nichtbeachtung unsinniger
Auflagen bei Versammlungen, Misshandlungen in Polizeigefängnissen sowie Überfälle durch
Schlägerkommandos der Sicherheitsorgane kennzeichnen die Behandlung belarussischer
Bürger durch Institutionen ihres Staates, der nach außen die Fassade von angeblich weiterhin
geltenden Verfassungsbestimmungen und der unterzeichneten internationalen Normen vorzeigen möchte43.
Ab der manipulierten Wiederwahl Lukaschenkos als Staatspräsident im Herbst 2001 schien
die Autokratie in Belarus weitgehend gefestigt; die vorübergehende Hoffnung auf eine allmähliche Liberalisierung des politischen Regimes unter dem Einfluss der internationalen
Gemeinschaft hat sich offenkundig zerschlagen, zumindest vorläufig. Allerdings erscheint auf
42
43
SAHM,aaO, 2/2004, S.106.
Vgl. die Jahresberichte von AMNESTY INTERNATIONAL von 1999 und 2000, der diese und andere massive
Menschenrechtsverletzungen auflistet, ausführlich zitiert bei STEINSDORFF, 2004, aaO, S. 455.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 46 längere Sicht die (Re-)Demokratisierung Weißrusslands nach wie vor möglich; vor allem weil
das Land in Bezug auf Energie von Russland abhängig ist und seine wirtschaftlich-technologische Verspätung nur mit westlicher Technologie aufholen kann; diese objektiven, sich zunehmend verschärfenden Probleme werden zwar durch das autoritäre Regime nach innen verschleiert, sind aber dank der internationalen Kooperation aktiver Teile der Zivilgesellschaft
bekannt.
Im gegenwärtigen Belarus prallen zwei prinzipiell unterschiedliche Konzepte von Zivilgesellschaft aufeinander: Während der Staatspräsident und sein System die totalitäre Ideologie
staatlich geführter, systemloyaler Gesellschaftsstrukturen mit wenigen hierarchisch aufgebauten Massenorganisationen verfolgt (bei Übernahme von Elementen aus dem Zarenreich
und vom stalinistischen Sowjetimperium, engagieren sich die vielen zivilgesellschaftlichen
Organisationen in ihrer Mehrheit für Pluralismus und Demokratisierung, also für die Abschaffung bzw. prinzipielle Veränderung des derzeitig herrschenden Systems.
In dieser Konfrontation, wo die Mehrheit der Zivilgesellschaft so im Vordergrund des innenpolitischen Lebens steht wie in keinem anderen Land Europas, nehmen die "Sozialpartner"
gegenwärtig eine passiv-abwartende und mehrheitlich eher das Regime stützende Haltung
ein: Die Gewerkschaften, nach Zerschlagung pluralistischer Kräfte in den traditionellen
Großorganisationen, stehen jetzt durch einen Vorsitzenden, der vorher Chef der Präsidialadministration von Lukaschenko war, unter ständiger Kontrolle; die Arbeitgeber-Organisationen lassen sich offensichtlich freiwillig als Transmissionsorganisation der letzten Diktatur auf
europäischem Territorium benutzen.
Dagegen gibt es im gegenwärtigen Belarus eine beeindruckende Reihe an NRO, die trotz
sehr beschränkter Ressourcen und trotz – und vermutlich auch dank – der Repressionen des
Staates seit fast zehn Jahren unter Dauerstress aktiv sind und eine hohe Professionalität und
Ausdauer aufweisen, wobei diese zivilgesellschaftlichen Gruppen auch mit ausländischen
Partnern gut zu kooperieren wissen. Damit tragen sie zum internationalen Know-how-Transfer in ein von der Staatsführung selbstisoliertes Land bei und können auch innovative Impulse
für die dringende Modernisierung der belarussischen Gesellschaft geben. Allerdings wird sich
das Potenzial von zivilgesellschaftlichen Akteuren nur dann richtig entfalten, wenn entsprechende Reformen im wirtschaftlichen und im politischen Bereich durchgeführt werden.
Die polizeistaatlichen Unterdrückungsmethoden sind offenkundig Ausdruck des jetzt total
offenkundigen Wunsches von Lukashenko als Person auf Dauer die Macht zu behalten:

Die Parlamentswahlen vom 17. Oktober 2004 haben durch systematische Behinderungen
von Oppositionellen, durch Verfolgung kritischer Medien (einschließlich des russischen
Fernsehjournalisten Scheremet) und durch von der OSZE festgestellten Manipulationen
der Ergebnisse in mehreren Wahlbezirken das von Lukaschenko vorher angekündigte Ergebnis gebracht, nämlich alle 110 Mandate sind jetzt von der "Partei der Macht" besetzt.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 47 
Bei dem gleichzeitig abgehaltenen "Referendum" stimmten über 77% der Wählenden für
die verfassungswidrige Beteiligung Lukashenkos an den nächsten Präsidentenwahlen,
was ihm eine dritte Amtszeit eröffnet; nach Angaben der vom Regime kontrollierten
"Zentralen Wahlkommission" lag die Beteiligung bei über 90% der Wahlberechtigten,
von denen 77,3% für die Abschaffung der Amtszeitbegrenzung für Lukaschenko
gestimmt haben sollen. Nach Angaben des weißrussischen Büros des Meinungsforschungsinstituts GALLUP stimmte zwar die Mehrheit der Suggestivfrage zu, aber es
nahmen abzüglich der manipulierten Zusatzstimmen nur 48,8% der Wahlberechtigten am
Referendum teil; so ist die verfassungsmäßige Beteiligung von 50% plus einer Stimme
eigentlich nicht erreicht, was aber das Lukashenko-Regime nicht von Jubelfeiern abhielt.

Die Zukunft von Belarus hängt nun erst recht maßgeblich von der nächsten Etappe in den
wechselvollen Beziehungen zu Russland und genauer zwischen den beiden PräsidentenAutoritäten ab: Wird Präsident Putin den seit längerem lästigen "slawischen Bruder" fallen lassen und die Pläne einer Union, die er von seinem Vorgänger Jeltzin geerbt hat, aufgeben oder kommt es zu ihrer Wiederbelebung aus geostrategischen oder anderen Interessen?
Wenn diese drei innen- wie außenpolitisch gegenwärtig offenen Entwicklungen geklärt sind,
wird die EU das auch für Belarus vorgesehene neue Konzept der Nachbarschaftspolitik im
Detail entwickeln und in Gang bringen; dafür liegen aus dem generellen Strategiepapier der
Europäischen Kommission umsetzbare Maßnahmen vor, und die anderen EU-Organe wie der
EWSA sind eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten.
Ausdrückliches Ziel der EU ist es, "Belarus auf einen messbaren, allmählichen Prozess zu
verpflichten, der sich auf die Schaffung der Voraussetzungen für freie und faire Wahlen und,
sobald dies erreicht ist, auf die Einbeziehung von Belarus in die Nachbarschaftspolitik konzentriert, ohne das Eintreten der EU für die gemeinsamen demokratischen Werte Europas zu
kompromittieren"44. Da durch diese "Europäische Nachbarschafts-Politik (ENP)" die Demokratisierung im Mittelpunkt steht, sind in Weißrussland keine staatlichen Organe, sondern die
(aktiven) zivilgesellschaftlichen Organisationen der Hauptpartner der Zusammenarbeit; dafür
werden in den bisherigen Papieren noch zu vage "die durch Hilfsmechanismen der EU geförderten Kontakte der Bevölkerung (people-to-people)" erwähnt. Deshalb können die
folgenden, auf Vorschlägen aus der belarussischen Zivilgesellschaft selbst basierenden
Anregungen hilfreich sein:

44
Unterstützung unabhängiger Medien auf lokaler und nationaler Ebene, gerade durch Ausbau der schon ansatzweise bestehenden Kooperation mit Partnern in den Nachbarländern
Polen und Litauen;
EK, Strategiepapier zur Europäischen Nachbarschafts-Politik, 12.5.2004, S.11.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 48 
Fortführung und Aufstockung der Hilfsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche aus den
von der Tschernobyl-Tragödie betroffenen Regionen, wobei auch die Jugendinstitutionen
des Europarates (Europäisches Jugendzentrum und Jugendwerk) mit einbezogen werden
sollten;

Konkretisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit aktiven NRO aus den
Nachbarländern durch Austauschmaßnahmen in den Bereichen Bildung (z. B. durch präzise Fernstudien-Projekte unter Nutzung der elektronischen Medien), Kultur (durch Austausch von Verantwortlichen in lokalen Aktivitäten), Forschung (beispielsweise durch
Einbeziehung der renommierten Universität in Minsk) und im Sozialbereich (beispielsweise durch Modernisierung von Krankenhäusern);

Aufforderung an die Kommission, die laufenden, spontan entstandenen Austauschprogramme "Von Mensch zu Mensch" zwischen weißrussischen Gemeinschaften von
Tschernobyl-Kindern und einigen Gemeinden in den Mitgliedstaaten der Union bestmöglich zu nutzen;

Vorschlag an die europäischen Gesetzgeber, einen geeigneten Rahmen zu schaffen, mit
dem die Gemeinden in Belarus unterstützt werden können, die sich ernsthaft den demokratischen Werten verpflichtet fühlen.
Darüber hinaus sollte Belarus im Rahmen des neuen "Europäischen NachbarschaftsInstruments (ENI)" ab 2007 förderfähig werden, wozu so bald als möglich mehrjährige
Projekte vorbereitet werden müssen; diese können auf den Erfahrungen von Projekten in den
drei "Nachbarschaftsprogrammen" aufbauen, an denen Belarus bereits beteiligt ist:

"Ostsee-Programme",

Lettland-Litauen-Belarus,

Polen-Ukraine-Belarus.
Der EWSA könnte trotz der Unvollkommenheiten gerade bei den bestehenden Organisationen insbesondere auf Seiten der Arbeitgeberschaft, eine Kontaktgruppe mit Vertretern der
Zivilgesellschaft auch aus Weißrussland einrichten; darin könnten die Projekte konkretisiert
werden, die im Rahmen des künftigen ENP-Programms mit Mitteln des ENI auf mehrere
Jahre gefördert werden. Hierfür bestehen bereits Ansprechpartner auf Seiten der Zivilgesellschaft in Belarus, z. B. das jüngst geschaffene Netzwerk "European coalition for a free
Belarus", in dem besonders aktive NRO mit Vertretern aus den Gewerkschaften, aus der
Unternehmerschaft, aus der Wissenschaft und aus dem Medienbereich zusammenarbeiten.
Angesichts der epochalen Ereignisse vor und nach dem 21. November 2004 in der Ukraine,
wo auf Seiten der demokratischen Kräfte auch offenkundig viele gesellschaftliche Akteure
aus Belarus beteiligt waren, könnten sich positive Perspektiven für die Zivilgesellschaft in
Belarus ergeben, trotz und weil in diesem Land der letzte Diktator Europas herrscht. Die
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 49 transnationale Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Ukraine
und Weißrusslands sowie möglicherweise auch Russlands (von der vereinzelt Augenzeugen
der Demonstrationen in Kiew bereits berichteten) sollte auch von der EU und seinen entsprechenden Programmen in Zukunft stärker als bisher gefördert werden.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 50 -
LANDESPORTRÄT: BELARUS
1.
BASISINFORMATIONEN
1.1
Bevölkerung
10,2 Mio. Einwohner (2003)
1.2
Lebenserwartung
68,6 Jahre (im Durchschnitt) 2003
1.3
Fläche
207 600 qkm
1.4
Dichte
49,4 Einwohner pro qkm
1.5
Hauptstadt
Minsk (1,7 Mio. Einwohner)
1.6
Ethnische Struktur/Minderheiten
Weißrussen 81%; Russen 11%; Polen 4,1%;
Ukrainer 2,9%; Andere (insbesondere Juden) 1%
1.7
Sprachen
Weißrussisch; Russisch
1.8
Religionen
Russisch-Orthodoxe (60%); Römisch-Katholische
(8%),sonstige Christen (2%); Konfessionslose
(30%)
2.
POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN
2.1
Unabhängigkeit
Erklärung 25.8.1991
2.2
Verfassung
30.3.1994, revidiert durch fragwürdiges Referendum
zugunsten umfassender Vollmachten für den Präsidenten im November 1996
2.3
Präsidiale Republik
► Staatspräsident auf 5 Jahre vom Volk gewählt;
► seit 1994: Aleksander Lukaschenko
2.4
Regierung
► Ministerpräsident (seit 2003): Sergej Sidorskij
► Außenminister (seit 2003): Sergej Martynow)
2.5
Parlament
► Oberster Sowjet: 110 Abgeordnete, 4 Jahre,
eine dem Präsidenten ergebene Fraktion; alle
regimekritischen Parteien nicht mehr im
Parlament vertreten
► jüngste Wahl: 17.10.2004
Nationalitätenrat: 64 Abgeordnete
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 51 2.6
Beziehungen zur EU
► "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen"
mit der EU 1995 unterzeichnet; von der EU
wegen des demokratiefeindlichen LukaschenkoRegimes 1997 nicht ratifiziert
► "TACIS Nationales Programm" seit 1997
storniert, mit Ausnahme gezielter Unterstützung
für die Zivilgesellschaft wie das "DemokratieProgramm" der EU
2.7
Mitgliedschaft in Internationalen
Institutionen
Gründungsmitglied der Vereinten Nationen
Mitglied der OSZE
3.
ÖKONOMISCH-SOZIALE DATEN
3.1
BIP je Einwohner (2002)
3.2
BIP in Prozent des Durchschnitts 5,7%
der EU-25
3.3
Wachstum des (realen) BIP
5% (2003); 3,0% (2001)
3.4
Inflationsrate
35% (2003);
355,1% (im Durchschnitt zwischen 1990-2001)
3.5
Arbeitslosenquote (IAO Definition) 3,1% 2003 (im Durchschnitt der Personengruppen)
3.6
Ausländische Direkt-Investitionen
674,5 Mio Euro (2003)
3.7
Gesamt- Exporte
8.286 Mio. Euro (2002)
3.8
Gesamt-Importe
8.966 Mio. Euro (2002)
1.352 Euro
3.10 Importe aus der EU
1.387 Mio. Euro (2002)
3.9
917 Mio. Euro (2002)
Exporte in die EU
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 52 3.11 Gewerkschafts-Dachverbände
Zwei:
- Weißrussischer Gewerkschafts-Bund (FPB) mit
ca. 4 Mio. Mitglieder; nach Maßregelung und
Interventionen durch Lukaschenko jetzt
regimeverbunden;
- Kongress der demokratischen Gewerkschaften
Weißrusslands (BKDB), mit ca. 15.000
Mitgliedern regimekritisch
3.12 Dachverbände der Arbeitgeber
Zwei:
► "Industrie- und Handelskammer" mit regionalen
und lokalen Gliederungen, regimenah;
► "Weißrussische Union von Unternehmern und
Arbeitgebern", vertreten in allen Gremien,
regimeintegriert
3.13 Nicht-Regierungs-Organisationen
(NRO=NGO)
Ca. 3.000 registrierte NRO auf lokaler, regionaler
und nationaler Ebene vertreten, ca. 800 trotz aller
Repressionen aktiv bleiben, wovon 200 regelmäßige Auslandskontakte haben
Quellen: Harenberg Länderlexikon; Fischer Weltalmanach 2005, Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; eigene Berechnungen und Schätzungen, soweit keine Statistiken
auffindbar.
Dr. Ernst PIEHL / Dr. Heinz TRIMMERMANN, November 2004
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 53 4.
MOLDAU und ZIVILGESELLSCHAFT
PORTRÄT (am Ende des Kapitels)
4.1
Basisinformationen, Aktueller Überblick und spezifische Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln
Mit einer Fläche von ca. 34.000 Quadratkilometern und knapp 4,4 Millionen Einwohnern ist
die Republik Moldau45 vergleichsweise dicht besiedelt. Von den gegenwärtig verbliebenen
ca. 4 Millionen Moldauern (in Folge starker, meist illegaler Emigration) gehören fast zwei
Drittel zur Titularnation mit Rumänisch als Muttersprache und lateinischer Schrift. Die (dort
meist Russisch sprechenden) Ukrainer mit rd. 14% und die Russen mit 13% stellen die größten Minderheiten dar. Da sie beide hauptsächlich im Osten Moldaus in der selbst ernannten,
abtrünnigen "Republik Transnistrien" (Republik Dnjestr, benannt nach der russischen
Bezeichnung des Grenzflusses Nistru) leben, bilden sie dort die Bevölkerungsmehrheit unter
den rd. 600.000 Bewohnern mit Russisch als Amtssprache und kyrillischer Schrift. Die im
Süden der Djnestr-Republik lebenden Gaugasen (türkischstämmig und -sprachig, orthodoxchristlich, kyrillisch schreibend) stellen gut 3% der Bevölkerung, die restlichen 3% verteilen
sich auf weitere Minderheiten.
Zwar zeichnet sich das Agrarland durch fruchtbare Böden aus (einschließlich guter Weine),
ansonsten ist es jedoch arm an Bodenschätzen. Gegenwärtig hat Moldau europaweit das
geringste Pro-Kopf-Einkommen (weniger als 2% des EU-Durchschnitts) und gilt als das
"Armenhaus Europas"46. Die fast totale Abhängigkeit von Energielieferungen aus Russland
gehört zu den schwierigsten Problemen, zumal die Rohstoffabhängigkeit mit zur enormen
Staatsverschuldung des Landes beiträgt. Kennzeichnend für die bisherige Transformation der
postsowjetischen Republik Moldau ist insgesamt ein überdurchschnittliches Absinken des
Lebensstandards, verschleppte Strukturreformen und eine lückenhafte politische Konsolidierung. Zusätzlich besteht das trotz aller Bemühungen ungelöste Problem des seit dem Bürgerkrieg 1992 abtrünnigen Transnistriens im Osten des Landes, das unter dem populistischen
Clanchef Smirnow, einem ehemaligen Sowjetgeneral, enge Beziehungen zu großrussisch
agierenden Personen in Moskau und zu internationalen Netzwerken von illegalem Waffen-,
Drogen- und Menschenhandel pflegt. Transnistrien ist zu einer Drehscheibe der international
organisierten Kriminalität geworden.
Vor diesem politisch und ökonomisch problemvollen Hintergrund sind die Bedingungen für
zivilgesellschaftliches Handeln denkbar ungünstig; insbesondere durch die wachsende
Emigration meist junger Erwachsener mit guter Ausbildung verringert sich die Zahl der
45
46
"Republik Moldau" (Kurzform: Moldau) ist die amtliche, in Berlin und Brüssel autorisierte Bezeichnung; der Name Moldawien
geht auf die in sowjetischer Zeit übliche russische Bezeichnung "Moldavija" zurück und wird außer im Russischen nicht mehr
verwandt.
Vgl. Klemens BÜSCHER, Das politische System Moldaus, in Ismayr W. (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2004, S. 516.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 54 Frauen und Männer, die als potenzielle Akteure entweder in der organisierten (landesweit mit
Ausnahme Transnistriens agierenden) Zivilgesellschaft oder bei den meist lokal handelnden
NRO in Frage kommen. Die Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Stellen
verläuft sporadisch und selten spannungsfrei: Zentralisierte Verwaltungsstrukturen (mit Ausnahme Gaugasiens gibt es keine anerkannten regionalen Einheiten) behindern die Entfaltung
sozialer Bewegungen und die Vertretung sozialpartnerschaftlicher Interessen. (Auf Druck des
Europarates, dem Moldau seit 1995 als Mitglied verpflichtet ist, entsteht eine jedoch erst
schwach ausgebildete lokale Selbstverwaltung.) Darüber hinaus ist in der Bevölkerung offenkundig ein Paternalismus tief verankert. Zufolge einer Umfrage von Ende 2002 weisen über
80% der Moldauer dem "Staat die Hauptverantwortung für das Wohlergehen der Menschen"
zu, der somit "in erster Linie für den Niedergang im letzten Jahrzehnt verantwortlich"
gemacht wird47. Das Amt des Präsidenten (seit 2001 von dem ehemaligen Chef der vorübergehend verbotenen Kommunistischen Partei Voronin besetzt, der von der KP, die im Parlament über eine Mehrheit von zwei Dritteln verfügt, bis 2006 gewählt wurde) verkörpert
augenscheinlich den Wunsch breiter Bevölkerungskreise nach einem starken Mann im Staat.
Mit Ausnahme von Parteien finden weder gesellschaftliche Vereinigungen Erwähnung noch
das sonst in den meisten Verfassungen Europas explizite Recht auf Vereinigungsfreiheit.
Genannt wird allerdings das Recht, "Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten"
(Art. 42), und durch das spätere "Gesetz über öffentliche Vereinigungen und über Stiftungen"
(1997) wurden die Bedingungen für nicht-staatliche Organisationen verbessert. In der politischen Praxis Moldaus gibt es Überschneidungen zwischen einerseits den Staatsämter bekleidenden Personen mit den sie tragenden Parteien und andererseits den ökonomisch oder politisch orientierten Interessenorganisationen. Dieses Phänomen erklärt sich aus der relativ dünnen Rekrutierungsschicht eines in mehrfacher Hinsicht gespaltenen Landes (u. a. durch die
Sezession Transnistriens, zwischen Kommunisten und Altkommunisten, zwischen der älteren
sowjetisch geprägten und der jüngeren nach Westen orientierten Generation).
4.2
Arbeitnehmerganisationen/Gewerkschaften
Der aus den sowjetischen Gewerkschaften hervorgegangenen, 1990 neu gegründeten
"Gewerkschafts-Föderation Moldaus (GFM)" kommt auf Arbeitnehmerseite entscheidende Bedeutung zu: In ihren in 9 Branchen gegliederten Mitgliedsgewerkschaften sind mit
ca. 500.000 Mitgliedern weiterhin rund 80% der "legalen" bzw. registrierten Erwerbstätigen
organisiert. In Moldau ist die "Schwarzarbeit" bzw. verschiedenste Formen unangemeldeter
Tätigkeiten besonders stark verbreitet, demzufolge erscheint deren Beitrag zum Volkseinkommen in keiner Statistik. Die Dominanz der GFM beruht auch darauf, dass sie als neuer
Einheitsbund das Vermögen des sowjetischen Einheitsverbandes ebenso übernommen hat wie
die Verwaltung des Systems der Sozialen Sicherung. Bei der Wahrnehmung des in der Verfassung verankerten Rechts auf Kollektivverhandlungen ist die GFM stets federführend,
47
BÜSCHER, aaO., S. 538.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 55 zumal sie bis Ende 2000 eine Alleinstellung hatte und außerdem in der Arbeitnehmerschaft
eine Vermittlerrolle zwischen der Rumänisch sprechenden Mehrheit und der Russisch sprechenden Minderheit innehat. Die zwischen dem führenden Gewerkschaftsbund, der Regierung und den Unternehmensvertretern ausgehandelten Manteltarifverträge werden durch
Abkommen zwischen den Einzelgesellschaften und den Branchenvertretern sowie Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene konkretisiert. Wie in anderen Ländern auch treten in einem
Einheitsbund Konflikte auf, insbesondere bei der Festsetzung bzw. Anpassung des Mindestlohnes oder dem Bestreben, die ausgehandelten Tarifverträge als allgemein verbindlich zu
erklären. In einigen Branchen streben die entsprechenden Gewerkschaften nach mehr Selbständigkeit, insbesondere in der "relativ florierenden Branche der Lebensmittel produzierenden und verarbeitenden Industrie"48. Dank enger Zusammenarbeit mit einigen Gewerkschaftsbünden Westeuropas, namentlich mit der französischen CFDT und dem niederländischen
FNV wurde die GFM 1997 (mit dreijähriger Probezeit) in den IBFG aufgenommen.
Daneben entstand im Dezember 2000 in Folge längerer interner Auseinandersetzungen im
GFM der unabhängige Gewerkschafts-Bund "Solidaritate", dem gegenwärtig rund
200.000 organisierte Arbeitnehmer, also etwa das verbleibende Fünftel der Gewerkschaftsmitglieder des Landes angehört49. Er entstand auch im Kontext der in den 1990er Jahren zahlreich organisierten Streiks und Massendemonstrationen, die sich (seinerzeit) vor allem gegen
Verspätungen bei der Lohnauszahlung und gegen die katastrophale Unterfinanzierung insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen richteten.
Der "Solidaritate"-Bund ist vor allem im Öffentlichen Dienst vertreten und unterhält enge
Beziehungen mit den Vertretern der Regierung, insbesondere seit 2001, seitdem die KP mit
einer Mehrheit von über zwei Dritteln im Parlament die Alleinregierung stellt. Im GFM setzte
sich in Folge der "Solidaritate"-Gründung eine neue Führungsspitze durch, die – nach eigener
Angabe – regierungskritischer ist als diejenige bei "Solidaritate". Als Beleg dafür kann die
Einreichung von Beschwerdeverfahren gegen die Regierung Moldaus in den letzten Jahren im
Rahmen der IAO gewertet werden.
Die vom IBFG unterstützen (Wieder-) Vereinigungsbestrebungen zwischen beiden Bünden sind
bisher erfolglos geblieben, aber sie könnten unter veränderten allgemeinpolitischen Bedingungen, etwa als Folge der kommenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2006, auch zur Vereinigung
führen; auf jeden Fall setzt der IBFG seine Zusammenarbeit mit beiden Bünden fort50.
Die Tatsache, dass in Moldau praktisch alle erwachsenen und registrierten Arbeitnehmer weiterhin Mitglied einer Gewerkschaft sind, wobei gegenwärtig zwei rivalisierende Bünde bestehen, führt dazu, dass das "Armenhaus Europas" bezüglich der Mitgliederzahl eine Spitzen48
49
50
Zitate aus den Gesprächen der EWSA-Delegation mit den Vertretern beider Bünde in Chisinau im Juli 2003.
Zahlen vom U.S. Department of State von 2003, zitiert bei BÜSCHER, 2004, S. 523.
Vgl. "ICFTU Report of the Mission to evaluate the Trade Union situation in Moldova" vom 10.-12. März 2004.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 56 position einnimmt, nicht nur europa- sondern weltweit. Beide Gewerkschaftsbünde pflegen
enge Beziehungen zu den ihnen jeweils nahe stehenden Partnern in Rumänien, wobei diese sich
sicher noch verstärken werden, je näher der Termin des rumänischen Beitritts in die EU rückt.
Bei den politischen Spannungen mit dem abtrünnigen und im Innern stalinistisch geprägten
Transnistrien ist es bemerkenswert, dass die Vertreter beider Bünde Mitte 2003 äußerten,
"gute Kooperationen mit den Gewerkschaften jenseits des Nistru zu unterhalten."
4.3
Arbeitgeberverbände und Unternehmensrepräsentanz
Als offizielle Vertretung der Arbeitgeber und Unternehmerschaft in Moldau fungiert die aus
sowjetischer Zeit stammende Industrie- und Handelskammer; sie repräsentiert nach eigenen Angaben 4.000 wirtschaftliche Akteure in 16 Branchen und 6 große Unternehmen51. Die
IHK Moldaus stellt Ursprungszertifikate für alle in den Handel gelangenden Produkte aus, um
vom "Allgemeinen Präferenzsystem" im Rahmen der WTO zu profitieren, in die die Republik
Moldau schon Mitte der 1990er Jahre als erstes Land unter den vier östlichen Nachbarn der
EU aufgenommen wurde. Die IHK bemüht sich, "Joint Ventures" zwischen moldauischen
und ausländischen Unternehmen herzustellen. Momentan ist die IHK Moldaus in allen von
der Republik angebotenen Strukturen vertreten, darüber hinaus übernimmt sie die Interessenvertretung der Arbeitgeber in internationalen Gremien wie der IAO in Genf und der Internationalen Arbeitgeberorganisation (International Employers Organisation, IEO) sowie zunehmend in Bezug auf die EU, denn sie fürchtet nach dem rumänischen Beitritt (in Vorbereitung
auf 2007) die Isolierung Moldaus. Derzeit werden wohl 40% des moldauischen Exports mit
den EU-Mitgliedstaaten abgewickelt. Um Nachteile aus der Einführung der Visumpflicht zu
umgehen, haben bereits rund 300.000 moldauische Bürger die rumänische Staatsbürgerschaft
beantragt und erhalten; deren Zahl wird bis 2007 vermutlich gerade in Kreisen der Wirtschaft
noch erheblich wachsen.
Offenbar im organisatorischen Verbund mit der IHK haben sich Kleinunternehmen mit bis zu
30 Mitarbeitern in der "Small Business Association" zusammengeschlossen52.
Wichtiger als die formell-traditionellen Interessenorganisationen scheint der informelle
"Republikanische Klub der Wirtschaftsleute TIMPUL" zu sein, in dem über 900 Repräsentanten aus Banken, Handel und Industrie zusammenkommen; dessen Präsident, der
offensichtlich einflussreiche Unternehmer Babii, galt Ende der 1990er Jahre als möglicher
Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Babii rief 1999 mit anderen Unternehmern,
die dem vormaligen Staatspräsidenten Lucinschi nahe standen, die zivilgesellschaftlich-politische Organisation "Plai natal" (Heimat) ins Leben, die später in der liberal orientierten "Sozialdemokratischen Allianz" aufging.
51
52
Diese und weitere Informationen erhalten bei den Gesprächen mit den Wirtschaftsvertretern am 7. Juli 2003 in Chisinau.
BÜSCHER, 2004, S. 523.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 57 Der gegenwärtige Ministerpräsident Tarcev, der vom seit 2001 gewählten kommunistischen
Staatspräsidenten berufen wurde, hatte vorher Funktionen in der IHK Moldaus ausgeübt.
Wie in anderen Staaten mit noch schwach entwickelter Rechtsstaatkultur sind persönliche
Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik bedeutender als formelle Organisationen.
Außergesetzliche Absprachen und Korruption wirken auf allen Ebenen als weit verbreitete
Mechanismen der Interessenvertretung von Wirtschaft und Gesellschaft.
4.4
Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO)
Die Zahl der registrierten NRO stieg in Moldau auf lokaler und nationaler Ebene in den
letzen Jahren auf 2.800 an. Allerdings gelten davon nur 10 bis 15% als aktiv, also etwa 250
bis 300; viele der auf dem Papier des staatlichen Registers aufgeführten NRO, namentlich von
Wirtschaftsakteuren oder Behörden initiiert, hatten einen vorübergehenden politischen Zweck
zu erfüllen; sie können nicht als zivilgesellschaftliche Akteure gelten. Dazu müssen auch die
Organisationen gerechnet werden, die große Demonstrationen im Verbund mit der seit 2001
im Parlament schwach vertretenen pro-rumänischen Opposition zur kommunistisch geführten
Regierung durchführten.
Bei den wenigen auf Dauer angelegten NRO in Moldau53 steht die Beschäftigung mit den
Problemen in den Bereichen Bildung, Kultur und Menschenrechte im Mittelpunkt; vor dem
Hintergrund der eingangs geschilderten Basisfakten Moldaus verwundert es nicht, dass sich
die historisch-kulturelle, sprachliche und politisch-ökonomische Spaltung des Landes
auch bei den NRO widerspiegelt, wobei ihre große Mehrheit aus dem Rumänisch sprechenden Bevölkerungsteil kommt, die gesellschaftlich weit aktiver ist als die Russisch sprechende
Bevölkerung, was freilich bei der Lage in Transnistrien nicht verwunderlich ist. Auf jeden
Fall tragen die Auseinandersetzungen zwischen den Sprachgruppen in Moldau und das ungelöste Kernproblem Transnistrien erheblich zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft bei.
Wie in anderen Transformationsländern konzentrieren sich die Aktivitäten auf die Hauptstadt
des Landes, um vor allem Einfluss auf die Regierenden zu erreichen, was der gegenwärtig
amtierenden Regierung unter Präsident Woronin nicht gefällt; so nehmen Schikanierungen
gegenüber NRO zu, gerade in deren neuen Betätigungsfeldern wie in der Jugendpolitik sowie
im Verbraucher- und Umweltschutz. Angesichts der sich zuspitzenden Probleme – wirtschaftlich-sozial in Form zunehmender Armut und politisch ausgedrückt in der Ratlosigkeit
hinsichtlich der Transnistrien-Frage und in den Beziehungen zu Russland – werden die Aktionen vermutlich an Bedeutung gewinnen, auch wenn es nur wenige aktive Akteure in der
moldauischen Zivilgesellschaft gibt. Namentlich die Vertreter der Jugendorganisationen,
deren Rekrutierungsreservoir wegen der wachsenden Emigration in Länder der erweiterten
Europäischen Union schwindet, fordern von ihrer Regierung eine tatsächliche und nicht nur
53
Der deutsche Botschafter in Moldau vertrat auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chisinau 2003 die Ansicht, dass "es
bisher nur Ansätze für eine Zivilgesellschaft mit bestenfalls einigen Dutzend von NRO gibt", Dokumentation der FES, 2003, S. 79.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 58 deklamatorische pro-europäische Politik. Von Seiten der EU wünschen sie sich Angebote der
Partizipation mit finanzieller Unterstützung, da sonst die Öffnung der Gemeinschaftsprogramme für alle europäischen Länder ihrerseits nur eine uneingelöste Absichtserklärung
bleibt.
Für die meisten Vertreter der Zivilgesellschaft sollten die künftigen Unterstützungs-Programme der EU nicht nur mit der Regierung – wie bei TACIS – ausgehandelt und durchgeführt werden, sondern auch mit den Vertretern der aktiven NRO.
4.5
Fazit und Ausblick
Trotz aller politischen Instabilität, zu erkennen an der Tatsache, dass in 12 Jahren Wendezeit schon 8 Regierungen im kurzzeitigen Amt waren, gibt es einige Konstanten in Bezug auf
die organisierte Zivilgesellschaft:

Die von den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden gemeinsam erhobene Forderung nach Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates und einer Arbeitsgerichtsbarkeit
wird bisher von allen Regierungen abgelehnt.

Seit dem Erdrutschsieg der Kommunistischen Partei Moldaus bei den letzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2001 (bei der die KP, die nach der Wende für einige Zeit offiziell
verboten war, über zwei Drittel der Mandate errang) und nach der durch diese Mehrheit
im Parlament erfolgten Wahl des ehemaligen KP-Vorsitzenden Woronin zum Staatspräsidenten im Herbst 2001 enthalten sich die Vertreter beider Sozialpartner nahezu jeder
Kritik am Präsidenten und dessen Regierung; dieses nach sowjetischem Vorbild geprägte
Verhalten fällt offenkundig leichter, da die wichtigsten Organisationen auf Arbeitnehmerwie auf Arbeitgeberseite aus den ehemaligen Einheitsverbänden der sowjetischen Zeit
hervorgegangen sind.

Gegenwärtig finden in den Organisationen beider Seiten offenkundig innere Auseinandersetzungen statt, deren Ausgang sowohl in Bezug auf die politisch-programmatische
Orientierung als auch hinsichtlich des Führungspersonals offen ist.
Die erst bescheidenen Ansätze von tatsächlich aktiven NRO in Moldau sind stark auf die
ethnisch-sprachlich-kulturelle Spaltung des Landes zurückzuführen: einerseits in den Rumänisch sprechenden Hauptteil der Bevölkerung (nahezu 70%) und andererseits den Russisch
sprechenden Teil. Zwar beträgt der Anteil der ethnischen Russen nur etwa 13%, deren gesellschaftliche Bedeutung – auch in der Zivilgesellschaft – ist aus folgenden bis heute nachwirkenden Gründen jedoch weitaus größer:
-
Russland ist als Nachfolgestaat der UdSSR sowohl für die Führung als auch die (vermutlich)
große Mehrheit der Bevölkerung in Transnistrien (ca. eine halbe Million) das "slawische
Großreich", aus dem der Führungsclan um den ehemaligen Sowjetgeneral Smirnow kommt
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 59 und an das Transnistrien nach dessen Willen (wieder) angeschlossen bzw. verbunden werden
soll (etwa im Sinne eines "Kaliningrad am Schwarzen Meer").
-
Russland ist die Garantiemacht des Waffenstillstands nach dem Krieg 1992 zwischen der
moldauischen Armee und der Sezessionsgruppe um Smirnow, die militärisch wohl auch deshalb obsiegte, weil diese Truppe im Notfall mit der Unterstützung durch die in Transnistrien
stationierte, ehemalige 14. Armee der UdSSR rechnen konnte; auch nach dem (Teil-) Abzug
von der russischen Armee und deren enormen Waffenarsenalen bleibt Russland der einflussreichste Akteur im Rahmen der OSZE, in der seit über einem Jahrzehnt versucht wird, eine
von allen Beteiligten getragene Lösung des Transnistrien-Problems zu finden.
Die bisherige Erfolglosigkeit in der Lösung dieses politischen Kernproblems und die
Ratlosigkeit der bisherigen Regierungen hinsichtlich der wachsenden Armut und der dadurch
verstärkten Emigration mit verlustreichem "brain drain" der dünnen Schicht hochqualifizierter
Erwachsener, erschwert zunehmend die Arbeit der Zivilgesellschaft in Moldau.
Ein besonders aktiver Kern unter den (rumänischsprachigen) NRO tritt leidenschaftlich für
die Einbindung ihres Landes in die europäischen Institutionen ein: Sie unterstützen seit Mitte
der 1990er Jahre die (aus Finanzmangel bescheidenen) Initiativen des Europarates, des
"Stabilitätspaktes für Südosteuropa" und besonders der EU, auch weil sie durch deren Programme wie TACIS und der "Europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte"
(Demokratisierungsprogramm der EU, in dem zwischen 1993 und 1999 25 Projekte von NRO
mit einer Gesamtunterstützung von etwa 3 Millionen Euro gefördert wurden) begrenzte, aber
tatsächlich geleistete Finanzhilfen erhielten.
In der gegenwärtigen Diskussion um die Weiterführung der Unterstützungen durch die EU im
Rahmen von ENP und "Aktionsplan" kritisieren diese NRO einerseits, dass die neuen Programme – wie deren Vorläufer (mit Ausnahme des "Demokratisierungsprogramms", in dem
die Europäische Kommission direkt mit den Akteuren der Zivilgesellschaft Projekte vertraglich durchführte) – nur mit den jeweiligen Regierungen ausgehandelt wurden und werden;
andererseits hoffen sie, dass die Unterstützung der EU für Moldau als unmittelbarer Nachbar
in Zukunft – spätestens ab 2007, wenn Rumänien Vollmitglied der EU sein wird – wachsen
wird.
Nachdem die Machthaber in Transnistrien gegen Schulen vorgegangen sind, die in moldauisch-rumänischer Sprache und in lateinischer Schrift unterrichten, hat die EU für die Revision
dieser rechtswidrigen Aktionen teilweise effektiv Druck ausgeübt, der allerdings im Zuge der
Umsetzung des künftigen Aktionsplanes verstärkt werden sollte.
Da in dem im Frühsommer vereinbarten, aber bis Spätherbst 2004 noch nicht unterzeichneten
Aktionsplan für Moldau ein Kapitel der Ausweitung der sogenannten "people-to-people-contacts" gewidmet ist, sind die zivilgesellschaftlichen Akteure in Moldau gegenwärtig aufgerufen, konkrete Initiativen und Projekte vorzuschlagen; die in den bisherigen Förder-Projekten
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 60 gemachten Positiverfahrungen, vor allem in der Bekämpfung der weit verbreiteten Korruption, sind vor allem mit den NRO weiter zu entwickeln, zumal Regierungsstellen, gleich
welcher politischen Couleur, in Bestechungsaffären verwickelt waren und sind. Gerade weil
die staatlichen Organe augenscheinlich schwächer und im Vorfeld der Neuwahlen 2005
immer widerspruchsvoller agieren, könnte die EU und seine Institutionen vor allem die verstärkte Unterstützung auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen Moldaus konzentrieren.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 61 -
LANDESPORTRÄT: MOLDAU
2.
1.
BASISINFORMATIONEN
1.1
Bevölkerung
4,2 Mio (2003); incl. ca. 600.000 in Transnistrien
1.2
Lebenserwartung
67 Jahre (im Durchschnitt) 2003
1.3
Fläche
33.800 qkm (incl. 2.500 qkm Transnistrien und
2.000 qkm Gaugasien; ohne Zugang zum
Schwarzen Meer)
1.4
Dichte
125 (2002)
1.5
Hauptstadt
Chisinau (780.000 Einwohner)
1.6
Ethnische Struktur/Minderheiten
Rumänisch-sprechende Moldauer 65%;
Russisch-sprechende Ukrainer 14%;
Russen 13%, Gaugasier 3,5%; Bulgaren 2%;
Andere (insbesondere Roma) 2,5%
1.7
Sprachen
Moldauisch = Rumänisch; Russisch
1.8
Religionen
Christen 98,5%: Rumänisch-Orthodoxe, RussischOrthodoxe; Sonstige (insbesondere Juden) 1,5%
POLITISCH-INSTITUTIONELLE INFORMATIONEN
2.1
Unabhängigkeit
Souveränitätserklärung 23.6.1990;
Proklamation 27.8.1991
2.2
Verfassung
Beschluss 29.07.1994
2.3
Parlamentarisch-präsidiales
Mischsystem
► Staatspräsident auf 4 Jahre vom Parlament
gewählt; ► seit April 2001:Wladimir Voronin
2.4
Regierung
► Ministerpräsident ( seit April 2001): Vasile
Tarlev ;
► Außenminister Andrei Stratan (seit Sept. 2003)
2.5
Parlament
► 101 Abgeordnete im Ein-Kammer-Parlament,
4 Jahre, 3 Fraktionen seit 2001;
► nächste Wahl: zwischen Februar und Mai 2005
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 62 2.6
Beziehungen zur EU
► "Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen"
mit der EU seit Juli 1998
► "TACIS Nationales Programm" seit 1991
Action-Plan (unterzeichnet Ende 2004)
2.7
Mitgliedschaft in Internationalen
Institutionen
► WTO (Antrag1997, Beitritt 2001)
GUS 1991 (ratifiziert 1994)
► OSZE seit 1991;
► Europarat seit 1995;
► Mitglied im "Stabilitäts-Pakt für den Balkan" seit
2001
3.
ÖKONOMISCH-SOZIALE DATEN
3.1
3.2
BIP je Einwohner (2002)
BIP in Prozent des Durchschnitts
der EU-25
417 Euro
2%
3.3
Wachstum des (realen) BIP
6% (2003); 7,2% (2002); 6,1% (2001)
3.4
Inflationsrate
18% (2003); 5,3% (2002);
103% (im Durchschnitt zwischen 1990-2001)
3.5
Arbeitslosenquote (IAO Definition) 7,3% 2003 (im Durchschnitt der Personengruppen)
3.6
Ausländische Direkt-Investitionen
167 Mio. Euro (2001)
3.7
Gesamt- Exporte
636 Mio. Euro (2002)
3.8
Gesamt-Importe
998 Mio. Euro (2002)
3.9
Exporte in die EU
136 Mio. Euro (2002)
3.10 Importe aus der EU
278 Mio. Euro (2002)
3.11 Gewerkschafts-Dachverbände
Zwei:
► "Gewerkschafts-Föderation Moldaus/GFM" mit
ca. 500.000 Mitgliedern;
► Unabhängiger Gewerkschafts-Bund
"Solidaritate" mit ca. 200.000 Mitgliedern
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 63 3.12 Dachverbände der Arbeitgeber
Zwei:
► "Industrie- und Handelskammer Moldaus" mit
4.000 Mitgliedern;
► "Republikanischer Klub der Wirtschaftsleute"
mit 900 Repräsentanten
3.13 Nicht-Regierungs-Organisationen
(NRO=NGO)
Ca. 2.800 NRO auf lokaler und regionaler Ebene
Quellen: Fischer Weltalmanach 2005; Harenberg Länderlexikon; Europäische Kommission (insbesondere EUROSTAT); Weltbank und IWF; eigene Berechnungen und Schätzungen soweit keine Statistiken
auffindbar.
Dr. Ernst Piehl, November 2004
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 64 C.
GESAMT–KONKLUSIONEN UND ANREGUNGEN
1.
GESAMT–KONKLUSIONEN
1.1
Generell
(1) Bei allen Unterschieden zwischen den Völkern und Staaten – auch in Osteuropa – wirkt in
allen vier östlichen Nachbarländern das sowjetisch-zaristische Erbe offenkundig nach.
Damit ist eine spezifische soziale Verhaltensweise der Mehrheit in den jeweiligen Bevölkerungen gemeint, unabhängig von historisch-ethnischen, politisch-ökonomischen und kulturell-sprachlichen Verschiedenheiten. Diese Verhaltensweise ist insbesondere geprägt vom
Mangel an sozialem Vertrauen. Die Menschen neigen dazu, einander zu misstrauen, wenn es
sich nicht um Mitglieder der eigenen Familie, Verwandte oder nahe Freunde und Partner
handelt. Weil die staatlichen Institutionen in der Sowjetzeit Güter und Dienstleistungen nicht
effizient anbieten konnten, mussten sich die Menschen auf persönliche Beziehungen und
Netzwerke verlassen. Vermutlich ist diese Denk- und Verhaltensweise einer der Gründe, die
zur Clan- oder Oligarchenbildung der postkommunistischen Transformationszeit führten, vor
allem in den beiden größten Republiken der Sowjetunion Russland und der Ukraine. Dieses
gemeinsame Erbe der Sowjetzeit ist meines Erachtens ein ernsthaftes Hindernis oder zumindest Handikap sowohl für eine erfolgreiche Demokratisierung des Staates als auch für eine
breite und dauerhafte Entwicklung der Zivilgesellschaft.
(2) Erfreulicherweise gibt es Ausnahmen von dieser allgemeinen Einschätzung: In der WestUkraine, namentlich in Lviv (russisch und polnisch: Lwow, deutsch: Lemberg) entwickeln
sich seit der Wende vielfältiges Bürgerengagement, in kultureller, ökonomischer und sozialer
Hinsicht, aber auch in diesem historischen Zentrum Ostmitteleuropas wirken sowohl die
Jahrhunderte lange russisch-zaristische Beherrschung als auch die Sowjetzeit von fast
fünf Jahrzehnten (1945 bis 1990) in der Westukraine und von nahezu acht Jahrzehnten in
der übrigen Ukraine genau so wie in Russland und in Belarus bis heute nach (was der Autor
bei mehreren Besuchen unmittelbar erleben konnte). In Moldau gab und gibt es auch eine
Spaltung des Landes, aber beide Teile haben eine Vergangenheit, die für Demokratie und
Zivilgesellschaft nicht förderlich ist (s. Moldaukapitel).
(3) Der Aufbau einer organisierten, aktiven und einflussreichen Zivilgesellschaft braucht längere Zeit. Die Spanne von weniger als 15 Jahren seit der Wende ist gegenüber den fünf bzw.
acht Jahrzehnten nicht ausreichend, um Demokratie und bürgerschaftliches Engagement in
den vier Ländern zu verankern. Schon die totalitäre Herrschaft der russischen Zaren in den
Jahrhunderten vor 1917 hat kein Bürgertum, geschweige denn zivilgesellschaftliche Organisationen entwickeln lassen. So sind alle vier Länder (wiederum mit Ausnahme der Westukraine) ein Neuland für demokratische und zivilgesellschaftliche Entwicklungen und sie
benötigen längere Transformationsprozesse im Innern und kenntnisreiche Unterstützung von
Außen.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 65 (4) In allen vier Ländern gibt es wohl keinen Mangel an Institutionen, aber es gibt Defizite im
Institutionengefüge der Gewaltenteilung, im Rahmen dessen die Funktionen klar definiert
und voneinander getrennt sind. Der politische Entscheidungsprozess ist ebenso undurchsichtig wie das wirtschaftliche Umfeld. Der Zusammenhang zwischen den Absichtserklärungen
und den beschlossenen Gesetzen ist gering. Hinzu kommt, dass gerade die für die demokratische Entwicklung nützlichen Gesetze nicht umgesetzt werden, weil es an Mechanismen des
Monitoring und der Sanktionsmöglichkeit bei Nichtbeachtung der gesetzlichen Vorschriften
fehlt.
(5) Bürgerschaftliches Engagement und Beteiligung am Willensbildungsprozess im Staate erfordern Rechtsstaatlichkeit, d.h. konkret, dass die jeweilige Obrigkeit willens und fähig ist, die
Rechte der Bürger ihres Staates zu achten und zu schützen. Ohne ausreichende Rechtsstaatlichkeit und staatlichen Institutionen können zivilgesellschaftliche Organisationen nur
schwerlich gedeihen. Auch wegen der in dieser Beziehung noch schwachen Staatskapazität
und unzureichenden Rechtsstaatlichkeit konnten sich Seilschaften, Wirtschaftsclans und
Oligarchien entwickeln, die sich mit Abgeordnetenmandaten sowohl Straffreiheit bei ungesetzlichem Handeln verschaffen als auch über engste persönliche Beziehungen mit der
jeweiligen "Partei der Macht" eine politische Parallelmacht aufgebaut haben. Die zivile
Gesellschaft und die staatliche Gemeinschaft wird durch gegeneinander rivalisierende Clans
sowie sektoral oder regional verankerte Oligarchen untergraben, die miteinander um politische Ämter, ökonomische Privilegien und Macht konkurrieren, ohne Rücksicht auf die Interessen des gesamten Landes und das Gemeinwohl ihrer Völker.
(6)
1.2
Gleichwohl gibt es auch erstaunlich positive Entwicklungen bei den vier östlichen Nachbarn, die günstige Einflüsse auf die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen
haben. Gemeint sind vor allem die relativ große Toleranz unter den simultan und oft an
gleichen Orten existierenden Religionen und Konfessionen; deren Bereitschaft zum
Zusammenleben ist gewiss nirgendwo konfliktfrei, aber auf jeden Fall weit höher als in manchen Ländern der EU, was sich insbesondere in Nordirland mit seit Jahrhunderten andauernder gegenseitiger Gewalt zeigt. Gleichermaßen sind die ethnisch-sprachlich-kulturellen
Minderheiten, selbst die starke russische Minderheit vor allem in der Ukraine, seit der
Wende in geradezu beispielhafter Weise integriert. Auf jeden Fall sind anders als im westlichen Balkan Bürgerkriege vermieden sowie wechselseitige Beschuldigungen und Anfeindungen, die zwischen der Titularnation und den regionalen Minderheiten auch in EU-Staaten
wie in Großbritannien oder Spanien seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung bleiben, überwunden worden.
Konklusionen in Bezug auf die organisierte Zivilgesellschaft der Sozialpartner
(1) Die politischen Systeme in den vier östlichen Nachbarländern der EU sind seit der Wende
vor allem von der Macht der (direkt gewählten) Präsidenten und der Präsidialverwaltungen geprägt. Das Erbe des Sowjetsystems wird nicht nur in der Ähnlichkeit der PräsidialAdministration mit dem Zentralkomitee der KPdSU sichtbar; auch die Regierungen tragen
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 66 die Wesensmerkmale ihrer sowjetischen Vorläufer fort. Das gilt insbesondere für den hierarchischen Aufbau und für den typischen Charakter als so genannte technokratische Wirtschaftskabinette. In Belarus hat sich daraus ein autoritäres Regime mit totalitären Zügen –
wie der Personenkult um Präsident Lukaschenko – mit katastrophalen Folgen für das Land
und seine Zivilgesellschaft entwickelt; in Moldau hat der Präsident seit 2001, obgleich nicht
direkt vom Volk gewählt, dennoch durch die Zweidrittelmehrheit seiner eigenen Partei, der
KP Moldaus, alle Fäden in der Hand. Insgesamt betrachtet, sind die bisherigen Regierungen
in allen vier Ländern Präsidialkabinette, in denen Vertreter ökonomischer Clans, technokratischer Seilschaften und der "oligarchischen Familien" dominieren.
(2) Die traditionellen Interessensorganisationen auf Arbeitnehmer- und auf Arbeitgeberseite, die
auf Mitgliedschaft basieren und stärker formalisiert sind als die NRO, versuchen trotz aller
Behinderungen, ihren Einfluss im Rahmen der Entscheidungsprozesse geltend zu machen;
freilich in den vier Ländern auf jeweils verschiedene Weise und auch mit unterschiedlichem
Erfolg. Diese Organisationen der "Sozialpartner" tragen überwiegend die charakteristischen Züge, die schon in den acht neuen Mitgliedsländern der EU vor gut zehn Jahren zu
erkennen waren: Die Verbände privater Unternehmen sind (noch) vergleichsweise klein und
konzentrieren sich auf eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit mit den jeweils herrschenden Präsidenten und deren Regierungen; insbesondere die Industrie- und Handelskammern sind offensichtlich sehr aktiv und sie haben zu den relativ hohen Wachstumsraten der
Wirtschaft der vergangenen Jahre (namentlich in der Ukraine) beigetragen. Es gibt eine wohl
die Repräsentanten der Verbände beider Sozialpartner subjektiv zufriedenstellende Zusammenarbeit, sowohl auf beiden Seiten der Wirtschaft als auch in einigen trilateralen Gremien,
die von den jeweiligen Präsidialregimes seit Jahren eingerichtet wurden. Objektiv gibt es
(noch) keine funktionierenden sektoralen Beziehungen oder gar Tarifverhandlungen. Die trilateralen Gespräche sind in der Praxis weniger Verhandlung als vielmehr teils ein Ritual, teils
die einzige Möglichkeit, wesentliche Verbesserungen beispielsweise für Arbeitnehmerrechte
zu erzielen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass der autonome Dialog zwischen den
Tarifparteien ein eklatantes Manko in allen vier östlichen Nachbarländern ist.
(3) Eine Reminiszenz an das System vor 1991 ist die Vertretung korporatistischer Interessen, die
mehr oder weniger nahtlos aus den obligatorischen Wirtschafts-Organisationen der Sowjetzeit hervorgegangen sind. Im postsowjetischen Russland und in der Ukraine, wo nach der
Wende marktwirtschaftliche Reformen begonnen bzw. durchgesetzt wurden, sind zusätzlich
neue Wirtschaftsoligarchien entstanden (siehe die Analysen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in den vier Länder-Analysen), was Juri Durkot als ukrainischer Journalist
und zivilgesellschaftlicher Akteur auf die griffige Formel brachte: "Vom Plan zum Clan".
(4) Der überwiegende Teil der Gewerkschaften ist in allen vier östlichen Nachbarländern der
EU – abgesehen von den bemerkenswerten neuen Organisationen (siehe entsprechende
Kapitel in den voranstehenden Länder-Analysen) – ein Teil der paternalistischen Strukturen
von mehr oder weniger autoritär geführten Präsidialregimes geblieben. So können die
gewerkschaftlichen Organisationen de facto kaum die Interessen der Arbeitnehmer unmiss-
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 67 verständlich vertreten. So verwundert es nicht, dass die oft nur deklaratorisch erneuerten, real
weiterbestehenden alten Verbände unter fortschreitendem Mitgliederschwund leiden. Die
neuen Gewerkschaftsverbände konnten sich bisher nur bescheiden entwickeln. Maßgeblich
hierfür ist wohl zum einen, dass – vor allem in Belarus – die existierenden, staatlich kontrollierten Eigentums- und Preisstrukturen bisher keine Auflösung der paternalistischen Versorgungsmechanismen erlaubt haben; zum anderen werden in der Privatwirtschaft auch die
neuen Gewerkschaften von den Arbeitgebern, namentlich von amerikanisch kontrollierten
bzw. beeinflussten Unternehmen, nicht zugelassen oder zumindest bei ihrem Aufbau behindert.
(5) In allen vier Ländern haben auch die Gewerkschaften einen erheblichen Reformbedarf und
benötigen sicher dringend weitere Unterstützung seitens der internationalen Institutionen,
in denen sie bzw. ihr Staat Mitglied sind, wie insbesondere vom dafür eingerichteten Internationalen Arbeits-Organisation (IAO) in Genf und vom Internationalen Bund Freier
Gewerkschaften (IBFG) in Brüssel.
In Weißrussland ist es der "alten" Gewerkschaftsföderation vor den letzten Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2000/2001 gelungen, mit den "neuen" Gewerkschaften und anderen
Reformkräften ein Bündnis einzugehen und so eine wichtige politische Rolle zu spielen, im
Rahmen dessen ihr seinerzeitiger Vorsitzender Goncaryk als gemeinsamer Gegenkandidat
der vereinigten Opposition einen europaweit gewürdigten Achtungserfolg errang. Obwohl
das zunehmend totalitär werdende Lukaschenko-Regime seitdem die Gleichschaltung der
Gewerkschaften betrieb, ist diese bis heute nicht vollständig erfolgt. So blieb beispielsweise
der Vorsitzende der Metallgewerkschaft (Aleksander Buchvastau) trotz seiner erklärten Gegnerschaft zu Lukaschenko weiterhin im Amt. Freilich wird der Druck auf Gleichschaltung
aller Gewerkschaften nach dem manipulierten Referendum von 2004 im Vorfeld der nächsten Präsidentenwahlen im Jahre 2006 leider eher zu- als abnehmen.
In Russland und der Ukraine scheinen insbesondere die bisherigen Führungen der Arbeitgeberverbände mit dem "ancien régime" verbunden, das Präsident Kutschma seit Jahren und
Präsident Putin seit Monaten in wesentlichen Elementen zur Renaissance verhalf. Da aber
neue Bewegung in der Unternehmerschaft, vor allem bei der jüngeren Generation in der
Ukraine erkennbar ist, sind die Anregungen zu begrüßen, dass die regelmäßig stattfindenden
"Industrie-Rundtisch-Gespräche" zwischen dynamischen Unternehmerpersönlichkeiten
aus der EU und aus Russland auf diejenigen aus der Ukraine erweitert werden bzw. ein
eigener Runder Tisch zwischen der EU und der Ukraine ins Leben gerufen wird.
1.3
Vergleichende Konklusionen in Bezug auf die Nicht-Regierungs-Organisationen
(1) Die seit seinem Machtantritt 1994-96 eingeleitete und in der sog. "Volksabstimmung" vom
17. Oktober 2004 auf die Spitze getriebene Politik vom weißrussischen Präsidenten
Lukaschenko zur Kontrolle, Lenkung und Repression aller Teile einer unabhängigen Zivilgesellschaft zeigen anschaulich und brutal zugleich, wie schwer es die Akteure einer Zivil-
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 68 gesellschaft haben, die auf den Prinzipien der freiwilligen Assoziation basiert, individuelle
Bürgerrechte schützt und die Beteiligung der Öffentlichkeit am politischen Willensbildungsprozess fördern will. Die amtierenden Präsidenten der anderen drei Länder (Oktober 2004)
unterscheiden sich einerseits in ihren Erklärungen mehr oder weniger deutlich von der
autoritär-totalitären Strategie ihres Amtskollegen in Minsk, aber andererseits bleiben die
Ankündigungen zur "Förderung der Zivilgesellschaft" ohne konkrete Folgen. Es handelt sich
offenkundig um Lippenbekenntnisse, welche die Gestaltung guter Beziehungen zum Westen
im Allgemeinen und zur EU im Besonderen förderlich sein sollen. Letztlich verfolgen wohl
Putin, Kutschma und Woronin ihr aus ihrer Jugend in der Sowjetzeit stammende "Idealbild"
einer vom Staat gelenkten Gesellschaft, wobei allerdings die Vorstellungen in dessen organisatorischen Umsetzung den unterschiedlichen Bedingungen der Länder angepasst werden.
(2) In allen vier Ländern gilt es trotz oder wegen der Behinderungen seitens der staatlichen Gewalten weit gestreute und (noch wenig koordinierte) Netze an NRO, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene aktiv sind. Allerdings sagen die beeindruckenden Zahlen an
registrierten und die Schätzungen an nicht-registrierten NRO (s. Länderkapitel) wenig über
die tatsächliche Bedeutung in den jeweiligen Ländern aus. Nur einige NRO sind offenkundig
in der Lage über längere Dauer in Unabhängigkeit zu überleben, weil sie Mitgliedsbeiträge,
Spenden und/oder Einkommen durch bezahlte Dienstleistungen erzielen können; die meisten
sind auf auswärtige Finanzierungen aus verschiedenen Quellen angewiesen.
(3) In einer zusammenfassenden Übersicht der NRO in allen vier Ländern (deren unterschiedliche Einzelheiten in den voranstehenden Länderanalysen behandelt wurden) lassen sich drei
Gruppierungen erkennen:
2.

Organisationen unter staatlicher Autorität (von bloßer Schirmherrschaft bis zur direkten
Lenkung), die sich selbstredend systemloyal verhalten und nicht bzw. wenig zum
Reformprozess ihrer jeweiligen Länder beitragen;

Organisationen unter Schirmherrschaft oppositioneller Strukturen, die dementsprechend
regimekritisch sind und den führenden Orientierungen bzw. Personen ihrer jeweiligen
Bewegung dienen;

Organisationen, die sich der Politisierung und Polarisierung zu entziehen suchen und
ihre Arbeit auf konkrete Themenfelder konzentrieren (insbesondere Betroffenengruppen, soziale und ökologische Themen). Letzteres gelingt ihnen zunehmend weniger,
da sich die autoritären Tendenzen in den vier Ländern (mit der möglichen Ausnahme
der Ukraine nach dem Präsidentenwechsel ab Ende 2004) verstärkt haben.
ANREGUNGEN und VORSCHLÄGE
(1) Die EU ist gut beraten, wenn sie verstärkt zeigt, dass der kontinuierliche Auf- und Ausbau
des Rechtsstaates, der sozialen Marktwirtschaft und der Zivilgesellschaften (auf der Basis
der gemeinsamen europäischen Werte, die in den Rechtsakten des Europarates verankert
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 69 sind, dem alle vier Länder freiwillig beigetreten sind) den Bürgern ihrer Länder mehr bringt,
als das widerspruchsvolle Lavieren zwischen mehreren angeblichen "Optionen", wie es
namentlich das Regime Kutschma in der Ukraine zwischen 1994 bis 2004 praktizierte. Zu
dieser Einsicht könnten die acht neuen Mitgliedstaaten Ostmitteleuropas beitragen, die seit
Mai 2004 Vollmitglied der EU sind und – wie namentlich Polen – bereits viele Erklärungen
zur "europäischen Integration", vor allem der Ukraine, abgegeben haben.
Letztendlich wird es aber an den jeweils gewählten Regierenden in Kiew, in Minsk, in
Chisinau und nicht zuletzt in Moskau liegen, ob sie die von der EU vorgeschlagenen Brücken
begehen wollen oder nicht, oder noch nicht. Wie weit und wie schnell sich die Beziehungen
der EU zu den Nachbar- und Partnerländer entwickeln, hängt maßgeblich davon ab, inwiefern diese sich zu den gemeinsamen Werten Europas bekennen und in der Lage sind, die vereinbarten Prioritäten tatsächlich umzusetzen.
(2) Die seit Mai 2004 neuen EU-Mitglieder in Mittel- und Osteuropa haben begonnen,
sowohl ihre bilateralen Beziehungen mit den östlichen Nachbarn auszubauen als auch bei der
anlaufenden "Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)" die Nachbarn im Osten ihrer
Bedeutung entsprechend zu behandeln. Namentlich Polen ist wegen der eigenen Erfahrungen
in den vergangenen 15 Jahren und dank seiner Grenzregionen und der erworbenen Erfahrungen vieler polnischer NRO gut geeignet, um konkrete Kooperationen über die neue Ostgrenze der EU hinaus anzuregen, mit zu unterstützen und dauerhaft zu begleiten. Nach Meinung der politischen Akteure in Polen (Präsident, Regierung, Sozialpartner und NRO) müssen die östlichen Nachbarn die nach dem EU-Vertrag mögliche Aussicht erhalten, der EU
dann beitreten zu können, wenn diese Länder (insbesondere die Ukraine, nicht die eurasische
RF) die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen sollten.
(3) Durch die Weiterentwicklung verschiedener Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit, über die Einbeziehung lokaler und regionaler Behörden (insbesondere in den großen
Flächenstaaten Russland und Ukraine) sowie nicht zuletzt durch die Beteiligung wichtiger
Akteure der Zivilgesellschaft können die EU und ihre östlichen Nachbarn zusammenarbeiten, auch wenn deren aktuelle Führungen, insbesondere in Minsk und in Moskau, vom populistischen Paternalismus geprägt sind. Der Demokratisierungsprozess in den früheren Zentren
des Sowjetkommunismus hat durch die jüngsten Entwicklungen, insbesondere durch
Lukaschenko in Europas letzter Diktatur, einen herben Rückschlag bekommen: Die seit Jahren betriebene Verfolgung unabhängiger Akteure der Zivilgesellschaft und der Medien, die
Verhaftung, Ermordung und Vertreibung oppositioneller Politiker sowie die eklatanten
Manipulationen von Wahlen und Volksabstimmungen sind Belege für die Rückkehr von
Totalitarismus in Osteuropa. Um so mehr sollte die EU die trotz allem weiter agierenden
mutigen Akteure der Zivilgesellschaft auf strategisch intelligente Weise unterstützen; dabei
sollte eine Instrumentalisierung vermieden werden, wie sie jüngst im amerikanischen Wahlkampf – durch die Ankündigung von George W. Bush zur Finanzierung Amerika-freundlicher NRO und von Androhung wirtschaftlicher Sanktionen – geschehen ist; so hatte es
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 70 Lukaschenko im Fernsehen wenige Tage vor dem Referendum leicht, sich als populärer
Retter gegen den "westliche Imperialismus" aufzuspielen.
(4) Die entsprechenden Organisationen der Sozialpartner und Vertreter der NRO in den drei osteuropäischen Nachbarländern haben der Delegation des EWSA während einer Studienreise im
Juli 2003 übereinstimmend erklärt, dass sie an der Vertiefung und Verstetigung der Kontakte
mit dem EWSA als Beitrag zu dessen "strukturiertem Dialog" mit Drittstaaten sehr interessiert
sind. Die Einrichtung einer ständigen "Kontaktgruppe" im EWSA und die Abhaltung
regelmäßiger Treffen und Kolloquien mit den entsprechenden Organisationen dieser Länder
wurde ausdrücklich begrüßt. Vor diesem Hintergrund ist die Idee für das Kolloquium des
EWSA im Januar 2005 geboren worden. Das Interesse der meisten zivilgesellschaftlichen
Akteure in diesen Nachbarländern am praxisorientierten Erfahrungsaustausch, zum Beispiel
über Verbandsstrukturen, Dialog- und Verhandlungsverfahren im sozialen Dialog und in den
dreiparteiischen Institutionen, mit den entsprechenden Akteuren in der EU ist groß.
(5) Der Austausch von jeweils aktualisierten Informationen und Erfahrungen ist deshalb
besonders dringend, weil auf beiden Seiten bestenfalls grobe Kenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse und Entwicklungen hinsichtlich der neuen Ostgrenze der EU bestehen.
Obgleich ukrainische und weißrussische Städte wie Lviv/Lemberg und Brest westlich der
Hauptstädte mehrerer Mitgliedstaaten der EU liegen, scheinen für viele in der EU diese europäischen Städte und die dazu gehörigen Länder im "Fernen Osten" zu liegen. Es ist zu hoffen, dass im Rahmen der von der EK begonnenen ENP nicht nur Absichtserklärungen zur
"Schaffung eines Rings von Freunden" abgegeben werden, sondern dass auch die entsprechenden Mittel und Instrumente bereitgestellt werden, damit gerade die neue Ostgrenze der
EU nicht zu einer neuen Mauer in Europa führt.
In diesem Kontext ist die Unterstützung unabhängiger Medien auf nationaler und lokaler
Ebene wichtig, insbesondere durch den konkreten Ausbau der schon vereinzelt bestehenden
Kooperationen mit den westlichen Nachbarn, namentlich mit Polen, Litauen, Ungarn und
Rumänien (in Bezug auf die Republik Moldau).
(6) Die EU hat den von der ENP erfassten Ländern seit Anfang der Neunziger Jahre organisatorische und finanzielle Unterstützung gewährt; für die östlichen Nachbarn hauptsächlich im
Rahmen von TACIS, dem Rahmenprogramm zur "Technischen Assistenz der Gemeinschaft
Unabhängiger Staaten". Die im Rahmen von TACIS eingesetzten Mittel konzentrierten sich
in Russland und den anderen postsowjetischen Staaten bisher auf die Unterstützung des ökonomischen und politischen Reformprozesses sowie auf die Modernisierung der staatlichen
Institutionen ("institution building") auf nationaler oder regionaler Ebene. Die Bewertungen
über die bisherige Förderpolitik der EU sind überwiegend kritisch, vor allem in Bezug auf
den bürokratischen Aufwand, auf die langen Antrags-, Beschlussfassungs- und Abrechnungszeiträume sowie auf den vielfachen Wechsel der jeweils geltenden Leitlinien und der
verantwortlichen Personen in der EK.
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 71 (7) Dank der Initiative des Europäischen Parlaments wurde Mitte der Neunziger Jahre auch ein
komplementäres "Demokratie-Programm" für alle MOEL geschaffen, aus dem auch
nicht-staatliche Organisationen gefördert werden konnten. Dieses Programm ist seit Ende der
Neunziger Jahre in die weltweit handelnde "Europäische Initiative für Demokratie und Menschenrechte" integriert; und obgleich es quantitativ nur einen Bruchteil der EU-Förderprogramme für die staatlichen Institutionen darstellt, konnte es politisch ermutigende Anstöße
zur Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft leisten. Das in der englischen
Abkürzung EIDHR genannte Instrument der EU, stellt hauptsächlich in Partnerschaft mit in
komplexen Ausschreibungsverfahren ausgewählten Akteuren der Zivilgesellschaft (NRO,
Vertreter der Sozialpartner, Verschiedene Interessen) Mittel für Projekte zur Förderung von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte bereit: Zwischen 2000
und 2003 rund 19 Millionen für die vier östlichen Nachbarn und ca. 41 Millionen für entsprechende Projekte in den südlichen Mittelmeerländern.
Die Aufstockung der EIDHR-Mittel ist vor allem durch die dringende Notwendigkeit von
mehr Projekten für die junge Generation dieser Nachbarländer gerechtfertigt, die sich vor
dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit immer stärker
von autoritär-totalitären oder fundamentalistischen Populisten in diesen Ländern angesprochen fühlt.
(8) Durch die Erweiterung hat die EU im Osten neue Nachbarn gewonnen und im Süden sind
alte Nachbarn näher gerückt. Auf diesem geostrategischen Hintergrund haben die EU-Organe
in grundlegenden Dokumenten vom 11. März und 1. Juli 2003 sowie vom 12. Mai 2004 zunächst eine Mitteilung zum "Größeren Europa/Wider Europa" zur Diskussion gestellt, um
schließlich die "Europäische Nachbarschafts-Politik/ENP" zu beschließen. Die ENP
richtet sich im Osten an die Russische Föderation (bei Betonung ihrer Sonderstellung als
globaler Akteur), an die Ukraine, an die Republik Moldau und Weißrussland (sobald das
undemokratische Regime Lukaschenko‘s überwunden ist), an die drei Südkaukasus-Republiken Georgien, Armenien und Azerbaidschan und an die 10 Anrainerstaaten im Südlichen
Mittelmeer: Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, Palästina, Jordanien,
Libanon und Syrien. In dieser enormen geographischen Weite von der russischen Grenze am
nördlichen Polarkreis bis zur Südgrenze Algeriens in der Sahara sind wenig Gemeinsamkeiten zu erkennen und die Erwartungen der siebzehn sehr verschiedenen Länder an die EU
divergieren entsprechend. Einerseits die sieben europäischen Länder im Osten, die heute alle
Mitglieder des Europarates sind, laut Artikel 49 des EU-Vertrages eine prinzipielle Beitrittsperspektive haben (mit Ausnahme der Russischen Föderation, die sich als euroasiatische
Welt- und Atommacht selbst versteht), andererseits die außereuropäischen Länder in Nordafrika und Vorderasien. Aber auch innerhalb der Ländergruppen, beispielsweise unter den
drei Nachbarn dieser Studie, sind die Länder sehr heterogen, gerade in Bezug auf ihre europäische Perspektive: Die Ukraine nach relativ demokratischen Wahlen bei starker Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Bürgerschaft hat im Herbst 2004 einen wichtigen Schritt
auf dem langen Wege zur EU geleistet, die Republik Moldau mit eher restaurativen Entwicklungen seit 2001 und dem weiterhin ungelösten Transnistrienproblem stagniert bei
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 72 seiner "europäischen Option" und das Weißrussland mit dem autoritären Präsidenten
Lukaschenko auf Lebenszeit hat sich in Europa total selbstisoliert.
(9) Im Wesentlichen ist die ENP an sich keine Neuheit, denn die EU betreibt seit jeher mit ihren
Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen (PKA) eine präventive Strategie mit dem
Hauptziel, Demokratie, Stabilität und Prosperität in ihre Nachbar- und Partnerländer zu transferieren. Neu und begrüßenswert ist jedoch, dass die EU zum ersten Mal einen umfassenden
außen-, entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Ansatz auf die Nachbarländer entwickelt hat. So ist zu hoffen, dass durch Unterstützungen, Konditionalität und durch "benchmarking" unter den betroffenen Ländern verstärkt Einfluss auf die notwendigen Reformen
ausgeübt wird. Fraglich bleibt allerdings, ob das Pauschalangebot des ehemaligen EK-Präsidenten Prodi "everything but institutions" (im Sinne von ökonomischer Partnerschaft bis zur
Integration in den europäischen Binnenmarkt ohne politische Beteiligung mit Beitrittsperspektive) überhaupt praktikabel ist und dafür Partner zu motivieren sind.
(10) Die EK hat angeregt, die bestehenden Instrumente mit der neuen ENP-Strategie zu verknüpfen, was detailliert in der Mitteilung vom Juli 2003 "Paving the way for a New Neighbourhood Instrument" erläutert ist. Im Kern wird seitdem zweistufig vorgegangen:

Für die Jahre 2004 bis 2006 werden "Nachbarschafts-Programme" eingeführt, die laut
Kommission "auf einer vertieften Koordinierung bestehender Instrumente aufbauen"
soll; allerdings ist real bereits eine Verzögerung dadurch eingetreten, dass die entsprechenden "Aktions-Pläne" pro Land statt im Frühjahr jetzt erst im Spätherbst 2004
beschlossen werden konnten; der EWSA ist mit der Forderung gut beraten, dass die für
die drei östlichen Nachbarn (Belarus ist wegen des undemokratischen Verhaltens seines
Präsidenten vorerst "auf Eis gelegt") ohnehin eng begrenzten Projekte bis Ende 2006
dennoch voll durchgeführt und finanziert werden.

Ab 2007 soll das "Europäische Nachbarschafts-Instrument /ENI" in Kraft treten, das
die "grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die regionalen Kooperationsprogramme
mit den Instrumenten der wirtschaftlichen Kooperation" in einem Instrument integrieren
soll; das ENI ist im Vorschlag der EK für den neuen Finanzrahmen der EU 2007-2013
enthalten, der allerdings erst noch vom Rat einstimmig und vom Parlament mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden muss. Der EWSA wird sicher den komplexen
Prozess, in dem sowohl rechtliche als auch finanzielle Hürden in den kommenden
Monaten überwunden werden müssen, darauf drängen, dass die wesentlichen Elemente
des neuen ENI (wie die künftige Möglichkeit grenzüberschreitende Kontakte zwischen
Bevölkerungsgruppen zu fördern) rechtzeitig beschlossen werden und dass das jährliche
Budget im künftigen Finanzzeitraum gegenüber den relativ bescheidenen Mittel, die im
gegenwärtigen Zeitraum bis 2006 zugewiesen werden, deutlich aufgestockt wird.
(11) Für die Umsetzung der neuen Aktionspläne und die Begleitung der Finanzinstrumente sind
die Institutionen der jeweiligen Assoziations- bzw. Partnerschafts- und Kooperations-
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 73 abkommen verantwortlich. Dabei spielt der jeweilige PKA-Rat die entscheidende Rolle,
aber auch die entsprechende "Gemeinsame Delegation" zwischen EP und dem jeweiligen
Landesparlament kann durchaus politische Einflussnahme ausüben. Vor diesem rechtlichen
Hintergrund und in Folge fortschreitender Bedeutung der Zivilgesellschaften gerade in den
östlichen Nachbarländern ist anzuregen, dass dem EWSA eine konkrete und kontinuierliche
Möglichkeit eingeräumt wird, die künftige ENP konstruktiv-kritisch zu begleiten.
Diese Begleitung in einer "Kontakt- und Beratungsgruppe" und später in einem vom
EWSA koordinierten "Unterausschuss für die Begleitung der sozio-ökonomischen und
zivilgesellschaftliche Entwicklungen", wie dies in den PKA (z.B. in Artikel 88 für die
Ukraine) bereits prinzipiell vorgesehen ist, könnte meines Erachtens zum besseren Management und zur Qualität der Ergebnisse gerade bei einem der angekündigten Projektschwerpunkte beitragen, die sich auf die Bekämpfung der Korruption in Wirtschaft und Gesellschaft
der Nachbarländer in Verbindung mit der international agierenden Kriminalität, insbesondere
in Bezug auf Frauen- und Kinderhandel, konzentrieren wollen.
(12) Darüber hinaus könnte dieser mit dem EWSA verbundene "Begleit- und Beratungsausschuss" für jedes östliche Nachbarland der EU die von diesen vier Ländern eingegangenen Verpflichtungen der einschlägigen IAO-Übereinkommen überwachen ebenso wie diejenigen Normen, die sich aus der Mitgliedschaft dieser Länder im Europarat ergeben (mit Ausnahme der weißrussischen Republik, deren Mitgliedschaft wegen der Verstöße durch
Lukaschenko seit 1996 suspendiert ist) und nicht zuletzt der Vereinbarungen, die in den
neuen "Aktionsplänen" der EU niedergelegt sind.
Auf diese Weise würde der EWSA sowohl im Sinne der gemeinsamen Werte Europas handeln, als auch konkret zur Umsetzung der neuen ENP beitragen.
Zu den europäischen Werten und dem mehrheitlich begrüßten Europäischen Gesellschaftsmodell gehört der soziale und der zivile Dialog in der EU wie auf nationaler Ebene, ebenso
wie die Autonomie der Tarif- und Sozialpartner sowie die Aktionsfreiheit aller Akteure der
Zivilgesellschaft. In dieser Perspektive könnte der EWSA im bisher noch vagen ENPArbeitsfeld "People-to-people exchange" seine konkreten Erfahrungen diesbezüglich einbringen, gerade in Bezug auf die künftigen Beziehungen mit den aktiven zivilgesellschaftlichen Akteure in der Ukraine unter neuer Präsidentschaft.
(13) Nicht nur wünschenswert, sondern auch dringend ist nach Auffassung des Autors, dass
repräsentative Akteure der ukrainischen Zivilgesellschaft als Beobachter zu den Sitzungen der im EWSA neugeschaffenen "Verbindungs-Gruppe" mit den Sprechern der zivilgesellschaftlichen Organisationen auf europäischer Ebene eingeladen werden. Es ist sicher kein
Zufall, dass "Narodna Dopomoha", eine NRO in der Ukraine, die sich seit 1993 für die
benachteiligsten Personengruppen in der Gesellschaft einsetzt, am 9. November 2004 im
Europäischen Parlament von Margot Wallström, der ersten Vizepräsidentin der Europäischen
Kommission, den "Solidar price for Social Justice" verliehen bekommen hat. Viele andere
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 74 NRO, so auch die Europäische Bewegung in der Ukraine, haben sich in den letzten Jahren
herauszustellende Verdienste erworben.
Da in der vorliegenden Expertise aus zeitlichen Gründen Ablauf, Ergebnisse und Auswirkungen der hart umkämpften Präsidentenwahl in der Ukraine am 31. Oktober und am
21. November 2004 und der ihr folgenden "Orange Revolution" nur angedeutet und nicht
mehr analysiert werden konnten, liegt es nahe, zu einem geeigneten Zeitpunkt in naher
Zukunft eine Ergänzungsstudie über die Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure in
diesem spannenden Prozess europäischer Zeitgeschichte für den EWSA und für die interessierte Öffentlichkeit zu erstellen. Die diesbezüglichen Hauptfragen wurden am Ende der vier
Länderanalysen jeweils gestellt, ihre Beantwortung sollte nach der Aussprache auf dem
Kolloquium am 19. Januar 2005 in Brüssel unter Auswertung der wichtigsten Berichte und
Einschätzungen vorgenommen werden.
*
*
CESE 1709/2004 (DE) av
*
.../...
- 75 –
ANHANG
ABKÜRZUNGEN
BIP
Bruttoinlandsprodukt
EBWE/ EBRD
Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung
European Bank for the Reconstruction of Europe, London
ECOSOC
Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen
EG
Europäische Gemeinschaft
EGB
Europäischer Gewerkschaftsbund
EIB
Europäische Investitionsbank, Luxemburg
EIDHR
European Initiative for Democracy and Human Rights
(weltweit ausgeweitetes Demokratieprogramm der EU)
EK
Europäische Kommission
ENI
Europäisches Nachbarschaftsinstrument der EU
ENP
Europäische Nachbarschaftspolitik der EU
EP
Europäisches Parlament
ESVP
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EUROSTAT
Statistisches Amt der EU
EWSA
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
FES
Friedrich-Ebert-Stiftung
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU
GUS
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (ehemalige Sowjetunion mit Ausnahme der drei baltischen Republiken)
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 76 –
ANHANG
Hg. = Ed.
Herausgeber / Editor / Editeur
IAO / ILO / BIT
Internationale Arbeitsorganisation
International Labour Organisation
Bureau International du Travail
IBFG / ICFTU / CISL
Internationaler Bund Freier Gewerkschaften
International Confederation of Free Trade Unions
Confédération des Syndicats Libres
IHK
Industrie- und Handelskammer
INTERREG
Gemeinschaftsinitiative der EU zur Förderung der Regionen in Europa
IOE
Internationale Arbeitgebervereinigung
IWF / IMF / FMI
Internationaler Währungsfonds
International Monetary Fund
Fonds Monétaire International
KAS
Konrad-Adenauer-Stiftung
KGB
Komitet Gosudarstvennogo Besopasnosti
(Komitee für Staatssicherheit, UdSSR)
KMU
Kleine und Mittlere Unternehmen
KP
Kommunistische Partei
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
MOEL
Mittel- und Osteuropäische Länder
NGO / NRO
Non Governmental Organisations
Nichtregierungsorganisationen
ODHIR
Office for Democratic Institutions and Human Rights (OSCE)
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
PA
Präsidial-Administration (in den östlichen Nachbarländern der EU)
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 77 –
ANHANG
PHARE
Poland and Hungary Aid for Reconstruction of the Economy
(Förderprogramm für die mitteleuropäischen Beitrittsländer)
PKA/PCA
Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU
RF
Russische Föderation
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
TACIS
Technical Assistance for the Community of Independent States
UdSSR
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
US / USA
United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika)
WTO
World Trade Organisation = Welt-Handels-Organisation
*
*
CESE 1709/2004 (DE) av
*
.../...
- 78 –
ANHANG
BIBLIOGRAPHIE
ALEXANDROWA, Olga /
GÖTZ, Roland, HALBACH Uwe (Hg.)
Russland und der postsowjetische Raum,
Baden-Baden 2002
ALEXANDROWA, Olga /
TIMMERMANN,Heinz
Russie-Biélorussie-CEI: Efforts d’intégration et
tendances à la désintégration,
in: Politique étrangère 1/1998, S. 93-108
ASTROV, Vasily /
HAVLIK,Peter
European Union, Russia and Ukraine: creating new
neighbourhoods, in: Research Report No 305 of the
Vienna Institute, S. 1-26, Wien April 2004
BISTER, Anita
Handlungsspielräume der zivilen Gesellschaft in Russland, in: Mangott, Gerhard (Hg.), Zur Demokratisierung
Russlands, Baden-Baden 2002
BOS, Ellen
Das politische System der Ukraine, in: Ismayr,Wolfgang
(Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, S. 469 – 514,
Opladen 2004
BÜSCHER, Klemens,
Das politische System Moldovas,
in: Ismayr,W:; Die politischen Systeme Osteuropas
S. 515-552, Opladen 2004
CIVICUS (Editor)
Belarus Civil Society: In Need of a Dialogue, A Preliminary Report on Civil Society Project in Belarus
Author: Dr. Yury Zagoumennov, Minsk 2001
CIVICUS (Editor)
Deepening the Roots of Civil Society in Ukraine
A Preliminary Report on Civil Society Project in
Ukraine, Kiew 2001
CLAUSS, Jan Ulrich
Bibliographie Belarus/Weißrussland 1990-2000
Vom Aufbruch zum Umbruch? Belarus-Studien Nr. 1,
Berlin 2003
DANNREUTHER, Roland
European Union Foreign and Security Policy: Towards a
Neighbourhood Policy, London 2004
DAUBENTON, Annie
Regards russes et ukrainiens sur l’Europe,
in: Courrier des Pays de l’Est, S. 54-62, Oktober 2003
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 79 –
ANHANG
DAUBENTON, Annie
Société Civile en Ukraine: Les vigiles de la démocratie,
in: Courrier des pays de l’Est, Bilan 2001, S. 283-302,
Paris 2001
DAUDERSTÄDT, Michael
Die EU und ihre armen Nachbarn. Eurokolleg Online der
Friedrich-Ebert-Stiftung
[http://www.fes.de/fes-publ/eurokolleg/nachbarn_1.html]
DURKOT, Juri
Ukrainische Wirtschaft: Vom Plan zum Clan
in: Auslands-Informationen der Konrad-AdenauerStiftung, Heft 5/2003, S. 29-45, St. Augustin 2003
EMERSON, Michael
The Wider Europe Matrix, Centre for Policy Studies,
Brüssel 2004
European Commission
Wider-Europe Neighbourhood Communication:
A New Framework for Relations with our Eastern and
Southern
Europe Neighbours – Communication COM(2003)104
final, Brüssel 11.3.2003
European Commission
Paving the way for a New Neighbourhood Instrument,
Communication COM (2003) 393 final, Brüssel 1.7.2003
Europäische Kommission
Europäische Nachbarschaftspolitik. Strategiepapier,
Mitteilung KOM (2004) 373 endg., Brüssel 12.5.2004
DUBE, N.
Belarusian Civil Society Between Repression and
Dialogue, SEAL – Social Economy and Law/European
Foundation Centre, Minsk 2001
EWSA
Bericht der Delegation der Studiengruppe "Die Neuen
Europäischen Nachbarn der EU", Informationsreise nach
Chisinau (Moldau), Kiew (Ukraine) und Minsk
(Weißrussland) im Juli 2003, Brüssel, September 2003
Friedrich-EbertStiftung (FES)
ABC der ukrainischen Politik. Handbuch (ukrainisch),
Redaktion: M. Tomenko, L. Badeschko, W.Grebelnik
u.a., Kiew, 2002
FES (Hg.)
Gewerkschaften in Belarus:
Perspektive, Minsk 2003
CESE 1709/2004 (DE) av
Transformation
und
.../...
- 80 –
ANHANG
FES (Hg.)
Nationale Identität in Belarus, Minsk 2003
FES (Hg.)
Dokumentation
der
Kiew/Chisinau 2003
GUICHERD, Cathérine
The Enlarged EU’s Eastern Border, SWP-Studie 20,
Berlin 2002
HELMERICH,Martina
Die Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie,
Berlin 2003
International Centre
for Policy Studies (Ed.)
Nonprofit Governance Practices in Ukraine
Kiew, Juli 2003 (http://www.icps.kiev.ua/)
ISMAYR, Wolfgang
Die politischen Systeme in Osteuropa, Opladen 2004
ICFTU
Report of the mission of the International Trade Union
Confederation to evaluate the trade union situation in
Moldova, Chisinov/Brüssel, März 2003
KASIANENKO, A.
Belarus NGOs: Developing or Surviving Belarus
Association of Think Tanks Analytical, Minsk 2001
KEMPE, Iris / VAN MEURS, Wim
Neues Denken für ein Großes Europa, in: Zeitschrift
Osteuropa, S.1547-1561, Berlin 8/2003
KUBICEK, Paul
Civil Society, Trade Unions and Post-Soviet
Democratisation:
Evidence from Russia and Ukraine, in: Europe-AsiaStudies, S. 603-624, 4/2002
KUZIO, Taras
Staatskapazität, nationale Integration und Zivilgesellschaft, in: G. Simon, Die neue Ukraine, S. 51-73,
Wien 2002
KUZIO, Tara
EU and Ukraine:a turning point in 2004? European
Institute for Security Studies, Paris 2003
KHUDOLEY, Konstantin(Hg.)
Post-Communist Countries in the Globalizing World,
St. Petersburg, 2004
CESE 1709/2004 (DE) av
Konferenz
über
Moldau,
.../...
- 81 –
ANHANG
LANG, Susanne
Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in
Russland, in: Europäische Politik/Politikinformation
Osteuropa, Bonn 2004
LEVCHENKO, E.
Research on NGOs: International Experience and
Belarus, Minsk 1999
LEWIS, Ann(Ed.)
The EU and Belarus, Between Moscow and Brussels,
London 2002
LEWIS, Ann (Ed.)
The EU and Ukraine. Neighbours, Friends, Partners?
London 2002
LINDNER, Rainer /
MEISSNER Boris (Hg.)
Die Ukraine und Belarus in der Transformation. Eine
Zwischenbilanz, Köln 2001
MANGOTT, Gerhard
Zur Demokratisierung Russlands, zwei Bände.
Bd. 1: Russland als defekte Demokratie
Bd. 2: Leadership, Parteien, Regionen und Zivilgesellschaft, Baden-Baden 2002
MILDNER, Karl
Belarus: Kritische Überlegungen zu Politik und Wirtschaft des Lukaschenko-Regimes, Köln 2000
MOMMSEN, Margarete
Das politische System Russlands
in: Ismayr, W., Die politischen Systeme Osteuropas,
S. 373 – 428, Opladen 2004
MICHALEVA, Galina
Die politischen Parteien in der russischen Staatsduma,
in: Bos/Mommsen/Steinsdorff (Hg.), Das russische Parlament, S. 199-222, Opladen 2003
MÜLLER, Susanne
Bausteine der Zivilgesellschaft
Belarus-News Nr. 17, Minsk-Berlin, 2002
OTT, Alexander
Präsident, Parlament, Regierung, in: Simon G., Die neue
Ukraine, Köln 2002
PIEHL, Ernst
Phare-Tacis-Demokratie-Programm – Kleine Zwischenbilanz, in: EU-Magazin, S. 24 ff.
Baden-Baden-Brüssel, 5/1997
CESE 1709/2004 (DE) av
.../...
- 82 –
ANHANG
PIEHL,Ernst / SCHULZE, Peter /
TIMMERMANN Heinz
Die offene Flanke der EU: Russland, Belarus, Ukraine
und Moldau, Berlin 2005
RUCKER Roland
La Russie et les autres pays de la Communauté des Etats
Indépendants, in: Courrier de l’Est, S. 3-21,
Paris 1-2/2004
SAHM, Astrid
Zivilgesellschaft als eigenständige Veranstaltung
in: Zeitschrift, Osteuropa, S.96-110, Berlin, 2/2004
SAHM, Astrid
Verstaatlichung der Gewerkschaften?, in: BELARUS
News, 18/2002, S.7, Minsk/Berlin 2002
SANNIKOV, Andrei
Belarussian totallitarianism is a reality
in: http:/www.charter97.org
SIMON, Gerhard
Die neue Ukraine. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik,
Köln 2002
STEINSDORFF, Silvia von
Das politische System Weißrusslands (Belarus),
in: Ismayr, W., Die politischen Systeme Osteuropas,
S. 429 – 468, Opladen 2004
STRATENSCHULTE, Eckart
Wandel durch Annäherung, in: Zeitschrift Integration
S. 95-100, Bonn 1-2/2004
THAA, Winfried
Zivilgesellschaft – ein schwieriges Erbe aus Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift Osteuropa, S. 146-215, Bd. 5-6,
Berlin 2004
TIMMERMANN, Heinz
Die widersprüchlichen Beziehungen Russland-Belarus
im europäischen Kontext, SWP-Studie 37, Berlin 2002
TIMMERMANN, Heinz
Die EU und die "Neuen Nachbarn" Ukraine und Belarus,
SWP-Studie 41, Berlin 2003
UNITED WAY Belarus
Belarus Non-Government
Minsk 2000
VOVK, Viktor
Sustainable Development for the Second World: Ukraine
and the nations in transition, Washington 2003
CESE 1709/2004 (DE) av
Organisations
Directory,
.../...
- 83 –
ANHANG
WEBBER, Mark
Russia and the Council of Europe
in: Ders. (Hg.), Russia and Europe: Conflict or Cooperation, S. 125-151, Basingstoke/London 2000
WOSTOCK Spezial
Belarus im Zentrum Europas
in: Zeitschrift Wostock, S. 1-80, Berlin 1/2002
ZAGORSKI, Andrei
Policies towards Russia, Ukraine, Moldova and Belarus
in: Dannreuther, R. (Hg.), S.79-97, London 2004
ZAGOUMENNOV
Democracy Corridors: Strategy for Change in Belarus,
European Foundation Centre, Brüssel 2000
ZIEMER, Klaus (Hg.)
Die Neuorganisation der politischen Gesellschaft,
Staatliche Institutionen und intermediäre Instanzen in
postkommunistischen Staaten Europas, Berlin 2000
*
*
CESE 1709/2004 (DE) av
*
.../...
- 84 –
ANHANG
KURZ–CV des Autors
Ernst Piehl
geboren am 1.11.1943 in Konin (Polen),
1964-1969 Studium der Politischen Wissenschaften in Berlin, mit
Abschluss als Diplom-Politologe und Promotion als Dr.rer.pol.
Verheiratet mit Annie Larue (Paris) seit 1974; drei Kinder; doppelter
Wohnsitz in Frankreich und in Brüssel.
Sieben Berufsetappen:
1969 – 1975 Wissenschaftlicher Referent beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Düsseldorf.
1980 – 1984 fünf Jahre politischer Sekretär im Europäischen Gewerkschafts-Bund in Brüssel (u.a. Verbindungsmann zum
Wirtschafts- und Sozialausschuss).
Dazwischen Direktor des Europäischen Jugendwerks des Europarates
in Straßburg (u.a. zu gesamteuropäischen Jugend-Projekten als Beitrag zum Helsinki-Prozess).
1984 – 1994 Direktor des Europäischen Zentrums zur Förderung der
Beruflichen Bildung (CEDEFOP) der EU in Berlin, dort
danach Leiter des Informationsbüro des Europäischen
Parlaments für Berlin und die östlichen Bundesländer
Deutschlands.
1996 – 2001 Verantwortlich für das Demokratie-Programm der Europäischen Kommission für die mittel- und osteuropäischen
Länder (im Rahmen von PHARE und TACIS).
Seit 2002
im Vorruhestand der EK mit Expertisen und Beratungen
für die genannten Institutionen der EU sowie ehrenamtliche Tätigkeiten der Europäischen Bewegung mit besonderem Engagement für die Kandidaten- und Nachbarländer der Europäischen Union.
Schwerpunktthemen in den Veröffentlichungen (fünf Bücher und ca. fünfzig Aufsätze) betrafen
sowohl wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklungen in Deutschland und Europa als auch die
Außenpolitik der EU im Werden, mit besonderem Augenmerk auf die Länder des ehemaligen Ostblocks. Aktuelle Publikationen betreffen die östlichen Nachbarländer und deren Zivilgesellschaften
(s. Bibliographie in der vorliegenden EWSA-Studie).
_____________
CESE 1709/2004 (DE) av
Herunterladen