Prof. Dr. Dietmar Klenke / Schulpraktische Studien Unterrichtsentwurf für einen Grundkurs Geschichte in der Jahrgangsstufe 11/Gymnasium (Doppelstunde) (Modellentwurf) Thema der Unterrichtsreihe: Die soziale Frage im Zeitalter der industriellen Revolution Thema der Unterrichtsstunde: Die Antwort der deutschen Sozialdemokratie auf die soziale Frage – Das radikale Lösungskonzept des Erfurter Parteitages von 1891 und sein Entstehungshintergrund Stellung der Stunde in der Unterrichtsreihe: In der Unterrichtsreihe geht es um die soziale Frage im Zeitalter der industriellen Revolution und um Konzepte zur Überwindung der gravierenden sozialen Missstände, die Industrie, Fabrikarbeit und Bevölkerungswachstum im Gefolge hatten. Es sind bereits die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft (Arbeits-, Lohn- und Wohnverhältnisse) sowie mehrere Konzepte und Lösungsansätze besprochen worden, u.a. der Kathedersozialismus, die patriarchalische Betriebspolitik auf Unternehmerseite, bürgerlich-liberale Konzepte der Arbeiter-Selbsthilfe, die christlich-konservative Sozialethik und das lassalleanische Konzept der Staatshilfe. Die sozialdemokratische Antwort auf die soziale Frage steht als das radikalste Konzept am Ende der Unterrichtsreihe. In der vorausgehenden Unterrichtsstunde ging es um die Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung einschließlich der politischen Rahmenbedingungen, unter denen sie agierte. Ziele der Stunde: Stundenziel: Die Schüler sollen die programmatischen Glaubenssätze der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung analysieren und als radikale Antwort auf die sozialen Zustände und die politischen Verhältnisse in der Phase der Hochindustrialisierung verstehen lernen. 1 Feinziele: 1.) Die Schüler sollen am Beispiel des unmittelbar nach dem Fall des Sozialistengesetzes entstandenen und seither vielgesungenen Arbeiterliedes „Sozialistenmarsch“ tragende Grundsätze der sozialdemokratischen Partei analysieren und dabei herausarbeiten, für welche Ziele die deutsche Sozialdemokratie im späten 19. Jahrhundert eintritt und mit welchen Methoden sie diese Ziele zu erreichen sucht. 1a.) Sie sollen die Metaphern des Liedtextes entschlüsseln und erkennen, dass dieses Weltbild von kämpferisch-visionären Zügen und von Befreiungs- und Erlösungssehnsucht geprägt ist, die eine sozialistische Wohlstandsmoderne vor Augen hat. 1b.) Sie sollen erkennen, dass aus der musikalischen Gestaltung dieses Liedes das Ideal einer vorwärtsdrängenden Kampfgemeinschaft spricht, die Anleihen beim Leitbild der militärischen Geschlossenheit macht. 2.) Sie sollen den Gehalt dieses Arbeiterliedes auf die spezifischen Zeitumstände beziehen, d.h. auf die Diskriminierung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz und auf die ungelösten sozialen Probleme der Industriearbeiterschaft. 3.) Sie sollen erkennen, dass die politische Unterdrückung zu einer Radikalisierung und Heroisierung des politischen Selbstverständnisses führte, dass aber die Militanz des Umgestaltungswillens nur gebrochen in Erscheinung trat auf Grund einer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen Legalität und Diskriminierung nach dem Fall des Sozialistengesetzes. 4.) Sie sollen - anknüpfend an die radikalen und kämpferischen Züge des Arbeitsliedes – die Interpretationen der sozialdemokratischen Programmatik anhand eines Auszugs aus dem 1891 beschlossenen Erfurter Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei vertiefen und konkretisieren. 4a). Sie sollen analysieren, auf welchen Grundannahmen das sozialdemokratische Weltbild fußte: auf einer ökonomischen Klassentheorie, die die Gesellschaft in zwei sich feindlich gegenüberstehende soziale Klassen einteilte, und auf der Vision von der klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft. 4b.) Sie sollen analysieren, welchen politischen Weg das Programm zur Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft wies. 5.) Sie sollen den konkreten politischen Forderungskatalog (im zweiten Teil des Programms) vor dem Hintergrund der Zeitumstände als Antwort auf die ungelösten politischen und sozialen Probleme interpretieren. 2 6.) Sie sollen mit Blick auf den gescheiterten osteuropäischen oder chinesischen Staatssozialismus oder mit Blick auf radikalislamistische Ordnungsentwürfe die Probleme erörtern, die mit Zukunftsvisionen einhergehen, die auf kämpferischen bis fanatischen Verhaltenstugenden fußen und die Komplexität der modernen Gesellschaft ignorieren. Bemerkungen zur Lerngruppe: Die Lerngruppe ist seit Beginn der 2. Hälfte des Schuljahres aus zwei laufenden Grundkursen neu zusammengestellt worden. Die Lernvoraussetzungen sind sowohl im Hinblick auf diesen organisatorischen Aspekt als auch im Hinblick auf die Lernbiographie der Schüler in der Sekundarstufe I recht unterschiedlich. Die großen Unterschiede im historischen Faktenwissen lassen sich mitunter nur durch einen stark lenkenden Unterrichtsstil auffangen, der künftig nach und nach zurückgenommen werden muß. Schwierigkeiten bereitet den meisten Schülern, eine gewisse Lehrerzentriertheit zu überwinden und im Unterrichtsgespräch aufeinander einzugehen. Deutliche Defizite bestehen auch in der Fähigkeit, Aussagen stärker auf die Arbeitsvorlagen (Quellentexte etc.) zu beziehen. Selbständiges Analysieren bereitet der Mehrheit noch große Schwierigkeiten. Didaktische und methodische Überlegungen: Die Reihe “Soziale Frage im Zeitalter der Industrialisierung“ ist gemäß dem hauseigenen Curriculum (in Anlehnung an die Richtlinien des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen „Geschichte – Gymnasiale Oberstufe“ S. 87ff., Stand: 1995) Thema des 2. Halbjahres der Jahrgangsstufe 11. Da es sich bei der sozialdemokratischen Antwort auf die soziale Frage um eine gewichtige Stimme handelte, die auf die Innenpolitik des Deutschen Kaiserreiches auf indirektem Wege stark einwirkte, liegt nahe, hier im Rahmen der Unterrichtsreihe einen Schwerpunkt zu setzen. Einsichten, die in früheren Unterrichtsstunden im Rahmen der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Konzepten gewonnen wurden, können einfließen, z.B. beim Vergleich zwischen dem frühen lassalleanischen Konzept der Staatshilfe für Arbeiterassoziationen mit den radikalsozialistischen Vorstellungen des Erfurter Programms von 1891. Gegenstand dieser Unterrichtseinheit ist eine zweischrittige Quelleninterpretation. Sinnvoll ist, den Einstieg in die sozialdemokratische Programmatik über (gesungene) politische Lyrik zu wählen. Denn in dieser Quellengattung kommen die grundlegenden Leitbilder und Sehnsüchte in ausgesprochen expressiver und konzentrierter Form zu Ausdruck. Obendrein ermöglicht die Darbietung eines Arbeiterliedes, dessen Text die Schüler anhand ihrer Arbeitsvorlage verfolgen können, auf Grund der spezifischen Anschaulichkeit einen besseren 3 emotionalen Zugang zum Thema als ‚trockene’ Programmformulierungen, die erst im zweiten Schritt zum Gegenstand der Quellenanalyse gemacht werden sollen. Die sprachliche und musikalische Eigenart des kämpferischen Pathos ist geeignet, das Interesse für diese doch recht fremdartig anmutenden politischen Gesinnungsäußerungen zu wecken. Damit wird die Bereitschaft gefördert, radikale politische Programmatik, die außerhalb des lebensweltlichen Erfahrungshorizontes der Schüler liegt, verstehen zu lernen und nach den Ursachen und Folgen zu fragen. Bei der Analyse der politischen Lyrik kommt es u.a. darauf an , die Metaphern und den sozialen Aussagegehalt der Musik zu begreifen und auf das Problem der sozialen Frage zu beziehen. Die Metaphern und ihr Bedeutungsgehalt werden sinnvollerweise in einer Tabelle an der Tafel oder auf Folie festgehalten. Eine tabellenartige dynamische Gestaltung des Tafelbildes bietet sich in der Phase der Textanalyse aus zwei Gründen an: zum ersten, um die Übersichtlichkeit zu sichern und zum zweiten, um mit den Schülern systematische Textanalyse einzuüben und dies optisch durch ein die gesamte Lerngruppe einbeziehendes Tafel- oder Folienbild zu unterstreichen. Die Analyse soll in eine Gesamtinterpretation des Liedes münden, dabei vor allem in ein Sachurteil über die Ursachen und Entstehungshintergründe der im Lied enthaltenen Gesinnungsäußerungen, hier vor allem in die Einsicht, dass soziale Ungleichheit und Benachteiligung in Verbindung mit politischer Unterdrückung radikale politische Antworten heraufbeschwören musste. Die gewonnenen Einsichten sollen anhand des Erfurter Grundsatzprogramms der Sozialdemokratischen Partei konkretisiert und vertieft werden. Was im Lied nur in vagen Wendungen und emotionalisierender Befreiungs- und Kampfmetaphorik angedeutet ist, findet dort seine Konkretisierung in programmatischen Grundsatzformulierungen, die den Blick auf die Klassentheorie der Sozialdemokratie lenken und damit eine eingehendere analytische Auseinandersetzung mit der radikalen Gesellschaftsauffassung dieser Partei ermöglichen. Im ersten Schritt sollen die Schüler die Grundlagen der politischen Weltanschauung und die Fernziele kennen lernen und im zweiten Schritt einen Forderungskatalog von Nahzielen, die den Weg zum sozialistischen Endziel ebnen sollen. Weil es sich bei den letztgenannten Programmpunkten um konkrete politische Forderungen handelt, lässt sich mit diesem Textabschnitt die Frage nach den konkreten politischen Hintergründen und Ursachen der spezifisch sozialdemokratischen Radikalität abschließend am besten beantworten. Damit folgt die zweischrittige Quelleninterpretation dem Aufbau des Programmauszuges. Im Kern soll die Interpretation auf ein historisches Sachurteil über die Ursache der spezifisch sozialdemokratischen Radikalität in der Beantwortung der sozialen Frage hinauslaufen. Die vorherrschende Unterrichtsform wird in dieser Phase das fragend-entwickelnde Verfahren sein, wobei Ansätze in Richtung Unterrichtsgespräch zu unterstützen sind. 4 Eine Phase der Bewertung sollte sich anschließen. U.a. sollte es dabei um die Probleme gehen, die simplifizierende, radikale Politikentwürfe mit sich bringen. Anstoßen kann das ausklingende Unterrichtsgespräch ein Vergleich mit den bereits erörterten konkurrierenden Lösungskonzepten. Hier sind ggf. vom Lehrer die erforderlichen Impulse zu setzen. Aktuelle Bezüge, etwa mit Blick auf den gescheiterten Staatssozialismus im Osten Europas und in China oder mit Blick auf den „heiligen Krieg“ des islamischen Fundamentalismus, lassen sich in einem abschließenden Unterrichtsgespräch herstellen. Voraussetzung ist, dass zumindest bei einigen Schülern ein mehr oder minder stark entwickeltes politisches Interesse vorliegt. Die Sicherung der Ergebnisse erfolgt in der Hausaufgabe. Die Zwischenergebnisse werden im Rahmen eines dynamisch sich entwickelnden Tafelbildes festgehalten. Die Schüler übernehmen den Tafelanschrieb während der Erarbeitung nach und nach in ihr Arbeitsheft. 5 Verlaufsskizze der Unterrichtsstunde Inhalte und Unterrichtsgeschehen Unterrichtsformen Medien Einführende Worte des Lehrervortrag Tonkassette/CD u. Formen Artikulationsphasen Einstieg Lehrers und Abspielen Arbeitsvorlage mit eines Arbeiterliedes Liedtext Problemstellung Spontane Schüler- Fragend- Arbeitsvorlage und äußerungen und entwickelndes Tafel/Tageslicht- Formulierung des Verfahren schreiber Gemeinsame Analyse Fragend- Arbeitsvorlage und und Interpretation des entwickelndes Tafel/Tageslicht- historischen Liedes Verfahren und schreiber Stundenthemas Problemlösung I Unterrichtsgespräch Problemlösung II Gemeinsame Analyse Fragend- Schulbuch und und Interpretation eines entwickelndes Tafel/Tageslicht- Auszugs aus dem Verfahren und schreiber Erfurter Unterrichtsgespräch Parteiprogramm der SPD 1891 Aktualisierung Bedeutung der Unterrichtsgespräch Ergebnisse für die Gegenwart Ergebnissicherung Hausaufgabe:Zusammenfassung d.Ergebnisse 6 Anlagen (Unterrichtsmedien, didaktische und fachwissenschaftliche Hilfsmittel etc.): 1.) Arbeitsvorlage mit dem Liedtext des „Sozialistenmarsches“, aus: Max Kegel (Hg.), Sozialdemokratisches Liederbuch, Berlin 1891, S.113-116, Sozialistenmarsch von Carl Gramm, op. 30. 2.) Auszug aus dem Erfurter Programm der SPD von 1891, aus: Geschichte, Politik und Gesellschaft. Lern- und Arbeitsbuch für Geschichte in der gymnasialen Oberstufe, Bd.1, Frankfurt/M. 19913. 3.) Einstimmiger Massengesang des „Sozialistenmarsches“ von Karl Gramm, in: Tonkassette Bet’ und arbeit’! Ruft die Welt. Arbeiterlieder des 19. Jahrhunderts in Bayern, ausgeführt vom Augsburger Vokal-Emsembe am 10./11. Nov. 1984, hrsg. vom Haus der Bayerischen Geschichte unter wissenschaftlicher Betreuung von Friedhelm Brusniak; Begleitdokumentation zur Ausstellung „Aufbruch ins Industriezeitalter“, Augsburg 1985. 7