Heiligenfeld - Akademie für Psychotherapie und Seelsorge

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Säkulare und Religiöse/Spirituelle Psychologie und Psychotherapie:
Wie können sie zusammenarbeiten?*
K. Helmut Reich, Universität Freiburg / Schweiz
Problemlage
Säkulare Psychologie und Psychotherapie basieren auf der neueren Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sind ergebnisbezogen (im Sinne der Evidence Based Medicine, EBM) und im
Prinzip offen für Erforschung von Neuland. Für sie ist Religion (und Spiritualität) eine Variable unter anderen, falls sie überhaupt ins Blickfeld kommt. Die Versuchung bzw. die Gefahr
ist, mit Kopernikus, Darwin, Freud und der modernen Neurobiologie den Menschen als
unbedeutendes, zufällig existierendes, isoliertes, bestimmungsloses, seiner selbst nicht wirklich bewusstes, von den Gesetzen der Physik und der Biologie determiniertes Wesen zu verstehen. Religiöse / spirituelle1 Psychologie und Psychotherapie basieren hingegen auf einem
Verständnis des Religiösen / Spirituellen als des Umfassenden, das alles im Leben Berühreden
und z.T. Bestimmenden. Oft stellen heilige Schriften die höchste Wissens- und
Erkenntnisautorität dar, beispielsweise die Weden bzw. die Upanischaden, Sutras, die hebräische bzw. die christliche Bibel oder der Koran. Die Verbindung des Menschen mit
kosmischen Kräften steht im Zentrum solcher Therapiebemühungen. Heilung beinhaltet
gewöhnlich Wiederganzwerdung, Wiederherstellung der Harmonie mit dem Kosmos, der
Natur und den Mitmenschen. Die Versuchung bzw. die Gefahr besteht bei diesem Zugang
möglicherweise darin, die besondere Situation des betroffenen Individuums ungenügend zu
erfassen wenn sie von dem religiösen / spirituellen Menschen- bzw. Weltbild abweicht..
Auf den ersten Blick sind die beiden Zugänge unvereinbar: Niemand kann zwei Herren
dienen. Es ist jedoch unbestritten, dass beide Zugänge – jede auf ihre Art – sowohl wissenschaftliche Kenntnisse erarbeitet als Heilerfolge bei psychischen Krankheiten aufzuweisen
haben. Wie kann man das verstehen? Und vor allem, wie ist dennoch eine Zusammenarbeit
möglich? Die Beantwortung dieser Fragen ist ein Teilthema dieses Seminars. (Das andere ist
das Verhältnis von Seelsorgern in Kliniken zu den Psychotherapeuten und Psychiatern).
Säkulare und religiöse / spirituelle Psychotherapie
*
Seminar auf dem Kongress «Psychotherapie in der Krise? Die neue Lust auf Sinn und Werte»,
Akademie für Psychotherapie und Seelsorge, Margburg/Lahn, 28. Mai - 1. Juni 2003.
1
Das Verhältnis von Religion und Spiritualität wird kontrovers diskutiert: (1) Religions als Ober-
begriff mit Spiritualität als Teilmenge, (2) Spiritualität als Oberbegriff mit Religion als Teilmenge,
(3) Religion und Spiritualität als "selbständige", überlappende Bereiche. Ich votiere für die letztere
Auffassung, d.h. ich akzeptiere die Existenz nichtreligiöser Spiritualität (der Musik, der Naturerhaltung und -verehrung usw.) – vgl. Reich, 2000a, 2002.
-2Unsere Fragestellung ist weniger grundsätzlich neu (bereits Freud und Pfister debattierten sie
– Freud & Meng, 1963) als heutzutage – im Zeitalter einerseits einer mächtigen
pharmazeutischen Industrie und andererseits wachsenden Interesses für Spiritualität (bspw.
Reich, 2000a, 2002a) – von steigender Aktualität. Ehe von Zusammenarbeit gesprochen
werden kann, muß klar sein, was die Hauptunterschiede beider Zugänge ausmacht. Obwohl
das per se auch am Beispiel der Religionspsychologie aufgezeigt werden könnte (Reich,
2000b), konzentrieren wir uns hier auf die Psychotherapie.
Während vor 50 Jahren im Fall von Neurosen eine individuelle (langjährige) psychoanalytische Therapie zumindest in westlichen Ländern in hohem Ansehen stand, hat sich seither
zunehmend die Einsicht in mögliche, im Gehirn verortete biologische Ursachen entwickelt
(Prince, 1995-1996). Eine ihrer Konsequenzen ist die Entwicklung entsprechender Psychopharmaka2 So bewährt sich bekanntlich Lithium bei manisch-depressiven Erkrankungen
(Tondo, Baldessarini, Hennen & Floris, 1998) und verringert dementsprechend die Suizidgefahr (Tondo, Jamison & Baldessarini, 1998). Ein anderes Beispiel für erfolgreiche neurobiologische Behandlung psychischer Erkrankungen sind Inhibitoren einer selektiven
Aufnahme von Serotonin (Schloss & Williams, 1998; Beispiele von solchen Inhibitoren sind:
Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin – Edwards & Anderson, 1999). In der
Tat gilt heute die medikamentöse Behandlung insbesondere von Depressionen (Beispiel
Prozac) als eine Methode, die nachweislich zuverlässige positive Ergebnisse zeitigt,
zumindest solange die Behandlung andauert..
Verständlicherweise steht eine solche Behandlung in Gefahr, den Heilungsprozess zu eng
zu sehen. Zumindest implizit geht diese Sicht davon aus, dass Heilung ganz überwiegend eine
Sache der richtigen Chemie in engeren Sinne ist. Die Betonung liegt auf der medikamentösen
Effizienz: Welches pharmazeutische Mittel verspricht im vorliegenden Fall die schnellste und
nachhaltigste Wirkung (Edwards & Anderson, 1999)? Das tiefere Verstehen der Psyche des
Patienten / der Patientin, ihre Mitarbeit, ihre soziale Einbindung spielen gemäß einer solchen
Denkweise allenfalls eine Nebenrolle – von ihrer Religion, ihrem Glauben, ihrer Spiritualität
erst gar nicht zu reden. Allerdings ist dennoch nicht auszuschließen, dass der 'Glorienschein'
von Wissenschaft und Pharmaindustrie auch bei einer derartigen medikamentösen Behandlung
einen (zusätzlichen) Placeboeffekt bewirkt, die Wirkung also zumindest teilweise auf ihm
beruht.
Religiöse / Spirituelle Psychotherapie
Religiöse / Spirituelle Psychotherapie hat eine jahrtausendalte Geschichte, in Griechenland
vom Heiligtum des Asklepios in Epidauros seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert
über Hippokrates von Kos (460-377 v.Chr.) zu den heutigen Klöstern auf dem Berg Athos. In
2
In den USA können approbierte Psychotherapeuten bestimmte Psychopharmaka verschreiben; in
Deutschland ist das Ärzten vorbehalten.
-3anderen Erdteilen und Kulturen gibt es seit alters Entsprechendes: Shamanen, Medizinmännner, Priester, Heiler sind traditionell und oft heute noch die Ansprechpartner bei
Erkrankungen, insbesondere auch psychischer Natur (bspw. Schenk, 1999; cf. Chez, 2002).
Insgesamt sind die entsprechenden, vielfältigen, unterschiedlichen Methoden religiöser /
spiritueller Therapie u.a. weitgehend durch die Abwesenheit allopathischer Medikamente
gekennzeichnet, obwohl Naturheilmittel (Pflanzen usw.) dort ihren Platz haben. Eine der
Grundmethoden besteht in der Anwendung von "religiösen" Ritualen (bspw. Prince, 19951996, S. 185-190), was man aus säkularer Sicht z.T. als Pacebo- oder Suggestionstherapie
auffassen kann. Oft ist auch die Einbindung in die religiöse Gemeinschaft und in die Familie
Teil der Standardpraxis (bspw. Murken & Shah, 2002).
In westlichen Ländern haben Psychotherapeuten und selbst Psychiater in jüngster Zeit von
Religion / Spiritualität und ihrer Bedeutung für die Heilung psychischer Krankheit vermehrt
Kenntnis genommen (bspw. Brown, 1994; Chez, 2002; Duke University, 2002; Jones, 1994;
Koenig, 1994, 1999, 2002; Koenig. McCullough, & Larson 2001; Larson, 2002; Murken,
1998; Murken & Shah, 2002; Pargament, 2001; Plante & Sherman, 2001; Richards & Bergin,
2000; Shafranske, 1996; Shumaker, 1992; Scotton, Chinen, & Batista, 1996). Zwar ist diese
Art von Forschung nicht unumstritten (Sloan, Bagiella, & Powell, 2001; Sloan & Bagiella,
2002) und es bestehen z.T. im Einzelnen noch Unklarheiten, welche Art von Religion / Spiritualität genau welche Wirkung hat (bspw. Koenig, 1997), aber dass in etlichen Fällen ein
bestimmter religiöser Glaube sich als positiv für die (psychische) Gesundheit auswirkt, dürfte
erwiesen sein (bspw. Astin, 2002).
Ein Modell der Psychotherapie
Wir legen hier für die weiteren Betrachtungen das Modell von Harald Walach (2002, S. 37)
zugrunde. Es beschreibt Psychotherapie mittels vier Kategorien:
(1) Wärme, umsorgende Beziehungen: die weibliche oder mütterliche Komponente;
(2) Struktur, Anforderungen, Konfrontation: eine männliche oder väterliche Komponente
(3) Bewusstsein, Einsichten haben, lernen: eine aufklärerische Komponente und
(4) Prozess, eine individuelle und temporale Dimension.
Versuchen wir, dieses Modell einerseits auf die skizzierte säkulare und andererseits auf die
religiöse / spirituelle Psychotherapie anzuwenden. Die erste Komponente betrifft insbesondere
die menschliche Beziehung zwischen Erkrankten und PsychotherapeutInnen. Sie ist besonders
wichtig, wenn es um Heilen von blockierten Gefühlen und dergleichen geht oder auch um
Beruhigen, Mut und Hoffnung machen. Bei einer rein medikamentösen Behandlung riskiert
sie vernachlässigt zu werden, aber selbst bei einer traditionelleren säkularen Psychotherapie
unter Zeitdruck bzw. finanziellem Sparzwang. Eine religiöse / spirituelle Therapie bringt von
ihrem Menschenbild und bestehenden Traditionen her im Prinzip bessere Voraussetzungen für
-4die Verwirklichung dieser Komponente mit.
Die zweite Komponente beinhaltet die Bemühungen, die Erkrankten aus den gewohnten,
krankmachenden Geleisen herauszubringen, ihre etwaigen Abwehr- und Verleugnungstendenzen zu Fall zu bringen, Grenzen zu setzen und Forderungen aufzustellen sowie deren
Erfüllung durchzusetzen. Für eine religiöse / spirituelle Lebensführung gehört alles dies
sozusagen zum täglichen Brot (wenn auch wahrscheinlich z.T. mit anderen Inhalten); eine
Therapie bedeutet also keine tiefgreifende Veränderung, sondern eher eine inhaltliche und
prozessurale Anpassung. Für die säkulare Psychotherapie erschweren postmoderner Zeitgeist
und die "vaterlose" Spaßgesellschaft das Implementieren der männlichen / väterlichen
Komponente.
Die dritte Komponente scheint mir auf eine Klasse / Schicht von Erkrankten zugeschnitten,
die sich weltweit kaum in der Mehrheit befinden dürfte. Raymond Price (1995/1996, S. 185193) beschreibt seine Erfahrungen einerseits mit Angehörigen der Yaruba-Kultur in Nigeria
und andererseits mit armen Kanadiern: In beiden Fällen versagte eine Therapie, die auf
Einsicht als Grundlage der Selbstüberwachung beruhte. (Hingegen hatte jene ritualisierte bzw.
glaubensbasierte Therapie Erfolge, die die zu Heilenden darauf verpflichtete).
Die vierte Komponente schließlich beinhaltet (a) das Eingehen auf die Spezifizität des/der
Erkrankten, (b) den zeitlichen Ablauf der Behandlung und (c) die Erziehung der
Konvaleszenten mit dem Ziel, verbesserte Verhaltensweisen weiter zu verstärken und zu
internalisieren, u.a. um einen Rückfall zu vermeiden. Die medikamentöse Behandlung
orientiert sich u.a. an (a) und (b), fokussiert aber kaum auf (c). Das Umgekehrte gilt tendenziell für die religiöse / spirituelle Therapie.
Es zeigt sich, dass die beiden Zugehensweisen unterschiedlich punkten: die säkulare mehr
bei (4 a, b) und in gewissen Fällen bei (3), die religiöse / spirituelle wahrscheinlich mehr bei
(1), (2) und (4c). Um die Unterschiede voll herauszuarbeiten, sei noch eine erweiterte Betrachtung eingebracht, jene, die die spezifische Wirksamkeit einer Therapie von der unspezifischen
unterscheidet. Ich beziehe mich dabei auf die Arbeiten von Jerome Frank.
Ein Modell für unspezifische Wirksamkeit
Gemäß der Arbeiten von Frank ([1980] 1997, 1989) und ihrer Interpretation durch Walach
(2001) werden folgende vier Komponenten für die unspezifische Wirksamkeit einer Therapie
als wesentlich erachtet:
(1) eine starke, entlastende Beziehung;
(2) Kennzeichen therapeutischer Mächtigkeit;
(3) ein akzeptierter, allgemeinverständlicher Mythos der Krankheitsentstehung und beseitigung;
(4) ein therapeutisches Ritual, welches die Eigenaktivität des Patienten mobilisiert.
Wir betrachten wieder säkulare und religiöse / spirituelle Psychotherapie gemäß diesem
-5Modell. Die Komponente (1) ist bei der religiösen / spirituellen Therapie im Prinzip
vorgegeben, bei der säkularen muss eine Beziehung aufgebaut werden, was je nach Art der
Therapie mehr oder weniger im Zentrum steht. (2) ist bei medikamentöser Behandlung
gewöhnlich gegeben; das gilt auch bei selbstgewählter religiöser / spiritueller Therapie.(3) gilt
wahrscheinlich für beide Zugänge, wenn auch die jeweiligen Inhalte sich stark unterscheiden.
(4) dürfte zentraler für eine religiöse / spirituelle Therapie gelten, vor allem im Vergleich mit
einer medikamentösen Behandlung.
Wiederum punkten die beiden Therapiearten unterschiedlich. Es reizt daher, die positiven
Seiten beider Zugänge nach Möglichkeit zu kombinieren. Dazu ist relations- und kontextbezogenes Denken (Reich, 1997, 1999, 2002b, 2002c) hilfreich: Statt einer ausschließenden Entweder-oder-Logik beinhaltet es eine einschließende Sowohl-als-auch-Logik.
Zusammenarbeit von säkularer und religiöser Psychotherapie
Bei den Überlegungen zu dem entsprechenden Anliegen in der Religionspsychologie war ein
Ergebnis, gemischte Forschergruppen aus 'religiösen' und 'nichtreligiösen' MitarbeiterInnen
ins WQerk zu setzen, dies zwecks gegenseitiger Anregung aber auch zum Schutz vor voreiligen einseitigen Schlussfolgerungen. Entsprechendes gilt auch im vorliegen Fall, obwohl hier
das Anliegen schwieriger zu verwirklichen ist: Bei der psychologischen Forschung kann man
sich öfters auf solche Aufgaben einigen, bei denen die Zusammenarbeit nicht zu schwierig ist;
bei der Therapie kann man nicht immer die Patienten nach Wunsch aussuchen, alle haben
Anspruch auf Behandlung.
Wie zu erwarten, gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die in die gewünschte Richtung
zielen. Robert N. Sollod (1993) weist u.a. auf die Möglichkeit hin, bei der Ausbildung von
TherapeutInnen ihre Rolle als 'HeilerInnen' von ganzheitlichen Menschen zu thematisieren
und positive Elemente traditioneller Methoden (s.o.) einzubringen. Sollod ist auch der Ansicht, dass das geschärfte Bewusstsein vieler spiritueller Heiler für Psychotherapeuten nützlich
sein könnte wie auch deren Sicht der zu Heilenden nicht als kranke Defizitärwesen, sondern
als von Begrenzungen zu Befreiende. Neben etlichen anderen Vorschlägen von 'Übernahmen'
wird auch der Wert von Meditieren als Heilmittel hervorgehoben. Sollod illustriert seine
Vorschläge anhand von Berichten über die Heiltätigkeit von Joel Goldsmith und Styllanos
Atteshlis. Ein Aspekt ist die gewollte, vergleichsweise merkbare Vernachlässigung der
Probleme, Konflikte und negativen Gefühle der zu Behandelnden und statt dessen das
Bemühen, Erfahrungen und assoziierte Gedanken zu ermöglichen, die zufriedentellend sind
und die Lebensfreude erhöhen. Dabei können Suggestionen und Autosuggestionen sowie
Visualisierungen (der neuen Person, die zu werden man im Begriff ist) und Traumdeutungen
eine Rolle spielen. Sollod empfiehlt jedoch, alle solche Anleihen vorsichtig auszuprobieren
und eine Wirksamkeitsstudie durchzuführen bevor weiträumiger Anwendung praktiziert wird.
Dabei kann es sich auch herausstellen, dass bisher erfolgreiche Methoden an Wirksamkeit
verlieren, wenn sie aus dem gewachsenen Kontext in einen ganz anderen verpflanzt werden.
-6Eric Johnson und Steven Sandage (1999, S. 5) zählen acht Gründe auf, warum die Psychotherapie Religion nicht vernachlässigen sollte: (1) es ist wünschenswert, individuelle Unterschiede anzuerkennen und zu respektieren – religiöser Glaube gehört dazu; (2) da
PsychotherapeutInnen ihre persönlichen Werte [bewusst oder unbewusst] in die Therapie
einbringen, und etliche religiös sind (vgl. Hofmann, 2002; Möckelmann & Hofmann, 2002),
sollten solche Werte in der Therapie zur Auswahl stehen; (3) etliche der Rat und Heilung
Suchenden sind religiös; (4) es hat sich erwiesen, dass Religion positive Auswirkungen auf
die psychische Gesundheit haben kann (bspw. Chez, 2002); (5) spiegelbildlich kann Religion
auch zu Pathologien beitragen; (6) Religion kann zusätzliche therapeutische Mittel zur
Behandlung psychischer Erkrankungen bereitstellen; (7) es gibt gewisse Überschneidungen
von Psychotherapie und Religion in ihren Bemühungen um die psychische Gesundheit der
Menschen; (8) religiös Gläubige verlangen zunehmend, dass PsychotherapeutInnen ihr
Wertesystem mindestens kennen und, noch besser, teilen. Ein weitergehender Grund wäre,
dass Religion alle Gebiete des Lebens erfasst, m.a.W. dass das menschliche Leben seinem
Wesen nach religiös ist. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen Religionen mit
übernatürlichen Entitäten wie Konfuzianismus (Ahnenkultur) und die abrahamitischen,
monotheistischen Religionen auf der einen Seite und die 'gottlosen' wie Theravada und Zen
Buddhismus auf der anderen. Johnson und Sandage (S. 7) führen drei Hinweise auf die
fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Psychotherapie näher aus: (a) Für
beide gelten gewisse Werte und Verbote, beispielsweise Pädophilie (die bei Einräumung in
den USA PsychotherapeutInnen von ihrer Schweigepflicht entbindet); (b) Religion hat auch
therapeutische Funktionen wie die Vergebung von Sünden; (c) vom religiösen Standpunkt aus
betrachtet, sind alle Menschen religiös.
Schließlich weisen die Autoren auf die Kontextgebundenheit des therapeutischen Prozesses
hin (S.12). In den heutigen multikulturellen, multiethischen Gesellschaften bedeutet das, dem
Prozess der Passung zwischen dem/der Rat und Heilung Suchenden einerseits und dem/der
Psychotherapeuten/in andererseits gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.
Zum Abschluss noch einen etwas anders gerichteten Blick auf unser Thema, den ich Dan
Johnson (2002) verdanke. Er entnimmt der Schrift von Hobson und Leonard (2001) u.a. folgende Empfehlungen (um die Lage der 2 Millionen AmerikanerInnen zu verbessern, die unter
psychischen Krankheiten deshalb litten, weil die Psychiatrie heute auf einem Stand wäre, der
mit jenem der Seuchenbekämpfung zu Beginn des 20. Jh. vergleichbar sei): (1) Integration
von medikamentöser Behandlung und Psychotherapie. Psychopharmaka sind kein
Allheilmittel und Psychotherapie allein heilt nicht alle psychischen Krankheiten. Idealerweise
sollte diese doppelte Behandlung von der selben Person geleistet werden (dazu Fußnote 2). (2)
Behandlung psychische Krankheiten nicht lediglich als akute Fälle, sondern als chronische
Krankheiten, die von Zeit zu Zeit der Überprüfung bedürfen und vor allem der Einbettung der
PatientInnen in eine soziale Struktur.
In Anbetracht der Reichhaltigkeit dieser diversen Vorschläge (die leicht noch wesentlich
-7erweitert werden könnten), möchte ich nur noch einmal die Wichtigkeit eines Sowohl-alsauch-Zugangs betonen (Reich, 1997, 1999, 2002b, 2002c). Von Fall zu Fall geht es darum,
welche Elemente von säkularer und welche von religiöser / spiritueller Psychotherapie genau
diesem/r Rat und Hilfe Suchenden nach menschlichen Ermessen zum gegebene Zeitpunkt
wohl am besten weiterhelfen.
Seelsorger in Kliniken und Psychotherapeuten
"Spiritualität in der Psychosomatik? Konzepte und Konflikte zwischen Psychotherapeuten und
Seelsorge", so hieß das Thema einer interdisziplinären Tagung in Bad Kreuznach im
September 2001. Auf dem Hintergrund der Aussage, dass der Umgang mit Spiritualität der
PatientInnen ein bisher eher vernachlässigtes Thema in ambulanten und stationären
Psychotherapien sei, berichteten Mitarbeiter von sieben verschiedenen Kliniken über ihre
Bemühungen zum Tagungsthema (Recollection-Haus, Münsterschwarzach; Klinik Hohe
Mark, Oberursel; Fachklinik Heiligenfeld, Bad Kissingen; Christoph-Dornier-Stiftung,
Münster; Klinik für Psychosomatische Medizin, Bad Grönenbach; De'Ignis-Klinik, Egenhausen; Psychosomatische Fachklinik
St.-Franziska-Stift, Bad Kreuznach; vgl. Murken, Laux & Rüdde, 2003).
Wieso Konflikt? Aus obigen Darlegungen geht bereits hervor, das postmoderne Psychotherapien und Religion / Spiritualität sich teilweise überschneiden. Johnson und Sandage (1999,
S. 4) machen das (wahrscheinlich ungewollt) noch deutlicher: "Daher kann Psychotherapie als
eine Art interpersonale 'Orientierung' betrachtet werden. Typischerweise fungieren
PsychoterapeutInnen als Mentor, der den PatientInnen hilft herauszufinden, wo sie stehen,
woher sie kamen, und wohin sie gehen. Auf diese Weise betrachtet, kann Psychotherapie als
eine Art teleologische Karte für Rat und Hilfe Suchende verstanden werden und zugleich als
Ratgeberin für jene Mittel, dank derer das angezeigte Ziel erreicht werden kann." Diese abstrakte Formulierung der psychotherapeutischen Aufgabe lässt verschiedene Interpretationen
zu: von einer strikten Beschränkung auf innertherapeutische Belange bis zu einer
weltanschaulisch-ideologischen Vereinnahmung der PatientInnen. In letzteren Fällen können
SeelsorgerInnen den (berechtigten) Eindruck einer Grenzüberschreitung und eines
Eindringens in ihr Arbeitsgebiet haben. Der umgekehrte Fall könnte eintreten, wenn
SeelsorgerInnen therapeutische Ambitionen an den Tag legen würden.
In Bad Kreuznach ging man davon aus, dass sich klinische Erfahrungen und empirische
Daten immer mehr zu dem Bild verdichten, dass ohne die Integration der individuellen Glaubensvorstellungen und -erfahrungen eine gute Behandlung kaum möglich ist. (Das gilt besonders für die Kliniken in denen psychisch erkrankte Geistliche behandelt werden). Bei auftretenden Konflikten ist zu bedenken, dass es der selbe Patient, die selbe Patientin ist, der/die
möglicherweise von zwei Seiten kontrovers angegangen wird. Wenn das PatientInnenwohl in
den Mittelpunkt gerückt wird, sollten gewisse Konflikte an Schärfe verlieren. Zumindest
sollte es möglich sein, Grenzüberschreitungen als solche zu erkennen und zu diskutieren
-8sowie idealiter eine Lösung zu finden. In Bad Kreuznach gab es dazu zahlreiche
Erfahrungsberichte und Einzelvorschläge, deren Diskussion den hier gesteckten Rahmen weit
überschreiten würden. In Anbetracht der potentiellen Nützlichkeit einer Zusammenarbeit lohnt
es sich, Schwierigkeiten zu überwinden und von Fall zu Fall die Rolle und den Beitrag der
Einen und der Anderen zum Wohle der PatientInnen zu optimieren.
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Adresse des Autors: Dr.-Ing. K. Helmut REICH, Ph.D., Universität Freiburg i. Ü.
Departement Erziehungswissenschaften, Rue Faucigny 2, CH-1700 Fribourg (Schweiz)
Tel.: 004126 300 7569 Fax: 004126 300 9711 E-mail: [email protected]
Home page: http://www.unifr.ch/pedg/staff/reich/reich.htm
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