DIDIER-N ou la grande sante-1999-GS

Werbung
Santé
Buchbesprechung
GS
Didier Raymond (direction):
Nietzsche ou la grande santé.
Paris 1999 (Editions L'Harmattan) / Montréal 1999 (L'Harmattan Inc.).
(ISBN: 2-7384-7683-X)
Collection L'Ouverture Philosophique dirigée par D. Chanteau et B. Péquignot.
305 S., mit Bibliographie.
Der Sammelband besteht aus folgenden Teilen:
Chronologie (tabellarische Übersicht zu N.s Leben in knapp 3 Seiten)
Avant-propos (Vorwort des Herausgebers Didier Raymond)
Teil I: N. und die Medizin (mit 6 Beiträgen)
Teil II: Gesundheit und Krankheit in N.s Philosophie (mit 8 Beiträgen)
Bibliographie générale (7 Seiten)
Allgemeine Bemerkungen:
Der im Buchtitel verwendete Ausdruck 'grande santé' wird von Raymond (Beitrag 7)
eingehender erläutert. Das Thema Krankheit wird vor allem in Teil I (N.s Krankheit)
eingehender behandelt. Teil II geht i.allg. nur am Rande auf die Rolle von Krankh. in N.s
Philososphie ein.
Teil I zeigt, dass die Frage nach N.s Krankheit, insbesondere die Frage ihrer Verursachung,
immer noch nicht geklärt ist. Die einzelnen Erklärungsversuche gehen in unterschiedliche
Richtungen und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, so dass ein gemeinsamer Nenner
nicht leicht zu finden ist. In den Beiträgen 5 und 6 wird der Einsamkeit eine wichtige Rolle
für N.s Erkrankung zugewiesen.
Teil II bringt z.T. interessante Thesen (Nr. 7: N.s Krankheit als Quelle der Umwertung; Nr.
14: Vorrangstellung des Apollinischen in N.s klass. Ästhetik im Bereich der bildenden Kunst
und als Werkzeug gegen den Nihilismus). Jedoch sind die Beiträge von unterschiedlichem
Wert und beleuchten nur vage die Rolle der Krankheit für N.s Philosophieren.
Neuere einschlägige Literatur wird z.T. nicht herangezogen (z.B. P. Volz: N. im Labyrinth
seiner Krankheit).
Auch werden neuere Hilfsmittel, wie die CD-ROM zu N.s Werken nicht benützt, was im
Beitrag von Philonenko (Nr.9) zu vermeidbaren Fehleinschätzungen führt.
Wie in frz. Büchern üblich fehlen öfter genaue Stellennachweise, und es kostet nicht wenig
Zeit, die entsprechenden Stellen aufzufinden. Die Textbasis lässt manchmal zu wünschen
übrig: z.T. fehlerhafte Nachweise: in Nr.12; z.T. Übersetzungsfehler: vgl. Nr.8; Nr.12.
Zusammenfassende Übersicht
Das Vorwort des Hgs. Raymond umreisst die Fragestellungen dieses Sammelbandes. Er
betont die Bedeutung von N.s Krankheit für sein Philosophieren, die er sogar als Quelle für
N.s Projekt der Umwertung ansieht.
In Teil I wird N.s Krankheit von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus beschrieben und zu
deuten versucht. Dazu kurze Résumés:
Beitrag (1): Escande ist der Auffassung, dass die 'savants médicaux' nichts zur Erhellung des
sog. Zusammenbruchs N.s beitragen können. Es ist den Ärzten nicht gelungen, die 'folie' N.s
zu erklären. Es ist eine philosophische, keine medizinische Frage. Escande erörtert und
verurteilt vor allem die ideologischen und medizingeschichtlichen Hintergründe, die zu N.s
Diagnose der Paralyse geführt haben.
(2) Mairie (auch er Arzt) bringt eine Inventarisierung der auf N. bezüglichen medizinischen
Sachverhalte (Befunde, Diagnosen, Medikamente, Kuren, Ärzte, Selbstmedikationen u.ä.),
teils chronologisch, teils nach Sachgruppen geordnet, meist auf der Grundlage der N.Biographie von Janz (Nietzsche Biographie. Gallimard 1984-1985); ergänzend wird Podach
für die Zeit des Zusammenbruchs (Podach: L'effondrement de Nietzsche. 1931. Gallimard)
herangezogen. Hierzu werden gelegentlich sachliche Erläuterungen anhand damaliger
Fachliteratur oder auch aus neuerer bis heutiger Sicht gegeben; auch wird mehrmals auf
falsche Darstellungen in Romanen hingewiesen (z.B. in: S. Zweig: Nietzsche. Stock. 19301996).
Zur Sprache kommen: Ernährungs- und Diätfragen, Kuren, die Meteorologie, Elektrizität,
Homöopathie/ Allopathie, Biochemie; N.s Selbstanalysen (Sorgen wegen möglicher
Vererbung der 'Gehirnerweichung' des Vaters; Diätfragen etc.).
Von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob das 1882/83 von N. verwendete Chloral
schädliche Wirkungen gehabt haben könnte (u.z. im Hinblick auf N.s späteren
Zusammenbruch) (S.50-51).
(3) Grivois, ein Psychiater, deutet die Erkrankung des späten N. (N.s 'Zusammenbruch') als
'centralité', eine Art von Psychose. Die 'centralité' wird umschrieben als 'devenir le centre de
l'espèce humaine et avoir la surprise [...] de vivre désormais la réalisation à travers soi d'un
événement d' importance universelle' (67). Grivois betrachtet diese Erkrankung N.s (die
'centralité') als Folge der Eigenart von N.s Beziehungen zu anderen Menschen, und als
weitgehend unabhängig von den bisher üblichen Thesen einer syphilitischen Erkrankung bzw.
einer Paralyse N.s.
(4) Nach Auffassung des Autors Toffel (Neurologe), dürfen für eine Diagnose von N.s
Krankheit nur die Jenaer, bei der Erstaufnahme erhobenen Daten verwendet werden, da nur
diese frei sind von einer eventuellen damaligen Interpretation. Diese Daten können auch heute
noch interpretiert werden. Zwei Fragen sind zu stellen: zu welcher Diagnose käme man heute,
wenn man nur diese Daten zur Verfügung hätte; und welche Präzision wäre zu erreichen? Als
Fazit ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die diagnostische Hypothese einer
Syphiliserkrankung.
(5) Der Autor, Fernandez-Zoila, ein Psychiater, will N.s Krankheit in 5 Schritten untersuchen.
Er stützt sich dabei, i.U. etwa zu (4), B. de Toffel, in erster Linie auf die überlieferten
Dokumente und auf N.s Briefe und Fragmente. Der Autor kommt zu einem doppelten Fazit:
I. Die Einsamkeit ist der 'entscheidende Schlüssel zu N.s Person': Angewiesenheit auf Ruhe,
abgelegene Orte, und Dunkelheit sind nötig für seine Augen. N. ein Bewunderer Emersons,
der das einsame Leben lobt. In N.s Briefen 'les cris de détresse d'un homme seul', der sich
unverstanden und verraten fühlt.
II. Fazit mit Verweis auf Freud (Assoun 22): 'Es gibt keinen Beweis für eine "maladie
névrotique".' Autor: N. war der typische 'philosophe-artiste': 'Aus meinem Willen zur
Gesundheit und zum Leben machte ich meine Philosophie' (N: wo?).
(6) P. Marie, ein Philosoph und Psychoanalytiker, stellt die Einsamkeit in den Mittelpunkt, in
die N. durch sein kühnes Denken gerät, und die ein Verstehen durch andere unmöglich macht.
Fazit (136): N. hat sich in eine Exilsituation begeben, in eine Abtrennung von allen, in ein im
eigentlichen Sinn unerträgliches Denken, weil diesem jede Unterstützung abgeht. Aber N. hat
bis Januar 89 standgehalten. In alledem sei nichts Pathologisches, oder vielmehr: allzu viel
Pathologisches; nur Menschliches, zuviel Menschliches.
Teil II bringt Studien zur Bedeutung der Krankheit für N.s/ in N.s Philosophie. Diese Frage
wird jedoch i.allg. nur mehr oder weniger vage angesprochen:
(7) Raymond beschreibt N.s neuen Begriff der 'grossen Gesundheit', den er als 'Quelle' von
N.s Projekt seiner Umwertung aller Werte einstuft. Die 'grosse Gesundheit' durchdringt N.s
ganzes Werk und macht aus ihm einen ausgezeichneten Erforscher aller Formen der
'décadence'.
(8) C. Perret: N. ist in seinen letzten Briefen, ab Oktober 88, am Durchdrehen; die Stimmung
wird 'manisch'; dazu eine unruhige und schnell aggressive Euphorie; er macht jede Menge
Pläne und entdeckt die Freuden des Lebens in einer fast kindlichen Gier. Am auffälligsten
aber der Stil seiner Briefe: übereilte Syntax, sprachliche Automatismen, Gedankensprünge,
nicht glückende Kohärenz; das Ganze kaum noch eine Korrespondenz, eher ein Dokument.
Gewisse Bizzarrerien der vorhergehenden Briefe verstärken sich (sous la forme de fabulations
manifestement délirantes)(145): 'Ideen der Grösse'; ein paranoides Gefühl, dass es keinen
Zufall mehr gibt; die Illusion, das Zentrum aller Blicke zu sein; die Anzeichen einer
Depersonalisierung. Dies alles wertet die Autorin als Symptome des nahenden 'Irrsinns'
(bouffée délirante; 146) und sie versucht, einige dafür bezeichnende Punkte näher zu
beschreiben.
(9) Philonenko: Schop.s Philosophie bleibt auf der Ebene des Wissens u. Erkennens; es gibt
bei ihm zwei 'Unendlichkeiten': die Mel. und die Indifferenz gegen alles Leiden. Kein Kampf
und daher auch keine Tragödie. Aus der Indiff. kann Trost fliessen (Form I des Trostes). Bei
N.: Kampf und daher auch Tragödie und viele kleine Siege. Schaffen und Handeln: 'Nicht im
Erkennen, im Schaffen liegt unser Heil!' Das starke Leben als Basis für N.s Lachen (ab M,
verbunden mit einer Abwendung von Schop.). Statt Indiff.: Höflichkeit als Teilnahme und
Distanz zugleich; Höflichkeit als Quelle des Trostes (Form II des Trostes).- Auf N.s Krankheit
wird allenfalls am Rande eingegangen.
(10) Guéry: Kritik an Heideggers Urteil, N. sei 'der letzte Metaphysiker'. Heid. platziert N. in
die Bewegung der 'modernen Technik', was N. Gewalt antut. Heid. wollte die 'Überwindung'
der Metaph. für sich reservieren u. machte N. den Platonismusvorwurf. Zu fragen ist
[demgegenüber] aber, welche Gründe N. hatte, heute bis zu Plato zurückzugehen, um das
Schicksal der abendländ. Metaphys. zu entlarven, die noch seine eigene Zeit bestimmte und
eine unzeitgemässe Philos. nötig machte. Guéry demonstriert N.s Entlarvung des Idealismus
als eine Form eines heuchlerischen Macht- u. Herschaftswillens.
(11) B. Han: Musikauffassung bei N. u. Schop.: Divergenzen gibt es bei den folgenden
Punkten: einerseits bei der Frage der Beziehung der Musik zur Welt, und andrerseits
hinsichtlich des Bezugs der Musik zum 'an sich' des Willens.
Der Abstand zw. N. u. Schop. rührt her aus der extremen Ambiguität der Musikdefinition von
Schop. Zum Einen nimmt N. hierbei eine vereinfachende Interpretation vor zugunsten einer
rigoroseren Bestimmung der Beziehung zwischen Musik und dem 'an-sich'. Zum anderen
scheint er der Lehre seines Meisters eine solidere Basis zu geben, indem er sie mit zwei
Neuerungen in eine neue Richtung lenkt: 1) mit der Hypothese eines musikalischen
Symbolismus (der Bezug der Musik zum 'an-sich' wird nicht mehr mimetisch gedacht); 2) mit
der Idee eines tiefen Bandes zwischen dem musikal. Symbol und den Künsten der
Vorstellung, ein Band, das auf einer radikalen Neufassung der in Schop.s Metaphysik
zwischen Wille u. Erscheinung hergestellten Beziehung besteht.
(12) Raymond gibt im Anschluss an N. eine Phänomenologie des Festes, die zum einen als
Bezugnahme auf den dionysischen Rausch in GT, zum anderen vielleicht aber auch als eine
Art Hintergrund zu N.s Erkrankung in seinen letzten Wochen gelesen werden kann, ohne dass
dies explizit gesagt wird.
(13) Nora Rabbia: Sehr schöner und begeisternder Essay, der in rhapsodischer Form einige
zentrale Themen (Rausch, Vielheit, Vergessen, Schaffen; GT, Zarathustra) entfaltet. Ein
Bezug zu N.s Erkrankung könnte vielleicht darin gesehen werden, dass in den beschriebenen
dionysischen Zuständen eine Nähe zu der von N. in seinen letzten schriftlichen Zeugnissen
angedeuteten Depersonalisation gesehen werden könnte (vgl. dazu schon Beitrag 8).
(14) Kessler: These: N.s Ästhetik, insbes. hinsichtlich der bildenden Künste, ist klassisch
ausgerichtet. Für N. ist die Kunst die einzige, dem Nihilismus radikal entgegengesetzte Kraft.
Nur die klass. Kunst kann der apollin. Rechtfertigung des Lebens treu bleiben. Zwar ist das
antagonist. Paar des Apollin. und Dionysischen die Grundlage von N.s Ästhet. der Tragödie,
aber N.s Ästhetik hat immer klar gemacht, dass nur die apollin. Dimension dazu geeignet ist,
das Indiv. wirksam gegen den Nihilismus zu bewaffnen. Klassizismus u. Apollinimus
bekämpfen die philosophische Krankheit im Individuum, mit dem Ziel der 'grossen
Gesundheit' des von der Kunst bezauberten Philosophen, d.h. der mythischen Figur eines
'Sokrates, der Musik treibt' (GT 15).
N.s Begriff des Klassischen/ der Klassik (im Bereich der bildenden Kunst) definiert sich
primär über die klassische FORM, nicht über den INHALT, wo N. für Illusion im Unterschied
zur klass. Forderung einer Darstellung 'wahrer' Inhalte plädiert.
Bemerkenswert ist die vom Autor in diesem Bereich geforderte Vorrangstellung des
Apollinischen, das er als Klarheit und Kälte, als kalten Rausch versteht.
Kurzreferate zu den einzelnen Beiträgen
Vorwort: bei N. sind Person und Werk enger verbunden als bei jedem anderen Philosophen;
keiner sagt so oft 'ich' in seinen Schriften (ausser Descartes). In seinen Schriften teilt er uns
seine Erfahrungen mit. Nietzsche war ständig krank, und die Krankheit ist für ihn eine
dauernde Quelle der Reflexion und bereichert N.s Auffassungen von der Gesundheit. Die
Oppositionen affirmativ/reaktiv, Heerde/Einsamkeit, vornehm/vulgär gehen auf die
Opposition Gesundheit/Krankheit zurück. Die Krankheit ist sogar die Quelle der Umwertung
aller Werte und der Bejahung seiner 'grande santé'. Daher haben seine Krankheitserfahrungen
eine solche (solch grosse) Bedeutung für die Entstehung und Vertiefung seiner Philosophie.
Hinzu kommen andererseits seine grossen Begegnungen mit Personen wie Wagner, Lou, Gast
etc., aus denen jeweils eine philosophische Problematik hervorging. Seine Beziehungen zu
Anderen sind oft Krisenbeziehungen, aus denen philosophische Probleme hervorgingen.
Es ist nötig, eine neue Annäherung an N.s Denken zu versuchen, die von den aus diesen
Begegnungen entstandenen Krisen und von seinen Erfahrungen mit der Krnakheit ausgeht.
Schliesslich sind einige grosse Gedanken, wie der der Ewigen Wiederkehr, in einem
spezifischen biographischen Kontext entstanden: in der Einsamkeit in Sils-Maria.
Alles dies ist zu berücksichtigen, und der vorliegende Sammelband möchte diesen Ansatz
(approche) befördern.
Die einzelnen Beiträge
Teil I: N. und die Medizin
(1). J.-P. Escande: N.s Zusammenbruch oder der Irrweg der 'raisons perdues'
Der Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten (chef de service en dermato-vénérologie).
Escande kritisiert eingehend die medizinischen Begriffe Paralyse und Syphilis, und unbes.
den angeblichen Zusammenhang beider. Krankheiten sind Erfindungen der Mediziner, kein
Kranker entspricht völlig einem bestimmten Typ von Krankheit. Er beschreibt die typischen
Verlaufsstufen der Syphilis und der Paralyse. Aber eine Paralyse muss nicht zu einem
allgemeinen Zusammenbruch führen; sie kann auch zu einer allgemeinen Steigerung führen
(forme 'expansive' der Paralyse), wie dies bei N. der Fall war.
Kritisiert wird ebenfalls die Vermoralisierung der medizinischen Fragestellung, die Syphilis
und Paralyse als Strafe für Sünde(n) ansah. Zudem fehlten im Jahre 1889 noch wesentliche
Hilfsmittel, um eine Paralyse überhaupt als solche identifizieren zu können. Im 19.
Jahrhundert genügte der Verdacht (le soupçon).
Vielmehr sind nach Urteil von Escande vor allem soziale Gründe für N.s Krankheit
verantwortlich zu machen: sein 'drame personnel'. Dafür verweist Escande auf einen Brief N.s
an Overbeck vom 20. Juli 1888 [hier wird irrtümlich 1889 anggeben], in dem N. seine
'Vereinsamung' beschreibt. Dazu kommentiert Escande (S.31): es ist das Schicksal derjenigen,
die die moralische Ordnung angreifen, dass sie von den 'clercs' hingerichtet werden. Nach
Einschätzung des Autors wurde N. von der Medizin verraten.(Es werden keine Einzelheiten erörtert, auch neuere Literatur, z.B. Volz, wird nicht
herangezogen.)
(2). Pascal Maire: Warum ich mich so gut pflege (Pourquoi je me soigne si bien). Nietzsche
und das Pharmakon oder/bzw. N.s Pharmakopie
1885 könnte N. mit Psychodrogen experimentiert haben (Opium, Haschisch?), die ihm
(angeblich?) durch einen Holländer zugänglich wurden (S.51). Möbius (1904 ...) sah darin
einen Hauptgrund für N.s (spätere) Erkrankung (S.52). Maire hält es aber für fraglich, ob N.
Opium genommen hat. Jedoch war in den damals verwendeten Medikamenten (z.B. 'bismuth')
Opium enthalten (S.52).
Zu N.s Zusammenbruch: schon in Turin wurde 'bromure' eingesetzt: mögliche
Nebenwirkungen: (S.53 f.): Schwächung des Sexualinstinkts, Atem- und Herzstörungen,
starrer ausdrucksloser Blick, Funktionsstörungen des Gehirns, Apathie, Schwächung des
Gedächtnisses und der Intelligenz. Zu dieser 'intellektuellen Depression' können
hinzukommen: Bewegungsschwäche und Störungen der Bewegungskoordination. ABER N.
scheine kaum betroffen gewesen zu sein von diesen möglichen Nebenwirkungen einer
wiederholten Verwendung dieses Medikaments.
In der Basler Klinik wurde das auch nicht nebenwirkungsfreie Sufonal gegeben und auch
wieder Chloral.
In Jena wird erstmals Merkur-Salz (sel de mercure) gegeben (mit Verweis auf Podach (130138). Diese Massnahme geht zurück auf eine Diagnose aus 1886: 'syphilis par contagion' (mit
Verweis auf Podach). Das Merkur-Salz galt in der damaligen Medizin als das spezifische
Medikament gegen Syphilis (Verweis auf damalige Fachliteratur: S.55, Anm.3). Nach Wissen
des Autors sind das die einzigen 'Spuren' (traces) einer Anwendung 'antisyphilitischer'
Medikamente bei N.
Für den Autor ergeben sich aus dem Berichteten ein paar Beobachtungen, die er als 'Paradoxe'
einstuft: 1) N. ist weniger ein passiver Kranker, viel eher ein Arzt und Therapeut. 2) die Frage
ist immer noch offen: hat er ab 1866 Medikamente gegen Syphilis verwendet? wurde sein
Gehirn durch Drogen geschädigt? Eine definitive Antwort ist nocht möglich; aber nichts
rechtfertigt einen Schluss, von seinen Medikamenten auf eine Vergiftung oder auf Syphilis zu
schliessen. 3) Erst nach dem Zusammenbruch wird N. sich bewusst, dass er krank ist. 4) Sein
Leben verlief zeitlich parallel zur Entstehung der therapeutischen Chemie; N. hatte ein
ständiges Interesse für die möglichen Konsequenzen der Fortschritte der Naturwissenschaften
für seine gesundheit.
In seinem Résumé nennt der Autor 3 Gründe für eine Erforschung von N.s Pharmakologie: 1)
die Frage nach einer möglichen Medikation hinsichtlich Syphilis; 2) die Frage nach N.s
möglicher Verwendung von Drogen; 3) die Chance einer besseren Kenntnis N.s und seiner
Werke aufgrund seiner therapeutischen Gewohnheiten.
Die Resultate sind: zu 1) keine Spur einer anti-syphilitischen Behandlung vor Jena (aber
vielleicht sind Dokumente verloren gegangen); zu 2) vermutlich keine Schädigung durch
Chloral (die Schwester und Mutter haben hier wahrscheinlich übertrieben); zu 3) der
Philologe und Griechenkenner will seine Kenntnisse für seine Lebensweise fruchtbar machen;
daneben aber auch Bemühung, sich die neuen Erkenntnisse seiner Epoche nutzbar zu machen.
Vor dem Zusammenrbruch: eine Patient, der sich immer besser kennenlernen will, sein
eigener Therapeut sein will. Aber auch Bewusstein der Grenzen von Introspektion und
Selbstanalyse.
Einmal zeigt der Autor eine Verbindung von N.s Erfahrungen als 'Kranker' zu seinen philos.
Thesen und Einsichten auf (natürlich ohne genaue Stellenangabe; es geht um EH Vorrede 3,
6.258-259): 'Aus einer langen Erfahrung, welche
eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die
Ursachen, aus denen bisher moralisirt und idealisirt wurde, sehr
anders ansehn als es erwünscht sein mag: die verborgene
Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer grossen Namen
kam für mich an's Licht. – '
(3). Henri Grivois: Nietzsche et la centralité
Den Beginn von N.s Erkrankung sieht er bereits in Turin und in den Fragmenten von 1888.
Vorausgehen kann 'le concernement' (von Starobinski auf Rousseau angewendet): 'un vécu
subjectif lié à la présence physique d'autrui' (68). Geht meist vorbei und ist harmlos.
Anders, wenn es andauert und sich verstärkt.
Am Beginn einer Psychose stellt sich ein Mensch ins Zentrum (centre) der Aktivitäten der
Menschen seiner Umgebung: sein 'concernement s'inscrit et se généralise dans l'indifférence
même des autres'. Folgen sind ein Versinken in Schweigen, Schlaflosigkeit, Hyperaktivität.
Dieses 'concernement' ist zuerst vor allem 'körperlich' (corporel). Durch ein öffentliches
unvorhergesehenes Ereignis kann das 'concernement psychotique' nach aussen treten
(s'extérioriser). Die Sprachfähigkeit bleibt erhalten. Der Psychotiker lebt nicht in einer
fantastischen, sondern in der realen Welt, wo aber die Symbole [die Sprache] nutzlos
geworden sind. Seine Äusserungen lassen auf einen Verlust der Vernunft schliessen (perte de
la raison).
Die orthodoxe Psychiatrie wurde der 'centralisation' nicht gerecht und erlag der Gefahr, bei
der Interpretation eine schon im vorhinein aufgestellte 'sémiologie' anzuwenden. N.s eigene
späte Texte erlauben es, das Auftreten der Psychose besser zu verstehen.
Die 'normalen' (ordinaire) 'centralités' sind häufig: man bezieht alles auf sich und sieht sich
im Mittelpunkt der Welt....
Fragen: N.s Krankheit: eine 'paralysie générale ou psychose naissante'? Litt N. an einer
Komplikation der Syphilis? Darüber wird es keine Gewissheit geben. Wenn man aber für N.
eine 'centralisation' annimmt: kann dann die Diagnose einer allg. Paralys(i)e ad acta gelegt
werden?
Andererseits: ist es überhaupt möglich, die 'centralité psychotique' aus bewussten oder nicht
bewussten Strategien entstehen zu lassen? Schon 1887 spricht N. von seiner 'grossen
Aufgabe'. Also ein Ehrgeiz, gelesen, übersetzt und gefeiert zu werden. Beschwerden,
übersehn zu werden. Erzieher- und Prophetenrolle. Aber mit alledem steht N. nicht allein.
Führt der Wechsel von übertriebener Selbstachtung, Entmutigung, Ressentiment und
Depression zu Verrücktheit (folie), oder ist sie ein Stigma davon? (74 u.).
Was verrät sein Werk? Gibts hier prämonitorische Spuren von 'centralité'? Von welcher
'centralité': der psychotischen, der gewöhnlichen, oder beider? Vielleicht in einigen
Aphorismen, so wie man im seltsamen Verhalten der letzten Wochen Vorzeichen einer
tertiären Syphilis sehen zu können meinte. Dann wäre es nur ein Schritt anzunehmen, dass N.
von einer gewollten 'centralité' mit philosoph. Inspiration weiterging/überging zu einer
'centralité psychotique'. Vielleicht hat er sich sogar darauf vorbereitet: Verweis auf M 14
3.28: "Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich
selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter [...]"
Wird vom Autor verneint. Als zehn Jahre später in Turin 'comportement et centralité' N.
überfallen, ist er selber überrascht verkünden zu müssen, dass er Gott ist und beauftragt, die
Welt zu schaffen.
Insgesamt sind die biograph. Komponenten und die Textanalysen genauso wenig überzeugend
wie die Syphilishypothese (75). These des Autors (76 oben): Die 'centralité psychotique' ist
ein Unfall (accident), zu dem er keine Ätiologie zu geben beanspruchen möchte.
Wichtig für das Problem sind N.s Beziehungen zu den anderen Menschen (76): Die Psychose
entsteht, nach Auffassung des Autors, im Bereich der koordinierten Bewegungen, die die
Menschen stimulieren und einander unterwerfen, jenseits aller definierten Subjektivität. Die
Meisten bahnen sich einen Weg unter Ihresgleichen, aber einige werden das Opfer der
mimetischen Ambiguität jeder interpersonellen Beziehung. [S.77 oben: Lücke im Text].
Wie kann man die Beziehungen N.s zu seiner Umgebung (entourage) in ihrer Unmittelbarkeit
kennenlernen? Seine Briefe liefern ein grossartiges klinisches Zwischenglied. [aber vorher:
S.75 unten: Zweifel an Wert von 'recherches textuelles'?]. Was man hier beobachten kann, ist
absolut charakteristisch für eine entstehende Psychose: das 'interindividuelle' 'comportement',
seine Verflechtung mit polit. u. relig Ideen, die N. seit mehreren Jahren bewegen. Die
unerbittliche innere Kohärenz dieses 'comportement' in diesen Texten und ihre tägliche
Entwicklung bis zum Paroxismus der Vergöttlichung (divinisation).
1887 (14.4.87) schreibt N. (KSB 8 56.28: 'Es scheint mir, dass ich gegen Menschen zu mild,
zu rücksichtsvoll bin, auch werde ich, wo ich nur gelebt habe, alsbald so sehr von Menschen
in Anspruch genommen, dass ich mich zuletzt gegen sie nicht mehr zu vertheidigen weiss.'
N. verlässt dann Sils-Maria und geht nach Turin. Dort erfasst ihn eine Euphorie und seine
Arbeit geht sehr gut voran: 18.10.88 (KSB 8 453.9: 'Alles wird leicht, Alles geräth mir,
obwohl schwerlich schon Jemand so große Dinge unter den Händen gehabt hat.'
Hierzu der Autor (78): Man kann nicht genau entscheiden, ab wann dieses 'comportement'
pathologisch wird; ab wann der überhäufte/überforderte (débordé) N. nicht mehr in der Lage
ist, einen Rückzug zu machen.
In seinen Briefen, insbes. an P. Gast, testet N. gewisse Ideen, die für seine Reputation ein
Risiko sein könnten, und die nach eigener Aussage als 'exzentrisch' gälten. Er berichtet über
sein Verhalten in der Öffentlichkeit: über sein grundloses und dummes Lachen auf der Strasse
(25. Nov. 88: KSB 8 489.44: 'grinsen') etc.; und fährt fort: 'Ich denke, mit einem solchen
Zustand ist man reif zum "Welt-Erlöser"?' (KSB 8 489.49-50). 'Er wolle nicht als Prophet, als
Monster, oder als Gegenstand moralischen Schreckens erscheinen.' (78 u.; kein Nachweis).
Diese drei Ausdrücke enthalten nach Autormeinung die hauptsächlichen Potentiale der
'centralité': das Göttliche, das Monströse, die Abweisung (le rejet). Einige Wochen später
werden diese drei Punkte allen Korrespondenten gegenüber erwähnt, ohne dass N. hier noch
einen Unterschied macht.
Mitte Nov. sieht N. 'des coïncidences curieuses' und es gibt keinen Zufall mehr in seinem
Leben. Er fühlt sich stark genug, die Geschichte der Menschheit in zwei Teile zu zerbrechen
(79). Hier ist nach Autormeinung der Höhepunkt der 'centralité' bereits erreicht, wenn auch
noch nicht schriftlich fixiert.
Am 8.12. heisst es, dass er 'selber alsbald die Welt regieren werde' (KSB 8 510.5). Anfang
Januar 89 bricht die Vergöttlichung aus (la divinisation). N. istalliert sich in der Rolle Gottes:
'Die Welt ist transfigurirt, denn Gott ist auf der Erde' (wo genauer Wortlaut? 6.1.?)
Gemäß Autor (81 u.f.) ist dies die Enthüllung einer 'centralité subjective', das absolute
Paradox einer persönlichen und interindividuellen Autonomie, die ihrer selbst bewusst wird,
und die nicht mehr an einen bestimmten Körper gebunden ist: 'au fond je suis chaque nom de
l'histoire' (82).
N.s eigene, interindividuelle und politische Subjektivität breitet sich aus und wird schwächer
(se dilate et se dilue: 82). Er ist [fühlt sich] im Mittelpunkt der Zeit und der Welt, aber zum
Überleben muss er sich unbedingt eines eigenen Seins versichern, sich nennen [einen Namen
geben]: 'Nietzsche-Dieu': er hat nichts anderes zur Verfügung. Als Mensch existiert er, als
Monstrum artikuliert er eine nicht nachahmbare Heterogenität, als Gott manifestiert er seine
unteilbare und einzige [einzigartige?] Einheit. N. erfährt die absolute Schwäche und äusserste
Grösse des Menschen.
(4) B. de Toffel: Nietzsches Augen
In den Mittelpunkt treten die Daten zu N.s Augen, und insbes. zu den Pupillen-Störungen.
Diese Störungen erlauben es, den Ort der Verletzung (lésion) genau zu bestimmen. Die
Störung und ihr Ort werden genau beschrieben, allerdings in einer für Nicht-Spezialisten
unzugänglichen Fachsprache (S.91-93). Es handelt sich um eine 'lésion périacqueducale droite
en arrière du noyau accessoire du nerf oculomoteur' (94).
Nach dieser 'diagnostic topographique' stellt sich die Frage nach den möglichen Ursachen
einer solchen Verletzung. Nach Prüfung und Ausscheidung einer Reihe von Möglichkeiten
kommt Toffel zu dem Ergebnis, dass nur eine Krankheit die Gesamtheit der Symptome
erklären kann: die Syphilis (95 Mitte). Davon sind zu unterscheiden: 'le tabès' und die
'paralysie générale', die N.s Krankheitsbild nicht abdecken können (95).
Es bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der diagnostischen Hypothese einer
Syphiliserkrankung. Es ist anzunehmen, dass weitere, heute mögliche Diagnoseverfahren
diese Hypothese bei einem heute zu prüfenden Kranken bestätigen würden (96).
(5) A. Fernandez-Zoïla: N. und seine Krankheiten
I: 'La Moria, l'entrée en démence' gibt den üblichen Bericht über die Ereignisse vom Ende
des Jahres 88 bis zur Einlieferung N.s in Jena. Er übernimmt die Diagnose Syphilis und
'paralysie générale'. Als Datum der Ansteckung wird 1866 angenommen.
II: La période pré-moriatique:
zuerst N-Fragm. NL 25[7] 13.641 [Dez.88/ Anf. Jan.89]: 'ich bin die Einsamkeit als Mensch.'
Ohne Kommentar des Autors.
Vor dem Zusammenbruch: ab 1. Okt. 88 lange Periode der Euphorie: Produktion ohne
Zeichen von Schwäche. AC, EH und NC können noch als 'philos. Werke' betrachtet werden:
ohne 'manifeste Inkorrektheiten', aber Ton und Stil zeigen eine 'konstante Exaltiertheit'
(S.108).
N. sorgt sich um seine Identität und um die Integrität seiner Person': er will nicht verwechselt
werden (S.109; an Malwida: 20. Okt. 88). Autor: Hypertrophie des Ego. Weiterhin Euphorie
und die Arbeit geht weiter. Superlative aus Sorge, hinter sich zurück zu bleiben? Glaubt er
wirklich an seine 'grosse Politik' (Juden gegen den Papst ausspielen). Plan, seine Bücher
millionenfach und in vielen Sprachen zu verbreiten: riecht das nicht schon nach Paralyse?
In EH wieder: nicht verwechselt werden (110). Insistieren auf den Eigenschaften, die er sich
zuerteilt. Emphatischer Ton, exzessiver Stolz, der die Freunde (Rohde, Deussen) befremdet.
In NC: eher Selbststärkung als Angriff auf Wagner, für den er eine heimliche Bewunderung
hat. Problem: wie eine Autonomie erreichen, ohne den Vater töten zu wollen (111)?
Diskontinuitäten, Überstürzungen. N. selbst hält seine Gesundheit für ausgezeichent (an
Mutter: 21. Dez. 88). Aber der Autor sieht die Sache anders: 'N. [...] se vaporise.' Sein Werk:
'Oeuvre "folle" sans folie.' (111).
III. N. n'a jamais été fou!
Man muss dreierlei unterscheiden (was Foucault unterlassen habe): folie, démence und
maladie mentale. (1) la folie: 'le fou ne perd pas la rasion: il n'est pas le siège du règne de la
déraison; (2) la démence: 'les démences sont des états déficitaires définitifs et irréversibles'.
So bei N. ab 3. Jan. 89. So lang er Werke schafft: keine 'démence'; Aufhören des Werks ist
Zeichen der 'démence' (und nicht der 'folie', wie Foucault sagte). In N.s Texten gibt es kein
Zeichen einer 'psychopathologie productive' (112). N.s vielfältige Leiden (physisch,
moralisch, physiologisch [Myopie], Migräne etc) stehen nach Autor-Auffassung nicht in
Beziehung mit der/einer syphilit. Erkrankung (112). Diese syphilit. Krankheit hat keine
Verbindung zur Krankheit des Vaters oder zur Familiengeschichte. Der Zusammenbruch ist
nicht ausgelöst durch 'chloral' oder 'bromure'.
Zu trennen sind [auch/ferner]: defizitäre von produktiver Psychopathologie (112). Bei der
produktiven Psychopathologie gehen psych. u. körperl. Leiden Hand in Hand mit einer
delirierenden Kreativität. Man dachte bei N. an 'Paranoia'. In der Tat gibts bei N. eine
Hypertrophie des ICH; aber nicht im Alltag (113). N. war einfach, herzlich, viell auch
fordernd. Aber N. geriet durch sein besessenes Arbeiten in die Isolation. Er war aber weder
paranoisch, noch schizoid, noch 'délirant' (113). Er war durch sein Projekt völlig absorbiert
und seine Entdeckungen (EWK) brachten ihn [manchmal] in Verwirrung/ aus der Fassung.
Es gab starke Stimmmungsschwankungen : Perioden der Depression und der Euphorie; aber
wohl kaum vor 1881.
IV. Un corps propre peu et mal auto-incarné (114)
EH Weise 2 6.266: Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich
selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein
energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein.
Kritik an Janz (114): wichtigste Quelle, aber er unterstreicht vor allem die 'positiven Effekte'
der Krankheit. Diese a posteriori-Interpretation könnte den Blick verfälschen.
Zu N.s Kindheit (114): die 'névropathie' [une sensibilité exqise du système nerveux] und die
Kurzsichtigkeit(Myopie) sind väterliches Erbe. Andere Faktoren können zusätzlich eine Rolle
gespielt haben: Klima etc; viell. auch nur/ vor allem in N.s 'fantaisie'. Die Bedeutung dieses
'imaginaire' ist noch zu erforschen, vor allem die Art und Weise, wie dieses Imaginäre in der
Begriffsbildung seiner Philosophie wiederkehrt.
Hinweis auf EH Weise 2 6.267: So in der That erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit:
ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten
und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus
meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie …
Aber die Kindheit, die Adoleszenz und 'le jeune age' verlaufen, bis auf kleine Handicaps, gut.
Für die Zeit vom 20. bis zum 26. Jahr sind drei Vorfälle/Ereignisse zu nennen (dazu jeweils
Janz):
1. die Syphilis-Antsteckung: es scheint sicher zu sein, dass N. sich während seines Leipziger
Aufenthalts (ab 17. Okt. 1865 für zwei Jahre) sich einer antisiphilit. Behandlung unterzogen
hat (116). Das Jena-Dossier verlegt die Syph.-Ansteckung ins Jahr 1865 (dazu Janz I 172-173
[frz. Ausgabe]). Dazu Brief N. an Gersdorff 4.Aug. 1865. (117: weitere Belege für diese
These). Man hat offenbar N. die verhängnisvollen späteren Folgen dieser Ansteckung
verheimlicht (Janz).
2. Der Unfall während seines Militärdienstes (März 1868)(S.118). Hinzu kommen
Magenprobleme (Janz I 201).
3. Die Erfahrungen im Krieg von 1870: Dysenterie und Diphterie.
Nochmals die angeborene Myopie (119): mehrere Arztbesuche (u.a. Dr. Eiser) mit
schwerwiegendem Resultat (Janz II 228-233): keine Überanstrengungen, kein Lesen auf Jahre
hin. Zudem möglich: durch die Myopie Verstärkung der Migräneanfälle (S.120-121 mit
Hinweisen auf einschläg. neuere Forschung).
Dies wertet der Autor als Präzisierung der Wichtigkeit des organischen Anteils für den
Verlauf seines geistigen Lebens (121). Die Augenprobleme erhalten eine ungewöhnliche
Bedeutung hinsichtlich der biograph. Daten, wie Janz sie gibt: Isolation, Bedürfnis an
Dunkelheit etc (122). Eine gute Integration des 'corporel' fand nicht statt; aber das Gewicht
des Organischen genügt nicht, diese krankhafte Disposition zu verstehen. Dazu wäre die
Erforschung 'des divers feuillets participant à l'auto-incarnation' nötig, die auf die Erreichung
einer 'korrekten' psycho-leiblichen Regulation im Körper (le corps propre) abzielen (122).
V. Le système maladie-santé, la biographie, l'oeuvre
N.s 'Biopathographie' ist gekennzeichnet durch zwei schwere organische Einwirkungen:
Ersterns seine angeborene Myopie, die für seine geistige Arbeit (lesen und schreiben) sehr
hemmend war. Schon in Pforta Symptome mit schrecklichen Kopfschmerzen. Die Syphilis,
die wohl erst für 1866 anzusetzen ist, konnte dafür nicht verantwortlich sein. Zweitens die
Syphilis, die in ihrer vierten Stufe Ende 1888 ausbricht. Die Annahme sei falsch, dass N. hier
eine 'folie' simulierte [Foucauld]; es war eine 'démence' (123).
1864/65: Studentenverbindung 'Fanconia'; gemäß Deussen: Besuch eines Bordells in Köln.
1865 Schopenhauer-Lektüre mit weitreichendem Einfluss auf sein Leben.
Grösste Bedeutung der Freunde für N.s Biographie (125): Rée, Overbeck, Peter Gast und R.
Wagner (1868 Bekanntschaft in Leipzig; zentrale Rolle bis 1876).
Die Rolle der Musik in N.s Leben (125 f.).
Beziehung zu Frauen (126): gemäß Schlechta hat N. beim Weggang aus Pforta noch nicht den
'bildenden Einfluss' von Frauen kennengelernt; er glaubte das Leben aus Büchern zu kennen
(Janz I 111). Ab 1864/65 hat N. vielleicht in Bonn und Köln begonnen, 'les petites femmes' zu
besuchen und in Leipzig in Bordellen einige vorübergehende Erfahrungen gemacht, und
später in Capri und anderswo (126). Seine Unerfahrenheit mit Frauen bleibt bis zu seinem
Ende bestehen. Es gab aber einige schwärmerische Idyllen, so mit Lou; daneben brüske
Heiratsanträge etc. Nur eine Frau war ihm sehr zugetan (Marie Baumgarten; sie übersetzte 2
Ubs in Franz.), aber N. hat das gar nicht bemerkt. Lebte er überhaupt auf dieser Erde? (127).
Der Konflikt mit Wagner (127): Geringschätzung der Kompositionen N.s; Insdiskretionen
Wagners im Zus-hang mit N.s Krankheit (angebl. Päderastie-Vorwurf); Enttäuschung N.s
1876 bei der Eröffnung von Bayreuth, und verletzter Stolz: 'N. wurde das Opfer eines wahren
Hasses gegen Wagner [...]' (129).
Fazit: Die Einsamkeit: der 'entscheidende Schlüssel zu N.s Person': Angewiesenheit auf Ruhe,
abgelegene Orte, und Dunkelheit sind nötig für seine Augen. Bewunderer Emersons, der das
einsame Leben lobt. In N.s Briefen 'les cris de détresse d'un homme seul', der sich
unverstanden und verraten fühlt.
Fazit mit Verweis auf Freud (Assoun 22): 'Es gibt keinen Beweis für eine "maladie
névrotique".' Autor: N. war der typische 'philosophe-artiste': 'Aus meinem Willen zur
Gesundheit und zum Leben machte ich meine Philosophie' (N: wo?).
6. Pierre Marie: Von der höchsten Einsamkeit
Die Gefahr dieser Einsamkeit und Vereinsamung sei N. schon beim Schreiben von JGB
bewusst geworden, wofür der Autor auf JGB 29 verweist:
' Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, welche das Leben an sich schon mit sich
bringt; von denen es nicht die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt
und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu
Grunde, so geschieht es so ferne vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht fühlen und mitfühlen: – und
er kann nicht mehr zurück! er kann auch zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück! – –
Marie sieht hier eine erstaunliche Nähe zu Lacan's Beschreibung des Resultats einer
analytischen Behandlung/Kur: eine Auflösung des Subjekts, ein Nichtsein (désêtre), in dem
der Analysant alle Identitäten schwinden sieht, die seine Existenz konstituiert haben: es bliebe
nur das Begehren übrig (le désir) (134 unten). Nur wenige hätte das aushalten können, etwa
Gorgias und Montaigne, die durch ihre Ironie davor bewahrt wurden, verstanden werden zu
wollen oder Schüler zu suchen. Lacan und N. haben aber immer unter dem Nichtverstandenwerden gelitten.
N. war den Zeitgenossen fremd geworden, wie Äusserungen von Rohde und Widemann beim
Erscheinen von JGB deutlich werden lassen, die N.s Fremdheit und Einsamkeit hervorheben
(Belege S.135). Zwei Jahre später, im Herbst 88, nimmt sein Bedürfnis nach Verständnis eine
extreme Stärke (une force extrême) an, beim Schreiben von WA, GD, AC, EH und NCW, die
in einer konstanten Euphorie zustande kommen: 'Man hat mich nicht verstanden, nicht einmal
gesehen... Hört mich! ...' (übersetzt aus dem Franz.).
Stellungnahme des Autors (136): N. hat sich in eine Exilsituation begeben, in eine
Abtrennung von allen, in ein im eigentlichen Sinn unerträgliches Denken, weil diesem jede
Unterstützung abgeht. Aber N. hat bis Januar 89 standgehalten. In alledem sei nichts
Pathologisches, oder vielmehr: allzu viel Pathologisches; nur Menschliches, zuviel
Menschliches.
Teil II: Gesundheit und Krankheit in N.s Philosophie
(7) Didier Raymond: Gesundheit und Krankheit bei Nietzsche
Gesundheit und Krankheit können nicht getrennt werden: sie sind 'nichts wesentlich
Verschiedenes' (NL 14[65] 13.250). Es gibt 'unzählige Gesundheiten des Leibes'; der 'Begriff
einer Normal-Gesundheit' ist 'abhanden' gekommen (FW 120 3.477). Der Organismus sucht
immer (s)ein Gleichgewicht und daher ist die Krankheit ein integraler Teil der Gesundheit.
Nietzsche ist der Krankheit dankbar, die ihm die Augen geöffnet hat, so dass er mit der
'Feinheit eines Polizeiagenten [....] die Geheimnisse der Seele [...] verstehen [kann], ohne sie
zu verrathen' (MA I 243 2.203). Die Krankheit hat es N. ermöglicht, die Gesundheit aus
einem neuen Blickwinkel zu sehen und hat es ihm erlaubt, den 'nomalen' Blick des Menschen
auf sich selbst umzukehren. Nietzsche hat gesunde Werte in der Optik der Krankheit
beobachtet und kranke Werte aus der Optik der Gesundheit. Hieraus ist sein Konzept der
'grossen Gesundheit' erwachsen. Und so kommt Raymond zu der These: 'Die Krankheit wurde
zur Quelle der Umwertung' (142).
Die 'grosse Gesundheit' ist gewissermassen der Nenner der Umwertung der Werte (143). Sie
ist die Gesundheit, die alle Krankheiten einschliessen kann (FW 382 3.635). Sie ist nichts
anderes als die Fähigkeit, quer durch alle Ungleichgewichte eine Struktur zu bewahren, die
sich ständig verstärkt und sich aus ihren eigenen Schwächen nährt. Sie muss ständig neu
erobert werden ((FW 382). Sie eröffnet den Weg 'zu vielen und entgegengesetzten
Denkweisen' (MA I Vorrede 4 2.18).
Die 'grosse Gesundheit' durchdringt N.s ganzes Werk und macht aus ihm einen
ausgezeichneten Erforscher aller Formen der 'décadence'.
(Wie problematisch es ist, nur mit Übersetzungen von N.-Texten zu arbeiten, wird an einer
Stelle deutlich: in NL 14[119] 13.298 steht bei N.: 'eine Verarmung an Leben'; in der frz.
Übersetzung bei Raymond (141): 'un accroissement de vie'.) Wie in frz. Büchern üblich
fehlen überall genaue Stellennachweise, und es kostet nicht wenig Zeit, die entsprechenden
Stellen aufzufinden.)
(8) Catherine Perret: Letzte Wünsche ('Dernières volontées). Einführung und Übersetzung der
letzten Briefe Nietzsches (Directrice de programme au Collège international de Philosophie)
(1) Zunächst N.s Liebeserklärung an Cosima, die die Dimension eines ödipalen Konflikts
(146) annimmt. Andeutungen darauf seien schon am Anfang von EH zu finden, wo N. sein
Verhältnis zu seinen Eltern näher bestimmt.
(2) Aber die Briefe sind auch ein Zeugnis für die Erfahrung, was aus dem Denken wird, wenn
es sich aus der Identifikation mit 'l'institution philosophique' losreisst (147). [???] Folge
(Symptom) dieser Losreissung ist offenbar N.s Einsamkeit, die N. als Bedingung zur
Erreichung eines höchsten Grades von 'Selbstbesinnung' betrachtet (nicht belegtes Zitat: aus
KSB?). Nach Meinung der Autorin ist diese 'Selbstbesinnung' nichts anderes als der Wille
einer Bejahung der Realität, wie sie ist, bis hin zum Willen, selbst diese Realität zu sein (147;
mit Verweis auf EH Schicksal 5 6.370.22-26).
(3) Darüberhinaus zeugt N. hier für die fundamentale Erfahrung des Denkens, das, wenn es
sich mit dem Gedachten gleichsetzen will, sich mit seinem Objekt identifiziert (147 unten).
Das Denken will selbst die 'Sache' (la 'chose') werden (148). Dass das Denken die Realität
nicht 'heiraten' kann (l'épouser), darin besteht N.s 'vocation à la solitude' (148).
(4) N.s Einsamkeit ist nicht nur die Einsamkeit der Erkenntnis. Der Identifikationswunsch
wird bei ihm gehemmt durch einen Projektionsmechanismus. Es gelingt N. nicht, das von ihm
angezielte Objekt mit 'Humanität' einzufärben (à le colorer d'humanité), zwischen ihr und sich
eine 'imaginäre Reziprozität' zu schaffen, die sie denkbar macht, wenn auch nur auf
illusionäre Weise (148). Die Realität ist für ihn 'furchtbar', schrecklich, reines Leiden. Hier
zeigt sich N.s Unmöglichkeit, über den Abgrund zu springen, zu lügen, ohne es zu wissen
oder zu wollen. Seine Einsamkeit ist so absolut wie die Inhumanität der total fremden
Realität. (dazu Hinweis auf Z Erlösung 4.178-179).
Das Denken kann der Inhumanität seiner Einsamkeit nur entgehen, wenn es sich selbst
entfremdet (en s'aliénant), oder/bzw. wenn es die Theorie seiner Entfremdung konstruiert
(149). Da N. dem nicht zugestimmt hat, konnte er das dem Denken selbst inhärente
psychotische Moment nicht hinter sich lassen/ überschreiten (149).
[Folgt noch ein schwieriger Absatz, den ich dem interessierten Leser empfehle: S.149].
Dieser Text ist bei der Übersetzung einer Auswahl von N.s letzten Briefen entstanden:
erschienen 1989 im Verlag Rivage unter dem Titel 'Dernières lettres'. Daraus folgt eine
Auswahl: S,150 -163.- Im ersten Brief ist gleich ein Übersetzungsfehler: N.s 'sich
auseinandersetzen' wird übersetzt mit 's'opposer'.(9) A. Philonenko: Melancholie und Trost bei Schopenhauer und Nietzsche (Philos.-Prof.
Université Caen und Genf)
Schwieriger Aufsatz, der nur partiell entschlüsselt werden konnte. Irritierend ist dabei, dass
der Autor immer wieder mit Belegzahlen (Belege der Wörter Melancholie, Indifferenz und
Trost bei Schop. und N.) argumentiert, die alle viel zu niedrig, d.h. falsch sind. (Für N. hätte
man auch noch das Wort 'Schwermut' heranziehen müssen.) Gemäß Phil. gibt es bei Schop.
angebl. KEINEN einzigen Beleg für Mel., obwohl Schop.s Philosophie geradezu von diesem
Gefühl inspiriert zu sein scheine. Das kommt Phil. 'étrange' vor. [es gibt aber in WWV 7
Belege; und, gemäß Schop.-Index, noch 2 in den Paralipomena].
Gang der Argumentation:
Schop. habe eine hedonist. Weltsicht vertreten: denn weil das Leiden vorübergehen müsse,
bleibt zuletzt die Lust (le plaisir): Schop. habe es sich verboten, der Mel. zu begegnen. Schop.
habe die ganze Welt betrachtet von einem Gesichtspunkt des Trostes aus und alle Tragödie
eliminiert (167 oben) [ist das die Meinung von Schop. oder N. über Schop.?]
N. fiel betreffs Schop. von einer Desillusion in die andere; zuletzt blieb nur eine 'totale
Indifferenz' übrig (167). Diese Indiff. erlaubte es Schop., den tiefen Hedonimus zu
verheimlichen, der den Kern seines Denkens ausmacht. Die Indiff. ist so stark bei Schop.,
dass das trag. Gefühl, das die schrecklichste Melancholie hervorrufen kann, zerstört wird. Die
Indiff. Schop.s kann nur mit der der Steine verglichen werden, aus denen ein Schloss besteht
(168). Aber genau so wenig, wie Schop. das Wort Mel. geschrieben habe [er hat es aber mehr
als 7 mal geschrieben!], so hat er auch nie das Wort Indiff.(oder ein Äquivalent) geschrieben
(168-9). [in WWV steht 2 mal Indiff.!].
Das 'magische' Wort nun, das bei Schop. die zwei Unendlichkeiten 'Mel.' und 'Indiff.'
verdeckt, das ist das Wort 'Trost': der 'Trost', den 'die volle Gewissheit der unabänderlichen
Nothwendigkeit' gibt (Schop.: WWV). Das ist ein aristokrat. Gedanke (Verweis auf Plato).
Im Untertitel des 'Zarathustra', 'Ein Buch für Alle und Keinen' sieht Phil. eine radikale Absage
an Schop.: Phil. versteht ihn so: 'KEINEN: keiner ist Philosoph und Aristokrat; ALLE: jeder
kann Philosoph und Aristokrat werden' (170). Eine solche Erklärung verlangt gemäß Phil.: die
Mel. vertreiben, die Indiff. entfernen und den 'wahren Trost' finden. Der Philos., der das
versucht, gerät leicht in Verzweiflung, Rausch und Krankheit. So N.
Bei N. gab es genug Anlässe für Mel.: 'aber trotzdem fehlt das Wort bei N. fast völlig' (171).
Anhand der Indices bei Kröner und Schlechta findet Phil. 6 Belege [die KSA-CD-ROM liefert
aber mehr als 70 Belege].
Aber das so seltene Wort besitzt bei N. eine 'densité énorme': in ihm verdichtet er den ganzen
Sinn seines Lebens. So z.B. in (NL 8[42] 9.391):
immer melancholisch – aber ein Princip der Tapferkeit von
Kindheit an macht, daß ich viele kleine Siege habe und in
Folge dessen heiterer bin als es meiner Melancholie geziemt.
In diesem Kampf schöpft N. den Mut, der nötig ist, dem Hedonismus Schop.s zu widerstehen
und dessen falschen Trost abzulehnen: also im Kampf, nicht im Wissen (Schop.) liegt das
Prinzip zur Überwindung/schreitung der Mel., im Kampf, der zugleich Quelle des Tragischen
ist (172). N.s Leben ist also gewissermassen der Sinn der Geschichte (le sens de l'histoire).
Zum Kämpfen muss man mutig sein und darf nicht müde sein. Hier zeigt sich ein weiterer/
anderer Aspekt der Mel., die so verschieden ist vom 'chagrin' Tolstois. N. unterscheidet Mel.
vom Leiden. In GT ist zwar viel vom Leiden die Rede, aber diese verdient nicht soviel
Aufmerksamkeit. Das Leiden sei nicht so schrecklich, wie man gern sagt. Dafür Hinweis auf
Stoiker. Die Theodizee von Leibniz, die sich so sehr über das Leiden beunruhigt, ist
'degeneriert' (172). Auch Plato hat die Rolle des Leidens übertrieben. Es ist unverständlich,
weshalb Plato dem Sokrates so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, der ein 'Eudämonist' war,
der nur den Tod abschaffen (écarter) wollte. Dass Sokr. den Giftbecher angeblich in
vornehmer Haltung akzeptiert hat, bestätigt nur alle banalen Vorstellungen 'au sens grec'
(173).
Denn die Griechen waren melancholisch, aber zutiefst indifferent gegenüber körperlichem
Leiden: die Mel., die reine Mel. war ihnen nicht unbekannt: es war der vom intensen Durst
nach Existenz angefachte Schrecken. Das Leiden gehörte zur Ordnung der Dinge, aber nicht
die Mel.; die Galle darf nicht schwarz sein. Weil die Mel. nichts Banales war: darum war sie
so tief beunruhigend (173).
Phil. geht dann auf M 172 (3.152f.) ein, wo aber von Mitleid, nicht von Mel. die Rede ist: den
harten Kriegern 'nützt' es, 'von Zeit zu Zeit erweicht zu werden [durch die Tragödie]'; aber die
Trag. ist schädlich, wenn schon das ganze Zeiter 'weich' ist (M 172). Offenbar bringt Phil.
hier 'Weichheit' mit Mel. in Verbindung (??)
Folgt (S.173 f.) Interpretation von N.s Gedicht 'An die Melancholie' von 1871 (7.389). Das
Gedicht ist eine Kampfansage an die Mel., die 4 mal 'Göttin' genannt und von einem Geier
begleitet wird. Entstehungszeit unsicher. Interpretation schwierig, weil N. das erschreckende
Bild des GEIERS verwendet. Der Geier: Symbol der Mel., überfällt den Menschen, denn er
ist das lebende/lebendige Wesen mit dem einzigen Ziel, den Toten zu zerreissen. Vermengung
von Leben und Tod, wie auch sonst beim frühen N. (vgl. Gedicht: 'Ohne Heimat'). Der Geier
ist die Göttin der Mel. (175). Es gibt demnach bei N. drei grosse Tiersymbole: Adler,
Schlange und Geier (175). Gemäß Garnier (zit in Anm. 1, S.178) verweist das Gedicht 'auf
den starken Lebenswillen, der von N. der fundmentalen Macht der Mel. entgegengestellt
wird'.
Aber die Mel. hat bei N. nicht immer das gleiche Gesicht (178). Folgt Interpretation von M 71
und FW 98. In M71 wird die 'Mel. der Ruinen' der 'Mel. der ewigen Bauten' entgegengesetzt,
die in die Exteriorität eingraviert ist, wobei ein Gradunterschied entsteht, der sich in einen
Wesensunterschied verwandelt. In FW 98 geht es um Interiorität, indem die Mel. von Hamlet
der des Brutus entgegengestellt wird, wobei ebenfalls ein Gradunterschied in einen
Wesensunterschied übergeht (182).
Aus UB III 7 1.404:
Die Natur will immer gemeinnützig sein, aber sie versteht es
nicht zu diesem Zwecke die besten und geschicktesten Mittel und
Handhaben zu finden: das ist ihr grosses Leiden, deshalb ist sie
melancholisch. Dass sie den Menschen durch die Erzeugung des
Philosophen und des Künstlers das Dasein deutsam und bedeutsam
machen wollte, das ist bei ihrem eignen erlösungsbedürftigen
Drange gewiss; aber wie ungewiss, wie schwach und matt ist die
Wirkung, welche sie meisthin mit den Philosophen und Künstlern
erreicht!
ergibt sich für Phil. als letzter/höchster/tiesfter Sinn der Mel. (sens ultime de la mélancolie):
Ohnmacht (impuissance) (184), Paralyse, Tod, alles was für den Geier gut ist. Fast alle
Menschen sind ohnmächtig, und Prometheus hat nur Schatten gesehen, die melancholisch
waren (185). Wenn 'Mensch' die Realität als Leben bezeichnet, dann ist die Mel. der
Unmensch, das Moströse, Hässliche, Missgestaltete, das Ekel hervorruft. Die Mel. heilen zu
wollen, erfordert: Trost beizubringen, indem der Untermensch in uns zurückgedrängt wird,
der Geier, der die Wüste in uns ausbreitet und die Macht vernichtet. Das wäre Trost! (185).
AUCH DAS WORT 'Trost' ist angeblich wenig belegt bei N.: 7 mal (gemäß Kröner u.
Schlechta) [aber gemäß CD-ROM: Trost 108 mal, u. zahlr. Belege der Ableitungen davon];
aber: die Relevanz der Wörter hänge nicht von ihrer Frequenz ab (185)...
Trotzdem: N. wenig über Mel., - aber immer auf entschiedene Weise. Aber, es wurde
deutlich, wie er, die Mel. bestimmend, den Sinn seines Lebens zusammengepresst hat
(contracter).
So in einem Brief an Eiser (Anf. Jan 80: KSB 6.3 f.):
'Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: [Auslassung]. Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht
verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen [...].'
Dazu Phil. (186): N. ist so weit wie irgend möglich entfernt von der Macht (puissance). Er ist,
in diesem Sinn, UNTRÖSTBAR.
Aber Phil. hat im obigen Briefzitat Wichtiges weggelassen [oben: Auslassung]:
'ich hätte sie [meine Existenz] längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und
Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustand des Leidens und der fast absoluten
Entsagung machte - diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und
alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher [Hervorhebung GS] als je in meinem Leben: und
doch! Beständiger Schmerz [...]'
Es ist also, entgegen Philonenko (186: 'Et pourtant...], dann doch nicht so unverständlich,
wenn N. sagt [a.a.O. S.4]:
'Mein Trost sind meine Gedanken und Perspektiven.'
Gemäß Phil. ist aber noch nicht deutlich, was es bedeutet, den Trost im Denken zu finden
(186). Denn N. schreibt in JGB 289 5.234:
Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph –
gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war –
seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt
habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was
man bei sich birgt? –
Phil.: daher muss das 'Labyrinth des Trostes' weiter untersucht werden (186).
Der zitierte Brief könnte nahelegen, dass N. Trost im Denken/ in den Gedanken gefunden
habe; aber das wäre ein Rückfall in den falschen, von Schop. versprochenen Trost. Das
wusste N. immer, und es gibt also ZWEI Formen des Trostes, wovon eine zweifelhaft ist
(S.187); dazu GT 7 1.56-57:
Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner
Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins
enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches
Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte
eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit
die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von
einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins
Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine
asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener
Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit
mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das
Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie
zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen
der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder
schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen
ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln,
zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion
das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von
Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus
einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln
kommt; nicht das Reflectiren, nein! – die wahre Erkenntniss,
der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum
Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem
dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, [...]
Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als
rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag
jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des
Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt:
diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des
Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische
Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus
ist die rettende That der griechischen Kunst; an der Mittelwelt
dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin
beschriebenen Anwandlungen.
Dieser Text sei nie verstanden worden (188): Hamlet ist eine Ausprägung des schopenhischen Menschen, der den Schrecken im Wesen der Dinge erfasst hat und zur Rettung die
Notw. der Kunst und der Illusion verlangt (188). Hamlets 'Mel.' besteht darin, dass die Erk.
das Handeln tötet (188).
Daher N. (19[125] 7.459: 'Nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Heil!'
und: 19[126] 7.459': Furchtbare Einsamkeit des letzten Philosophen! Ihn umstarrt
die Natur, Geier schweben über ihm. Und so ruft er in die
Natur: Gieb Vergessen! Vergessen! – Nein, er erträgt
das Leiden als Titan – bis die Versöhnung
ihm geboten wird in der höchsten tragischen Kunst.
Also (Phil.): 'Einsamkeit, Geier, Mut, Versöhnung : viell. die höchste Form der Tröstung' (188
unten).
Der Trost Hamlets wird zurückgewiesen, weil ohne Macht, ein Schwächeanfall, ein Sieg der
Mel. Die Kunst kommt [hier] von aussen (du dehors), wie ein deus ex machina. Hier erkennt
man die grosse Lüge im angeblich tröstlichen Wissen Schop.s. Hier schweben die Geier:
Sokrates, Rousseau, Kant, Schop.
Und dazu noch eine zweite 'interessante' Stelle: GT 7 1.56:
Der metaphysische Trost, – mit welchem, wie ich schon hier andeute,
uns jede wahre Tragödie entlässt – dass das Leben im Grunde
der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar
mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter
Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam
hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem
Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig
dieselben bleiben.
Zwischen DIESEM und dem VORHER zit. Zitat bestehe aber kein WS:
im ersten Text (aus GT): ist das Wesen der Dinge schrecklich: ein Weltbild auf Erkenntnis
gegründet;
im zweiten GT-Text: voller Freude: 'la conception simple de la vie' (190).
Text II spricht von der Freude im Leben und stellt sich der Philosophie Schop.s entgegen.
Hier sieht Phil. eine Nähe N.s zu den 'wahren Verbrechern' und ihrer Stellung zu Leben und
Gesellschaft (Vergleich mit Landru: seine letzte Bitte: sein Füsse waschen zu dürfen:
Lachen). Der sehr unglückliche N. bewunderte die Verbrecher, denn er hat [wie diese] viel
zur Umwerung der Werte beigetragen (193). Und zwar mit einem vernichtenden Humor
(humour ravageur), und das Gemeinsame mit den Kriminellen, das war das Lachen, das es
ihm erlaubte, der Mel. zu entgehen und den wahren Trost zu finden (193).
Dann geht Phil. auf das Lachen bei N. ein: NL 28[44] 11.317; Z IV Vom höh. Menschen 16
4.365 (mit Bezug auf Luk. 6, 25)::
Welches war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War
es nicht das Wort Dessen, der sprach: "Wehe Denen, die hier
lachen!"
Lachen ist nicht die Tat eines schwachen Geistes oder eines Melancholikers. Lachen bedeutet
sich zu trösten, ohne aufzuhören, sich des Tragischen bewusst zu sein (193).
Und N. verstand auch, über sich selbst zu lachen; dazu Hinweis auf das Motto von FW von
1887 (KSA 3.343):
Ich wohne in meinem eigenen Haus,
Hab Niemandem nie nichts nachgemacht
Und – lachte noch jeden Meister aus,
Der nicht sich selber ausgelacht.
In M sieht Phil. eine Absage an Schop. und eine Hinwendung zum Lachen (S.196): N.
verlässt den feierlichen Ton seiner früh. Schriften [dies aber schon in UB I]; greift z.B.
Paulus in schockier. Weise an (M 68); schreibt wenig bedeutende Dinge, die aber Lachen
hervorrufen können (Beisp.: M 320; M 333; 340). Die M ist zwar ein zähneknirschendes
Buch, enthält aber viele Scherze (z.B. über die Ehe, die Intell. u. Schönheit der Frauen).
Hinter diesem Lachen vermutet Phil. 'eine Philosophie der Höflichkeit': so in M 151 und M
380:
Erprobter Rath. – Von allen Trostmitteln thut
Trostbedürftigen Nichts so wohl, als die Behauptung, für ihren
Fall gebe es keinen Trost. Darin liegt eine solche Auszeichnung,
dass sie wieder den Kopf erheben.
Für N. ist die Höflichkeit ein Weg zum Trost (198): weil hierdurch das Lachen nicht
beleidigend ist. Der GEIER aber ist exzessiv unhöflich (199).
Das führt zu der These: durch diese Höflichkeit unterscheidet sich N. von Schop.:
bei Schop: einerseits Indiff. gegenüber Elend der Menschen, aber andrerseits 'promiscuité
schop.';
bei N.: die Höflichkeit als Teilnahme (intérêt), die Distanz bewahrt (aber ohne die Kälte einer
egoist. Moral und ohne grosse u. falsche Gefühle) (199).
N.s Philos. der Höfl. erlaubt Trost, Freude des Herzens, vermeidet die falschen Werte Mitleid,
Sympathie und die Schop.s Philos. durchdringende Scham, die 'vulgär' u. nicht aristokrat. ist.
Die Tugend der Höflichkeit kann uns vor vielem schützen, und insbes. davor, bei der Suche
nach der eigenen Wahrheit verachtet zu werden (202):
VM 256.
Warnung an die Verachteten. – Wenn man
unverkennbar in der Achtung der Menschen gesunken ist, so
halte man mit den Zähnen an der Scham im Verkehre fest: sonst
verräth man den Andern, dass man auch in seiner eigenen
Achtung gesunken ist. Der Cynismus im Verkehre ist ein Anzeichen,
dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund
behandelt.
Wenn der andere ein Geier ist, unhöflich, unfähig zu lachen und in uns Traurigkeit erzeugt dann ist das kein Grund, den Anstand (décence) zu verlieren. Nicht durch 'innere
Transzendenz' ('Gnade') kann man jemanden trösten, sondern indem man sozusagen von der
Peripherie seines Wesens ausgeht, indem man ihn lehrt, dass alles erlaubt ist, insbes. nur mit
Arbeitern Freundschaft zu schliessen (202):
VM 260:
Nur Arbeitsame sich zu Freunden machen. –
Der Müssige ist seinen Freunden gefährlich: denn weil er
nicht genug zu thun hat, redet er davon, was seine Freunde
thun und nicht thun, mischt sich endlich hinein und macht sich
beschwerlich: wesshalb man kluger Weise nur mit Arbeitsamen
Freundschaft schliessen soll.
(10) F. Guéry: Nietzsche und der Idealismus (Prof. an der Fak. der Philos. - Lyon III)
Ohne Zweifel geht N. nicht ohne Vermittlung auf Plato zurück, wenn er die Metaph. als
Vorstellung konzipiert und ihr als wahre Essenz den Willen entgegenstellt. Ohne Schop.s
Vorbild hätte dieser Rückgriff kaum soviel Gewicht bekommen. N. wendet sich dabei eher
gegen Schop. als gegen Plato, wenn er als dominierende Tendenz seiner Zeit die 'Herrschaft
des Ideals', d.h. den Idealismus als effektive Kraft diagnostiziert. N. verbindet das 'Ideal' mit
einer zeitlichen/zeitbedingten Macht und nicht mit einer 'Flucht' oder einer Utopie; er
behandelt das Ideal als eine zugleich entartete und herrschende Form der Macht; die Macht
der/als Vorstellung verrät das wahre Wesen der Macht und des Willens; das gilt von Plato bis
Schopenhauer und Wagner. N.s Abrechnung ist fest mit dieser Kette verbunden: der
sozialistisch-christl. Wagnerismus ist Schopenhauerianismus, und der schopenhauerische
Pessimismus ist ein in die Wirklichkeit versetzter (platonist.) Idealismus und nicht eine
Utopie am Himmel der Ideen (205).
Schop.s Vorstellung kann sich nur vom universellen Willen emanzipieren und den 'Willen
verneinen', sofern sie sich sich selbst vorstellt, insbes. im Bereich der Kunst. Die Kunst
verneint das Leben, indem sie sich vorstellt, und die ethische Dimension ist die wahre
Perspektive dieser ästhetischen Erfassung des Problems der 'Welt', in der Terminologie
Heid.'s: 'des Ganzen des Seienden'. Auf den Künstler folgt der Heilige als Figur eines
Lebenwollens, das sich 'vermeint' und sich überwindet (206).
Schop. wertet den Wert des Lebens ab, um eine solche Überwindung umso besser aufwerten
zu können. Leben ist Leiden: daher ist es die Abschwächung des Leidens in der Überwindung
der Individuation, die zugleich ein asketisches und artistisches Leben und die Verdammung
des Lebens selbst darstellt.
Nietzsche erhebt das Leiden in den Rang des Lebens, affirmierend, als Wahrheit des
Seienden. Leben ist für ihn Leiden, daher sind die Formen des Lebens, die das Leiden
prinzipiell fliehen, Lügen und ethische Sakrilegien. Die Macht ist Leben, nicht dem 'LebenWollen' entgegengesetzte 'Vorstellung' (206). N. wertet die Perspektive Schop.s, - wo Wille
und Vorstellung auseinanderliegen, um sich in der asketischen Negation des Lebens zu
vereinigen, - um, indem er sie vereinigt zu einer Lebenskraft (valeur vitale) und schliesslich
als 'Macht'.
Exkurs zu Plato (Bankett): Was ist das Leben des Menschen, das uns 'an das Sinnliche' heftet?
Bei den Liebenden fixiert der Körper die Aufmerksamkeit auf sich Änderndes, aber
Verführerisches, auf den physischen Schein, den man verewigen möchte. Hier fordert Plato
eine Loslösung: die Liebe ist eine lügnerische und schmerzhafte Täuschung. Die Lösung
besteht darin, den Schmerz zu vermindern durch Abschwächung dessen, was uns zugleich
leben und leiden macht: gehen wir doch von der Liebe zu einem schönen Körper über zur
Liebe der schönen Körper, der 'Schönheit' und zuletzt zur 'Idee' der Schönheit. Die Liebe ist
ein Gefängnis, das wir verlassen müssen. (208).
N.sieht hinter diesen 'spirituellen' Spielen: Machtinteressen. Der hässliche Sokrat. gewinnt an
Wert bei der Argum gegen die schönen Körper, er gewinnt an Verführungskraft, indem er
gegen die Verführung plädiert. Dabei verliert das aristokrat. Gefühl, dass es zwischen allen
Formen des Schönen ein Band gibt, an Wert, wenn der Idealismus die intellekt. und
moralische Achtung derer gewinnt, die er durch Spitzfindigkeiten verführen kann (208). Die
Menschen mit der Form des asketischen Lebens beherrschen zu wollen, das ist reine
Machtstrategie. N. stellt Kategorien von Machtmenschen auf und hierarchisiert die
Formen/Arten des Lebens derer, die von der Macht profitieren, die der Idealismus ihnen über
andere Menschen gibt: z.B. Klerus, Staatsmänner, Künstler, die ihr Prestige der 'Losgelöstheit'
vom Leben missbrauchen. Dazu schreibt N. [ironisch] (WA 6 6.24):
"Wer uns umwirft, der ist stark; wer uns erhebt, der ist göttlich; wer uns ahnen macht, der ist tief."
Das ist N.s Art, die 'Metaphysik zu überwinden': dem Leben mit seinen Leiden, seinen
Zufällen und sogar seinen Ungerechtigkeiten - den zentralen Platz zuweisen, von dem man es
gestossen hat; das Fatum mit seinen Impdonerabilien rehabilitieren. Das Leiden ist kein
Argument gegen die Bejahung des Lebens. Nicht geliebt zu werden ist kein Grund zum
Verzicht auf Lieben. N. führt in die Liebe wieder die aleatorische Dimension ein, die die
Vernunftmenschen in die Flucht geschlagen hat, die das Veränderliche nicht lieben
wollen/können. Etwa Lou zum Gegenstand der Liebe zu wählen, das war keine Option für
Stabilität gegen das Werden. N. hatte immer eine grosse Neugierde für das Phänomen des
Leidens, dieses Rätsel der Existenz, diese ontologische Zerreissung, wo ein Mensch fühlt,
dass er allein und für sich nicht vollständig (complet) ist (209).
Es geht dabei um ein Experiment des Selbstverlusts, diesen Hintergrund des Idealismus, der
das 'ewige Leben' sucht.
N. entlarvt und denunziert die List der Mächtigen seines Jhs., das angeblich 'Wahre' in Wort
und Musik (Wagner) einzusetzen zur Vermehrung der Gelegenheiten, die Leben der
Verzweifelten sich zu vereinnahmen (211). Wenn man diese Virtuosen der Vereinnahmung
'Priester' nennt, dann vervollständigt man das Bild des heuchlerischen Asketismus.
Diese ganze metaphysische Problematik kommt in Heideggers Rekonstruktion nicht
angemessen zur Sprache. Etc.(11) Béatrice Han: Musik und Wille bei N. und Schop. (Lecturer of Philos. - Univ. of Essex)
Frage: kann sich N.s Musikauffassung u.-darstellung in GT (wie N. anzudeuten scheint) auf
Schop.s WWV berufen? Sind N.s WWV-Zitate in GT repräsentativ für Schop.s Position? Gibt
es implizite erhellende Bezugnahmen auf WWV? [dazu oben die Zusammenfassung].
(12) Didier Raymond: Die grosse Gesundheit des Festes gemäß Nietzsche
Der Essay beginnt mit einem Zitat, das angeblich aus Z stammt, de facto aber aus dem NL
von 1887 stammt: NL 10[165] 12.553:
4) die Feste. Man muß sehr grob sein, um nicht die
Gegenwart von Christen und christlichen Werthen als
einen Druck zu empfinden unter dem jede eigentliche
Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen:
Stolz, Übermuth, Ausgelassenheit; die Narrheit; der Hohn
über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches
Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit –
lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich Ja sagen
darf.
Das Fest ist Heidenthum par excellence.
Die frz. Übersetzung enthält zudem einen schwerwiegenden Übersetzungsfehler: die oben
(von GS) unterstrichene Textstelle wird im frz. Texte wiedergegeben als:
'comme une oppression sans laquelle toute atmosphère de fête véritable s'en va au diable'.
Es müsste heissen: par laquelle (oder sous l'influence de laquelle...).
Das Fest ist ein privilegierter Augenblick des Rausches im Leben der Menschen. Eine Art des
Triumphes über alles, was das Leben an Problematischem und Leiden hat; mehr noch: seine
Bejahung. Jeder Mensch sucht dauernd den Triumph, zu dessen Erreichung es viele Mittel
gibt. Freud hat, neben den traditionellen Wegen, noch viel weitere, wenig sichtbare, aber
genauso wirksame Formen des Triumphes aufgedeckt: der Triumph durch die Neurose
(névrose) (der Verrückte [le fou] sucht zu gewinnen und gewinnt immer), der Triumph durch
das Lachen (durch ein geistreiches Wort u. seine Bezüge zum Unbewussten); durch die ästhet.
Sublimation (wo der Schöpfer triumphierende [seine Spielregeln] auferlegt). Alles dies kann
im Fest seinen Ausdruck finden. In jedem Fall entsteht der Triumph auf ökonomischen
Wegen (par des voies économiques), wobei er eine kostenlose/grundlose, eine 'gratis'Aufhebung der Angst mit sich bringt. Es ist eine Ökonomie des Zurückdrängens und
Vergessens. So wenn der am Montag zu Erhängende sagt: 'Die Woche beginnt gut' (Freud),
womit er sich die Vorstellung des unmittelbaren Todes erspart. Auf gleiche Weise liegt das
Privileg des Festes darin, sich keinen Schrecken im Zentrum seiner Extase zu ersparen.
Im Fest werden die traurigen Dinge zurückgestellt, ohne dass wir sie zu vergessen brauchen.
Das Fest ist das Gegenstück zu den erteilten Wohltaten: es verzeiht und vergisst nichts. Man
kann geradezu sagen: angesichts der klarsten Tragik, des drückendsten Elends ist das Fest am
meisten es selbst: als dionysischer Rausch, den N. zurecht mit dem musikal. Rausch
verbunden hat. Es ist ein Augenblick einer wunderbaren Heilung, in dem der Mensch nicht
von seinen Leiden befreit ist, sondern im Gegenteil von seinen Krücken (de ses appuis). Alle
Verteidigungsmittel fallen plötzlich weg, und in diesem Fehlen des Denkens an Gründe des
Existierens empfindet man die Freude des Festes, sogar das Glück zu leben.
(13) Nora Rabbia (Schriftstellerin): Dionysos und der dionysische Mensch bei Nietzsche
N. war durchdrungen von Religiosität und Mystik, aber die Morbidität der christl. Religion
fand er verletzend. Er braucht einen Gott, der die Christen aus ihrer Starre aufwecken konnte,
und fand ihn in Dionysos, den er nach seiner eigenen Vorstellung als schmerzhaft, meditativ
und spielerisch zugleich schuf. Dionysos besitzt wie N. viele Facetten, er schreibt kein
Dogma vor, und er (be)zaubert wie Zarathustra. Dion. ist nicht rachsüchtig und kein Rächer
wie die anderen Götter, er tadelt durch das Lachen.
N. träumt von einem neuen Mythos, der uns zugleich in den Augenblick und in die Ewigkeit
versetzt, wie das die eleusischen Mysterien taten.
Dann werden zentrale Themen aus der GT (die Tragödie, das Leiden), aus dem Z (der neue
Mensch) u. z.T. auch des späteren N. aufgegriffen und ‚rhapsodisch‘ (d.h. nicht primär
argumentativ, sondern eher assoziativ) vorgeführt. Entfaltet wird die Multiplizität des
‚dionysischen Menschen‘, seine Verwandlungsfähigkeit, das Fliessende und das Spiel
zwischen Vielheit und Einheit (unicité), die Bedeutung des Schaffens und des Schöpferischen.
Das Leben als Blitz: ‚Jeder Augenblick enthält die ganze Existenz‘. Für den dionysischen
Menschen haben Selbstverlust und Tod keine Wichtigkeit, denn er trägt in sich alle Wesen,
die leben und gelebt haben, und die Depersonalisation schenkt ihm Vergessen im ewigen
Werden, im zeitlosen Augenblick (dans l‘instant intemporel). An diesem Punkt wird er wieder
Kind: ‚Unschuld und Vergessen‘. Das Kind ist in einer osmotischen Beziehung zum Spiel der
Welt. In ihm finden die endlosen Möglichkeiten des Spiels eine Harmonie, aus dieser
Diversität konstruiert das Kind Welten, die es aber gleich wieder zerstört. Dionysos singt und
tanzt über alle Zufälle hinweg, vom Leben berauscht.
(14) M. Kessler: N. und die klassische Kunst (Dozent an der Univ. Amiens)
[1] [Kursiv beim Autor:] Der Künstler und der Philosoph besitzen entgegengesetzte
Auffassungen über das Leben und die Krankheit. Nur die Illusion spornt das Leben an, die
Wahrheit ist hässlich und bringt uns in Verzweiflung.
In GT schien sich N. an Schop.s Musikästhetik anzulehnen (in GT zwei lange Zitate aus
WWV: GT 5 und 16). Ab 1876 vollzieht sich eine Umwertung von N.s Ästhetik aus primär
physiologischen Gründen. Im Zuge der Zurückweisung des asket. Ideals (GM III) veweigert
N. der Musik ihren doppelten Status als philosophische und ursprüngliche (originaire) Kunst.
Die Askese kann nur als Mittel zur Machtsteigerung Gültigkeit beanspruchen, die religiöse
Perversion ihrer Funktion wird abgelehnt. Als solche bewirkt sie die Schwächung alles
Starken und befördert den Nihilismus. Sie führt zu Fragen und Schwerpunkten, die den Leib
vergessen.
Für den Philosophen war das asket. Ideal jedoch eine Zeit lang notwendig, denn es konnte zu
seiner Selbstbefreiung beitragen (GM III 7 5.351.12 ff.). Er kann sich, wie eine Tumorzelle,
auf Kosten seines Milieus entwickeln, bis er dieses erschöpft und vernichtet (259). Von daher
versteht sich N.s Nachsicht gegenüber allem Abhängigen: der Frau oder dem Künstler. Aber
ein 'Parasit' z.B. ist für seine Umgebung zweifellos weniger destruktiv als ein Priester. Die
Abhängigkeit eines Künstlers ist sogar viell. die beste Garantie dafür, dass er sich im
Einklang mit seiner Umgebung entwickelt, während der Philos. (la bête philosophique: GM
III 7) auf seinem Weg alles verwüstet. Der Künstler ist demnach in seinem Denken weniger
unabhängig als der Philos., was aber kein Werturteil sein solle.
N. kommt daher zu einer widersprüchlichen und nuancierten Bilanz für die zwei Typen der
Bestimmung (vocation) des Menschen: die Berufung als Künstler und die als Philosoph (260).
Und weil wir im Grunde 'ernste Geister' (des esprits graves) sind, kann uns nichts mehr nützen
als die Narrenkappe: als ein Heilmittel gegen uns selbst (FW 107). Daher wird, nach der GT,
N.s Weigerung sehr stark, eine Vermischung/Verwechslung der Funktionen des Künstlers mit
der des Philosophen mitzumachen. N. verweigert dem Künstler systematisch den Anspruch
auf irgendeine Tiefe im traditionellen Sinn. Daher lehnt er den neuen musikalischen Ehrgeiz
Wagners ab, den dieser sich auf der Basis der Philos. Schop.s zuscchreibt.
[2] Die klassische Ästhetik N.s verlangt die 'équivocité' von Form und Inhalt, gemäß
Raphaels Modell der 'sincérité de peintre' (260). [Kursiv: Autor].
N. wirft Wagner vor allem vor, vor dem Kreuz auf die Knie gefallen zu sein. Das könnte
ungerecht erscheinen, denn von einer ästhet. Kritik erwartet man vor allem ein Eingehen auf
die Ausdrucksform (forme expressive) eines Werkes, und nicht auf seine Motivation auf der
rein ideologischen Ebene. N. geht hierbei jedoch sehr konsequent von seiner neuen
'Physiologie der Kunst' aus. So weit Wagners Arbeit aber im Dienst der Stützung
metaphysischer Wolken steht, widersetzt sich N. einer Form, die mit Erfolg der ihn [Wagner]
inspirierenden Ideologie dient. N.s Unwillen gegen Wagner zielt also nicht auf dessen
Christentum, sondern darauf, dass bei Wagner, im Unterschied zu Raffael, die dramatische
und musikalische Form dem christlichen Inhalt adäquat dient [entspricht] (261).
Wagner kann also kein grosser Künstler sein, denn bei Raffael, Michelangelo oder Da Vinci
(seinen grossen Künstler-Vorbildern) transzendiert die Form den Inhalt vollständig und
manifestiert sich in einem vollständigen Widerspruch zu diesem (NL 34[149] 11.470):
Leonardo da Vinci hat vielleicht allein
von jenen Künstlern einen wirklich überchristlichen Blick
gehabt.
Das Christentum ist ein romantischer und dekadenter Inhalt und der Kunst entgegengesetzt.
Nur eine dem Christentum inadäquate, 'heidnische' Form kann davon eine erträgliche, d.h.
anziehende Repräsentation geben.
In WS 73 mit dem Titel 'Ehrliches Malerthum' versucht N. die Psychologie Raffaels zu
ergründen. Raffael ist kein Heuchler, der sich der christlichen Frömmigkeit bedient. Vielmehr
konzipiert er, als Maler, die echte Pietät und die echte Verehrung notwendigerweise als
Vergöttlichungen der Erscheinung; so als ob die schönste Erscheinung nur das Symbol der
höchsten geistigen Vollkommenheit sein könnte; u.z. als Heide (so N.s Überzeugung) bis in
die Ehrlichkeit seines christlichen Glaubens: WS 73 2.585:
Mögen die Alten, die an das Beten
und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greise
zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren: wir Jüngeren
wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen
Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden,
durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt:
"Nicht wahr? diese Mutter und ihr Kind – das ist ein angenehmer
einladender Anblick?" Diess Gesicht und dieser Blick strahlt
von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder; der
Künstler, der diess Alles erfand, geniesst sich auf diese Weise
selber und giebt seine eigene Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden
hinzu. –
Umgekehrt dazu wirft N. der Romantik und dem Christentum vor, eine Schule des Verzichts
zu sein. 'Der moderne ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit' (CV 5 1.783), was besonders
von jener Kunst gelte, deren privileg. ästhet. Kategorie das Sublime sei (263). Diese Kategorie
besitzt eine gewisse Bereitwilligkeit gegenüber einem nihilist. Inhalt. Die Kritik an Wagner
kommt also unerwarteterweise von einem tradit. Kompliment: der Adäquatheit von Form und
Inhalt. Aber nach den Kriterien seiner physiol. Ästhetik ist das jetzt eine radikale Kritik.
Nur Bach findet Gnade in N.s Augen. […] Die Musik macht uns, durch ihr mysteriöses und
vollkommenes Gleichgewicht, alle zu Pythagoräern. Der Kontrapunkt Bachs […] scheint die
Logik des Universums darzustellen/abzubilden (264). […] Bach beweist, dass es einen
cosmos gibt. Verweis auf WS 149:
wird es uns als Hörern seiner Musik zu Muthe sein (um uns grandios mit
Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, wie Gott die
Welt schuf.
Das war aber noch eher die Sprache seiner Sensibilität und nicht seine kalte Vernunft, wie sie
sich mit dem ganzem Misstrauen des Genealogen dem Bereich der Ästhetik zuwenden sollte.
Ab jetzt verwendet N. eine andere Sprache, die des Verdachts, deren Tragweite er aber noch
nicht ganz erfasste, als er sich in GT, beim Fall Sokrates, ein erstes Mal darin versuchte. Erst
nach einigen Jahren der Erfahrung wird er diese Methode auch auf den Fall Schop. anwenden,
und dann auf den Fall Wagner, deren physiolog. Analysen der Helden Wagners (Ring und
Parsifal) ein Meilenstein in der Geschichte der äthet. Satire sind. N.s Kritik an der Musik
wandelt sich nun. Die Musik verliert die unter Schop.s Einfluss gewonnene vorherrschende
Rolle. Die Vorherrschaft des apollin. Kunstmodells festigt sich, aufgrund der Souveränität der
ästhet. Kriterien der Künste des Raumes und der Zeit. Das Wesentliche dieses
Perspektivenwechsels findet sich aber schon in MA I.
[3][Kursiv von Autor]: N. hat ohne Unterbrechung die Romantik und den Modernismus in
den bildenden Künsten abgelehnt.
N. kannte die zeitgenöss. Kunst - wenn man an Maler, Bildhauer, Zeichner seiner Zeit denkt kaum. Er kennt nur Delacroix, Ingres u. P. Delaroche, die schon vor 1850 ihr Werk
abschliessen. Aus der Literatur kennt er den Realismus und Verismus (Flaubert, Maupssant).
Kein Wort über die grossen Pariser Skandale der Jahre 50, 60, 70, die die Kunst erschüttert
haben; die, in N.s Worten, ein neues Wertezentrum geschaffen haben (266). N. hat vor allem
Interesse für da Vinci, Michelangelo, Raffael, Poussin, Rembrandt, Dürer, Holbein, und auch
Lorrain, über den er 1879 sehr schöne Bemerkungen macht: NL 43[3] 8.610:
Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude
Lorrain'sche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in
langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! Ich
hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die
guten Maler hatten es erfunden. Das Heroisch-Idyllische ist jetzt
die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist
mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar
geworden – bis jetzt begriff ich nichts davon.
N. war also durchaus zu Emotionen hinsichtlich der Malerei fähig. Sein Mangel an Interesse
für die Probleme der Malerei seiner Zeit (Verschwinden der Perspektive, des Sujets,
Befreiung der Farbe, Deformation des Raumes etc.) entspringt seiner Ablehnung der
Romantik und der Moderne. N. zeigt einen sehr klassischen Geschmack. Seine Vorliebe liegt
im 15. bis 17. Jh. Bei seinen abschätzigen Urteilen über andere Maler (z.B. Turner, Delacroix)
kopiert N. die wenig schmeichelhaften Äusserungen der Brüder Goncourt und Taines.
N. kann als kaum als Vorläufer der wichtigeren Bewegungen zu Beginn des 20. Jhs.
Angesehen werden: Expressionimus, Fauvismus, Kubismus, Futurismus, abstrakte Kunst oder
sogar Dadaismus und Surrealismus. Eher das Gegenteil: er hätte das alles abgelehnt.
Hinsichtlich seiner ästhet. Werturteile war N. wie viele Philosophen ein Jh. im Rückstand
(268).
Ein naives N.-Bild könnte zu dem Glauben verleiten, dass für N., den 'Verherrlicher
(glorificateur) des Nihilismus', der Immoralismus und die Absage an die Religion äquivalente
Folgen im Bereich der ästhet. Urteile nach sich zögen. Aber hier macht N. Halt vor der
Renaissance und dem Klassizismus, die von der romantischen u. modernen Barbarei bedroht
sind. Hier gibt es eine Entsprechung zu Descartes, der auch die Architektur und die Politik aus
seinem revolutionären Projekt ausnahm.
Offenbar hat die [bildende] Kunst den Umwälzungen der letzten 300 Jahre am besten
widerstanden. Die Kunst erweist sich als die Diszplin, als die stabilste und seriöseste
Ordnung, die der menschliche Geist je erfunden hat. Es ist auch viel unangenehmer, das
vertraute Erscheingsbild der Dinge zu verändern als ihre transzendentale Bedeutung, die den
Sinnen entgeht, besonders dem Blick.
Die Neuerungen im Feld der Kunst erscheinen N. als ein Zeichen der Schwäche, der
Dekadenz, und nicht einfach nur des Verfalls: NL 9[112] 12.400:
Ob nicht der Gegensatz der Aktiven und
Reaktiven hinter jenem Gegensatz von Classisch und
Romantisch verborgen liegt? …
Von diesem Romantischen kann nichts gerettet werden: NL 10[52] 12.481:
wir sind feindselig gegen Rührungen
[4] Ein Beispiel: die Vollkommenheit Lorrains gegen den Sentimentalismus Turners (270)
Durch die Klarheit und die Einheit der Vision Lorrains ist N. bis zu Tränen beeindruckt (vgl.
schon oben). Nicht so von einem vergleichbaren Gemälde von Turner: vgl. NL 25[138] 11.50:
Der große Landschafts-Maler Turner, der statt zu den Sinnen,
zur Seele und zum Geiste reden will – philosophische und
humanitäre Epopeen. Er hielt sich für den ersten der Menschen,
und starb toll. "In Mitte eines Sturms, die Sonne in den Augen,
den Schwindel im Kopf" so fühlt sich der Zuschauer. "In Folge
der tiefen Aufmerksamkeit auf le moral de l'homme ist seine
optische sensibilité désaccordée. Unangenehm fürs Auge!
Übertrieben, brutal, schreind, hart, dissonant." Taine.
Turner versucht die natürlichen Elemente darzustellen (Qualität der Luft, Wind), die die
Erscheinung der Körper bestimmen statt derer, die sie konstituieren; N. aber schätzt die
'Einfachheit und Präzision' in Lorrains Klassizismus.
Zu einem anderen Gemälde Turners ('Landscape with a river…'), das als ProtoImpressionismus (272) eingestuft werden kann, bemerkt N: NL 25[138] 11.50:
Er hielt sich für den ersten der Menschen,
und starb toll.
N. erwartet von einem grossen Stil eine Ökonomie der Zeit, des Ortes und der Handlung
(273). Vgl.: NL 11[132] 13.131:
Gegen die Romantik der großen "Passion".
Zu begreifen, wie zu jedem "klassischen" Geschmack ein
Quantum Kälte, Lucidität, Härte hinzugehört: Logik vor allem,
Glück in der Geistigkeit, "drei Einheiten", Concentration –
Haß gegen Gefühl, Gemüth, esprit, Haß gegen das Vielfache,
Unsichere, Schweifende, Ahnende so gut als gegen das Kurze
Spitze Hübsche Gütige
Das ist gemäß Autor das Gegenteil der Romantik (273). […] Im Klassizismus ist die
Perspektive linear, geometrisch, göttlich; eine Schöpferperspektive, weshalb N. von Bach
sagen konnte: es ist als ob wir zugegen waren, als Gott die Welt erschuf (WS; oben genauer
Wortlaut). Ebenso bedeutete die Betrachtung eines Bildes von Lorrain für N. eine
vergleichbare Trunkenheit (ivresse) (274). [u.z.]:
Ein dionysischer Rausch aus Sicht der musikalischen Hypothese (Bach): …
Ein apollinischer Rausch aus der Sicht der 'hypothèse picturale': ein Bild dieser Welt,
vernichtend wie ein Blitz; augenblickhaft aber zugleich ewig; für eine Zeit ohne Dauer
losgelöst vom Werden, vom Abgrund der destruktiven dionysischen Macht (274; etc. bis 279:
weitere Interpretation u. Kontrastierung).
[5] Zwei widersprüchliche Interpretationen von N.s Klassizismus: 'formalisme classique' und
'hyperclassicisme'
Romantik, gemäß N.: Wärme, unkontrollierter Ausdruck aller Affekte, von Extasen jeder Art.
Klassik (izismus?): die Fähigkeit, diese 'naturalité' der Romantik zu übersteigen: NL 11[132]
13.131:
Zu begreifen, wie zu jedem "klassischen" Geschmack ein
Quantum Kälte, Lucidität, Härte hinzugehört: Logik vor allem,
Diese 'Kälte und Lucidität' findet man bei Lorrain (279). Lorrains Gemälde stellt dar: Mittag,
keine Schatten, nichts Vielfaches (multiple), Vages. Gemäß Claude Gellée sind das die
Eigenschaften der Klassik: Einfachheit (durch Einheit der Perspektive), Logik, Klarheit (der
Farben ..), 'distinction (…), Kälte (Diskretheit und Delikatesse der Farbtöne), und schliesslich
Dauer (280).
Aber Abgrenzung vom Akademismus eines Delaroche: NL 25[144] 11.52:
Delaroche:
geschickter Theater-Arrangeur, Schüler Walter Scotts und
Delavigne's, mit täuschenden Lokal-Farben – aber das Leben
fehlt. – Solche Maler im Grund sterile Persönlichkeiten
Es genügt nicht, das Chaos zu zeigen, wie es erscheint; es muss in einer Interpretation
organisiert werden. Diese gibt dem Werden alle Attribute des Seins und der Vollkommenheit.
N. bevorzugt die falscheste und lügnerischste Interpretation des Werdens vor allen anderen (!:
S.280).
Daher darf N.s 'Hyperklassizismus' nicht als ein 'classicisme de la différence' interpretiert
werden, wie Luc Ferry das tut (Homo Aestheticus, Paris 1990): N.s Klassizismus gehe es
nicht darum, eine platonisch-cartesian. Wahrheit auszudrücken, sondern die '"vraie vérité" qui
est différence'; daher N.s Klassizismus: ein 'Hyperklassizismus der Differenz' (281).
Der Autor bevorzugt stattdessen die Bezeichnung 'formalisme classique' (281), denn das
Gemeinsame zwischen dem Klassizismus u. N.s Ästhetik ist nicht die Identität der Methoden
hinsichtlich eines wahren Inhalts, sondern eine Identität der Form.
Qua Inhalt geht es N. nicht um eine 'probité philosophique' (philos. Ehrlichkeit). Daher
verwirft N. ab 1876 das Verfahren der Wahrheit im Sinn der Ehrlichkeit (probité) in den bild.
Künsten und in der Musik (281). N.: wir haben die Kunst, um nicht an der Wahrheit zugrunde
zu gehen (NL 16[40] 13.500):
Die Wahrheit ist
häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der
Wahrheit zu Grunde gehn.
D.h. gemäß Autor: die Kunst soll die Welt einfach, absolut und kohärent, d.h. so wie sie nicht
ist, darstellen. Als Macht der Illusion hat die Kunst einen viel grösseren Lebenswert als die
"Wahrheit" (281). Ns. Vorliebe für den Klassizismus darf nicht interpretiert werden als
Zeugnis einer 'hyperklassischen Ästhetik', die hauptsächlich zugunsten der 'Wahrheit'
engagiert wäre.
N.s Liebe zur Klassik verhält sich umgekehrt zum Prinzip der klass. Ästhetik, d.h. zur
Identität des Wahren, Schönen und Guten (282).
Genaugenommen enthält der klass. Formalismus N.s eine Subversion des Klassizismus (283)
(…).
N.s Wahl der klass. Geschmackskriterien: Kälte, Luzidität, Dauer, Einfachheit, Perfektion,
Logik, die Regeln der drei Einheiten: hat also nicht zum Ziel die Wahrheit oder die
Wahrscheinlichkeit, sondern die reine Illusion und den Irrtum (288). Dieses Paradox zwischen
einer klass. Form und einem 'trag.' Inhalt wird von N. in einem Fragment gerechtfertigt: NL
11[3] 13.9:
Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler "Form" nennen, als Inhalt, als "die
Sache selbst" empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt
zu etwas bloß Formalem, – unser Leben eingerechnet
[6] Was ist der 'grosse Stil'? (289)
Der 'grosse Stil', den N. mit Erfolg/Nachdruck praktiziert, besteht in der 'règle classique',
unter Abzug der klass. Gleichung: d.h. klass. Form, aber ohne die klass. Ideologie bzw den
klass. Inhalt. Daher kann er über Raffael sagen, dass - trotz seines christl. Inhalts (gemäß
Hegel ein romant. Inhalt) - seine tiefste Natur ganz der heidnische Sache ergeben war. Dazu:
NL 2[114} 12.119:
auch Raffael gehört hierhin, nur daß er
jene Falschheit hatte, den Anschein der christlichen
Weltauslegung zu vergöttern. Er war dankbar für das Dasein, wo es
nicht spezifisch-christlich sich zeigte.
(in der frz. Übersetz. Wird 'Falschheit' mit 'duplicité' wieder gegeben???)
Der 'grosse Stil' besteht also in der Fähigkeit, die eigenen inneren Widersprüche und
widersprüchlichen Affekte zu überwinden: in einem Ausdruck, der nur noch die herrschende
Tonalität wiedergibt, ohne etwas von dem geheimen, diesem Sieg vorangehenden Kampf
ahnen zu lassen (289). […].
[7] Rausch (ivresse) und Perspektive (295)
Ab 1878 unterscheidet sich der Zustand äusserster Klarheit und Kälte, den N. 'ivresse' nennt
und an die Spitze der ästhet. Empfindung stellt grundsätzlich (essentiellement) vom 'vertige',
vom Verlust eines Angelpunktes (repères), von der Vervielfältigung der Perspektiven und der
Deformation der Sicht (vision), die in einer vulgären Empfindung von Trunkenheit (ébriété)
manifest werden.
Der 'Rausch' (ivresse), der grosse Rausch, ist also nicht eine 'Vision des Chaos', sondern die
Wahrnehmung von Ordnung, statt des Chaos: NL 14[117] 13.294:
der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein
hohes Machtgefühl…
die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert:
ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst
wahrnehmbar
Die Vielheit der Perspektiven, die N. in seiner Philosophie als Experiment so hoch wertet,
wird [in der bild. Kunst] als Mangel angesehen. Sogar als Hauptmangel: als Fehlen von Stil,
als Unfähigkeit zum Stil - synonym mit Schwäche, mit Erschlaffen, mit 'Romantik' und sogar
Dekadenz (297). Daher ist es so wichtig, bei N. das durch Wahl Bestimmte (l'électif) vom
Spekulativen (spéculatif) zu unterscheiden, auf die Gefahr hin, sich ein systematisches und
kohärentes Verständnis seines Denkens zu verbieten, manchmal sogar jedes
Verständnis/Verstehen.-
Allg. Bemerkungen
Der im Buchtitel verwendete Ausdruck 'grande santé' wird von Raymond eingehender
erläutert.
Wie in frz. Büchern üblich fehlen überwiegend genaue Stellennachweise, und es kostet nicht
wenig Zeit, die entsprechenden Stellen aufzufinden.
Textbasis: fehlerhafte Nachweise: in Nr.12; Übersetzungsfehler: vgl. Nr.8; Nr.12
Thema Krankheit: vor allem in Teil I (N.s Krankheit); Teil II: Rolle von Krankh. in N.s
Philos.: oft nur am Rande ?
Herunterladen