Philipps Universität Marburg Seminar Intelligenz Referenten: Aaron Ruß, Anna Seemüller Serminarleitung: Dr. A. Pauls Marburg, den 24.05.2004 Intelligenz und elementare Informationsverarbeitung Suche nach der Ursache für unterschiedliche Ausprägung von Intelligenz. Ansätze: 1. Ursache ist die Funktionsweise von biologischen Zusammenhängen (z.B. Nervensystem) elementare Informationsverarbeitung. 2. Entwicklung komplexer Modelle basierend auf Erkenntnissen der kognitiven Psychologie. 1 Teil 1: Elementare Informationsverarbeitung Meist reduktionistischer (z.B. „Ausprägung der Intelligenz beruht allein auf Funktionsweise des Nervensystems“) oder bottom-up (z.B. „Das Komplexe entsteht aus dem Einfachem) Ansatz. Mit Hilfe der Untersuchungsergebnisse könnten Intelligenz-Tests entwickelt werden, die unabhängig von Bildung oder kultureller/sozialer Herkunft sind. 1.1 Reaktionszeit Untersuchungen Beruhen größtenteils auf Ansatz von Jensen Jensen Apparat Tasten Lichter (Reize) Bewegungszeit Reaktionszeit oder Basis-Taste Entscheidungszeit Jensen Apparat Basis-Taste Reiz Mehrere Durchgänge je VP, wobei die Anzahl der gleichzeitig dargebotenen Reize je Durchgang erhöht wird, z.B. 1, 2, 4, 8. Jensen (1987): Zusammenfassung von 31 Studien: Basiert hauptsächlich auf einer Studie von Detterman (1987) über 860 Angehörige der Luftwaffe. Es gibt negative Korrelation sowohl zwischen Reaktionszeit und Intelligenz als auch zwischen Bewegungszeit und Intelligenz. Reaktionszeit sagt insgesamt ca. 10 bis 15 % der Varianz von Intelligenz voraus. Grund für den Zusammenhang von Reaktionszeit und Intelligenz ist nicht geklärt Jensens Voraussage über den Zusammenhang der Steigung bzgl. der Komplexität ( gleichzeitige Reize) und Intelligenz konnte nicht bestätigt werden. Korrelationen mit Intelligenz Jensen Detterman Median der Reaktionszeit [1 Reiz] [2 Reize] [4 Reize] [8 Reize] -.18 -.19 -.21 -.24 -.28 Median der Bewegungszeit [1 Reiz] [2 Reize] [4 Reize] [8 Reize] / -.17 -.17 -.15 -.14 Steigung der Durchgänge -.117/ -.185 korrigiert bzgl. gleichzeitiger Reize Korrigierter Durchschnitt der RT über die -.309 Durchgänge Variabilität der RT in zwischen -.21 und -.28 verschiedenen korrigiert zwischen -.33 und -.43 Durchgängen +.07 -.33 / Odd-Man-Out Test: Frearson & Eysenck (1986) Ziel Intelligence VIQ PIQ IQ Raven Mean RT for set -.22 size 2 Mean RT for set -.17 size 4 Variance of RT for -.35 set size 2 -.21 -.24 -.17 -.16 -.19 -.13 -.38 -.39 -.36 -.19 -.39 -.30 -.48 Mean range of RT -.20 -.41 -.30 -.18 Mean interquintile -.30 range -.53 -.43 -.50 Reaction time (RT) Odd-Man-out measures Mean RT Odd-Man-Out Test liefert nicht durchgehend höhere Korrelationen als traditioneller ReaktionszeitTest (entgegen ersten Untersuchungen, die wesentlich höhere Korrelationen hatten, aber auf recht kleinen Stichproben basierten). Korrelationen zu nonverbaler Intelligenz sind prinzipiell höher als zu verbaler Intelligenz. Kritik an Interpretation „Reaktionszeit Intelligenz“ Trainingseffekt: Ist vorhanden, hat aber wahrscheinlich keinen/wenig Einfluss auf die einfache Reaktionszeit, die für die Korrelation mit Intelligenz verwendet wird. Exogene Faktoren (z.B. Instruktionsverständnis, Vertrautheit mit Versuchsapparatur, Motivation): Nicht auszuschließen, Einfluss aber eher als gering zu bewerten. Trade-Off: Je nach Einstellung der VP kann entweder Geschwindigkeit oder Genauigkeit zu Lasten des anderen bevorzugt werden. Dies ist allerdings eher unwahrscheinlich, da Fehleranzahl negativ mit Intelligenz korreliert. Erklärungsversuche: Konzentrationsfähigkeit ist Mediator: maximale Reaktionszeiten bei hochintelligenten und weniger intelligenten Menschen unterscheiden sich nicht unbedingt; hochintelligente Menschen können allerdings öfter nahe an ihrem Optimum reagieren. Durchschnittliche Reaktionszeit hängt wesentlich von den langsamen Reaktionszeiten einer VP ab. Theoretische Erklärung (unbewiesen): Neuronen hochintelligenter Menschen haben kürzere Refraktärphase: befinden sich Neuronen in exzitatorischen Zustand erfolgen Reaktionen schnell – bei hochintelligenten befinden sich die Neuronen einfach öfter in einem exzitatorischen Zustand. Ergebnisse der Reaktionszeit-Untersuchungen: Reaktionszeit erklärt wahrscheinlich nicht mehr als 16% der Varianz von Intelligenz. Grund des Zusammenhangs von Reaktionszeit und Intelligenz ist unklar. Gleichberechtigte Erklärungen: o Reaktionszeit/Nervensystem bedingt Intelligenz o Intelligenz bedingt Reaktionszeit. Weiter Untersuchungen notwendig, um Zusammenhang zu klären (z.B. physiologische, biologische/genetische Untersuchungen, Längsschnittstudien). 1.2 Inspektionszeit Grundlage: Ein Urteil über einen Reiz wird kumulativ durch diskrete Inspektionen gebildet bis schließlich ein bestimmtes Maß erreicht wurde. Visuelle Inspektionszeit: 2 unterschiedlich lange Linien werden kurz dargeboten und dann maskiert. Es wird die minimale Inspektionszeit ermittelt, bei der die VP noch mit bestimmter Genauigkeit ein richtiges Urteil abgeben kann. Auditorische Inspektionszeit: 2 unterschiedlich hohe Töne werden kurz dargeboten und dann maskiert. Die Pause zwischen den Tönen wird variiert und die minimale Dauer bestimmt, bei der noch Urteile von bestimmter Genauigkeit abgegeben werden können. Tonhöhenunterscheidung: 2 Töne werden für feste Zeit und mit fester Pause dazwischen kurz dargeboten. Der anfangs klaren Tonhöhenunterschied wird vermindert und der minimale Tonhöhenunterschied ermittelt, der von der VP noch mit bestimmter Genauigkeit angegeben werden kann. Ergebnisse der Inspektionszeit-Untersuchungen: Tonhöhenunterscheidung (Raz & Willerman) erklärt etwa 36% der Varianz von Intelligenz. Nach einer Metaanalyse über verschiedene Inspektionszeit-Untersuchungen (visuelle, auditorische und taktile) erklärt Inspektionszeit insgesamt etwa 25% der Varianz von Intelligenz es besteht substantieller Zusammenhang zwischen Inspektionszeit und Intelligenz Wenn Inspektionszeit mit elementarer Informationsverarbeitung zu tun hat, sollte sie unabhängig von der Modalität sein (z.B. sollten visuelle und auditorische miteinander korrelieren): In einem Versuch (Deary et al.) konnte eine Korrelation (.24 bis .53) mit einer eingeschränkten Stichprobe (VP, die die Höhe von unmaskierten Tönen nicht unterscheiden konnten, wurden ausgeschlossen) nachgewiesen werden. Kritik: Zusammenhang der Inspektionszeit mit Intelligenz beruht auf Instruktionsverständnis. Gegenargumente: o Es konnten signifikante Korrelationen von Inspektionszeit mit Intelligenz auch bei Kindern nachgewiesen werden (Anderson). Deshalb sollte Instruktionsverständnis bei Erwachsenen keine allzu große Rolle spielen. o Lautheitsunterscheidung bei Tönen korreliert nicht mit Intelligenz, aber die Anforderungen an Instruktionsverständnis sowie Konzentration und Motivation sind mit denen von Tonhöhenunterscheidung vergleichbar, wenn nicht sogar gleich ( Tonhöhenunterscheidung korreliert mit Intelligenz) Fazit zu Inspektionszeit-Untersuchungen: Es gibt keine berechtigte Begründung, dass die Korrelation von Inspektionszeit zu Intelligenz auf den Gebrauch von Strategien zurück zu führen ist Bisher gibt es noch keine Theorie zur Erklärung der Korrelationen. Beide Argumentationsrichtungen sind gleichberechtigt: o Inspektionszeit/Informationsverarbeitung Intelligenz o Intelligenz Inspektionszeit Klarheit könnten weitere Untersuchungen bringen (z.B. Längsschnittstudien, verhaltensgenetische oder physiologische Untersuchungen) 1.3 Säuglingsuntersuchungen: Habituation und Dishabituation Definition: Absinken der Aufmerksamkeit in Folge wiederholter Reizpräsentation In den Studien wurden verschiedene Reize, Prozeduren und Maße verwendet Veränderungen der Aufmerksamkeit gemessen an Blickrichtung des Kindes 1. Stimuli werden für feste Zeit wiederholt dargeboten Abnahme der Inspektionszeit mit wiederholter Präsentation 2. Anfangszeit der Aufmerksamkeit für Reiz wird notiert; Dauer der weiteren Reizpräsentationen durch Anfangszeit kontrolliert; Dauer wird verkürzt bis zu vordefiniertem Kriterium (meistens 50% der Anfangszeit) 3. Response recovery wird gemessen: Abwechslung des Reizes Anstieg der Aufmerksamkeitsreaktion (Dishabituation) Theorie von Sokolov (1958) - neuer Reiz führt zu Orientierungsreaktion und Serie von psychophysiologischen Veränderungen inkl. visueller Aufmerksamkeit für Reiz - wiederholte Reizbetrachtung führt zu einem neuralen Modell/Reizrepräsentation, die seine Eigenschaften enkodiert - weitere Reizpräsentationen lösen Vergleichsprozess mit Repräsentation aus bei Ähnlichkeit: inhibitorische Mechanismen führen zu Aufmerksamkeitsabnahme bei Unterschied: dishibitorische Mechanismen führen zu erhöhter Aufmerksamkeit - Rate der Habituation = Maß der Rate der Entwicklung einer Repräsentation des externen Stimulus - Dishabituation nur bei detailliert vorhandener Repräsentation des Stimulus, da sonst kein Vergleich (Feststellung eines Unterschieds möglich) - Rate der Habituation und Reaktion auf neuen Reiz reflektieren fundamentale Eigenschaften der Infoverarbeitung Bornstein (1989): Zusammenfassung von Studien: gemessene Habituation im 1. Lebensjahr sagt IQ (Intelligenz) in der frühen Kindheit voraus - 14 getrennte Experimente mit insgesamt 685 Kindern Ergebnisse der Zusammenfassung der Studien - Ergebnisse konsistent und deuten auf Zusammenhang zwischen kindlicher Habituation und Intelligenz in der frühen Kindheit hin - relativ kleine Varianz bei den Korrelationen - alle Korrelationen über .3 mit einer Ausnahme bei Neugeborenen - Habituation in den ersten 6. Monaten gemessen Fähigkeiten, die bei Intelligenztests geprüft werden, noch nicht präsent - keine Schlussfolgerung über Langzeitvorhersagbarkeit Habituationsmaß - Korrelationen bei Kindern von 6-8 Jahren leicht geringer (Korrelation .36 und .28) als bei Kindern zw. 2 und 5 mögl. Erklärung: Korrelation nimmt bei späterem IQ-Test ab oder Ergebnisse der 2 Studien ungewöhnlich (zusätzliche Untersuchungen notwendig) - Zusammenfassung von Daten zu 6 Studien zu Test-Retest Reliabilität der Habituation - Test-Retest-Korrelationen sinken mit zunehmender Zeit zwischen den Tests (Korrelationen zw. .3 und .7) korrigiert mit Test-Retest-Korrelation (Habituation) von .4 und Test-Retest-Korrelation (Intelligenz) von .9 führt zu Korrelation von .733 zw. Habituation und späterer Intelligenz 54% der Varianz des IQs bei Kindern vorhersagbar durch Habituationsmessung (erste 6 Monate) Habituationsmaße sagen Intelligenz in der frühen Kindheit voraus Kausale Analyse - kausaler Zusammenhang in beide Richtungen - zusätzlicher Einfluss von Umweltfaktoren auf kognitive Verarbeitung und Intelligenz bei Kindern - Sigman (1983, 1986): Messung von kindlicher Habituation direkt nach der Geburt signifikante Korrelation kann nicht in Bezug auf postnatale Unweltstimulation interpretiert werden, da Zusammenhang zw. Umweltfaktoren, die Entwicklung im Mutterleib beeinflussen und postnatalen Umweltfaktoren möglich; beides könnte intellektuelle Fähigkeiten der Babys/Kinder beeinflussen Korrelationen geringer als in den anderen Studien; d.h. eventl. Beitrag von postnatalen Umweltfaktoren auf Entwicklung der Habituation und Intelligenz und weniger Einfluss auf Habituation bei Neugeborenen geringe Reliabilität der Messung von Habituation bei Neugeborenen kausale Interpretation bei Forschung zu kindlicher Intelligenz verzerrt und unbestimmtes bearing dieser Forschung auf Studien zur Beziehung zw. IQ und elementarer Infoverarbeitung 1.4 Teil 1: Fazit 3 unterschiedliche Arten von Aufgabenbewältigung, die in Zusammenhang mit Intelligenz gesetzt wurde: (1) Reaktionszeit, (2) Inspektionszeit, (3) Säuglingshabituation. Als Stimuli wurden (1) Töne, (2) Linien und (3) Lichter verwendet. Da keine alphanumerischen Symbole Anwendung fanden, wurde der Einfluss von Bildung bzw. kultureller/sozialer Herkunft minimiert, wenn nicht gar ausgeschlossen. Die Fähigkeiten zur Aufgabenbewältigung haben einen substantiellen, manchmal nicht trivialen Zusammenhang mit Fähigkeiten, die in Intelligenz-Tests geprüft werden. Eine Analyse der Aufgaben bzw. deren Lösung könnte Aufschluss über die Natur von Fähigkeiten geben, die in Intelligenz-Test geprüft werden. Zur Lösung der Aufgaben mussten Informationen schnell und genau beurteilt werden. Die Aufgaben mit den höchsten Korrelationen zu Intelligenz waren die, bei denen die Unterscheidung von Reizen unter schwierigen Umständen gefordert war (Inspektionszeit Maskierung & kurze Darbietung || Tonhöhenunterscheidung kurze Darbietung || Habituation eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten bei Säuglingen) Hauptsächlich scheint es darum zu gehen, Differenzierungen bzgl. von Reizunterschieden zu treffen. Dabei kann es allerdings nicht allgemein um die Unterscheidungsfähigkeit gehen, da z.B. Lautheitsungerscheidung bei Tönen nicht mit Intelligenz korreliert. Ansätze um zu klären, welche Unterscheidungsfähigkeiten mit Intelligenz korrelieren und welche nicht (im Einzelnen noch zu untersuchen): o Möglicherweise korrelieren Aufgabenbewältigung mit paralleler Informationsverarbeitung (Verarbeitungszeit steigt nicht mit Erhöhung des Reizumfanges | Bsp.: Länge von Linien kann etwa genauso schnell für 2 oder für 4 Linien beurteilt werden) mit Intelligenz und Aufgabenbewältigungen mit serieller Informationsverarbeitung (Bsp.: Parallelität/Konvergenz von Linien) korrelieren nicht mit Intelligenz. o Primäres visuelles System lässt sich in älteres (1) Magno-System zur Erkennung von Bewegung und neueres (2) Parvo-System zur Detailerkennung unterteilen. Möglicherweise korrelieren Aufgabenbewältigungen, die sich hauptsächlich auf das Parvo-System stützen mit Intelligenz, während Aufgabenbewältigungen, die sich hauptsächlich im MagnoSystem abspielen, nicht mit Intelligenz korrelieren. Schlussfolgerungen: o Es gibt noch keine gesicherte Theorie, die den Zusammenhang zwischen dem Lösen der besprochen Aufgaben (Reaktionszeit, Inspektionszeit, (Dis-)Habituation) mit Intelligenz erklärt o Es ist noch ungeklärt, welche Fähigkeiten im Einzelnen zur Aufgabenbewältigung benutzt werden bzw. wie sie mit den Fähigkeiten im Zusammenhang stehen, die in IntelligenzTests geprüft werden. o Die reduktionistische bzw. bottom-up Interpretation der Untersuchungsergebnisse ( elementare Informationsverarbeitung bzw. Effizienz des Nervensystems ist Ursache für die unterschiedliche Ausprägung der Intelligenz) ist besten Falls plausibel – diese Art der Erklärung kann bisher weder belegt noch widerlegt werden.