P R E S S E I N F O R M A T I O N Teil 5 der Serie Orphan-Krankheiten – Waisenkinder der Medizin Hohe Homocystein-Werte schädigen Herz-Kreislauf-System Gefährlicher Stoffwechsel-Defekt oft unerkannt Köln, April 2001. Unsere Nahrung enthält hauptsächlich Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß, auch Protein genannt. Proteine werden in den Verdauungsorganen in ihre Bestandteile, die Aminosäuren, aufgespalten. Diese werden über das Blut im Körper verteilt und zur Herstellung von neuen Proteinen verwendet. Andererseits werden laufend körpereigene Proteine abgebaut und die daraus entstehenden Aminosäuren zu anderen wichtigen Produkten „verarbeitet“. Dabei ist für jeden einzelnen Stoffwechselschritt ein bestimmter Katalysator, das sogenannte Enzym, erforderlich. Fehlt ein Enzym oder ist es „fehlerhaft“, so kommt es zu Stoffwechselstörungen, die schwerwiegende Folgen haben können. Die Homocystinurie ist eine Stoffwechselstörung, die aufgrund ihres extrem seltenen Auftretens zu den Orphan-Erkrankungen gehört. Ihr liegt – wie den meisten Stoffwechselerkrankungen - ein genetischer Defekt zugrunde. Trotzdem wird sie, wenn Sie überhaupt diagnostiziert wird, häufig erst im Erwachsenenalter erkannt. Der renommierte Stoffwechselexperte Privatdozent Dr. Hans Georg Koch* befasst sich seit Jahren intensiv mit der Homocystinurie. Er gibt Antworten auf Fragen, die sich im Zusammenhang mit dieser seltenen Stoffwechselstörung - aber auch mit anderen Orphan-Erkrankungen – immer wieder stellen. Was ist eine Homocystinurie? Homocystinurie ist die Stoffwechselkrankheiten, Bezeichnung bei der für das eine Gruppe angeborener Stoffwechsel-Zwischenprodukt Homocystein nicht vollständig abgebaut werden kann, so dass es sich im Körper anreichert und unterschiedliche Krankheitssymptome hervorrufen kann. Die Konzentration im Körper kann so hoch sein, dass Homocystein in großen Mengen im Urin ausgeschieden und dort nachgewiesen werden kann. Daher der Name der Erkrankungen. Je nachdem, welches Enzym „defekt“ ist, lassen sich verschiedene Formen der Homocystinurie unterscheiden. Am häufigsten tritt ein Mangel des Enzyms Cysthathionin-Beta-Synthase (CBS) auf. Dann reichern sich Methionin und Homocystein im Körper an, während ein Mangel an Cystathionin und Cystein entsteht. Wie häufig kommt die Homocystinurie in Deutschland vor? Exakte Zahlen zur Häufigkeit existieren nicht. Man vermutete bisher eine Häufigkeit von ca. 1:100.000. Wissenschaftliche Arbeiten aus unserer Gruppe lassen hingegen vermuten, dass die Häufigkeit bei mindestens 1:20.000 liegt. Es mag jedoch regional sehr unterschiedlich sein. Wir betreuen in Münster zur Zeit etwa 30 Patienten. Welche Personen sind von Homocystinurie betroffen? Die Erkrankung ist angeboren, so dass sich typische Veränderungen direkt nach der Geburt im Blut zeigen. Oft dauert es jedoch Monate, Jahre oder auch Jahrzehnte, bis typische Krankheitssymptome zu erkennen sind. Männer und Frauen sind in gleicher Weise betroffen. Lebensgewohnheiten wie Rauchen oder andere Faktoren wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus können den Krankheitsverlauf beschleunigen. Wie kann man die seltene Erkrankung erkennen? Eine erhöhte Konzentration von Homocystein im Körper kann sehr unterschiedliche Symptome zur Folge haben. Besonders häufig sind folgende Organe betroffen: Blutgefäße - Es besteht ein erhöhtes Risiko für Thrombosen und Embolien, die jeden Körperteil betreffen können. Schlaganfälle und Herzinfarkte. Besonders gefürchtet sind natürlich Außerdem entwickelt sich häufig eine Arteriosklerose sowie Bluthochdruck. Augen - Häufig kommt es zu Kurzsichtigkeit und erhöhtem Augeninnendruck. Die Bindegewebsfasern, die die Augenlinse festhalten, reißen. Die Linse beginnt zu schlottern und kann danach verrutschen, wodurch die Sehkraft massiv beeinträchtigt werden kann. Oft sind Augenoperationen erforderlich. Skelett- Patienten mit Homocystinurie können einen auffälligen Körperbau entwickeln. Sie können größer sein als gewöhnlich mit besonders langen Armen und Beinen. Die Knochen sind weniger belastbar und neigen zur Osteoporose. Häufig entwickelt sich eine Verbiegung der Wirbelsäule. Nervensystem - Bei einigen Betroffenen kann es zu einer Entwicklungsverzögerung und Lernschwierigkeiten bis hin zu einer ausgeprägten geistigen Behinderung kommen. Außerdem können sich Krampfanfälle (Epilepsie) einstellen. 2 Man sollte bei verdächtigen Symptomen an eine Homocystinurie denken und entsprechende Untersuchungen durchführen. Als Suchtest genügt die Bestimmung des Homocysteins im Blut. Bei auffälligem Befund sind weitere biochemische Untersuchungen erforderlich, um die genaue Form der Erkrankung zu diagnostizieren. Wie verläuft die Diagnosestellung? Das wichtigste ist, überhaupt an diese seltene Erkrankung zu denken und die Messung des Homocysteins im Blut als Suchtest zu veranlassen. Die genaue Diagnosestellung ist kompliziert und gehört in die Hand eines erfahrenen Zentrums. Die definitive Diagnostik setzt sich zusammen aus biochemischen Untersuchungen (Aminosäuren-Analyse) und dem Nachweis eines EnzymMangels bzw. bestimmter genetischer Veränderungen. Die Untersuchungen können in der Regel durch Blutproben erfolgen. Gelegentlich können auch ausgeprägte Vitamin-Mangelzustände (B6, B12, Folsäure) eine vorübergehende Homocystinurie auslösen, die nach Ausgleich des Vitamin-Mangels dann wieder verschwindet. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Die endgültige Behandlung muss in einem Stufenplan bei jedem einzelnen Fall optimal angepasst werden. Bei einem Cystathionin-Beta-Synthase-Mangel beginnt man mit hochdosierter Gabe von Vitamin B6 und Folsäure. Die Dosis übersteigt den normalen Tagesbedarf um ein Vielfaches, so dass die Vitamine in Form von Tabletten gegeben werden müssen. Eine "vitaminreiche" Ernährung ist nicht ausreichend. In einer zweiten Stufe muss die Ernährung angepasst werden. Eine eiweißarme Diät - eventuell unter Zusatz speziell hergestellter synthetischer Aminosäuren-Mischungen, die besonders bei Kindern notwendig sein können, um den normalen Eiweißbedarf zu decken – kann erforderlich sein. Bleiben die Homocystein-Werte im Blut weiterhin stark erhöht, kann Betain eingesetzt werden. Betain ist eine Substanz, die im Körper in natürlicher Weise vorkommt. Wenn sie in hoher Dosis gegeben wird, hilft sie dem Organismus, Homocystein abzubauen. Es gibt Formen der Homocystinurie, die unbehandelt praktisch immer zu schwerer geistiger Behinderung führt, wofür ein Mangel an der Aminosäure Methionin mitverantwortlich ist. In diesen Fällen führt Betain zu einer Normalisierung der Methionin-Spiegel im Körper und zu einer eindrucksvollen Verbesserung der neurologischen Symptome. Die Erkrankung ist heimtückisch. Sie verläuft chronisch und bei noch fehlenden schweren Symptomen ist die Einsicht für eine konsequente Therapie-Einhaltung 3 bei den Betroffenen nur unzureichend vorhanden. Erfahrungsgemäß werden die notwendigen Medikamente dann auch gern einmal vergessen. Besonders problematisch ist eine konsequente Diäteinhaltung, die für Patienten offensichtlich belastender und mit größeren Einschränkungen der Lebensqualität verbunden ist, als die Medikamenteneinnahme. Wie sieht das Leben eines Patienten mit Homocystinurie aus? Die Lebensqualität hängt in erster Linie von den bereits vorliegenden Krankheitssymptomen ab. Ein rechtzeitig behandelter Patient hat - abgesehen von Medikamenteneinnahme und/oder Diäteinhaltung - keine besonderen Einschränkungen und Lebenserwartung. Nach vermutlich einer auch keine Thromboembolie erheblich - eingeschränkte beispielsweise einem Schlaganfall - bei einer Augenschädigung oder einer geistigen Behinderung kann die Lebensperspektive erheblich beeinträchtigt sein. Einige dieser Patienten sind als schwerbehindert einzustufen. Sie können keine normale Schule besuchen und auch nicht berufstätig sein. Wieviel Zeit vergeht gewöhnlich bis zur richtigen Diagnose? Das Alter bei Diagnosestellung reicht bis ins Erwachsenenalter. Bei der Abklärung der Symptome wird häufig nicht an seltene Stoffwechselkrankheiten gedacht. Die meisten Patienten haben bereits mehrere Ärzte aufgesucht. Besonders problematisch ist, wenn die Symptome erst im Erwachsenenalter auftauchen. In der Erwachsenenmedizin denkt man kaum an das Vorliegen angeborener Stoffwechselkrankheiten. Ich bin sicher, dass zahlreiche Patienten überhaupt nicht richtig erkannt werden. Eine kausale Therapie wird dann auch nicht eingeleitet, so dass sich weitere Krankheitssymptome entwickeln können. Wie könnten Diagnose und Therapie von Störungen im HomocysteinStoffwechsel verbessert werden? Behandelnden Ärzten - beispielsweise Kinderärzten, Augenärzten, Internisten, Neurologen oder Gynäkologen - muss das Krankheitsbild und die Problematik näher gebracht werden, so dass öfter an die Untersuchung von Homocystein im Blut gedacht wird. In der letzten Zeit ist hier durchaus eine Verbesserung zu spüren, die allerdings bei weitem noch nicht ausreicht. Da die Beurteilung der Befunde schwierig ist, sollte ein erfahrener Arzt mit speziellen Kenntnissen auf dem Gebiet der pädiatrischen Stoffwechselmedizin hinzugezogen werden. Es wäre wünschenswert, zentrale Patientenregister einzurichten, um möglichst viele Informationen zu der Erkrankung an einer Stelle zu sammeln, um die 4 Behandlungserfolge vergleichen zu können. Die Erfahrung auf anderen Gebieten der Medizin zeigt, dass die Qualität der Behandlung auf diese Weise sehr rasch erheblich verbessert werden kann. Welche Schritte sind unbedingt notwendig? Irland ist eines der wenigen Länder, in denen jedes Neugeborene auf Homocystinurie untersucht wird. Wenn die Behandlung so früh eingeleitet und dann konsequent durchgeführt wird, bleiben die Patienten frei von schwerwiegenden Krankheitssymptomen und fühlen sich unbeeinträchtigt. In Deutschland wird nur in wenigen Bundesländern im Rahmen des NeugeborenenScreenings nach Homocystinurie gesucht. Leider sind die zur Zeit zur Verfügung stehenden Tests auch nicht empfindlich genug, um alle Patienten frühzeitig zu entdecken. Es bleibt zu wünschen, dass geeignete Analyseverfahren entwickelt werden, die eine sichere Erkennung der Homocystinurie bereits bei Neugeborenen ermöglichen. Haben Sie im Laufe der Jahre besonders traurige Fälle von falscher oder zu später Diagnose und Therapie kennen gelernt? Jeder Fall, der zu spät diagnostiziert wird und zu bleibenden Schäden geführt hat, ist traurig. Diese Fälle sind die Regel und nicht die Ausnahme. Besonders traurig ist, wenn Kinder mit schwerer geistiger Behinderung, ausgeprägter Sehschwäche und schweren, irreparablen Durchblutungsstörungen an den Rollstuhl gefesselt sind und für das ganze Leben ein Pflegefall bleiben werden, wenn eine frühzeitige Diagnose und Behandlung zu einer weitgehend normalen Lebensperspektive geführt hätte. ANMERKUNG Erhöhte Homocysteinwerte sind ein Risikofaktor für Herz-KreislaufErkrankungen wie Schlaganfall und Arteriosklerose. Leicht erhöhte Werte liegen bei 5-7 % der Bevölkerung vor.** Die Normalisierung dieser Werte kann meist schon durch die konsequente Einnahme von Vitamin B6, Folsäure und/oder Betain (z.B. Cystadane®) – einzeln oder in jeglicher Kombination - erreicht werden.*** * ** PD Dr. Hans Georg Koch, Universitäts-Kinderklinik Münster, Albert SchweitzerStraße 33, 48149 Münster, Tel.: 0251/8356494, Telefax: 0251/8356085, e-mail: [email protected] Berlit, Peter. Schlaganfall: Möglichkeiten der Primärintervention. Nervenarzt 4/2000, Nr. 71: 231-237. 5 *** Franken, D. G.; Boers; G. H. J.; Blom, H. J.; Trijbels, F. J. M.; Kloppenburg, P. W. C.. Treatment of Mild Hyperhomocysteinemia in Vascular Disease Patients. Arterioscer. Thromb. 1994, Nr. 14: 465-470. Herausgeber: Orphan Europe GmbH, Max-Planck-Straße 2, 63128 Dietzenbach Bei Rückfragen: Eberhard Kroll 06074 / 81 21 60 Dr. Barbara Donnerstag06074 / 81 21 60 Redaktion: Medizin & PR GmbH – Gesundheitskommunikation, Im Klapperhof 33a, 50670 Köln Bei Rückfragen: Iris Huth Birgit Dickoré 0221 / 77 543 – 14 0221 / 77 543 – 11 Abdruck honorarfrei, Beleg erbeten. Köln, April 2001 6