Roland Müller Franziska von Westerholt Historischer Roman

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Roland Müller
Franziska
von Westerholt
Historischer Roman
Zweites Buch
Dass keiner
des anderen Sprache verstehe
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Da sie nun zogen gegen Morgen,
fanden sie ein ebenes Land im Lande Sinear,
und wohnten daselbst.
Und sie sprachen untereinander:
Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen!
und nahmen Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk
und sprachen:
Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen,
des Spitze bis in den Himmel reiche,
dass wir uns einen Namen machen!
denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Da fuhr der Herr hernieder,
dass er sähe die Stadt und den Turm,
die die Menschenkinder bauten.
Und der Herr sprach:
Siehe, es ist einerlei Volk
und einerlei Sprache unter ihnen allen,
und haben das angefangen zu tun;
sie werden nicht ablassen von allem,
was sie sich vorgenommen haben zu tun.
Wohlauf, lasset uns hernieder fahren
und ihre Sprache daselbst verwirren,
dass keiner des anderen Sprache verstehe!
Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder,
dass sie mussten aufhören, die Stadt zu bauen.
(1.Mo. 11.2-8)
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4
1.Kapitel
I
W
ie weit bist du?"
Der Fernhändler Benno
schnaubte wie ein Pferd, denn
der Sommer des Jahres 1228 war heiß,
und beleibte Leute wie er litten besonders darunter.
"Wenn wir den Wagen nicht bis heute
Abend repariert haben, fahren die anderen ohne uns weiter, mitsamt dem Geleitschutz."
"Die Hinterachse ist zersplittert. Wir
brauchen einen Wagner."
Eikes Stirnadern waren geschwollen,
und das ließ einen seiner Jähzornsanfälle befürchten. Benno, der die wilde
Vergangenheit seines Knechtes kannte,
hätte gern einen anderen Gehilfen genommen, doch für so wenig Lohn wollte niemand sonst bei ihm bleiben.
"Dir fällt gewiss etwas ein."
"Warum, zum Teufel, soll ich mich
abschinden, während Ole sich die faule
Haut kühlt?"
"Nenne nicht so leichtfertig den Namen des Bösen!"
Eike hörte ihm schon nicht mehr zu.
Er schleuderte den Hammer auf den
Boden und verschwand. Benno ließ sich
schwer auf einen Schemel fallen und
blickte resignierend über den engen, mit
den Wagen der Kaufleute völlig verstellten Marktplatz von Osnabrück. Alles störte ihn - die schmutzigen Rinnsale, das Geschrei der Stadtkinder, der
üble Geruch, der schwer in der Luft lag,
weil kein Wind ihn verwehte.
Da plötzlich hörte er etwas, das ihn
aus seinem Trübsinn riss, ein Satzfetzen
nur, ein paar vertraute Laute. Er hob
den Kopf und bemerkte ein bettelndes
Mädchen. Ihrer Sprache nach musste sie
an der Küste aufgewachsen sein. Auch
Benno kam von dort, aus Bremen, und
es tat ihm gut, wenn er auf seinen weiten Reisen ein Stück Heimat fühlte.
Er begann, das Mädchen zu beobachten. Sie war noch jung, höchstens vierzehn, allerdings schon recht kräftig.
Sein Blick glitt vom Kopf über die
Wölbung ihrer Brüste hinweg bis zu den
Füßen hinab. Sie hatte eine Figur wie
eine Bauerntochter, war dabei aber ungewöhnlich anmutig. Sie gefiel ihm,
und er wollte sie besitzen. Er wollte
immer besitzen, was ihm gefiel. Als er
sie zu sich heranwinkte und überlegte,
was sie ihn wohl kosten würde, zitterten
ihm vor Erwartung die Hände.
"Wie heißt du?"
"Mein Name ist Franziska."
Wie hochfahren sie das sagte! Ganz
sicher war sie kein elternloses Straßenmädchen, das für ein Stück Brot zu haben war. Ihre nun vom Wind zerzausten
Haare hatte jemand vor kurzem frisiert.
"Du bist nicht aus dieser Stadt?"
"Nein."
Auch ihr verstaubtes und an einigen
Stellen eingerissenes Kleid hatte schon
bessere Tage erlebt.
"Woher kommst du?"
"Das ist eine lange Geschichte ..."
Woher nahm dieses Landstreicherküken den Mut, den Kopf so herausfordernd zurückzuwerfen, anstatt demütig
den Blick zu senken? Das Geheimnisvolle an ihr reizte Benno jedoch schließlich so sehr, dass er ihr (gerade als sie
wieder gehen wollte) in seine Dienste
zu treten anbot. Sie überlegte einen
Moment.
"Nehmt Ihr mich auch, wenn ich
Euch eine Bedingung stelle?"
"Das kommt auf die Bedingung an."
"Nein. Sagt es vorher!"
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"Dir fehlt jemand, der dir deine
Frechheit austreibt."
"Nun, dann sucht Euch eine andere
Magd!"
"Nein, nein! Geh nicht fort! Ich bin
einverstanden."
"Die Bedingung ist meine Schwester
Pentia."
Sie wandte sich einem jüngeren Mädchen zu, das aus zehn Schritten Entfernung das Geschehen misstrauisch beobachtete.
"Nun komm schon, du Feigling!"
Das Mädchen schüttelte kaum merklich den Kopf.
"So ist sie immer!" sagte Franziska
lachend, zufrieden mit ihrem Streich.
In diesem Moment kam Eike zurück.
Neben ihm her trottete der zweite
Knecht des Kaufmanns, ein unscheinbarer Bursche mit mattblondem Haar und
müdem Gesicht.
"Wer ist das? Kennst du die?" fragte
Eike.
"Nein. Is' mir auch egal."
"Die ist doch viel zu jung für den Alten, fast noch ein Kind!"
"Aber trotzdem schon heiratsfähig.
Und allem Anschein nach auch gesund.
Wenn sie mit zufasst und uns nicht zuviel weg frisst ..."
"Fauler Sack! Fällt dir bei Weibern
nichts anderes ein? ... Gehört der Fratz
da etwa auch noch dazu?"
Ole hob als Antwort missmutig die
Schultern.
"Das Ganze stinkt nach Ärger. Mit
den beiden stimmt was nicht. Vertrau
meinem Riechhaken!"
Eike musterte Pentia. Sie hatte dieselben schwarzen Haare wie die große
Schwester, sah ihr auch ähnlich, war
aber feingliedriger, empfindlicher, sicherlich verwöhnter.
"Der Wagner kommt vorbei, wenn er
gegessen hat."
Benno fuhr zusammen und drehte
sich jählings um.
"Der Wagner? ... Ach ja, unsere Achse!"
Eike grinste unverschämt und weidete
sich an der Verlegenheit seines Herrn.
"Die schöne Jungfer ist wohl eine
Verwandte?"
"Nein ... Sie ist ... Nun, wenn wir in
Köln sind, brauchen wir Hilfe. Ihr wisst
doch, wie es uns vor zwei Jahren in Lübeck erging. Sie ist ab jetzt meine
Magd."
"Gewiss doch! Das verstehe ich. Ole
wächst schon jetzt die Arbeit schier
über den Kopf."
"Ihr beiden wartet hier auf den Wagner und geht ihm zur Hand, wenn er
kommt! Ich zeige Franziska ihre Arbeit."
Als Benno mit den Mädchen verschwunden war, sagte Eike mit schiefem Grinsen:
"Wetten, dass der Alte sie nicht als
Jungfer kriegt!"
Er war übrigens ein hübscher Bursche
- groß, kaum dreißig Jahre alt, schmal in
den Hüften und breit in den Schultern;
lockige, verwegen bis in den Nacken
wallende
Haare.
Viele
Annehmlichkeiten des Lebens wären ihm
von selbst zugefallen, die Frauen allemal. Doch auf solchen Gewinn legte er
keinen Wert. Er hasste die glücklichen
Umstände, schätzte nur das, was er sich
mit Gewalt nahm. Er liebte niemanden,
und er fürchtete nichts.
Sonderbarer Weise verstand er sich
mit Ole. Niemand wusste, was ihn ausgerechnet an diesen eigenwilligen Nordländer band. Oles Trägheit überstieg
alles, und wenn ihn nicht Hunger oder
rohe Gewalt trieb, tat er keinen Handschlag. Wer sein liederlich kurz geschnittenes, strähniges Haar sah, glaubte
gern der Nachrede, dass er gar zum
Kämmen zu faul war. Vielleicht brauchte Eike einfach jemanden, der ihm zuhörte, ohne jemals zu widersprechen.
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"Möchte wissen, wo die herkommt.
So was halst man sich nicht auf. Soll er
sie sich meinetwegen in irgendeiner
dunklen Ecke hernehmen, aber nicht
gleich mitschleppen!"
Benno führte unterdessen die Mädchen zu seinen anderen beiden Wagen.
Von der Arbeit sagte er wenig. Er
sprach von seinem Reichtum und zeigte
seine Kostbarkeiten als Beweis. Und er
beobachtete Franziska, wie sie dem allergrößten Schmutz auswich, wie sie
voller Neugier alles untersuchte, was er
ihr vorführte. Er hätte gern ihre Geschichte erfahren, ihr Geheimnis.
"Ihr fahrt nach Köln, Kaufmann?"
fragte sie.
"Köln ist ein großer Handelsplatz und
eine schöne Stadt, groß und bunt. Sie
wird dir gefallen."
Pentia folgte den beiden zunächst,
blieb dann aber zurück, da niemand sie
beachtete. So war Benno mit Franziska
plötzlich allein im hintersten Winkel
eines Wagens. Die Erregung brachte ihn
fast um den Verstand. Im letzten Moment jedoch hielt ihn etwas zurück nicht die Furcht vor Folgen (Eine fremde Stadtstreicherin hatte immer Unrecht) eher eine innere Stimme, die ihn
mahnte, dass es ihm keine Freude
brächte, dieses Mädchen einfach zu
vergewaltigen.
"Wenn es nichts mehr gibt, was Ihr
mir sogleich sagen oder zeigen müsst,
würde ich mich gern noch einmal in die
Stadt entschuldigen", riss sie ihn aus
seinen Gedanken.
Er beeilte sich zuzustimmen.
In Wahrheit hatte Franziska keineswegs etwas zu erledigen. Boleke, ihr
Freund und Beschützer, war sicherlich
inzwischen fort. Sie kannte hier niemanden, wollte zu niemandem. Aber
zugleich hatte sie Bedenken, ob sie sich
diesem Benno tatsächlich anschließen
sollte. Er war ihr nicht geheuer, nicht
erst seit sie im Winkel auf dem Wagen
seinen heftigen Atem bemerkt hatte.
Ohne bestimmtes Ziel schlenderte sie
umher. Die Innenstadt war von einer
eigenen Mauer eingefriedet. Sie schützte den Dom und den Marktbereich und
grenzte beides zugleich von den drei
Vororten ab, die sich wie ein Halbmond
davor hinzogen. Das Mädchen drängte
sich durch das Tor. Dort hatte sich Boleke verabschiedet. Sie war tapfer gewesen dabei, hatte stolz erklärt, dass sie
sich allein durchschlagen könne. Ob er
ihr das glaubte?
In Gedanken sah sie sich noch einmal
mit Pentia und dem alten Diener vor der
äußeren Mauer an der Lügenpforte stehen, hungrig und müde und mit zerschundenen Füßen. Die Wächter musterten sie misstrauisch und Boleke
musste sich dem Namen der Pforte sehr
würdig zeigen. In der Stadt verschlangen sie ihre letzten Vorräte und
legten sich in einem Winkel zum Schlafen nieder.
Am nächsten Morgen durchstreiften
sie auf der Suche nach etwas Essbarem
die Leischaften - dicht bewohnte Viertel
mit engen, verwinkelten Gassen. Franziska vermisste den Blick in die Ferne
und glaubte im Gestank zu ersticken.
Zweimal wäre sie um ein Haar aus einem Fenster heraus mit Unrat übergossen worden. In der Gassenmitte floss
träge ein braunes Rinnsal, das sich an
einigen Stellen staute und breite Streifen verpesteten Morastes bildete.
Franziska fühlte sich in Osnabrück
einsam und verloren. Zwar hatte sie
nicht wie Pentia geweint, als Boleke
davon gehumpelt war, dennoch stiegen
in ihrem Innern Erinnerungen auf an
schreckliche Geschichten über das, was
einem Mädchen ohne Beschützer in der
Fremde geschehen könne. Sie hatte
Angst - Angst vor Räubern mit zernarbten Gesichtern und schwarzen Masken,
Angst vor dem Übernachten unter frei-
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em Himmel, Angst vor allem vor den
vielen ihr noch unbekannten Gefahren.
Diese Angst trieb sie schließlich zu
Benno zurück. Die Nachstellungen ei-
nes lüsternen Kaufmanns waren immerhin etwas Abwägbares, etwas wogegen
sie sich wehren konnte.
II
W
ie eine riesige Schlange, ein
einheitliches Gebilde, wand
sich die Wagenkolonne die
Berge des Teutoburger Waldes hinauf.
Dabei waren die Wagen sehr verschieden. Große und kleine gab es, hohe und
flache, solche mit grellbunt bemalten
Planen und unscheinbar graue. Einige
hatten gewaltige, eisenverstärkte Räder
mit armdicken Speichen, andere ganz
kleine, die unter der Last ächzten. Und
auch die Pferde glichen einander nicht.
Da gab es schwerfällige Ackergäule, die
gehorsam und gleichmütig ihre Arbeit
verrichteten, altersschwache Klepper,
denen jeder Schritt zur Qual wurde,
aber auch feurige Rappen, denen das
Tempo zu langsam war. Manche trotteten mit gesenktem Kopf daher, als wollten sie sich für ihr Dasein entschuldigen, andere trabten stolz und mit aufgestellter Mähne.
Benno reiste mit seinen drei Wagen
mittendrin in der Schlange. Den ersten
Wagen lenkte er selbst, den zweiten
Eike und den letzten Ole. Um mit Franziska allein zu sein, hatte der Kaufmann
die jüngere Schwester zu Eike geschickt.
"Weißt du, warum ich dich als Magd
in meine Dienste genommen habe?"
fragte er sie rundheraus.
"Ist es nicht darum, dass Ihr Hilfe
brauchtet?"
Er lachte wie über einen Scherz.
"Da wäre mir ein kräftiger Bursche
nützlicher gewesen."
"Ich bin zwar ein Mädchen und erst
dreizehn Jahre alt, aber ich werde mich
sehr bemühen, dass Ihr Euren Entschluss nicht zu bereuen braucht."
"Du verstehst nicht, was ich meine ...
Du brauchst bei mir nicht schwer zu
arbeiten. Es reicht mir, wenn du ..."
"Seht doch", unterbrach sie ihn, "die
Riemen sind lose geworden durch das
Rütteln auf der schlechten Straße! Ich
werde sie festziehen, damit kein Unheil
geschieht."
Unter der Plane war es heiß und stickig. Hier staute sich der Staub, den die
Hufe der Pferde aufwirbelten, und der
die Kolonne wie ein dichter Nebelschleier einhüllte. Die Stapel der Kisten
und Ballen überragten Franziska. Im
Wirrwarr der kreuz und quer gespannten Seile und Lederriemen war kein
Anfang und kein Ende zu erkennen. Als
sie einen lockeren Knoten nachziehen
wollte, wurde sie von einem plötzlichen
Stoß so derb gegen die hintere Wand
geschleudert, dass sie für einen Augenblick keine Luft mehr bekam.
So sehr sie sich auch bemühte, ihre
Arbeit ordentlich zu erledigen, sie verlor immer mehr die Übersicht. Es erschien ihr, als vollführten die Gegenstände einen wilden Bauerntanz.
Schwarze und braune Pelze aus Russland warben um duftende Frauenkleider
mit kunstvoll gearbeitetem Spitzenbesatz. Ein besonders vornehmer silbergrauer Pelz war mit einer Samtjacke im
Schwange. Dazwischen hüpften Schuhe
aus Stoff wie lustige Winzlinge umher.
Am Rande spendeten dicke Holzkisten
mit riesigen Schlössern und geheimnisvollem Inhalt Beifall. Erst ein erneuter
harter Stoß brachte Franziska wieder
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zur Besinnung. Sie raffte sich auf und
bemühte sich, wenigstens die schlimmsten Schäden zu verhüten. Das gelang ihr
dann auch leidlich, wobei sie sich freilich die Hände blutig riss.
Die Kolonne erreichte unterdessen
den Kamm des Teutoburger Waldes.
Damit war das schwerste Stück auf dem
Weg nach Münster, dem Ziel für diesen
Tag, geschafft. Zumindest glaubten die
Kaufleute das - bis sie vor sich die Straße plötzlich in einem breiten Morastbecken verschwinden sahen. Bewaldete
Hänge zu beiden Seiten vereitelten jeden Ausweichversuch. So blieb am Ende nichts anderes übrig, als mehrere
Bäume zu fällen und einen Knüppeldamm zu bauen. Und obwohl alle dabei
mit zupackten, kam die Kolonne im Tal
der Ems erst kurz vor Sonnenuntergang
an, als die Zugbrücken am Wassergraben schon hochgezogen waren.
Benno gehörte zu denen, die im Auftrag aller mit den Wächtern verhandelten. Er kannte Münster, kannte den uralten Dom und die Bischofsburg und die
Mauer um beides herum, kannte die
Marktstraße, die an der Ems begann und
endete und das Areal des Kirchenfürsten wie eine Schlinge umspannte. Und
er kannte auch den Hochmut der Bürger, die sich etwas einbildeten auf ihr
Münzrecht, das schon von Kaiser Otto
dem Dritten herrührte. Dem Hauptmann, der dort oben auf dem Wall
stand, flankiert von ein paar seiner Leute, schien es ein Vergnügen zu sein, die
Fremden zu demütigen. Jedes an ihn gerichtete Wort war glatte Verschwendung.
Franziska suchte unterdessen nach ihrer Schwester und fand sie völlig verstört allein auf Eikes Wagen.
"Was ist los mit dir? Hat dir jemand
etwas getan?"
Statt eine Antwort zu geben, fiel sie
ihr um den Hals und brach sofort in
Tränen aus.
"Hör auf! Du bist kein kleines Kind
mehr. Erzähl mir, was geschehen ist!"
"Der Knecht behauptet, dass der
Kaufmann uns beide umbringen will",
würgte sie hervor. "Er bringt alle Mägde
um, weil er einem geheimen Bund angehört und Jungfrauenherzen für Zaubereien braucht."
"Diesen Unsinn hat er dir eingeredet?" rief Franziska aufgebracht. "Und
du glaubst das auch noch?"
Gewiss gab es Menschen, die mit bösen Geistern oder gar dem Teufel selbst
im Bunde standen. Dieser lüsterne
Benno jedoch gehörte gewiss nicht zu
ihnen. Der hatte etwas anderes mit ihr
vor.
Plötzlich hörte sie hinter sich jemanden brüllen:
"Was faulenzt ihr hier herum? Die
Verhandlungen sind gescheitert. Wir
dürfen nicht mehr in die Stadt hinein
und müssen eine Wagenburg aufbauen.
Wollt ihr nicht helfen dabei?"
Franziska drehte sich um und erkannte den Knecht Eike.
"Ich kann noch nicht wissen, was zu
tun ist, denn ich bin erst seit gestern
Magd", antwortete sie so bescheiden sie
konnte.
"Ich werde es dir zeigen. Komm mit
auf den Wagen!"
Franziska folgte ihm zögernd. Zuvor
überzeugte sie sich, dass in der Nähe
noch andere Leute waren. Unter der
Plane herrschte jetzt fast völlige Dunkelheit. Sie tastete sich ein paar Schritte
vorwärts. Da plötzlich packte Eike sie
am Arm und schleuderte sie auf etwas
Weiches, einen Stapel Kleider oder
Stoffe.
"Wir brauchen dich hier für die Arbeit nicht. Verstehst du? Und weil das
so ist, musst du dich auf andere Weise
nützlich machen."
Franziska riss sich mit einem Ruck
los und schrie wütend:
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"Wenn du das von mir willst, musst
du mich erst einmal fangen. Dabei wirst
du merken, dass ich so schwach gar
nicht bin."
"Du willst dich also widersetzen?"
Franziska versuchte, ruhig und höflich zu bleiben.
"Ich weiß, dass es sich für ein Mädchen geziemt zu gehorchen. Ich will
auch gern ..."
"Es geziemt sich, zu gehorchen", äffte
er ihr nach. "Wo hast du denn so fein
sprechen gelernt? Du glaubst wohl auch
noch an den braven Ritter, der dich über
den Bach trägt, damit deine Füßchen
nicht nass werden."
Mit diesen Worten stürzte er sich erneut auf sie, diesmal fest entschlossen,
sie nicht wieder entkommen zu lassen.
"Du bist mir ausgeliefert und es ist
mir gleich, ob sich das, was ich jetzt mit
dir mache, geziemt oder nicht."
Nun aber dachte auch Franziska nicht
mehr an die Lehren des Apostel Paulus
und setzte sich mit aller Kraft zur Wehr.
"Lass mich los, du stinkender Bock,
und sieh dich vor! Ich habe schon so
manchen Stockkampf ausgetragen, und
meinen Gegnern ist das nicht immer gut
bekommen."
Eike war außer sich. Nie zuvor hatte
er so entschlossenen Widerstand erlebt.
Jetzt wollte er nicht mehr allein seine
Lust befriedigen, jetzt ging es ihm um
seine Ehre als Mann. Franziska jedoch
verteidigt sich tapfer und gewandt wie
eine Wildkatze und wäre sicher ohne
Schaden davongekommen, wenn nicht
am Ausgang ein Stoffballen im Weg
gelegen hätte. Sie verlor das Gleichgewicht, prallte im Sturz mit dem Kopf
gegen das Rad des Wagens und verlor
für einen Moment das Bewusstsein. Als
sie die Augen wieder aufschlug, stand
Eike über ihr und schwang eine Lederpeitsche.
"Zu mir sagt ein Weib nicht ungestraft 'stinkender Bock'. Dafür wirst du
büßen." Sein Gesicht war wutverzerrt.
"Ich peitsche dich, bis du aussiehst wie
Jesus am Kreuz."
Franziska brauchte eine Zeitlang, um
sich wieder zurechtzufinden. Etwas
rann ihr warm über die Stirn und die
Wange. Sie tastete danach und merkte,
dass es Blut war. Unterdessen mischten
sich in das Gebrüll des Knechtes noch
andere Stimmen. Der Lärm hatte eine
Menschenmenge angelockt.
"Was ist los? Warum willst du sie
verprügeln?"
"Sie bekommt ihre Strafe für Faulheit
und Widerspenstigkeit", antwortete Eike.
"Aber sie hat sich verletzt! Das ist
Strafe genug."
"Nur kein falsches Mitleid! Man weiß
ja, wohin das führt."
Pentia sah das alles mit an und zitterte am ganzen Leib. Dass keiner von den
starken Männern in der Runde ihrer
wehrlos am Boden liegenden Schwester
helfen wollte, presste ihr das Herz zusammen. Sie stand ganz dicht bei Eike
und hörte ihn keuchen. 'Er schlägt sie
tot!' schoss es ihr durch den Kopf. Während sie sich vorstellte, plötzlich ganz
allein in der Fremde zu sein, überkam
sie der Mut der Verzweiflung, und sie
fiel dem zwei Kopflängen größeren
Rohling in den Arm.
Das brachte Eike vollends aus der
Fassung. Er wusste nicht recht, was er
tun sollte, beruhigte sich plötzlich und
ließ die Peitsche sinken. Dann wollte er
sich davonstehlen. Zu seinem Schaden
indes hatte auch sein Dienstherr den
Auflauf bemerkt. Als Benno nun Franziska verletzt am Boden liegen sah und
dazu seinen gewalttätigen Knecht mit
der Peitsche in der Hand, verlor er jedes
Maß.
"Ich bringe dich an den Galgen, du
Stück Vieh! Du weißt, dass ich das
kann, wenn ich es will."
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Dann nahm er eine abgebrochene
Deichsel und ging damit auf ihn los.
Eike sah zu, dass er davon kam, und
ging zu Ole. Der hatte die ganze Zeit
über von seinem Wagen aus wie von
einer Tribüne das Geschehen verfolgt
und nicht einmal den Mund verzogen.
"Was geht vor in dem Alten?" ereiferte sich Eike. "Die Schwarzhaarige
macht ihn ganz irre. Mir hat das von
Anfang an gestunken. Und ich habe
mich noch nie getäuscht, wenn ich jemanden nicht leiden konnte."
Ole schwieg, sagte nichts dagegen,
nichts dafür. Eike störte sich nicht daran.
"Trotzdem muss sie dran glauben.
Jetzt erst recht."
Ole zuckte gleichgültig mit den
Schultern, und das blieb seine einzige
Erwiderung.
Benno kümmerte sich derweil um
Franziska. Er trug sie zu seinem Wagen,
bettete sie dort auf Stoffballen und verband ihr die Wunde am Kopf. Dass dabei ein paar neue Kleider mit ihrem Blut
verdorben wurden, kümmerte ihn nicht
(so empfindlich er in dieser Hinsicht
gewöhnlich war).
"Warum bist du nicht sofort zu mir
gekommen? Dieses Ungeheuer hat dir
nichts zu sagen. Du brauchst keine
Angst mehr vor ihm zu haben. Wenn
ich nur vor der rechten Leute Ohren
erzähle, was ich über ihn weiß, hängt er
am Galgen."
"Sorgt Euch nicht um mich! Ich fühle
mich schon wieder recht gut. Ich war
eben ungeschickt."
"Mehr als vier Monate lang bin ich
jetzt schon unterwegs", begann der
Kaufmann zu erzählen. "Zuerst war ich
in Polen. Dort gibt es billig Wachs und
Talg. Auch ein paar Dutzend russische
Pelze habe ich dort gekauft. Aber frage
mich nicht, wie ich damit nach Lübeck
gekommen bin!" Sie brauchte nicht zu
fragen, denn er erzählte es ihr auch un-
aufgefordert. Er merkte schnell, dass sie
für Unbekanntes zu begeistern war. "In
Bremen hatte ich wenig Glück. Die
Leute zahlen nicht mehr wie früher. Es
ist ein Jammer. Übrigens wohnt dort
meine Familie. Aber frage mich nicht,
wie selten ich meine Kinder sehe!"
Franziska fürchtete, dass er sich im
Selbstmitleid verlieren würde, und versuchte, ihn auf andere Gedanken zu
bringen.
"In Köln werdet Ihr bessere Geschäfte abschließen."
"Gott steh mir bei! Ich will dort meine ganze Ware eintauschen gegen Kölnische Tuche und dann über die Alpen
nach Italien ziehen. Kennst du Italien?"
"Nun ... Der Papst ist dort und ..."
"Italien übertrifft alle anderen Länder
an Reichtum und Schönheit. Mailand,
Pisa, Genua, Cremona. Herrliche Seide
kann man dort kaufen. Gewürze, wie du
sie hier in Deutschland nur an den Höfen der Fürsten siehst, gibt es dort auf
einem gewöhnlichen Markt." Er sonnte
sich im Staunen des Mädchens. "Eines
aber wirst du mir niemals glauben, obwohl es so wahr ist, wie ich hier sitze die sonderbaren Dinge, die es in Sizilien
am Hofe des Kaisers Friedrich zu sehen
gibt: Tiere mit so langen Hälsen, dass
sie mühelos über ein Bauernhaus blicken, und solche, auf denen fünf Menschen zugleich reiten können und denen
die Nase bis auf den Boden reicht, riesige Löwen ..." Plötzlich ab brach er ab
und fiel zurück in seine Niedergeschlagenheit. "Aber was kann das alles gegen
die Einsamkeit ausrichten? Die Einsamkeit ist eine giftige Schlange. Das
kannst du mir glauben."
Franziska ahnte allmählich, worauf er
in Wahrheit hinauswollte (nämlich auf
dasselbe wie Eike, nur auf eine andere
Art). Bennos nächsten Worte bestätigten ihre Vermutung.
"Bei den alten fränkischen Königen
gab es einen besonderen Brauch. Die
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mussten (wie wir Kaufleute) oft herumreisen. Und weißt du, was sie taten? Sie
nahmen sich neben ihrer Ehefrau eine
oder gar mehrere Friedelfrauen. Niemand fand damals etwas Schlechtes
dabei. Diesen Brauch gibt es sogar heute noch zuweilen, wenn auch manche
Priester ..."
"Was redet Ihr da? Während Eure
Frau mit Euren Kindern in Bremen auf
Euch wartet, wollt Ihr Euch mit einer
anderen vergnügen und findet nicht
einmal etwas Schlechtes dabei?"
Franziska sprang in heller Empörung
auf und lief ungeachtet ihrer Verletzung
davon.
"Du hast mich falsch verstanden!"
rief er ihr noch nach, doch sie ließ sich
nicht mehr aufhalten. Da warf er in einem unvermittelten Anfall wilder Zerstörungswut seine Stoffe durcheinander.
Die beiden Mädchen versteckten sich
in einem Winkel, wo sie hoffen konnten, dass sie niemand fand. Dort waren
sie nun zwar für ein paar Stunden sicher, doch wurden sie nicht viel fröhlicher dadurch. Pentia flüsterte:
"Hier gibt es nicht einmal einen
Priester."
Franziska war kaum weniger beklommen zumute, doch wenn sie ihre
Schwester trösten musste, fiel ihr immer
etwas ein. Sie kniete nieder und sagte:
"Lass uns zusammen beten! Der Herr
Jesus sieht vom Himmel her ganz genau, wie es uns geht. Er wird uns zuhören, auch wenn kein Priester bei uns
ist."
"Glaubst du das?"
"Ich weiß es."
So kniete sich auch Pentia nieder und
legte die Hände gegeneinander. Dann
sprach Franziska vor:
"Lieber Herr Jesus Christus, wir danken dir, dass du uns den Weg zu einem
Beschützer gezeigt hast. Gib uns nun
die Geduld, unserem Dienstherrn in
Demut zu dienen! Zugleich bitten wir
dich aber, ihn und seine Knechte von
ihren bösen Gelüsten abzulenken, so
dass wir wohlbehalten die Stadt Köln
erreichen. Amen."
"Amen", sprach Pentia nach.
Wenig später wiegten die laue Nacht
und der Gedanke an den Schutz durch
Christus, den Herrn, die Mädchen in
den Schlaf.
III
A
m nächsten Tag ereignete sich
nichts
Außergewöhnliches.
Franziska erwirkte, dass Pentia
nicht mehr auf Eikes Wagen fahren
musste. Im Übrigen erreichte der Wagenzug Dortmund, wo die Kaufleute im
Schutz der Stadtbefestigung die Nacht
verbrachten. Einige trennten sich von
den anderen, denn auch hier wurde ein
Markt abgehalten. Südlich von Düsseldorf kamen die Reisenden an den
Rhein. Der Graf von Berg, dem der Ort
und die Gegend gehörten, hatte hier
eine gewinnträchtige Fähre eingerichtet.
"Früher fuhr ich mit dem Schiff den
Fluss entlang nach Köln", erzählte
Benno. "Aber das lohnt sich nicht
mehr."
Franziska sah ihn erstaunt an.
"Macht Ihr keine guten Geschäfte
mehr?"
"Ich habe kein Glück."
"So dürft Ihr nicht reden. Gott vergisst Euch nicht."
Er belächelte ihre kindliche Zuversicht, aber zugleich tat sie ihm gut.
Am späten Nachmittag sah Franziska
am Horizont die Zinnen einer gewaltigen Mauer auftauchen, die am Rhein
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begann und nach rechts so weit reichte,
dass sie sich nicht überblicken ließ. Das
Mädchen, das nie etwas Ähnliches gesehen hatte, erinnerte sich der Berichte
aus der Bibel über das himmlische Jerusalem mit seinen zwölf Toren und reckte sich aufgeregt hoch auf ihrem Sitz.
Benno verkündete:
"Wir sind am Ziel. Das ist Köln.
Meine Freunde wohnen aber ganz im
Westen im Stadtteil der Friesen."
Er lenkte die Pferde kurz vor der
Mauer von der Straße herunter hinein in
einen Weg entlang des Grabens. Der
war sandig und ließ sich nur schwer
befahren. Franziska kam das gerade
recht, denn so konnte sie sich all das
Unbekannte, das ihr zu beiden Seiten
auffiel, in Ruhe ansehen.
An einem langen Abschnitt der Befestigung wurde noch gebaut. Transportarbeiter schafften auf besonderen
Wagen mächtige Gesteinsblöcke vom
Rhein her heran. Steinmetze zerteilten
und behauten sie in Zelten und leichten
Holzhütten. Träger brachten die fertigen
Mauersteine mit Körben zum eigentlichen Bauplatz hin. Franziska entdeckte eigenartige Gefährte mit Rädern
auf der einen und zwei Griffen auf der
anderen Seite. Sie wunderte sich, dass
diese einfache Erfindung in Bremen
noch niemand kannte.
"Das ist die letzte große Lücke in der
Stadtmauer", erklärte Benno. "Bald
wird alles fertig sein, nach mehr als
einem halben Jahrhundert. Ich kenne
junge Leute, deren Großväter der Mauer
schon ihr täglich Brot verdankten."
Der schlechte Weg hatte freilich auch
einen Nachteil - sie erreichten das Tor
zum friesischen Stadtteil spät.
"Müssen wir wieder vor der Mauer
übernachten?" fragte Franziska, und der
Gedanke daran war ihr nicht angenehm.
Benno indes beruhigte sie lachend:
"Das hier ist Köln und nicht Münster!
Die Haupttore bleiben offen, bis es fast
ganz dunkel geworden ist. Eines davon,
das Hahnentor, werden wir gleich hinter
der Biegung sehen."
Manch kleine Burg hätte nicht bestehen können gegen dieses Tor, das doch
in Wahrheit nur Teil einer Mauer war.
Vor dem Graben schützten zwei noch
unvollendete, kleinere Türme die Zugbrücke. Dahinter hatte man den breiten,
kahl geschlagenen Streifen, der zwischen Graben und Hauptmauer die ganze Stadt umspannte, mit niedrigen Mauern nach links und rechts abgesperrt, so
dass ein Hof entstand, in welchem die
Wagen der Kaufleute untersucht wurden. Dann kam die eigentliche Torburg.
Zwei dicke, runde Türme flankierten einen weiten, überbauten Bogen. Schmale
Schießscharten auf vier Ebenen und ein
Zinnenkranz als Bekrönung mussten jeden Feind gründlich abschrecken. Franziska fielen aber auch die zierlichen
Doppelfenster über dem Bogen auf, und
sie dachte bei sich, dass sich die Kölner
wohl nur aus Notwendigkeit so kriegerisch gaben und in Wirklichkeit von
ganz anderer Lebensart waren.
Das Hahnentor stand an einer Straße,
die über Aachen bis nach Frankreich
führte, und auf der auch am Abend noch
Händler in die Stadt hinein fuhren. Die
meisten von ihnen steuerten ihre Wagen
aber geradeaus auf eine wie ein Berg
über die Bürgerhäuser hinausragende
Kirche zu, während Benno nach links in
eine Gasse einbog.
"Jetzt möge uns Gott helfen, dass uns
nicht so kurz vor dem Ziel noch ein
Wagen kippt!"
Trotz der Trockenheit war der Untergrund morastig, und die Bohlen, mit
denen man ihn zu befestigen versucht
hatte, gaben bedenklich nach, sobald ein
Rad auf sie drückte.
"Wie kann das sein?" wunderte sich
Franziska.
"Das war früher einmal der Graben.
Jetzt ist er zugeschüttet und heißt Ve-
13
nuspfuhl. Siehst du diese Mauer dort
vorn links? Die gehört zum Benesishof.
Der lag damals noch außerhalb der
Stadt und musste von der Familie aus
eigener Kraft vor Feinden geschützt
werden. Aber die ist reich genug dafür."
Franziska blickte sich neugierig nach
allen Seiten um und begeisterte sich für
alles.
"Es gibt wohl viele reiche Herrn hier
in Köln?"
"Mancher, der hier wohnt, führt ein
besseres Leben als die meisten Grafen
... Dort rechts, an diesem Tor biegen wir
ab. Gleich dahinter wohnen meine
Freunde. Übrigens ist das kein gewöhn-
liches Tor sondern ein Kettenhaus.
Manchmal rottet sich hier auf dem Venuspfuhl zwielichtiges Gesindel zusammen. Dann lassen die Wachleute die
Ketten herunter und versperren den
Durchgang."
Franziska wurde so fröhlich gestimmt, dass sie leise ein Lied summte.
Auf der Reise hatte sie sich oft verlassen und schutzlos gefühlt. Dort bei
Bennos Freund aber, hinter der mächtigen Mauer und hinter dem Kettenhaus,
wird sie gewiss wieder Geborgenheit
finden. Im Stillen dankte sie dem Herrn
Jesus, dass er ihr Gebet auf der Wiese
vor der Stadt Münster erhört hatte.
14
2.Kapitel
I
W
o willst du jetzt so spät am
Abend noch hingehen?" fragte
die Mutter, eine kleine Frau
Anfang Vierzig mit leichtem Ansatz
zum Fülligwerden. "Bleibst du wieder
über Nacht fort? Du weißt doch, dass
wir uns um dich sorgen ..."
Hans antwortete nicht. Er zog sich einen grauen Kittel über, einen eigenartigen Kittel, der entfernt an eine Mönchskutte erinnerte, auch eine Kapuze hatte,
aber nur bis zu den Knien reichte, und
legte sich andächtig eine eiserne Kette
mit einem Kruzifix um den Hals. Diese
Kleidung wirkte ein wenig sonderbar
bei ihm, denn er war ein ungewöhnlich
großer und kräftiger Bursche, der eher
in einen Steinbruch oder auf eine Baustelle passte als in ein Kloster.
"Was sind das für Freunde, mit denen
du ganze Nächte verbringst?" begann
die Mutter von neuem.
"Gute Freunde sind es, Mutter, sehr
gute Freunde, solche die sich aufeinander verlassen können, überall und in
jeder Lage."
"Wie du das sagst! Kannst du dich
denn auf uns nicht verlassen? Haben wir
nicht alles getan, damit es dir besser
geht als uns, als wir so alt waren wie
du?"
In diesem Moment kam der Vater
herauf. Seine von wenigen grauen Haaren umstandene Glatze sah vor Erregung rot aus. Er stellte sich dem Sohn in
den Weg und schrie unbeherrscht:
"Du gehst heute Abend nicht aus dem
Haus! Ich verbiete es dir. Und ich verlange, dass du mir dieses Kreuz gibst."
Er griff danach, doch Hans hielt ihm
die Hand fest.
"Wenn Ihr es wagt, Euch an diesem
heiligen Zeichen zu vergreifen, werde
ich vergessen, dass Ihr mein Vater seid
und dass ich Euch deshalb ehren muss."
"An diesem heiligen Zeichen! Du bist
nun einundzwanzig Jahre alt und
glaubst, eigene Wege gehen zu können.
Aber was hast du denn erreicht im Leben? Du taugst nicht für das Geschäft.
Du findest auch keine Frau. Manchmal
glaube ich, dass der Teufel in dir verkehrte Gelüste entfacht hat."
Die Mutter verschloss ihm erschrocken mit der Hand den Mund.
"Ludwig, sag nichts, was du später
bereust! Um Gottes Willen!" Und zu
Hans gewandt, fast beschwörend: "Dein
Vater muss viel arbeiten. Er denkt ganz
anders, als er jetzt spricht. Du darfst ja
zu deinen Freunden gehen, nur wollen
wir ein wenig mehr über sie wissen."
Hans drängte sich ohne eine Antwort
an den Eltern vorbei. Der Vater konnte
ihn nicht aufhalten, denn er war kleiner
als sein Sohn und auch nicht so kräftig
wie er.
"Wir hätten ihn als Kind öfter verprügeln sollen."
Gundula seufzte.
"Es ist ein Jammer, zu sehen, wie das
einzige Kind so fremd wird. Wer soll
denn den Handel weiterführen, wenn du
alt bist?"
Beide gingen ins Kontor und beobachteten vom Fenster aus, wie Hans in
Richtung Stadtmitte davonging. Das
Kontor war ein großer, heller Raum mit
einem Eichentisch und mehreren schönen, lederbezogenen Stühlen. Hier empfing der Kaufmann Ludwig Jever seine
Geschäftspartner. Der Raum hatte allerdings den Nachteil, dass er sich nicht
heizen ließ und im Winter lediglich
durch den Kamin der schräg darunter
gelegenen Guten Stube ein wenig Wär-
me bezog. Im angrenzenden schmalen,
fast schlauchförmigen Zimmer wohnte
und schlief der Sohn. Breiter war das
Haus nicht. Die Schlafkammer der Eltern und ein für Gäste vorbehaltener
Raum befanden sich hinten jenseits des
Korridors.
Mit den Patriziern der Stadt konnten
sich die Jevers nicht messen. Das Haus
gehörte ihnen auch nicht, sondern sie
hatten es mitsamt dem Hof gegen einen
Jahreszins von zwei Mark Silber zur
Erbpacht. Doch sie waren mit viel Arbeit und ein wenig Glück zu gewissem
Wohlstand gelangt, und das erfüllte sie
mit Genugtuung.
"Im Herzen ist er ein guter Junge",
murmelte Gundula mehrmals wie eine
Beschwörungsformel. "Er will jetzt dies
und jenes versuchen, aber er wird immer wieder zu uns zurückkehren."
Ludwig zuckte als Antwort nur mit
den Schultern. Plötzlich aber wurde er
wieder lebhaft.
"Sieh mal, Gunda, wer da zu uns
kommt!"
"Wahrhaftig, das ist der Benno!"
Ludwig stieg eilig die Treppe hinunter, um dem alten Freund ein Stück
entgegen zu gehen. Er half ihm, vom
Bock zu klettern, und umarmte ihn
dann.
"Ich kann kaum glauben, dass du es
bist. Wie lange willst du bleiben? Erzähl, wie es dir ergangen ist! Erst einmal aber komm herein und fühle dich
wohl bei uns!"
Er geleitete seinen Gast ins Haus hinein. Von einem kleinen Vorraum gingen
zwei Türen ab. Geradezu gelangte man
in eine große Küche, in die auch die
Holztreppe zum Obergeschoss hineingebaut war, nach links in die Gute Stube. Ludwig öffnete die linke Tür und
ging voran.
In der Guten Stube sammelten die Jevers all ihre Schätze. Gegenüber der Tür
stand eine Truhe aus französischer
Werkstatt mit spiralförmigen Metallbeschlägen als Verzierung auf allen Seiten. Sie enthielt Wäsche und Kleider,
die allenfalls zu den hohen Festtagen
benutzt wurden. Und weil man sie so
selten öffnete, war sie mit einem bestickten Tuch bedeckt. Auf dem Kamin
rechts in der Ecke waren silberne Kannen und Becher zu einer Gruppe zusammengestellt, und Benno konnte sich
nicht erinnern, sie jemals anders als
blitzblank geputzt gesehen zu haben.
Ludwig ließ seinem Freund Zeit, sich
umzusehen. Bald aber kam Gundula mit
einem Krug Wein und zwei Bechern.
Sie begrüßte den Freund ihres Mannes
und versprach, auch etwas zum Essen
zu bereiten.
"Du musst doch hungrig sein nach
der Reise!"
"Oh, so arg ist es nicht mit dem Hunger. Du solltest dich lieber zu uns setzen
und dich mit uns unterhalten."
Davon aber wollte sie nichts wissen.
Vielmehr rief sie die Magd herbei, und
schon bald roch es im ganzen Haus
nach gebratenem Fleisch.
"Ein Zuhause, in das man Abend für
Abend zurückkehren kann, das lässt
sich nicht mit Gold aufwiegen", seufzte
Benno. "Es ist wie der Hafen für ein
Schiff, wenn am Horizont der Sturm
aufzieht. Der Herr hat dich reich beschenkt."
"Nun ja, so ein Wanderleben, wie du
es führst, hat immerhin auch so seine
Vorteile", entgegnete Ludwig mit Verschwörermiene, doch der Fernhändler
ging auf die Anspielung nicht ein, sondern fuhr fort zu klagen.
"Ich irre umher wie der Geist eines
Erhängten. Mein Sohn ist jetzt fünfzehn, und ich müsste ihn als Nachfolger
einweisen, aber ich sehe ihn kaum
viermal im Jahr. Die Tochter redet
kaum noch mit mir. Ich weiß nicht, warum sie mir so sehr grollt. Sie hat Geheimnisse mit Clara. Ich möchte nur
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wissen, was Clara treibt, wenn ich nicht
da bin. Als wir noch Brautleute waren ..."
Allmählich verlor Ludwig die Geduld. Schließlich sagte er ziemlich direkt:
"Du hast schon anders geredet, vor allem wenn du in der Schwalbengasse
warst."
Benno zuckte zusammen. Er wollte
erwidern, dass ihn weder die Häuser
der schönen Frauen noch seine Friedelehen wirkliches Glück brächten, dachte
mit besonderem Gram an seine neue
Magd, die sich ihm verweigerte wie
einem Ungeheuer, zog am Ende aber zu
schweigen vor. Wie Ludwig es mit der
Moral tatsächlich hielt, hatte er nie herausgefunden. Einerseits gab er Verständnis selbst für die üppigsten Ausschweifungen vor, andererseits führte er
selbst offenbar ein äußerst ehrbares Leben.
Gundula Jever hatte ihren ersten
Mann früh verloren und dadurch im
Alter von nicht einmal siebzehn Jahren
eine Seidenweberei geerbt. Zunächst
übernahm ihre Schwiegermutter die
Anleitung der drei Lehrmädchen und
besetzte auch die frei gewordene Meisterstelle in der Innung. Als die junge
Witwe dann Ludwig heiratete, gab es
einige bösartige Auseinandersetzungen
darum, wem denn nun in dieser neuen
Lage der Betrieb gehöre. Schließlich
einigte man sich auf eine Lösung, die
sich bald als sehr geschickt erwies. Das
Jeversche, vor drei Generationen von
einem friesischen Einwanderer gegründete Handelsunternehmen und Gundulas Seidenweberei wurden zu einem
Seidenamt vereinigt. Von diesem Tage
an hatte Ludwig die Rohstoffe besorgt
und die fertigen Tuche verkauft, die
erfahrene Meisterin wie vor der Neuvermählung ihrer Schwiegertochter die
Weberei geleitet und Gundula die Verbindung aufrecht erhalten. Die harten
Worte von einst waren längst vergessen.
Angesichts guter Geschäfte, die inzwischen einen gewissen Luxus erlaubten,
herrschten Zufriedenheit und Einvernehmen.
Der Aufstieg besaß allerdings auch
ein paar weniger angenehme Seiten. Die
Jevers wurden beachtet und auch beneidet, und manch einer wartete nur darauf,
ihnen einen Makel nachzuweisen. Nicht
zuletzt deshalb hütete sich Ludwig
sorgsam, sich jemals in zwielichtigen
Straßen sehen zu lassen. Benno fühlte
sich ihm gegenüber mitunter wie einer
jener Sünder, die als abschreckende
Beispiele in Kirchenportale gemeißelt
waren. So wechselte er lieber das Gesprächsthema.
"Hast du immer noch so viele Abnehmer für das Seidentuch deiner Frau
wie vor einem Jahr?"
"Mehr noch als damals. Vor genau
acht Monaten bin ich mit dem Domkapitel ins Geschäft gekommen und setze
seitdem mehr ab, als wir selbst herstellen können. Ich verkaufe jetzt auch für
zwei andere Seidenwebereien. Ja, und
wenn sich so ganz nebenbei noch etwas
ergibt ... Ich kann wirklich nicht klagen.
Jetzt aber musst du erzählen. Wie war 's
in Polen?"
"In Polen lief 's noch recht gut, aber
dann in Lübeck und in Bremen ... Die
Leute zahlen nicht mehr wie früher und
das Risiko ist groß. Wie viel Schiffe
versinken im Sturm! Wie viel Wagenzüge werden von Räuberbanden ausgeraubt! Wie viel Ladungen verderben
durch zu viel Sonne oder zu viel Regen!"
"Was soll dieses Gejammer? Bist du
ein Weib? Wenn ein Fernhändler hier in
Köln keinen Gewinn macht, muss er ein
arger Tölpel sein."
Eigentlich lag Ludwig noch sehr viel
mehr auf der Zunge. In seinen Augen
war Benno einfach zu ungeschickt, zu
kleinlich und vor allem zu ängstlich, um
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so reich zu werden wie viele Seinesgleichen. Gewiss musste ein Fernhändler
mit dem Verlust seiner Ware rechnen,
doch gab es genügend Möglichkeiten
zur Vorsorge. Die Kaufmannsgilden
versicherten ihre Mitglieder gegen fast
alle Unglücksfälle. Die Mutigsten borgten sich von reichen Witwen große
Summen Geld, um den Handel im großen Stil zu betreiben, so dass ein kleiner
Raubüberfall keine Rolle mehr spielte.
In diesem Moment war es Ludwig jedoch peinlich, so satt und zufrieden vor
seinem aus irgendeinem Grund bekümmerten Freund zu sitzen und ihm Ratschläge zu erteilen.
"Lass uns endlich auf unser Wiedersehen trinken!" rief er aufgeräumt, hob
den Weinkrug und begann, unverfängliche Klatschgeschichten aus der Stadt zu
erzählen.
Unterdessen mussten Eike, Ole und
die beiden Mädchen die Wagen von der
Straße holen, die Pferde versorgen und
zumindest einen Teil der Waren in den
Keller bringen. Ludwigs Knecht half
ihnen dabei. Zwischen dem schmalen
Wohnhaus und einem flachen, lang gestreckten Wirtschaftsgebäude bildete
eine enge Durchfahrt den Zugang zum
Hof. Ole, der sich nicht vorsah, stieß
mehrmals mit seinem Wagen an der
Wand an.
Hinter dem Wohnhaus lagen die Ställe. Die Jevers hielten sich für den Eigenbedarf eine Kuh und zwei Schweine,
dazu ein paar Hühner. Pferde besaßen
sie nicht. Da aber gelegentlich Kaufleute bei ihnen übernachteten, gab es auch
Pferdeboxen. Das Wasser allerdings
musste vom Nachbargrundstück geholt
werden. Drei Familien hatten sich zu
einer Brunnengemeinschaft zusammengeschlossen.
Ludwigs Knecht war ein ruhiger,
freundlicher Bursche, mit dem sich
Franziska sofort gut verstand, und der
ihr alles zeigte, wonach sie fragte. Hin-
ter dem Hof aus festgestampftem Lehm
lag der Garten mit Obstbäumen, Sträuchern und Beeten. Das Wohnhaus, das
Wirtschaftsgebäude, die Ställe, die Häuser des rechten Nachbarn sowie eine
Hecke hinter dem Garten schlossen das
Anwesen nach allen Seiten ab und ließen es unantastbar erscheinen.
Entladen konnten die fünf nur noch
wenig, denn schon bald brach die Dunkelheit herein. Im Wirtschaftsgebäude
waren mehrere Räume den Dienstleuten
zum Wohnen vorbehalten. Im größten
davon bauten sie aus zwei Böcken und
einer langen Eichenholzplatte einen
Tisch auf, legten eine nicht mehr ganz
saubere Decke darauf und aßen dann
daran. Es gab eine Krautsuppe mit
Fleisch, dazu reichlich Brot. Jeder füllte
sich seine Schale aus der großen Schüssel, und dann war lange nur das Klappern der Holzlöffel zu hören.
Franziska sah mehrmals heimlich zu
Eike hinüber. Seit dem Zwischenfall in
Münster war er ihr nie wieder zu nahe
getreten. Jetzt schien er sogar ausgesprochen guter Stimmung zu sein.
Nachdem er seine Suppe gegessen hatte,
unterhielt er die ganze Runde mit seinen
derben Späßen und prahlte zudem damit, am nächsten Tag drei Krüge voll
guten Wein besorgen zu können. Trotzdem wollte sie sich weiterhin vor ihm in
Acht nehmen.
Daran dachte sie auch, als nach dem
Abendessen der Hausherr zu ihnen kam,
um jedem der Neuankömmlinge einen
Schlafplatz
zuzuweisen.
Ludwigs
Knecht hatte eine große Kammer, in der
auch für Eike und Ole noch genügend
Platz war. Die Magd hingegen schlief in
einem für drei Menschen viel zu engem
Verschlag. Deshalb stellte es der Kaufmann den beiden Mädchen frei, ob sie
in den Strohspeicher neben der
Knechtskammer oder lieber in den Keller unter dem Wohnhaus gehen wollten.
Franziska entschied sich für den Keller.
18
Der hatte nur einen einzigen Zugang.
Vom Hof aus führte eine bedenklich
wankende und knarrende Holztreppe
hinunter. Die Mädchen tasteten sich im
Schein einer kleinen Kerze langsam
vorwärts. Das Lager hatte als Ganzes
fast denselben Grundriss wie das Haus.
Die wahre Ausdehnung fiel allerdings
nicht sofort auf, weil es von Mauern in
sechs kleine Räume unterteilt wurde.
Allem Anschein nach brauchte Ludwig
diesen ungewöhnlich großen Keller
tatsächlich, denn bis zur Decke gestapelte Ballen und Kisten verwandelten
ihn in ein Labyrinth mit nur engen Gängen dazwischen. Franziska fragte sich,
wie Bennos Wagenladungen hier noch
Platz finden sollten.
Für jemanden, der sich wie die beiden
Mädchen möglichst gut verstecken
wollte, konnten die Räume freilich nicht
voll gestellt genug sein. Franziska baute
für sich und ihre Schwester im hintersten davon eine Höhle, tarnte sie so gut
wie möglich und sorgte zusätzlich noch
für einen Fluchtweg. Nur um die niedrigen Fenster, die auf die Straße führten,
kümmerte sie sich nicht, denn die waren
mit Gitterstäben gesichert. Nach einem
Dankgebet für die glückliche Ankunft
schliefen die beiden ein.
II
A
m nächsten Morgen wollte sich
Benno schon zeitig auf dem
Markt umsehen, um sich einen
guten Platz zu sichern und mit dem die
Aufsicht führenden Marktherrn die amtlichen Fragen zu klären. Ludwig begleitete ihn als Berater. Die Mädchen sollten mitkommen, um ihre Aufgaben
kennen zu lernen. Eike und Ole schlossen sich unaufgefordert an, weil sie die
Wagen nicht allein abladen wollten.
Der Markt war nicht weit entfernt.
Die Sechs erreichten ihn nach nicht
einmal einer viertel Stunde, indem sie
von Ludwigs Hof aus der Ährenstraße
bis zu den Resten der alten Römermauer
folgten und dann nach rechts abbogen.
"Es gibt mehrere Märkte in Köln",
erklärte Benno. "Dieser ist nicht der
vornehmste, aber hier kommen die
Kaufleute vorbei, die in Frankreich waren."
"Außerdem haben wir Friesen unseren besonderen Stolz", ergänzte Ludwig. "Wir sind Kölner und Friesen zugleich."
An diesem Tage allerdings blieb der
Platz einem Viehmarkt vorbehalten.
Von allen Seiten her trieben Männer in
der dunklen Arbeitskleidung der einfachen Leute ihre Rinder, Schafe und
Ziegen heran. Auch einige Pferde wurden zum Verkauf gebracht. Die begehrtesten Plätze waren im Schatten der
Bäume und in der Nähe der von einem
Pumpenhaus gespeisten Tränke.
Der Marktherr saß in einer besonderen Hütte genau in der Mitte des Platzes. Solange Benno und Ludwig mit
ihm verhandelten, hatten die Knechte
und Mägde frei. Franziska und Pentia
schauten sich ein wenig um. Am meisten beeindruckte sie die gewaltige Kirche hinter der Römermauer, die ihnen
schon am Tag zuvor aufgefallen war.
Sie entdeckten eine Lücke in der Mauer,
durch die sie auf einen hofähnlichen
Platz gelangten.
"Eine für Gott gebaute Burg!" meinte
Pentia.
Tatsächlich wölbten sich drei Chöre
wie ein Schutzwall kleeblattförmig um
den Altar. Zwischen je zwei von ihnen
ragten schlanke Türme in den Himmel
(wie geschaffen, um nach Feinden Ausschau zu halten). In der Mitte wie auf
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einem Felsen erhob sich wuchtig ein
achteckiger Aufbau.
"Sicher können hundert Menschen
gleichzeitig darin beten!"
Eine dicke Frau in einem braunen,
grobleinenen Kleid, die das hörte, lachte
laut und rief:
"Das würde den Chorherren nicht gut
gefallen. Denen nämlich gehört die Kirche. Der Pfarrgemeinde haben sie nur
einen kleinen Teil abgegeben, dort hinten, am anderen Ende. Andere Stiftsherren lassen die Bürger nur an besonderen
Festtagen zu sich kommen. Du bist
noch nicht lange in Köln?"
"Nein", sagte Pentia.
"Merk dir, Kleine: Köln ist eine Stadt
voller Gefahren und voller Wunder zugleich."
"Wie soll ich das verstehen?"
Nun trat auch Franziska hinzu. Die
dicke Frau genoss die Aufmerksamkeit
der unverhofften Zuhörer und sagte
geheimnisvoll:
"Kommt mit! Ich zeige euch etwas."
Dann ging sie mit den Mädchen um
die Kirche herum auf die Westseite, wo
ein Turm über dem Portal die Choranlage noch überragte.
"Erkennt ihr die dunkle Stelle dort an
der Wand?"
"Das sieht aus, als ob dort einmal ein
Haus stand."
"Dort stand eine Hütte, die einer
Witwe gehörte. Als sie vor ein paar Jahren starb, riss man sie ab. Jeder hier in
Köln aber weiß noch von dem Wunder."
Jetzt flüsterte sie nur noch, und den
Mädchen fröstelte, obwohl die Sonne
brannte.
"Vor dreißig Jahren geschah es, dass
das ganze Viertel in hellen Flammen
stand. Die Menschen schrieen und liefen um ihr Leben. Nur jene Witwe blieb
mit ihrer Tochter in ihrem Haus. Das
Feuer kam näher und näher, doch sie
fürchtete sich nicht, denn sie meinte, der
Herr werde seine Apostelkirche nicht
niederbrennen lassen. Indes, die Kirche
brannte bald heller als alles ringsum.
Am Ende blieb nur eine kleine Hütte
weit und breit verschont - die Hütte der
Witwe."
In die Augen der Frau trat ein heller
Glanz, und auch die Mädchen wurden
angerührt von der Geschichte. Franziska
trat ehrfürchtig an die Wand heran und
betastete die dunkle Fläche. Sie wollte
auch noch etwas fragen, doch plötzlich
stand Benno neben ihr und zog sie mit
sanfter Gewalt am Arm fort.
"Warum darf ich mich nicht noch einen Moment mit der Frau unterhalten?"
protestierte sie.
"Was findest du Gutes an diesem Geschwätz?"
"Sie hat uns eine schöne Geschichte
erzählt."
"Glaubst du, dass ich das nicht kann?
Möchtest du, dass ich dir etwas erzähle?"
Sie nickte zögernd, und er begann.
"Vor vielen Jahren starb ein Erzbischof mit Namen Heribert. Und dieser
Heribert sagte auf dem Totenbett voraus, dass ein Peligrimis, ein Fremdling
also, sein Nachfolger sein werde, worüber alle, die davon hörten, sehr beunruhigt waren. Wenig später besuchte der
Kaiser die Stadt, um selbst einen Nachfolger zu bestimmen, was damals sein
gutes Recht war. Hier in St.Aposteln
verweilte er, um sich eine Messe anzuhören. Die sprach ein sehr hässlicher
Mensch, den er zuerst gering schätzte.
Doch als er das Wort vernahm 'Gott hat
uns gemacht, nicht wir selbst' gestand er
sich beschämt ein, dass es schlecht ist,
jemanden nur nach seinem Aussehen zu
beurteilen. Er erkundigte sich nach dem
Priester, und als er nur Gutes über ihn
erfuhr, nahm er ihn mit und bestimmte
ihn zum neuen Erzbischof. Sein Name
war Pilgrim. Man hatte den heiligen
Heribert nur falsch verstanden."
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Franziska wusste nicht recht, was sie
sagen sollte, als er schwieg und ihr forschend ins Gesicht sah. Eigentlich gefiel
ihr die Geschichte, doch ahnte sie, warum Benno sie ihr erzählt hatte. Zu ihrem Glück kam Ludwig hinzu, und sie
konnte sich beiseite stehlen.
Benno hatte dank der Fürsprache seines Kölner Freundes vom Marktherrn
einen guten Platz zugewiesen bekommen - nahe der Römermauer genau an
jener Einmündung, durch die alle Kaufleute kamen, die zum Hahnentor in die
Stadt gelangt waren. Allerdings musste
er sich noch bis zum Ende des Viehmarktes gedulden. Es gab also nichts
mehr zu tun, und Ludwig drängte, nach
Hause zurückzugehen. Dabei merkte er,
dass die beiden Knechte fehlten.
"Habt ihr sie irgendwo gesehen?"
fragte er die Mädchen.
Franziska hob die Schultern, erklärte
sich aber schnell bereit, nach ihnen zu
suchen. Das war einfacher gesagt als
getan, denn der weite Platz hatte sich
mit Menschen und Tieren gefüllt und
ließ sich kaum noch überblicken. Sie
irrte ziellos von einem Ende zum anderen, bis sie die beiden zufällig in einer
Seitenstraße entdeckte.
Eike unterhielt sich mit drei jungen
Männern. Das Sonderbare dabei war,
dass diese Männer alle einen grauen
Kittel von gleichem Schnitt trugen.
Vielleicht gehörten sie einer Bruderschaft an. Während Franziska noch so
dastand und beobachtete, wurde Eike
auf sie aufmerksam und verabschiedete
sich rasch.
"Was willst du?" fragte er verärgert.
"Herr Jever schickt mich, dich zu holen. Die Wagen müssen noch abgeladen
werden."
"Als ob das nicht noch Zeit hätte!"
brummte er, folgte dem Mädchen dann
aber.
III
V
on der Guten Stube des Jeverschen Hauses gingen drei Türen
ab. Die erste führte zum Vorraum und damit zum Ausgang, die
zweite zur Küche, die dritte zu einem
schmalen Gang, über den man die Viehställe und den Hof erreichte. Fensterlos
wirkte er zu jeder Tageszeit düster wie
ein Kellergewölbe. Umso erstaunlicher
war, dass man an seinem Ende, kurz
bevor er ins Nebengebäude mündete,
noch auf den Eingang zu einem Zimmer
stieß, einem großen und schönen Zimmer sogar, dem Hofzimmer. Hier durften nur besonders willkommene Gäste
der Jevers wohnen. Dieses Privileg
wurde auch Benno gewährt. Er kannte
das Zimmer gut und ergriff auch diesmal wieder mit fast kindlicher Freude
Besitz davon. Geschäftig räumte er seine Sachen ein und stellte alle Gegen-
stände wieder an den Platz, an dem sie
nach seiner Erinnerung zu stehen hatten.
Pentia sollte der Magd zur Hand gehen. Die konnte sich nicht genug wundern über das drollige Geschöpf, das
man ihr da zur Seite gestellt hatte.
"Wie alt bist du?" fragte sie die Kleine, als sie mit ihr in der Küche Gemüse
putzte.
"Elf Jahre."
"Und da stellst du dich noch so ungeschickt an? Musstest du nicht wie jedes
Mädchen von sieben Jahren an arbeiten? Was hast du getan den ganzen
Tag?"
"Auch ich habe mit sieben Jahren
schon gearbeitet!" verteidigte sie sich.
"Aber anders ..."
"Wie, anders?"
Pentia wollte etwas erwidern, besann
sich aber und presste die Lippen aufei-
21
nander, um nichts Unbedachtes auszuplappern.
"Was soll diese Geheimnistuerei?
Musstest du etwa auch nicht zum Einkaufen auf den Markt?"
"Ich darf darüber nicht reden. Meine
Schwester ..."
Abermals brach sie ab und war nun
dem Weinen nahe.
"Ist ja gut! Aber komisch find' ich das
schon. Ich weiß noch genau, wie ich das
erste Mal allein auf dem Markt stand, so
als kleines Würmchen unter den vielen
Leuten. Da musst du aufpassen wie ein
Fuchs. Die Händler wollen dich betrügen und die Diebe dir deinen Korb
wegnehmen. Die merken gleich, wenn
du dich noch nicht auskennst. Und
wenn ich nach Hause kam und hatte
keinen Korb mehr, gab es eine Ohrfeige, dass mir der Kopf summte."
Pentia hörte ehrfürchtig zu, und ihr
war anzusehen, dass sie sich das alles
nicht recht vorstellen konnte.
Eike, Ole, Franziska und der Knecht
luden unterdessen Bennos Wagen ab.
Wieder war es Eike, der dabei das große
Wort führte.
"Mit dem Wein geht alles seinen
Weg. Morgen feiern wir. Die Mägde
und Knechte der Nachbarn sollen auch
kommen. Es wird genug da sein für
alle."
Offenbar wollte er den Knecht beeindrucken. Der kümmerte sich freilich
nicht um ihn, sondern suchte stattdessen
Franziskas Nähe.
"Kennst du diesen Eike schon lange?"
fragte er sie leise.
"Nein, ich bin erst den fünften Tag
Magd."
"Ich habe kein rechtes Zutrauen zu
ihm."
"Ich auch nicht. Ich möchte nur wissen, was das für Freunde sind, die er
hier in Köln hat."
"Vielleicht ist es besser, wenn wir es
so genau gar nicht erfahren."
Der nächste Tag war ein Sonntag. An
Sonntagen durfte in Köln niemand arbeiten. Die Leute holten ihre besten
Kleider aus den Truhen und Schränken
und gingen zum Gottesdienst. Auch bei
den Jevers war die besondere Stimmung
zu spüren. Gundula kämmte wieder und
wieder die Wellen ihres dunkelblonden
Haares, das zu ihrem Leidwesen zu
weich war, um sich zu einer guten Frisur legen zu lassen. Ludwig lief kreuz
und quer über den Hof und beaufsichtigte die Vorbereitungen zum Aufbruch
wie ein Feldherr, der sein Heer in die
Schlacht führt. Nur Hans, seinem Sohn,
ging er aus dem Wege, denn er wollte
sich vor dem Gottesdienst nicht durch
ein unbeherrschtes Wort versündigen.
Für Franziska und Pentia war der
Kirchgang ein sicheres Zeichen, dass sie
wieder in ordentlichen Verhältnissen
lebten.
Die Kirche des Viertels lag stadteinwärts am Ende der Ährenstraße und war
dem heiligen Aper geweiht, dem
Schutzpatron der Schweinehirten. Die
trieben einmal in der Woche ihre Tiere
auf der dahinter liegenden Straße zum
Neumarkt. Von der Drift auf dem verschütteten Graben der Römermauer
stieg (besonders im Sommer) betäubender Gestank auf. Gegenüber standen
graue, windschiefe Gebäude. Sie waren
zum Teil Herberge, zum Teil Hospital.
Die Pilger, die zu den Reliquien der
Heiligen Drei Könige in den Dom gehen wollten und in der Herberge abstiegen, blieben meist nur eine Nacht und
fragten nicht nach irdischen Gütern. Die
Mittellosen und Kranken im Hospital
mussten zufrieden sein mit dem, was sie
bekamen.
Wegen der ärmlichen Umgebung
traute ein Fremder der St.Apern-Kirche
von außen kaum zu, dass sie drinnen
den anderen Pfarrkirchen an Schönheit
durchaus Konkurrenz bieten konnte.
Die friesischen Kaufleute aus dem Vier-
22
tel hatten sie mit etlichen Spenden bedacht. Es gab keinen Pfeiler, der nicht
durch ein Epitaph oder eine Heiligenfigur geschmückt war. Franziska und
Pentia vermochten bei ihrem ersten Besuch noch gar nicht all diese Schönheit
zu erfassen. Freilich hatten sie auch
wenig Zeit dafür, denn mehr noch fesselten sie die Leute um sie herum. Hier
in der Kirche kamen sie Woche für Woche alle zusammen - die Kaufleute mit
ihren Mägden und Knechten, die
Schweinehirten, die Handwerker, arme
wie reiche, die Bettler aus dem Hospital, die Schlächter und Bäcker, die Tagelöhner. Sie alle standen dicht beieinander, denn es war viel zu eng hier, um
einander auszuweichen.
Hier tauschte man auch die Neuigkeiten aus. Ein paar junge Mädchen kicherten. Zwei heißblütige Burschen stritten
miteinander über den Ausgang eines
Ringkampfes. Es war ziemlich laut,
ohne dass sich jemand daran störte. Die
Leute fühlten sich geborgen und vom
Alltag erlöst, und da konnten sie nicht
ehrfürchtig sein wie die Mönche und
Kanoniker in den vornehmen Klöstern
und Stiften. Sie ehrten Gott, indem sie
sich benahmen, wie ihnen gerade zumute war. Der Priester musste energisch
werden, um mit dem Gottesdienst beginnen zu können.
Am Abend trafen sich auf dem Hof
des Jeveranwesens die Mägde und
Knechte aus dem halben Viertel, nicht
weniger als dreißig Leute insgesamt.
Eike hatte Wort gehalten und soviel
Wein herangeschafft, dass er auch bei
fünfzig Gästen nicht in Verlegenheit
gekommen wäre. Gundula fühlte sich
etwas unbehaglich angesichts dieses
Gelages der Dienstleute. Ludwig aber
spielte sich, wenn es ihn nichts kostete,
gern als gütiger Herr auf, und so hatte er
sein Einverständnis gegeben.
Mit am Tisch saß übrigens auch
Hans, der Sohn des Hofherrn. Aller-
dings fiel er kaum auf in dieser Runde.
Er redete nicht anders als die Knechte
und wäre vielleicht ein passabler Handwerker geworden, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. Er war (anders als sein
Vater dachte) durchaus ehrgeizig und
beharrlich. Nur der Handel, eben das
wozu Ludwig ihn zwingen wollte, der
lockte ihn nicht.
"Jeder Handel ist eine Betrügerei.
Diese Krämerseelen treffen sich eines
Tages alle in der Hölle wieder", rief er,
und es hörte ihm kaum noch einer zu,
weil jeder hier diese Meinung von ihm
schon ein Dutzend Mal gehört hatte.
Franziska saß in seiner Nähe und sah
ihn sich an. Etwas an ihm fiel ihr auf.
Sie wusste aber lange nicht, was es war
und woran es sie erinnerte. Dann, ganz
plötzlich, kam sie darauf - die Kette an
seinem Hals, diese eiserne Kette mit
dem Kruzifix daran! Solche Ketten hatten die drei Männer vom Neumarkt getragen. Wenn Hans aber derselben Bruderschaft angehörte und Eike dort ein
und aus ging (wahrscheinlich sogar
krügeweise guten Wein von dort bekam), warum sprach er dann mit ihm
den ganzen Abend über fast kein Wort?
Offensichtlich mochten die beiden einander nicht. Franziska wollte gern
mehr von Hans erfahren und spitzte die
Ohren, während er sich mit seinem
Nachbarn unterhielt. Leider verstand sie
nur Satzfetzen, da der Wein die Stimmung lockerte und der Hof von Lachsalven dröhnte.
"... die Alten merken nicht, was los
ist ... habe ja versucht, mit ihnen zu reden ... Denen geht ihr Hausfrieden über
alles. Was denen nicht ins Weltbild
passt, das gibt es eben nicht. So eine
Arschruhe muss man haben. Ha! ... Mit
der Organisation geht es gut. Wir sind
schon ..."
Es hatte keinen Zweck. Sie wurde
nicht schlau aus dem, was sie verstand.
So fiel es ihr leicht, ihrer Schwester
23
nachzugeben, die müde war und gehen
wollte.
IV
I
rgendwo auf dem Wege von der
Kirche nach Hause blieb Gundula
Jever, ohne es zu merken, mit
ihrem Kleid hängen. Als sie es zurück
in den Schrank hängen wollte, sah sie
bestürzt, dass in die kunstvolle Stickerei
am Saum ein fingerlanger Dreiangel
gerissen war. Nun saß die Magd damit
in der Guten Stube und bemühte sich
redlich, den Schaden zu beheben. Franziska beobachtete sie eine Weile dabei.
Dann trat sie kurz entschlossen an sie
heran und nahm ihr das Kleid vorsichtig
aus der Hand.
"Lass mich das machen! Dazu
braucht man eine Nadel mit einem kleinen Haken. Habt ihr so eine im Haus? ...
Nun, vielleicht geht es auch mit zwei
dünnen Holzstäben."
Die Magd beeilte sich, alles heranzuschaffen, was sie an Nähzeug hatte, und
beobachtete dann erleichtert und verwundert zugleich, wie sich der Riss
unter Franziskas Händen allmählich
wieder schloss.
"Wie geschickt du bist! Das hätte ich
dir niemals zugetraut."
"Ich bin nicht geschickt bei solcher
Arbeit. Wirklich nicht! Aber ich hab's
eben mal gelernt."
"Bist du in einem Kloster erzogen
worden?"
Franziska lächelte.
"Mach dir keine Gedanken darüber!
Brauchst es auch der Herrin nicht zu
sagen. Sagst einfach, dass du dir viel
Mühe gegeben hast!"
Die Magd war aber eine zu ehrliche
Seele, um mit der Wahrheit hinterm
Berg zu halten. Gundula kam noch am
selben Abend zu dem jungen Mädchen
und dankte ihr überschwänglich:
"Es ist nichts mehr zu sehen von dem
Schaden. Dich hat der Himmel geschickt. In der Truhe liegt so vieles, was
nicht mehr ganz in Ordnung ist. Möchtest du dich darum kümmern?"
"Gern!"
"Wir können dich gar nicht wieder
fortgehen lassen ..."
Gundula sprach sofort mit Benno.
Der sträubte sich nur kurz, und so
brauchte Franziska ihren Dienstherrn
nicht auf den Markt zu begleiten, sondern saß stattdessen mit Handarbeiten
im Haus. Dabei musste sie schmunzelnd
zurückdenken an die Tage im Palas des
Wildeshausener Schlosses unter der
Aufsicht der Burgvogtsfrau, die sie zutiefst gehasst hatte. Noch immer fiel ihr
schwer, die vor Ungeduld zitternden
Hände zu bezwingen. Dennoch hatte sie
nun Spaß daran. Von den Jevers wurde
sie für das, was sie mit Mühe und Not
zustande brachte, nicht gerügt oder ausgelacht, sondern ausschließlich gelobt.
Gundula schwärmte sogar vor den
Nachbarn davon. Ungerechter Weise
gelangte Pentia, die der großen Schwester bei allen schwierigen Stellen helfen
musste, nicht zu solchem Ansehen.
Niemand wollte glauben, dass die stille,
schüchterne Kleine weit begabter war.
Benno wurde durch seine Geschäfte
jetzt häufig auf dem Markt festgehalten
und sah Franziska selten. Wenn er aber
kam, denn suchte er sofort ihre Nähe,
meistens unter einem Vorwand. Er kam
wie zufällig in die Gute Stube, fragte
nach Ludwig, blieb dann neben dem
jungen Mädchen stehen, sah ein wenig
beim Sticken zu und begann ein Gespräch.
24
"Es ist immer noch so heiß. Wenn
nicht bald Regen fällt, gibt es eine
Missernte."
Franziska versuchte weiterzuarbeiten.
Doch wenn sie abgelenkt wurde, widerfuhr ihr fast immer ein Missgeschick.
So auch diesmal. Um nicht noch mehr
Schaden anzurichten, legte sie die Decke, die sie gerade in den Händen hielt,
seufzend beiseite und war nun gezwungen, sich ihrem Dienstherrn zuzuwenden.
"Was sagtet Ihr?"
"Ach, nichts Wichtiges! Ich will nur
sehen, wie es dir geht."
Er setzte sich neben sie. Jetzt spürte
sie seinen Atem auf ihren Wangen,
wenn er mit ihr sprach, und unterdrückte mühsam den Drang, sich abzuwenden. Im Grunde hatte sie sich schon
etwas an ihn gewöhnt. Er tat ihr Leid in
seiner Einsamkeit, und sie hatte sich
manches Mal vorgenommen, ihm als
Magd ein guter Kamerad zu sein. Doch
wenn er sich ihr so aufdrängte, stieg
unbezwingbarer Ekel in ihr auf, und alle
Vorsätze waren dahin. Sie wurde einsilbig und wartete ungeduldig ab, bis er sie
wieder in Frieden ließ.
Als sie zwei Wochen später auf Gundulas Bitte hin eine Altardecke zu sticken begann (als Spende für die Kirche
von St.Apern bestimmt) missfiel ihm
das sehr. Den Gesetzen nach durfte er
sich als fremder Kaufmann nur sechs
Wochen in der Stadt aufhalten, während
die Decke wohl wenigstens drei Monate
Arbeit erforderte.
Pentia lernte unterdessen bei der
Magd, wie man einkauft und Essen zubereitet. Eike und Ole gingen ihrem
Dienstherrn auf dem Markt zur Hand
und trieben sich in ihrer freien Zeit irgendwo in der Stadt herum, allem Anschein nach nicht gemeinsam.
25
3.Kapitel
I
D
er Keller, in welchem Franziska
und Pentia nach wie vor die
Nächte verbrachten, war kaum
übersichtlicher geworden, seit Benno
einen großen Teil seiner Waren verkauft
hatte. Die Barrieren von Kisten und
Ballen, die den Schlafplatz wie Burgmauern abschirmten, weckten nicht
mehr nur angenehme Gefühle in ihnen.
Seit sie nicht mehr um ihr Leben fürchteten, fühlte sie sich manchmal eingeengt. Sie konnten nicht mehr übers weite Land blicken, wie sie das gewohnt
waren. Sie kannten (nach einem ganzen
Monat) sogar von Köln nur den Neumarkt, die Kirche St.Apern und die wenigen Straßen dorthin, wusste nicht
einmal, wo sich Gundulas Seidenweberei befand. Bei Einbruch der Dunkelheit
stellte Franziska sich oft an eines der
vergitterten Fenster. Die untere Kante
befand sich nur eine Handbreit über der
Straße, die obere bildete einen lang gestreckten Bogen. Wo mochten die Leute
tagsüber gewesen sein, deren Füße dort
vorübereilten? War der Keller Zuflucht
oder Gefängnis?
Nach besonders langweiligen Tagen
sehnten die Schwestern sich nach ein
wenig mehr Abwechslung, einen unverhofften Zwischenfall. Als ihnen ihr
Wunsch dann aber vom Schicksal unvermittelt erfüllt wurde, bereuten sie ihn
schon wieder. Etwas Merkwürdiges
ging plötzlich vor im Keller. Pentia hörte es zuerst und sprang sofort auf.
"Das ist nur eine Maus", versuchte
Franziska zunächst zu beschwichtigen.
"Nein, das sind Schritte. Hör doch!
Da schleicht jemand hinter den Ballen
entlang."
"Also gut, ich werde nachsehen, damit du dich beruhigst."
Dabei stieß sie auf etwas Ungeheuerliches. In einem der Fenster fehlten
zwei der eisernen Stäbe! Sie hatten sich
so sicher gefühlt in ihrem Versteck, und
dabei konnte jeder, der sich auskannte,
ohne Mühe zu ihnen einsteigen! Nun
begann auch Franziskas Herz zu klopfen. Jemand außer ihnen war im Keller.
Soviel stand fest. Aber was wollte der
Einbrecher? Wusste er, dass hier zwei
Mädchen ihr Nachtlager hatten? Und
vor allem: Wo war er?
Erst einmal trat Franziska vom Fenster weg, denn dort war sie im Vollmondlicht gar zu gut zu erkennen. Dann
schlug sie, ihre Ortskenntnis nutzend,
ein paar Haken im Labyrinth der
Durchgänge und wartete still in einer
dunklen Nische ab. Der Einbrecher aber
wartete auch. Sekunden vergingen und
erschienen dem Mädchen wie eine
Ewigkeit. Endlich wieder ein Geräusch!
Ganz leise. Oh, das war ein schlauer
Bursche, der nicht so rasch einen Fehler
beging! In Franziska indes erwachte der
ritterlich Mut der Westerholts. Langsam
glitt sie immer näher heran an jene Stelle, wo sie ihn vermutete. Nun war sie
ihm ganz nah, hörte sein Atmen. Er
musste ahnen, dass sie ihn entdeckt hatte. Dennoch floh er nicht. Er war sich
offenbar seiner Sache sehr sicher.
Franziska zögerte lange und wusste
nicht, was sie tun sollte. Dann aber kam
ihr plötzlich eine Erkenntnis. Nein, der
Einbrecher war sich seiner Sache nicht
sicher. Im Gegenteil! Er versteckte sich
und hatte mehr Angst als sie. Er wusste
doch, dass sie ein Mädchen war, seit er
sie im Mondlicht gesehen hatte! Sie
nahm also ihr Herz in beide Hände,
sprang auf wie eine Katze und stürzte
sich auf den Eindringling. Tatsächlich
hatte sie ihn mit ihrem wilden Angriff
blitzschnell überwältigt und ins Licht
gezerrt.
Vor ihr stand zitternd ein zierliches
Mädchen mit vom Hunger ausgezehrtem, spitzen Gesicht und mattblonden
Haaren, die kurz und wirr wie von der
Sonne vertrocknete Grasbüschel nach
allen Seiten abstanden. Die Arme hielt
sie vor dem Körper, weil sie erwartete,
geschlagen zu werden. Mit ihren unnatürlich großen Rehaugen suchte sie verzweifelt nach einer Möglichkeit zum
Entkommen, ohne sich aber an Franziska vorbei zu wagen.
"Was hast du hier unten zu suchen?"
"Ich ... ich habe Hunger und ... und
dachte ... Bitte dem Herrn Jever nichts
sagen! Ich ... ich werde ..."
Franziska führte sie schließlich, von
Mitleid überwältigt, behutsam zu ihrem
Versteck.
"Wir verraten dich nicht. Du kannst
uns vertrauen. Morgen besorge ich dir
etwas zum Essen. Hier unten gibt es
leider nur Stoffe, Kleider und Gerümpel
... Aber sage mir, woher du weißt, wie
man hier reinkommt. Du hast die Gitterstäbe bestimmt nicht herausgesägt."
"Ich breche nicht wieder hier ein!"
"Schon gut! ... Wie heißt du eigentlich?"
"Anne."
"Und wie alt bist du?"
"Vierzehn."
Franziska blickte sie erstaunt an. Anne war ein Jahr älter als sie und trotzdem fast einen Kopf kleiner! Und nicht
nur das. Alles an ihr schien schlecht
gewachsen oder verkümmert zu sein,
wie bei einem Strauch im Schatten eines
großen Baumes. Zweifellos gehörte
Franziska zu den kräftigsten und reifsten Mädchen ihres Alters, doch einen
solchen Unterschied erklärte das nicht.
"Erzähl mir ein wenig von dir!"
"Ich komme aus dem Waisenhaus.
Meine Eltern sind aussätzig geworden.
Vielleicht leben sie noch draußen im
Melatenhospital vor dem Hahnentor.
Wahrscheinlich aber sind sie längst tot."
Franziska erinnerte sich, dass Benno
ihr die Häuser und die hohe Mauer darum beiläufig gezeigt hatte. Damals
aber, unter dem Eindruck der gewaltigen Torburg, hatte sie nicht an Krankheit und Tod denken mögen, schon gar
nicht an die unglücklichen Menschen
dort, die (von ihren Familien fortgerissen) nun nur noch von Gestank und
Elend umgeben waren. Die Prüfmeister
kannten kein Erbarmen. Bei wem die
Anzeichen gefunden wurden, der verschwand für immer hinter den Mauern
eines der Leprosehäuser, ohne die Verwandten ein letztes Mal umarmen zu
dürfen.
"Hast du sonst keine Angehörigen in
Köln?"
"Nein. Jedenfalls kenne ich keine. Im
Waisenhaus ging es mir noch gut. Aber
dort durfte ich dann nicht mehr bleiben ..."
Franziska fragte sich (mit ein wenig
schlechtem Gewissen) warum Gott die
Menschen so ungleich behandelte. Mit
sieben Jahren war die Kindheit überall
zu Ende. Aber während die einen Handarbeit, gute Sitten und feine Künste
lernten (oder fechten und reiten) und
sich um ihr Essen nicht zu sorgen
brauchten, wurden die anderen auf die
Straße gestoßen, obwohl die Schwestern
in den Waisenhäusern wussten, dass die
meisten dort zu Grunde gingen.
Es dauert lange, bis Anne sich beruhigte und vertrauensvoller wurde. Franziska musste sie fast zwingen, die Nacht
über im Keller zu bleiben. Erst als die
Mädchen nebeneinander liegend die
mattsilberne Mondscheinbahn anstarrten, weil sie nicht schlafen konnten,
begann sie von sich und ihrem Bettlerleben zu erzählen. Für die Schwestern
von der Wardenburg war das ein Blick
in eine ihnen völlig fremde Welt mit
27
ganz eigenen Regeln. Schließlich antwortete Anne auch noch auf die Frage
nach den Gitterstäben. Sie steckten
schon seit Monaten nur lose in der Verankerung.
"Ich weiß nicht, wer sie heraus gebrochen hat. Ich weiß nur, dass der
Sohn vom Herrn Jever mit seinen
Freunden manchmal am späten Abend
dort einsteigt."
"Der Hans? Warum nimmt der seine
Freunde nicht mit auf sein Zimmer?"
"Im Frühjahr jedenfalls habe ich ihn
hier beobachtet. Jetzt nicht mehr."
"Weil meine Schwester und ich jetzt
hier sind!"
Franziska dachte an das eiserne Kruzifix und an die Gesprächsfetzen von
der großen Feier im Hof. Vermutlich
hatte die sonderbare Bruderschaft den
unübersichtlichen Keller für geheime
Versammlungen genutzt. Das war ein
beunruhigender Gedanke, zumal sie
nicht einfach zu Ludwig gehen und ihm
den Schaden zeigen konnte. Sie hätte
damit auch der Bettlerin den Zugang
versperrt.
II
A
nne kam von nun an jeden
Abend und verschwand am
nächsten Morgen bei den ersten
Sonnenstrahlen. Das Gefühl, nicht mehr
allein zu sein, war schon eine große
Hilfe für sie. Zudem aber bekam sie
auch noch genügend Brot und zuweilen
etwas Wurst und Käse. Franziska fand
immer wieder Wege, etwas vom Essen
abzuzweigen, ohne dass es auffiel. Aus
Barmherzigkeit
entwickelte
sich
Freundschaft. Die kleine Bettlerin war
glücklich in dieser Zeit, glücklich soweit ihr Misstrauen dem Leben gegenüber dieses Gefühl zuließ.
Allerdings hatte Franziska den Eindruck, als wisse sie etwas, das sie vor
sich selbst verdrängte und vor ihren
neuen Kameradinnen verbarg, ein Geheimnis, das mit irgendeiner dunklen
Gefahr zusammenhing. In manchen
Nächten war ihr Schlaf so leicht wie der
eines Vogels. Einmal verhielt sie sich
besonders merkwürdig. Diesmal bedrängten die Schwestern sie so lange,
bis sie zumindest sagte:
"Sie trinken wieder."
Mehr allerdings war ihr nicht zu entlocken.
Mitten in der Nacht erwachte Franziska plötzlich. Sie hörte Männerstimmen und sah den rötlich flackernden
Schein einer Fackel. Erklären konnte sie
sich das nicht. Sah Ludwig mit dem
Knecht nach dem Rechten? Sie tastete
nach Anne. Ihre Hand stieß auf ein leeres, noch warmes Nachtlager.
"Sie sind durch das Fenster gekommen", flüsterte Pentia. "Fünf Männer!
Ich habe sie vorbeigehen sehen."
"Durch das Fenster sind sie gekommen? Dann kann es nicht Ludwig sein
... Versteck dich dort in der Lücke zwischen den beiden Ballen!"
"Und du?"
"Ich werde die Männer beobachten."
Wo war Anne? Der Widerschein der
Fackeln an den Wänden schuf einen
solchen Wirrwarr von Irrlichtern, dass
Franziska nie wusste, wo genau sich die
Eindringlinge gerade aufhielten. In welcher Weise sie ihrer Freundin würde
helfen können, darüber dachte sie nicht
nach. Sie hoffte, ihr fiele im entscheidenden Moment etwas Gutes ein.
Plötzlich drang Lärm zu ihr herüber.
Schreie, schnelle Schritte, das Krachen
einer herabstürzenden Kiste, Anzeichen
einer Hetzjagd. Sie wollte sofort loslau-
28
fen, blieb dann aber doch in der sicheren Deckung. Aus den Stimmen erkannte sie die von Eike und Hans heraus.
Ersterer gebärdete sich als Anführer.
Allerdings hörte offenbar niemand auf
ihn, als er schrie:
"Das ist sie nicht! Was findet ihr denn
an einer Bettlerin? Ihr werdet euch was
wegholen bei der! Oh, verflucht! Wir
hatten uns vorgenommen, dieser hochmütigen Zicke von Magd eine Lehrstunde zu geben, damit sie lernt, vor
einem Mann die Augen niederzuschlagen ... Ach, leckt mich doch am ...!"
Hans redete unterdessen auf jemanden ein, dessen Ausdrucksweise auf
einen brutalen Dummkopf schließen
ließ. Auch er hatte wenig Erfolg. Nachdem der andere ihn drohend gefragt
hatte, ob er seine Brüder im Stich lassen
wolle, verstummte er. Ein Vierter übergab sich gerade. Der fünfte, ein Halbwüchsiger im Stimmbruch, redete mit
seiner krächzenden Stimme immerfort,
ohne eine einzige Antwort zu erhalten.
"Ich muss ihr helfen! Ich muss ihr
helfen!" hämmerte es in Franziska.
Ihr war, als würden dicke Ketten sie
am Boden festhalten. Dann aber gellten
ihr spitze Schreie in den Ohren und sie
wurde tollkühn. Blitzschnell sprang sie
auf, rannte zur Treppe, riss die Tür auf.
Mit einem dicken Knüppel, den größten
den sie in der Eile fand, schlug sie gegen ein eisernes Gestell. Der Lärm
schallte durchs ganze Haus und hätte
wohl Tote aufgeweckt. Dazu brüllte sie,
wieder und wieder, bis ihr die Stimme
versagte:
"Einbrecher! Einbrecher! Einbrecher
im Haus!"
Endlich hörte sie, wie die Männer
flüchteten. Aus dem Augenwinkel sah
sie, wie sie durchs Fenster zurück auf
die Straße kletterten. Der brutale
Dummkopf erwies sich als ein ungewöhnlich kräftiger Mann Mitte Zwanzig
mit einer langen Narbe am Arm. Ihm
folgten Eike und Hans. Dann kam ein
Bursche von siebzehn oder achtzehn
Jahren, der in seiner Statur dem Ersten
ähnelte, aus dem der Wein jedoch einen
schwankenden, lallenden Koloss gemacht hatte. Ein Junge mit noch zarten
Gesichtszügen trottete hinterdrein. Sie
alle trugen die grauen, halblangen Kutten, nicht aber das eiserne Kruzifix.
Vielleicht glaubten sie, Christus auf
diese Weise verheimlichen zu können,
was sie taten.
Dann waren die Männer verschwunden. Im Keller hatten sich wieder Dunkelheit und Stille ausgebreitet. Irgendwo tropfte Wasser. Vor den Fenstern
rauschte der Wind. Franziska tastete
sich zur Guten Stube hinauf, wo ständig
eine Öllampe brannte. Daran entzündete
sie eine Fackel und eilte zurück. Anne
lag mit geschlossenen Augen am Boden. Ihre Kleider waren noch etwas
mehr zerrissen als ohnehin. Ob sie Verletzungen erlitten hatte, ließ sich nicht
erkennen.
"Anne, hörst du mich?" sprach Franziska sie besorgt an.
Die Bettlerin schlug die Augen auf
und lächelte verkrampft.
"Du hast mir das Leben gerettet. Warum?"
"Das ... das war doch selbstverständlich."
"Das verzeihen sie dir nie. Und sie
sind gefährlich ... Bei den ersten Sonnenstrahlen werde ich von hier verschwinden und nie zurückkehren ... Das
solltet ihr auch tun."
Franziska blickte sie bestürzt an, erst
jetzt begreifend, dass das Unheil dieser
Nacht auch sie selbst betraf.
"Herr Jever wird uns doch beschützen! ... Und mein Herr, der Kaufmann
Benno. Er liebt mich insgeheim. Der
würde nie zulassen, dass ich ..."
Annes trauriges, wissendes Lächeln
ließ sie verstummen. Sie fühlte sich
diesem erbarmungswürdigen Mädchen
29
plötzlich ganz und gar unterlegen. Was
wusste sie schon - von Köln, von dem
was draußen vorging, außerhalb des
Jeverschen Grundstücks, von der Bruderschaft, deren Angehörige in grauen
Kitteln umherliefen?
"Wir sollten zusammenbleiben."
"Nein. Ich bringe euch kein Glück."
"Sag so etwas nicht!"
"Es ist aber so."
Von der Treppe her waren Schritte zu
hören - zweifellos die von Herrn Jever,
der (durch Franziskas Rufe aufgeschreckt) die vermeintlichen Einbrecher
vertreiben wollte. Anne versetzte das in
panische Angst.
"Ich muss fort!" flüsterte sie und
rannte zum offenen Fenster hin.
Franziska zögerte einen Moment und
fand dann keine Gelegenheit mehr, sie
zurückzuhalten. Später machte sie sich
Vorwürfe deswegen. Wie mochte es
Anne mitten in der stockdunklen Nacht
ergangen sein? War sie womöglich den
Graukitteln noch einmal durch bösen
Zufall in die Arme gelaufen? Warum
hatte ihr Ludwig Jevers Auftauchen
solche Angst eingejagt? Sie erfuhr die
Antworten auf diese Fragen nie, denn
sie bekam die kleine Bettlerin Zeit ihres
Lebens nicht wieder zu Gesicht.
Zunächst musste sich Franziska überlegen, wie sie dem Hausherrn den Lärm
erklären sollte. Von den Einbrechern
war nichts mehr zu sehen (von den heraus gebrochenen Gitterstäben im Fenster abgesehen). Es fehlte auch nichts,
was auf die Anwesenheit von Räubern
hätte hindeuten können. Als Herr Jever
vor ihr stand, brachte sie keinen sinnvollen Satz über die Lippen. Sie murmelte etwas von einem Alptraum, übergab dann die Fackel und schlich sich
zurück zu ihrem Lager, wo Pentia sich
schon schlafend stellte. Ludwig betrachtete eine Zeitlang kopfschüttelnd die
Fackel und begab sich dann zurück in
seine Schlafkammer.
III
W
o bleibt sie nur?"
Gundula begann sich ernsthaft zu sorgen, denn es war
schon heller Tag und die sonst immer so
zuverlässige Franziska saß noch immer
nicht an ihrer Altardecke.
"Soll ich in den Keller gehen und
nach ihnen sehen?" bot die Magd sich
an. "Auch Pentia ist noch nicht da. Vielleicht sind die beiden krank."
Nach einer ganzen Weile kam sie
sichtlich verwirrt zurück.
"Ich verstehe das nicht. Es ist ein
Rätsel."
"Was verstehst du nicht? Was ist ein
Rätsel?"
"Sie sind weg! Verschwunden!"
Ludwig und Benno traten hinzu.
"Du hast nur oberflächlich nachgesehen. Zwei Menschen verschwinden
nicht so einfach."
Dann stiegen die Männer selber hinunter in den Keller. Ole, der gerade auf
den Hof kam, gähnend und verschlafen
wie immer, schloss sich ihnen an. In
den vergangenen beiden Wochen hatte
seine Trägheit ein solches Maß erreicht,
dass es selbst bei ihm auffiel. Er tat
wirklich keinen nützlichen Handschlag
mehr.
Ludwig entdeckte die aus dem Fenster gebrochenen Gitterstäbe, die herab
gerissene (und zersplitterte) Kiste, die
Unordnung am Ort der Hetzjagd - und
war sich dann seiner Schlussfolgerungen ganz sicher:
"Einbrecher sind eingedrungen. Franziska hat sich also nicht geirrt. Wegen
30
ihrer mutigen Rufe sind diese Halunken
ohne Beute geflohen. Wann wird endlich etwas gegen solches Gezücht unternommen? Man kann im eigenen
Hause ermordet werden!"
Ole schlenderte zwischen den Ballen
und Kisten umher, als langweile er sich.
Niemand achtete auf ihn. Dann aber
meldete er sich ganz gegen seine Gewohnheit plötzlich zu Wort. Er grinste
überlegen und sagte zu Ludwig:
"So weit, so schlecht! Doch wo sind
die Mädchen geblieben? Haben die
Einbrecher sie entführt? Nein, sicherlich
nicht! Ihr habt mit Franziska gesprochen, als jene Bösewichte schon geflohen waren. Euch scheint der Blick
ein wenig getrübt, Herr. Ich meinerseits
denke, hier unten fand schon oft Sonderbares statt. Seht Euch die Stäbe an!
Die hat man nicht erst gestern heraus
gebrochen."
Ludwig lagen grobe Erwiderungen
auf der Zunge. Wenn ein fauler Knecht
zudem noch unverschämt wird, ist das
Maß wahrhaftig voll. Die Verblüffung
indes ließ ihn schweigen. Er fragte sich,
wo dieses Stück Holz solche klugen
Gedanken hernahm, und ließ ihn reden.
Auch Benno wunderte sich. Er hatte
sich längst daran gewöhnt, den kleinen,
unscheinbaren Burschen mit den kurzen, strähnigen Haaren für strohdumm
zu halten. Jetzt hoffte er auf ihn.
"Weißt du, wo die Mädchen sind?"
Ole verstärkte sein breites Grinsen.
"Nein. Wahrscheinlich sind sie geflüchtet. Wer auch immer hier unten
(ohne des Hausherrn Wissen und Erlaubnis) ein und aus geht, er hat den
beiden einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Sie wollten keine Nacht mehr
hier sein."
"Sie leben also noch ..."
"Für Euch sind sie tot, Herr. Ihr werdet sie wohl nicht mehr wieder sehen so wie mich."
"Was willst du damit sagen?"
"Dass ich fortgehe. Bei Euch ist
nichts zu gewinnen. Ihr werdet es nie zu
etwas Großem bringen. Euch hängt das
Unglück an wie ein Fluch."
Ludwig fragte sich, warum sein
Freund sich solche Reden gefallen ließ.
Er selbst hätte sich eine Strafe einfallen
lassen, Benno war eben zu weich. Vielleicht hatte dieser Ole sogar ein wenig
Recht mit seiner Behauptung.
"Übrigens gibt es jemanden, der vielleicht viel besser über die vergangene
Nacht Bescheid weiß als ich. Eike nämlich ist erst heute früh zurückgekehrt woher auch immer ..."
Bei diesen Worten stand er schon auf
der Treppe. Sie waren der letzte Hieb
seiner Rache. Ja, es war eine Rache,
eine lange geplante, lange undurchführbare, hundertmal aufgeschobene Rache.
Es gab vieles, wofür er sich rächen
wollte. Benno hatte ihm die schmutzigsten und eintönigsten Arbeiten gegeben,
Eike ihn als Handlanger für seine Gaunereien benutzt, Franziska ihn einfach
übersehen. Für sie alle war er nicht
mehr als ein Stück Holz. Niemand hatte
auch nur in Erwägung gezogen, dass er
mehr konnte, als nur nach Bennos
Kommandos zu springen gleich einem
Hund, den man einen Stock apportieren
lässt. Er war nicht gefühllos. Er hatte
gelitten und auf seine Stunde gewartet.
Nun endlich war diese Stunde gekommen, und er genoss sie. Sichtlich zufrieden ging er davon.
Benno starrte ihm wortlos nach, ohne
einen Versuch, ihn zu halten, während
ihm ganz andere Gedanken durch den
Kopf gingen. Was war mit dem Hinweis
auf Eike gemeint? Er erinnerte sich des
Zwischenfalls vor den Toren von Münster. Erstaunlich behände für seine Statur, lief er die Treppe hinauf, überquerte
den Hof und stürmte in die Kammer der
Knechte hinein. Eike lag auf seiner
Bank. In der Luft stand ein widerlich
säuerlicher Gestank.
31
"Hoch mit dir, du Hund!"
Er rüttelte ihn, bis er trotz seiner Betrunkenheit wach war.
"Was hast du mit Franziska gemacht?"
"Ich weiß gar nicht, wovon Ihr redet,
Herr."
"Du hast sie umgebracht, und dafür
wirst du büßen. Für dein ganzes verfluchtes Leben wirst du büßen. Ich weiß
alles von dir. Mit sieben Jahren warst du
ein Taschendieb. Dann hast du in Bremen eine Bande von Straßenräubern
angeführt. Auch von dem Mord am Hafen weiß ich ..."
Ludwig kam hinzu und verfolgte
verwundert Bennos Zornesausbruch.
Was hatte das Verschwinden der beiden
Mägde mit Eikes Vergangenheit zu tun?
Gewiss war er einer, dem man nicht
blind vertrauen durfte. Musste er aber
deshalb gleich Franziska auf dem Gewissen haben?
"Du wirst die Mädchen wieder finden", redete er beschwichtigend auf den
Freund ein. "Sie sind davongerannt,
kommen aber wahrscheinlich bald zurück."
Er wollte noch mehr sagen, wurde
aber von seiner eigenen Magd gestört.
"Da ist eine Frau, die sagt, dass sie
Euch unbedingt sprechen will."
"Was für eine Frau? Weshalb will sie
mich denn sprechen?"
Eine krumme Gestalt schwer bestimmbaren Alters kam hereingeschlichen und blieb demutsvoll an der Tür
stehen, hin und her gerissen zwischen
lähmender Furcht und dem Vorsatz, ihr
Anliegen um jeden Preis vorzubringen.
"Ich komm' der Abrechnung wegen,
und damit ich neue Aufträg' erhalt ..."
Ludwig wandte sich ihr zu, und es
schien, als würde er zu einem Riesen
wachsen.
"Abrechnen willst du also? Nun gut!
Warum hat das eigentlich so lange gedauert diesmal?"
"Viele Leut' geh'n lieber auf'n Markt,
als dass sie ..."
"Ha, das möchte ich gern glauben!"
Ludwig trat ganz dicht an die Käuflerin heran, tastete ihr zerschlissenes
Kleid mit den Blicken ab und verzog
das Gesicht, als ekle er sich zu Tode.
"Trotzdem habe ich da einen Verdacht: Du verleihst die Kleider, die ich
dir gebe, bevor du sie verkaufst."
"Um Gottes Willen! Nein! Ich
schwör's Euch, gnäd'ger Herr: Ich bin
immer ehrlich gewesen."
"Ich sollte dir den unrechtmäßigen
Gewinn von deinem Anteil abziehen."
"Oh nein! Das dürft Ihr nicht tun,
gnäd'ger Herr! Wir müssen ja so schon
Hunger leiden."
Die arme Frau war nahe daran, auf
die Knie zu sinken. Ludwig unterdessen
genoss seine Macht. Nach einer langen
Pause sagte er leutselig:
"Gut, ich will für diesmal Gnade vor
Recht ergehen lassen. Aber mein Mitleid hat Grenzen. Ihr brauchtet keinen
Hunger leiden, wenn dein Mann wie
jeder anständige Bürger arbeiten würde
anstatt zu trinken, und wenn dein Sohn
kein nichtsnutziger Herumtreiber wäre."
Wieder kam die Magd herein.
"Verzeiht mir, dass ich erneut störe!
Da ist noch ein Mann ..."
"Ich habe keine Zeit!" schrie Ludwig
unbeherrscht.
"Er trägt am Hals eine goldene Ziernadel mit einem Kruzifix. Vielleicht
solltet Ihr ..."
"Eine goldene Ziernadel mit einem
Kruzifix? Gott steh mir bei! Das ist der
neue Mittelsmann des Domkapitels.
Wie konntest du ihn warten lassen!"
"Bringe ich die Leut' herein, ist's verkehrt, halt ich sie auf, ist's auch verkehrt", brummte die Magd und stapfte
davon.
"Du sollst dir die Leute ansehen!" rief
Ludwig ihr nach.
32
Dann lief er diensteifrig zum Eingang
hin. Wie er wenige Augenblicke zuvor
gewachsen war, schrumpfte er jetzt in
sich zusammen.
Eine Persönlichkeit, die so viel Ehrerbietung verdient, wollte auch Benno
sehen. Er vergaß seinen Knecht und
folgte dem Freund. Diese Gelegenheit
nutzte Eike. Nachdem er sich hastig
angezogen hatte, lief er an seinem verdutzten Dienstherrn vorbei quer über
den Hof davon. Was er zurücklassen
musste, war nicht viel wert, und seinem
Herrn trauerte er erst recht nicht nach.
33
4.Kapitel
I
U
do war zeitig aufgestanden, zu
zeitig, um schon zu Bruder
Theobaldus gehen zu können.
Auf der Baustelle trafen gerade die ersten Arbeiter ein. Zwischen den jetzt
knapp mannshohen Pfeilern des künftigen Chors hing noch der Morgennebel.
Der eher kleine, aber äußerst kräftige
Fünfunddreißigjährige lief zwischen
den wie mutwillig verstreut überall auf
dem Platz liegenden, noch unbehauenen
Blöcken umher und verfolgte ungeduldig, wie um ihn herum allmählich der
neue Tag erwachte.
Das Geviert gehörte ursprünglich
dem Gelehrtenstift St. Andreas, dessen
Kirche auf der anderen Straßenseite (ein
wenig hinter Häusern versteckt) stand.
Ein Brand hatte sie vor ein paar Jahren
schwer beschädigt, doch war sie inzwischen mit erzbischöflicher Hilfe wieder
aufgebaut worden - in alter Pracht und
mit einem noch höheren Vierungsturm.
Einen Teil seines Reichtums verwendete das Stift seit Jahrzehnten für sein
großes Hospital. Es diente vor allem
Studenten und Pilgern als Unterkunft,
aber auch weiblichen Obdachlosen, die
in Gefahr standen, ein sündiges Leben
zu beginnen. Die Werke der Barmherzigkeit gaben der Einrichtung den Namen St. Maria Magdalena, und sicherten den Stiftsherren den Dank der Stadt.
Die Baustelle hing allerdings nicht
mit dem benachbarten Hospital zusammen. Die Gelehrten von St.Andreas
hatten einen Teil des Geländes abgetreten an die Brüder des DominikanerPredigerordens, von denen seit 1221
immer mehr aus Bologna und Paris
nach Köln kamen. Sie besaßen in der
Stadt inzwischen einen eigenen Konvent. Heinrich, ihr (kürzlich verstor-
bener) erster Prior, hatte den Bau einer
Kirche energisch vorangetrieben. Große
Teile des einst weitläufigen Gartens
waren freigelegt worden. Dort wuchs
der Bau nun allmählich aus den Grundmauern heraus.
Udo hatte zu ihm eine besondere Beziehung. Er versinnbildlichte für ihn
etwas Erhabenes, das er schwer in Worte zu fassen vermochte. Obwohl er kein
Fremder in der Stadt war und auch noch
kein Dominikaner, durfte er in einem
den neuen Mönchen zur Verfügung
stehenden Teil des Hospitals wohnen.
So konnte er Tag für Tag die Fortschritte verfolgen. Der Grundriss und damit
die Ausmaße der künftigen Kirche ließen sich bereits erkennen. Sie würde
St.Andreas in dieser Hinsicht noch
übertreffen.
Alles hier erinnerte an Aufbruch. Alles war noch bescheiden, behelfsmäßig
und trug dennoch schon den Keim künftiger Macht in sich. Udo besaß ein Gespür für künftige Macht. Diese Fähigkeiten hatte er anderen voraus. Er unterwarf sich den Starken, ehe es alle
taten, in der Hoffnung, dass diese ihm
das später danken würden. Inzwischen
war die Gemeinschaft der Mönche seine
Familie.
Um ein vollwertiges Mitglied werden
zu können, musste er sich allerdings erst
noch bewähren. Darauf hatte er sein
ganzes Leben ausgerichtet. Dies war das
Wichtigste für ihn. Dennoch musste er
sich an diesem Morgen vor Theobaldus
verantworten. Im Grunde wusste er
nicht, was er hätte anderes tun sollen. Er
war an der Affäre nicht beteiligt gewesen, hatte erst nachträglich davon erfahren. Doch das zählte nicht vor Bruder
Theobaldus und vor den ehernen Geset-
zen der Gemeinschaft. Wie auf der
Stadtmauer jeder wehrfähige Kölner
beim Heranrücken von Feinden auf einem bestimmten Platz seine Pflicht erfüllen musste, so trug auch in der Gemeinschaft jeder seine besondere Verantwortung. Die Canes hatten Schande
gebracht über die Gemeinschaft - und
zwar gerade Udos Gruppe.
Endlich kamen die Mönche zurück
von der Morgenandacht. In strenger
Formation überquerten sie gemessenen
Schritts den Hof und wirkten außerordentlich würdig dabei. Das weiße Habit
gab ihnen im scharfen Kontrast zum
schwarzen Mantel einen Hauch Unfehlbarkeit. Die tief in die Stirn hineinreichende Kapuze nahm dem Einzelnen
seine Besonderheit. Dort schritt nicht
eine Gruppe von Männern, dort schritt
ein Teil des Ordens.
Udo wartete eine angemessene Zeit
ab, dann folgte er Theobaldus auf dessen Zimmer. Eigentlich war das Zimmer
nur eine Kammer, deren einziger
Schmuck in einem Kreuz aus dunkel
gebeiztem Holz bestand. An Mobiliar
gab es nichts außer einer breiten Bank,
die am Tage zum Sitzen, bei Nacht zum
Schlafen diente. Dennoch war die
Kammer ein Privileg. Gewöhnliche
Mönche schliefen in den zwei großen
Sälen.
Als Udo an die Tür klopfte, hatte
Theobaldus gerade seine Bibel zur
Hand genommen. Mit einer Antwort
ließ er sich Zeit. Er wusste, wer dort
stand, und das Wartenmüssen sollte die
erste Strafe sein. Während er über den
Hintersinn eines bestimmten Verses
angestrengt nachdachte, vergaß er den
Mann vor der Tür beinahe. Dann endlich rief er ihn herein mit einem kurzen,
harten "Ja!"
Trotz seiner breiten Schultern und
den Armen, die Gerüchten nach ein
Pferd anheben konnten, erinnerte Udo
in diesem Moment an ein Kind, das vor
dem Vater zittert. Theobaldus war einen
Kopf größer als er, dabei allerdings
schlank. Rings um seine Tonsur wuchs
ihm ein Streifen kräftigen, fast grauen
Haares. Dadurch wirkte er älter als er
war. Gerade erst Vierzig geworden,
zählte er unter den Geistlichen durchaus
noch als jung. Sein eher unauffälliges
Äußere war es nicht, was ihm Macht
über den Hünen gab.
"Was hast du zu berichten?"
Er sah ihn aus seinen grauen Augen
scharf an. Udo hob kurz den Kopf und
senkte ihn sofort wieder, als er diesem
Blick begegnete.
"Seit einigen Wochen gehört ein
Neuer zu unserer Gruppe, einer aus dem
Norden. Er zieht die anderen hinab."
"Du hast ihn aufgenommen?"
"Ja."
"Was hast du getan, ihn im Sinne der
Gemeinschaft zu erziehen?"
"Nicht genug."
"Du siehst ein, dass du Strafe verdient
hast?"
"Ja."
"Gut. Wir werden heute Abend vor
den Brüdern darüber befinden."
Er wandte sich ab und blickte zum
Kruzifix an der Wand hinauf, als sei,
was er nun sagte, für den gekreuzigten
Christus bestimmt und nicht für Udo,
der enttäuscht hatte.
"Die Dominikaner sind die Hirten,
die Canes aber die Hütehunde. Beide
halten sie gemeinsam die Herde beieinander. Nichts ist schlimmer für den
Hirten, als wenn seine Hütehunde seinen Befehlen nicht gehorchen, während
Wölfe die Herde umkreisen. Nur über
den Gehorsam führt der Weg in den
Himmel."
Er wandte sich wieder Udo zu und
sprach nun mit solchem Nachdruck,
dass jedes Wort anmutete wie ein
Schlag:
"Über vollständigen, bedingungslosen
Gehorsam!"
35
"Bedingungslosen Gehorsam", bestätige Udo.
"Es wird über die Canes geredet in
der Stadt, über die Canes und über deren Verbindungen zu uns, den Brüdern
vom Orden der Prediger. Nicht über
deine unselige Gruppe. Was sie getan
hat, fällt auf die heilige Sache zurück.
Fünf Verworfene betrinken sich in einer
Schankstube, bedrohen die übrigen Gäste und werden hinausgeworfen. Damit
nicht genug, schlagen sie sich mit den
Knechten eines angesehenen Kaufmanns und zerstören das Hebewerk
eines Brunnen, dass man es bis heute
noch nicht wieder benutzen kann. Und
selbst damit nicht genug, dringen sie in
den Keller eines Hauses ein, das einem
angesehnen Bürger gehört, einem Zulieferer des Doms. Das alles fällt auf
Christus zurück, der für euch Verfluchten am Kreuz gestorben ist!"
Jetzt brüllte er, dass Udo zusammenfuhr und bis an die Wand zurückwich.
"Ich habe nachgedacht, ob ich euch
alle aus der Gemeinschaft ausschließen
lasse."
"Oh, Bruder Theobaldus, gebt uns eine letzte Gelegenheit, uns von unserem
Fehler zu reinigen!"
"Ihr werdet die Gelegenheit erhalten.
Vor allem aber müsst ihr eure Treue zur
Sache beweisen. Die Bürger glauben
durch eure Schuld, die Canes seien eine
Bande von Wegelagerern, Räubern und
Trunkenbolden."
Wieder wandte er sich dem Kruzifix
an der Wand zu und verharrte davor
einige Zeit wie im Gebet. Dann begann
er in der Kammer auf und ab zu laufen,
wenn auch nur zwei, drei Schritt, weil
der Platz für mehr nicht ausreichte. Anders vermochte er die plötzlich in ihm
aufsteigende Erregung nicht zu bezwingen.
"Wir dürfen nicht schwach werden,
an keinem Ort und in keinem Augenblick, denn wir sind Ritter in einer
Schlacht gegen ein gewaltiges Heer von
Ketzern, denen die hinterhältigsten und
grausamsten Mittel gerade recht sind,
um den christlichen Glauben und die
römische Kirche zu vertilgen. Der Teufel und seine Dämonen flüstern ihnen
tausend Schliche ein. Sie sind gefährlicher als Schlangen und grimmiger als
Wölfe."
Mehr und mehr sprach er nur noch zu
sich selbst.
"Aber sie werden uns nicht schwach
finden. Rechtzeitig haben wir unsere
Scharen gegen sie gesammelt. Erst wenige Jahre gibt es den Orden der Prediger und dennoch fürchten sie uns schon
wie der Teufel das Kreuz. Ihre Macht
schwindet. Niemand wird uns aufhalten
können!"
Sein Körper spannte sich, als gelte es,
in einen Krieg im Wortsinn zu ziehen.
"Auch von euch wird es abhängen,
wie schnell wir die Welt von den Ketzern befreien", wandte er sich wieder an
Udo. "Und nun geh und ermahne die dir
Anvertrauten!"
Udo verneigte sich ehrfürchtig und
verließ rückwärts die Kammer.
II
N
icht mit jedem konnte Theobaldus so umspringen. Die Prediger hatten Erstaunliches erreicht seit dem bescheidenen Anfang
vor nunmehr sieben Jahren, aber sie
besaßen noch längst nicht die selbe
Macht wie in Frankreich, wo der König
auf ihrer Seite stand. Die Kölner waren
leicht zum Schwärmen zu bringen. Aber
sie waren auch stolz, stolz auf ihren
Reichtum, stolz auf ihren Einfluss auf
die Politik, stolz und eigensinnig. Man
36
konnte sich ihrer niemals sicher sein.
Die Dominikaner brauchten die Canes,
ihre Hunde. Sie gaben das nicht zu,
durften es nicht zugeben, aber es war
so. Anders als die Frauen, die einer vergänglichen Leidenschaft frönten, waren
jene jungen Burschen bereit, sich Befehlen zu unterwerfen.
Für Udo empfand Theobaldus gleichermaßen Geringschätzung und Zuneigung. Er fühlte sich ihm überlegen wie
ein Herr gegenüber seinem Knecht,
wusste aber dabei, dass er sich auf ihn
mehr als auf jeden anderen verlassen
konnte. Er demütigte ihn nicht aus Unzufriedenheit, sondern um ihn immer
noch mehr in seine Abhängigkeit zu
ziehen.
Kurz nachdem er ihn entlassen hatte,
begab er sich zum Palast des Erzbischofs. Das Domareal mit seinen zahlreichen Gebäuden unterschiedlicher Art
und Bestimmung begann unmittelbar
hinter St. Andreas. Wer dorthin ging, tat
es mit Ehrfurcht. Was hier entschieden
wurde, betraf nicht allein die Stadt
Köln, nicht nur das Rheinland, sondern
oft das gesamte Reich. Deutschland
hatte keine Hauptstadt im eigentlichen
Sinne und auch kein dauerndes Machtzentrum. Zu unruhig waren die Zeiten
und zu dicht lagen Aufstieg und Fall
beieinander. Und doch meinten viele,
das Herz Deutschlands schlüge in Köln
- im Kölner Domareal.
Die Nordgrenze bildete die hier noch
gut erhaltene Römermauer. Einer ihrer
Türme barg die erzbischöfliche Bibliothek. Eingequetscht und zugleich geschützt zwischen Mauer und Dom standen die Sakristei und die Goldene
Kammer, von deren Schätzen man sich
Unglaubliches erzählte. Im Westen umschlossen die zweistöckigen Klausurbauten des Domstifts einen großen,
rechteckigen Hof. Auf der Rheinseite
verband ein altes Atrium mit Säulengängen den Dom mit der Kirche des
hochadligen Herrenstifts St. Maria ad
Gradus. Im Süden waren dem Dom
zwei Atrien vorgelagert. Zwischen
ihnen führte ein breiter Durchgang auf
das Hauptportal des Doms und die Nikolauskapelle zu. Bei gutem Wetter
bauten zahlreiche Krämer zu beiden
Seiten dieses Durchgangs ihre Stände
auf. Das kostete sie ein Pfund Pfeffer
Miete im Jahr zu Gunsten des Domkustos, doch lohnte es sich für sie trotz allem.
Noch weiter südlich schloss sich ein
ausgedehnter Hof an, der gewissermaßen das Geistliche und das Weltliche
sowohl trennte als auch verband. Den
weltlichen Dingen, der Politik, widmete
sich der Erzbischof in seinem gewaltigen Palast. Rainald von Dassel, der
Freund und Berater Friedrich Barbarossas, hatte ihn vor einem halben Jahrhundert auf dem Gipfel seiner Macht
errichten lassen. Dreistöckig und breit
wie eine ganze Häuserzeile, barg er eine
unübersehbare Anzahl von Räumen und
übertraf an Pracht die meisten Kaiserpfalzen. Er war nicht nur glanzvolle
Residenz sondern auch Sinnbild eines
Anspruchs. An den schmalen Seiten des
Platzes befanden sich Werkstätten sowie das Hospital Zum Heiligen Geist.
Zwischen Hospital und Palast klaffte
eine mit einer Mauer gesicherte Lücke,
in deren Mitte ein Tor als öffentlicher
Zugang diente. Zu besonderen Anlässen, wenn das Volk Einlass in den Dom
erhielt, strömten hier Hunderte Menschen herein.
Aber auch ohne besonderen Anlass
war der Platz nie menschenleer. Pilger
warteten geduldig, zum Schrein der
Heiligen Drei Könige vorgelassen zu
werden. Kaufleute strebten dem Palast
zu, um mit dem erzbischöflichen Hof
vielleicht das Geschäft ihres Lebens
abzuschließen. Auch Juden (zu erkennen an ihren Schläfenlocken) waren
unter ihnen. Übrigens fielen sie hier
37
weniger auf als anderswo - wegen der
Gesandten aus fernen Ländern, die
ebenso fremd erschienen. Stumm wie
Schatten schritten Mönche der verschiedensten Orden dahin. Hochrangige
Adlige oder kirchliche Würdenträger
ließen sich zuweilen von einem Gefolge
begleiten, um ihren Reichtum oder ihr
Amt zur Schau zu stellen.
Theobaldus nahm dies alles kaum
noch wahr. Es musste sich schon etwas
Außerordentliches ereignen, um ihn
zum Aufsehen zu veranlassen. Ohne
durch lasterhafte Neugier Zeit zu verschwenden, wandte er sich hinter dem
Tor scharf nach rechts, erreichte auf
dem kürzesten Wege die Stufen des Palastportals und betrat die Eingangshalle.
Die bewaffneten Wächter kannten ihn
und hielten ihn nicht auf. Über eine
Wendeltreppe erreichte er das erste
Obergeschoss. Dort klopfte er an eine
Tür. Ein großer, sehr schlanker Mann
Mitte Fünfzig, Dominikaner wie er
selbst, empfing ihn.
"Gott sei mit Euch, Bruder Maginulfus!" begrüßte er ihn.
Das Zimmer war groß und hell. An
der Wand hing, auf eine Holztafel gemalt, ein Marienbildnis. Der Teppich
stammte vielleicht aus dem Orient.
Theobaldus vermochte sich schwer an
diese Pracht zu gewöhnen - weil sie
den, der den Raum nutzte, geradezu
verhöhnte. Es gab selbst unter den
Mönchen nicht viele, die den Äußerlichkeiten so wenig Wert beimaßen wie
Bruder Maginulfus. Theobaldus kannte
ihn seit über zwanzig Jahren. An die
Anfänge erinnerte er sich oft und gern.
Als blutjunger, unerfahrener Mann war
er unter den Schirm einer Benediktinerabtei getreten und hatte bereits in der
ersten Woche seinen Lehrer gefunden.
Schon damals galt Maginulfus als ein
Mann mit besonderen Fähigkeiten und
(das wohl vor allem) besonderer Frömmigkeit.
Über seine Eltern und Verwandten
sprach er nie. Vielleicht hatte er sie
längst aus seinem Gedächtnis getilgt.
Siebenjährig kam er ins Kloster, wo er
gemeinsam mit zwanzig Jungen seines
Alters bei einem strengen Novizenmeister die Härten des Mönchsdaseins kennen lernte. Doch während seine Schicksalsgefährten sich in Heimweh verzehrten und sich angewöhnten, an die Rute
zu denken, wenn jemand von der Bibel
sprach, fiel er durch seinen Eifer auf.
Wie die anderen wurde auch er verprügelt, und zu den Schlägen des Meisters
kamen bei ihm noch die Hiebe der Mitnovizen, die ihn nicht mochten. Das
aber konnte die Glut in ihm nicht löschen, fachte das Feuer eher noch an.
Der Zeit der Prügel folgte ein schneller Aufstieg. Als Theobaldus ihm zum
ersten Mal begegnete, war er als künftiger Abt im Gespräch. Später ergab sich
aber, dass man ihn zu einem Studium an
die Universität von Paris schickte, wo er
sich bei den Professoren den Ruf eines
streitbaren Parteigängers des Papstes
erwarb. In Paris trat er dann dem Dominikanerorden bei. Theobaldus war seinem Lehrer nach einem Jahr an die
Universität gefolgt. Er hatte es dort
niemals zu vergleichbarem Ansehen
gebracht. Dafür war es ihm aber gelungen, als praktisch denkender Mensch
und treuer Anhänger seinem Lehrer
unentbehrlich zu werden. Daran hatte
sich seither nichts geändert.
Im Unterschied zu Theobaldus empfand Maginulfus sein Arbeitszimmer im
Palast nicht als Verhöhnung. Für ihn
war es ein notwendiges Zugeständnis,
das er (als enger Vertrauter des Erzbischofs) für Verhandlungen brauchte.
Nachts schlief er im Hospital St. Maria
Magdalena in einer Kammer, die jene
seines Mitbruders an Dürftigkeit noch
übertraf. Er verachtete Irdisches so sehr,
dass ihn sogar der Reichtum, mit dem er
38
sich umgeben musste, nicht anfechten
konnte.
"Ist etwas geschehen, wovon ich wissen sollte?"
"Eine Gruppe unserer Canes hat sich
schlecht betragen. Es gab Gerede. Ich
werde in Zukunft für mehr Gehorsam
sorgen."
Maginulfus winkte beschwichtigend
ab.
"Breche mir unseren jungen Wölfen
nicht die Zähne aus! Sie sind verbittert
und zornig. Dabei haben sie noch nicht
gelernt, ihre Kraft in rechter Weise einzusetzen."
"Ich fürchte, dass uns entgleiten
könnte, was wir heraufbeschwören."
"Du bist ein Ritter im Mönchsgewand, Bruder Theobaldus. Du möchtest
unsere Heerscharen in vorbildlicher
Schlachtordnung sehen und hast zu einem Teil recht damit. Schon unter den
Regeln des heiligen Benediktus war das
Gebot unbedingten Gehorsams das
wichtigste. Doch ist nicht die höchste
Form des Gehorsams der Gehorsam
gegenüber Gott? Wer hat diesen heiligen Zorn in die Herzen dieser jungen
Leute gepflanzt wenn nicht ER?"
Maginulfus redete nicht mehr, er predigte. Seine Augen bekamen jenen sonderbaren Glanz, der nur Eiferern eigen
ist.
"Der Teufel ist ein schrecklicher
Feind. Ich sah ihn zum ersten Mal als
siebenjähriger Knabe im Kloster und
vertrieb ihn mit einem armdicken
Knüppel. Später wagte er sich nicht
mehr in seiner wahren Gestalt vor mein
Angesicht. Dafür aber kam er als Hund
oder als schwarze Katze oder als Spin-
ne, ja er kroch sogar in die Körper der
Mitbrüder hinein."
Theobaldus hatte das alles schon ein
Dutzend Mal gehört. Dennoch war er
fasziniert. Es gab etwas an Maginulfus,
das den Zuhörer fast unabhängig vom
Inhalt der Worte in seinen Bann zog.
"Oh, wie gut ich den Zorn der Leute
verstehe! Der Teufel schickt ihnen die
Ketzer, um sie in Versuchung zu führen
und zu bedrängen. Sie erleben, wie die
Juden mit ihren Wucherpfennigen Äbte
wie wohlfeile Dirnen kaufen. Sie dürsten nach Trost und Hoffnung, fordern
Gerechtigkeit. Doch sie hören nur
Hohngelächter als Erwiderung."
Manchmal wunderte sich Theobaldus,
dass vor allem die Frauen in Köln solchen Predigten voller Hingabe lauschten, ohne sich an der Gewalttätigkeit
darin zu störten. Vielleicht gehören
Schwärmerei und Gewalt in einer geheimnisvollen Weise zusammen.
"Ein Sturm wird losbrechen. Nach
Gottes Willen, nicht nach unserem. Wir
sind nur Werkzeuge. Vergleiche unsere
Canes nicht mit einem Ritterheer, Bruder Theobaldus! Vergleiche sie mit einem Fluss, der sein Bett noch nicht gefunden hat! Vergleiche sie mit dem erhabenen und zugleich schrecklichen
Rhein!"
Allmählich wurde Maginulfus wieder
ruhiger und erinnerte sich, weshalb er
seinen Mitbruder zu sich bestellt hatte.
Er kam auf organisatorische Fragen zu
sprechen, Alltäglichkeiten, die ihm lästig waren, die aber nun einmal einer
Abstimmung bedurften. Nach knapp
einer Stunde begab sich Theobaldus
zum Hospital St. Maria Magdalena zurück.
39
III
L
udwigs Behauptung, die Mädchen würden wiederkommen,
wenn sie ihren Schreck verwunden hätten, war der Strohhalm, an den
Benno sich klammerte. Statt zum Markt
zu gehen, wartete er - zuerst im Kontor
am Fenster, dann vor der Haustür.
Schließlich lief er die Ährenstraße auf
und ab. Seine Hoffnungen gaukelten
ihm Trugbilder vor. Er folgte fremden
Mädchen durch mehrere Straßen und
Gassen, bis sie sich beunruhigt nach
ihm umdrehten und er seinen Irrtum bemerkte.
Zugleich sprach er die Nachbarn an,
ob sie die beiden irgendwo gesehen
hätten oder Genaueres wüssten über
jene Nacht. Hörte er von einem Verbrechen reden, erkundigte er sich voller
Angst nach den näheren Umständen.
Doch er erfuhr nichts, was ihm nutzte.
Das Verschwinden seiner Mägde blieb
ein Geheimnis. Einerseits hatten sie sich
bei den Jevers bis zuletzt wohl gefühlt,
andererseits waren sie offenbar freiwillig davongegangen (wie der verbitterte Ole). Warum hatte sich Franziska
nicht einmal von Gundula verabschiedet? Warum hatte sie nicht einmal eine
Botschaft, irgendein Zeichen hinterlassen?
Benno geriet in immer größere Verzweiflung und benahm sich (zu Ludwigs Entrüstung) immer auffälliger. In
der Kirche St.Apern bemühte er den
Priester, für Franziska zu beten. Zugleich ging er zu einem Zauberer, der in
Gefahr stand, von den Waffenknechten
des Erzbischofs wegen gottlosen Treibens ergriffen zu werden. In der Nacht
versuchte er, den Stand der Sterne zu
deuten.
Nach einer Woche aber gab er plötzlich auf.
"Sie wird nicht zurückkommen", versicherte er jetzt ohne jeden Zweifel.
Dabei klagte er sich selbst an, warf
sich vor, sie in entehrender Weise beobachtet, mit seinem Gerede belästigt,
mehrmals unschicklich angefasst zu
haben. Er zerfleischte sich, ähnlich den
Mönchen, die im Kloster den Verstand
verloren, weil sie sich einen sündigen
Gedanken nicht verziehen.
Ludwig vermochte seinen Ärger
kaum noch zu zügeln. Er hatte auf Gundulas Drängen hin etwas für seinen
Freund getan, was gegen seine Prinzipien verstieß. Als Bennos sechswöchiges Aufenthaltsrecht auslief, aber
einige lohnende Geschäfte noch offen
standen, nutzte er seine Beziehungen
zum Rat, um eine Verlängerung zu erwirken. Nun sah er, wie aus den Geschäften nichts wurde, weil andere
schneller und entschlossener zugriffen.
Er ahnte auch, worum Bennos Gedanken kreisten, während er abwesend vor
sich hin starrte. Doch das entschuldigte
ihn in seinen Augen nicht. Dass man die
eigene Magd begehrte, das kam vor. Er
selbst hatte seine Frau zweimal betrogen. Aber er war dabei seiner Arbeit
nachgegangen. Er hatte sich mit jenen
Mädchen vergnügt, ohne sich närrisch
in sie zu verlieben.
Gundula dachte zunächst anders. Ihr
tat Benno aufrichtig Leid. Während ihr
Mann ihm aus dem Wege ging, kümmerte sie sich mit fast rührender Sorge
um ihn. Sie kochte ihm seine Lieblingsspeisen, erzählte ihm aufmunternde
Geschichten, ließ die Magd sein Zimmer verschönern. Sie konnte damit freilich nicht verhindern, dass er sich weiter
mit Selbstanklagen quälte. Schließlich
hatte auch sie keine Lust mehr, sich in
seiner Nähe aufzuhalten. Sein Missmut
verwandelte das Haus in einen Trauerort, obwohl dafür gar kein Anlass bestand.
40
Eines Tages hatte die Magd den erlösenden Einfall:
"Wenn er nicht zum Markt geht und
auch nichts im Hause tut, dabei aber
immerfort an Franziska denkt, so soll er
doch nach ihr suchen - nicht nur hier im
Friesenviertel sondern in der ganzen
Stadt. Vielleicht findet er sie und bringt
sie zurück. Dann wäre auch uns geholfen."
Benno, neue Hoffnung schöpfend,
ging sofort darauf ein. Den Neumarkt
überquerte er mit langen Schritten. Seinen ehemaligen Platz nahe der Einfahrt
würdigte er keines Blickes. Dort hatte
ein anderer seinen Stand aufgeschlagen.
Kunden drängten sich davor. Die Geschäfte gingen gut. Benno indes strebte,
am Pumpenhaus vorbei, der Schildergasse zu. Da man auf diesem Weg zum
eigentlichen Marktviertel gelangte,
quoll sie von morgens bis abends geradezu über von Passanten, zwischen denen sich polternd größere und kleinere
Wagen ihren Weg bahnten wie Schiffe
im Meer. Fliegende Händler boten ihre
minderwertige Ware an. In den Winkeln
spielten Musikanten. Bessergekleidete
zogen ganze Trauben von Bettlern und
auch Dieben hinter sich her. Benno
brannten die Augen, so sehr bemühte er
sich, in diesem Durcheinander seine
Mägde zu entdecken. Mehrmals glaubte
er, sie gefunden zu haben, aber es war
jedes Mal eine Täuschung.
Zum Leidwesen jener Kaufleute, die
mit größeren Wagen von Westen her
kamen, führte die Schildergasse nicht
direkt zum Altmarkt. Von dort, wo sie
endete, mussten sie eine Schlangenlinie
durch mehrere kleine Straßen bewältigen. Die erste hieß (aus einem selbst
den Anwohnern nicht mehr verständlichen Grund) In der Höhle. Hier
befand sich einst die erzbischöfliche
Pfalz. Davon erhalten geblieben war ein
Turm, der die umliegenden Häuser
überragte. Er gehörte inzwischen einer
Familie griechischer Abstammung, die
ihn und das Anwesen rundherum mit
viel Geld und noch mehr Sinn für
Schönheit nach Patrizierart ausgebaut
und mit dem (durchaus berechtigten)
Namen Domus bellica versehen hatte.
Benno fiel ein, dass Franziska inzwischen vielleicht einen neuen Herrn gefunden hatte. Sie war jung und hübsch
und zu alledem noch fleißig und gutwillig. Vielleicht hatte sie das Herz jenes
Winrich erobert, welcher der Familie
zurzeit vorstand, und unterhielt sich
gerade mit einem seiner Söhne. In Köln,
wo die Standesunterschiede durch das
Auf und Ab des Handels leicht durcheinander gerieten, kam so etwas durchaus
vor.
"He! Hast du keine Augen im Kopf?"
Benno drehte sich erschrocken um
und konnte gerade noch beiseite springen. Er hatte die von den Kaufleuten am
meisten gehasste Stelle erreicht. Vor
einer Zeile an die alte römische Stadtmauer gelehnter Häuser mussten die
Wagen scharf nach links einbiegen. Nur
wenige Schritt später bereits führte ein
ebenso enger Bogen wieder nach rechts
zu einem schmalen Tor. Die notwendigen Manöver erforderten einiges Geschick.
Ging man an der zweiten Kurve geradeaus weiter, gelangte man in die Judengasse. Verstohlen warf Benno auch
dort einen Blick hinein. Aber er mochte
nicht glauben, dass die Mädchen hier
gestrandet waren. Obwohl er noch keine
schlechten Erfahrungen mit Juden gesammelt hatte, empfand er vor ihren
Vierteln doch immer ein heimliches
Grauen. Sie waren ihm fremd, diese
Leute. Sie riefen Gott mit einem anderen Namen an, feierten andere Feste,
trugen andere Kleider und andere Frisuren, hatten andere Moralvorstellungen.
Übrigens wohnten hier nur die armen
Juden, die kleinen Krämer und Pfandleiher zum Beispiel. Wer es zu etwas
41
gebracht hatte, kaufte sich woanders ein
Haus. Die Familie Jude, die seit drei
Generationen zur Riecherzelle der Patrizier gehörte, besaß im Süden ein gro-
ßes Anwesen mit Baumgarten, Backhaus und Tavernen, dazu vor den Mauern Ländereien und Weinberge.
IV
Gaukler führten mitten im Gedränge die
erstaunlichsten Kunststücke vor. Musikanten waren an manchen Tagen so
zahlreich, dass sie sich gegenseitig störten und darüber in Streit gerieten. Und
wollte jemand ein seltenes Tier vorführen, tat er es hier, da er nirgends sonst
ein dankbareres Publikum fand.
Zwei Marktherren in schmucker Uniform beaufsichtigten die Händler. Sie
waren Mitglieder des Rates, und ihr
Stolz auf die Amtswürde ließ sich kaum
übersehen. Vier ebenfalls uniformierte
Dienstleute halfen ihnen. Zwei von
ihnen bedienten die städtische Waage,
mit deren Hilfe jedermann die Waagen
der Händler überprüfen konnte. Der
Pranger, ein Käfig wie für ein Tier, der
in der Nähe des Brunnens stand, war
leer. Wegen der strengen Aufsicht wurde hier weniger betrogen als anderswo.
Dafür verlangte man in der Regel etwas
höhere Preise.
Benno lief fast zwei Stunden lang
kreuz und quer über den Platz. Franziska und Pentia fand er nicht. Stattdessen
hörte er plötzlich eine Stimme, die ihm
in gar nicht guter Erinnerung war. An
einem langen Tisch saß Ole in einem
neuen Rock aus gutem Stoff neben einem dicken, schnurrbärtigen Geldwechsler.
"Alte Krämerseele, kennst du mich
nicht mehr? Komm her du Geizkragen
und sieh, was aus mir geworden ist,
seitdem ich dir nicht mehr diene!"
Das Prägen und Wechseln von Münzen und überhaupt der Handel mit
Edelmetallen war in Köln das Privileg
von vierzig Männern, den Münzhausge-
O
bwohl er überall suchte, glaubte
Benno, dass er Franziska und
Pentia (wenn überhaupt) auf
dem Altmarkt finden würde. Nirgends
sonst gab es so vieles zu sehen, was die
Neugier junger Mädchen wecken konnte. Da sie zudem hungrig waren und
fremd in der Stadt, musste auch der
Duft nach den verschiedensten Lebensmitteln sie magisch anziehen.
Gleich vorn, am Ende der Marktpfortengasse, gab es Äpfel und Birnen. Dahinter boten Bauern aus dem Vorgebirge Kraut und Rüben feil. Ein besonderer
Bereich war den Getreidehändlern vorbehalten. Gegenüber, auf der Rheinseite, gab es Butter in großer Auswahl Kölnische Butter, Bergische Butter,
Jülicher Butter. Die Verkäuferinnen,
dicke Frauen mit roten Köpfen, schrieen
so laut, dass man sie sogar aus dem allenthalben herrschenden Lärm noch
heraushörte. Fische wurden am Brunnen
verkauft - Hechte, Krebse, Schollen und
Karpfen, auch Salzheringe aus großen
Fässern. Die Metzger hatten eine ganze
Kette von Ständen aufgebaut, denn jeder von ihnen durfte nur eine bestimmte
Fleischsorte feilbieten - nur Schwein,
Schaf und Hammel der eine, nur Rind
ein anderer, nur Kalb ein dritter. Dann
gab es noch Stände für Gewürze, für
Sämereien, für Lederwaren. Auch alles,
was die Frauen an Geräten im Haus
benutzten, war zu kaufen - Tontöpfe,
Zinnkrüge, Drechslerwaren. Selbst eine
Apotheke fehlte nicht.
Aber man handelte auf dem Altmarkt
nicht nur mit Waren zum Anfassen.
42
nossen, die unmittelbar in den Diensten
des Erzbischofs standen. Sie gehörten
nicht zu den vornehmsten unter den
Ministerialen, hatten sich aber einige
besondere Vorrechte gesichert. Wenn
zum Beispiel einer ihrer Mitglieder
starb oder wegen Unehrlichkeit ausgeschlossen wurde, wählten sie ohne Einfluss des Kirchenfürsten einen Nachfolger. Das Prägen und Umtauschen der
Münzen erledigten sie sicherheitshalber
im Gaddemen neben dem Münzhaus.
Auf dem Mark halfen sie den Marktherren bei Kontrollen, die mit Geld zusammenhing. Ole war bei einem von
ihnen in den Dienst getreten. Dafür,
dass es ihm dort besser ging als bei seinem früheren Herrn, sprach sein neuer
Rock.
Benno ertrug den Anblick nicht und
flüchtete. Domus bellica! dachte er.
Wenn Franziska nicht bei Winrich dem
Griechen war, dann gewiss bei einem
anderen Vornehmen der Stadt. Wie sollte es auch anders sein, wenn Ole, dieses
Stück Holz, zu einem Münzhausgenossen hatte gehen können? Sie war zu
Höherem geboren. Hatte er nicht ihre
Art zu Sprechen, zu Essen und zu Laufen bewundert? Warum war ihm niemals eingefallen, dass einer wie er ihr
vom ersten Tage an zuwider sein musste? Domus bellica! Zu einem Patriziersohn gehörte sie, nicht zu ihm!
Ohne es bewusst wahrzunehmen, gelangte Benno ins Martinsviertel. Man
konnte sich kaum noch vorstellen, dass
dies einst eine Insel gewesen war. Jetzt
standen dort die Häuser besser gestellter
Familien. Die Mühlengasse verband den
Altmarkt mit dem Fischmarkt. Rechts
ragte hinter den Bürgerhäusern der
Baukran des erst zur Hälfte gediehenen
Turms von St.Martin auf. Benno empfand die Kirche als Symbol des Unheils.
Mitte des vorigen Jahrhunderts brannte
sie mitsamt dem Viertel nieder. Die
reichen Benediktinermönche nahmen
dies zum Anlass, einen neuen, prächtigen Chor erbauen zu lassen. Dreizehn
Jahre später aber brannte ihr stolzes
Gotteshaus erneut nieder. Diesmal kam
ihnen das nicht gelegen. Manch einer
munkelte, Gott habe die Mönche, die
von Klausur und Demut nichts mehr
wissen wollten, für ihre Ausschweifungen bestraft. Ein Menschenalter lang mahnte St.Martin als Ruine an
die Allmacht des Schicksals. Seit zwanzig Jahren wurde nun immerhin wieder
gebaut. Für wie lange?
"Wir können nichts festhalten!" flüsterte Benno.
Durchdringender Geruch zeigte ihm
an, dass er den Fischmarkt erreicht hatte. Er musste hier darauf achten, wohin
er seine Füße setzte, um auf dem
schlüpfrigen Boden nicht auszugleiten.
Eine Verkäuferin brüllte ihm etwas zu.
Ein Karren versperrte ihm den Weg. Es
war dies der Marktalltag, den er kannte,
der ihm an diesem Tage aber unbeschreiblich lästig fiel. Hastig überquerte
er den Platz und stieg hinter dem weit
geöffneten Tor in der Stadtmauer die
Stufen zum Fluss hinunter.
Der Rhein führte Niedrigwasser. Träge wälzte er sich dahin, unbeeindruckt
von allem, was an seinen Ufern geschah, wie seit vielen Jahrhunderten.
Ein dunkler Abwasserstrom verteilte
sich in ihm. In der Flussmitte trieben
Flöße. Schiffen mit hohen Bordwänden
blähte der Wind die Segel, und zwischen ihnen hindurch drängte sich der
Fährmann mit seinem Kahn.
Benno wusste nicht, was er beginnen
sollte. In die Stadt zurückgehen, mochte
er nicht. Die Bürgerhäuser, die ihre spitzen Giebel über die Mauerkrone reckten, schienen ihn zu verhöhnen, und die
Vielzahl der Kirchtürme erinnerte ihn
daran, wie groß diese Stadt war. Er
konnte Franziska hier nicht finden, nicht
an diesem Tag und nicht an den folgenden.
43
5.Kapitel
I
D
as gewaltige Freskenbild des
heiligen Christophorus war das
erste, was man beim Betreten
der Pfarrkirche sah. Es reichte fast bis
hinauf zur hölzernen Flachdecke und
wurde vom Licht des hohen Fensters
über dem Eingang beleuchtet. Das
Kunstwerk wies darauf hin, dass das
Gotteshaus diesem Heiligen geweiht
war, bewahrte aber zugleich (einem
alten Glauben nach) einen jeden, der
hier betete, für diesen Tag vor dem
plötzlichen Tod ohne Sterbesakramente.
Franziska und Pentia versäumten diese
Vorsichtsmaßnahme nie. Der Riese besaß mächtige Arme, und der Fluss,
durch den er das Christuskind trug,
reichte ihm kaum bis zu den Waden.
Sein Gesicht strahlte Güte und Sanftmut
aus. Bei den Mädchen vertrieb er die
Erinnerungen an die Nacht der Angst,
zumindest zeitweilig.
Völlig verdrängen ließ sich die Erinnerung natürlich nicht. Immerhin hatte
ihr Schicksal eine dauerhafte Wendung
zum Schlimmen genommen. Oft fragten
sie sich, ob ihre Entscheidung richtig
gewesen war - und auch ob sie sie zurücknehmen konnten. Manchmal sprachen sie flüsternd darüber, nachdem sie
sich einen Platz für die Nacht gesucht
hatten.
Sie sahen sich wieder im stockdunklen Keller. Ludwigs Schritte entfernten
sich. Der Hausherr legte sich, fürs erste
beruhigt, ins Bett. Nur ganz schwach
hob sich das aufgebrochene Fenster ab.
Die Mädchen fassten sich bei den Händen und starrten lange Zeit reglos dorthin. Dabei stieg die Angst immer höher
auf in ihnen. Irgendwann wurde ihnen
klar, dass sie in diesem Haus keine Ruhe mehr finden würden. Es war Annes
Angst, die auf sie übersprang. Dieser
Keller hing zusammen mit einem finsteren Geheimnis, von dem die kleine
Bettlerin eine Ahnung hatte. Welche
Teufelei es auch sein mochte, Franziska
und Pentia waren nicht begierig, sie
näher kennen zu lernen. Sie mussten
fort, so schnell wie möglich, noch vor
dem Anbruch des neuen morgens.
Die Finsternis auf der Straße war so
vollkommen, dass sie nur an den Wänden entlang, Schritt für Schritt vorwärts
kamen. Häufig stolperten sie über Hindernisse. Eher zufällig liefen sie stadtauswärts. Die Mühseligkeit des Weges
verzerrte das Entfernungsgefühl. Als sie
an das Kettentor gelangten, waren sie
überrascht, denn sie hatten geglaubt,
schon fast an der äußeren Stadtmauer zu
sein. Franziska erinnerte sich des ersten
Tages und versuchte sich vorzustellen,
wie sie damals auf Bennos Wagen in
die Ährenstraße eingebogen war.
"Von hier aus würde ich mich vielleicht zum Hahnentor finden", flüsterte
sie.
"Was wollen wir denn dort? Die
Wächter würden uns festnehmen und
einsperren."
"Ja. Du hast Recht."
So wandten sie sich an der Kreuzung
nach rechts. Dort waren sie allerdings
noch nie gewesen und verloren neben
dem Gefühl für Zeit und Entfernung
auch noch den Richtungssinn. Völlig
erschöpft, seelisch wie auch körperlich,
gaben sie schließlich auf und ließen sich
zu Boden gleiten, wo sie gerade standen.
Am nächsten Morgen bemerkten sie
erschrocken, dass sie die Kreuzung
noch erkennen konnten, sich folglich
noch nah am Jeveranwesen befanden.
Also liefen sie sofort weiter, noch ehe
die Sonne sich über den Häusern zeigte.
Vor ihnen endete die Straße. Links gelangte man zur Stadtmauer, rechts in
eine dicht bebaute Gasse. Sie entschieden sich für Letzteres. Während sich
südlich die Reihe der Häuser fortsetzte,
gab nach Norden zu bald ein Gartenareal den Blick frei auf einen gewaltigen
Kuppelbau - eine weitere Kirche, wie
das goldene Kreuz auf dem Dach anzeigte.
"Das ist ein reiches Kloster oder
Stift", sagte Franziska mit Überzeugung. "Dort bekommen wir etwas zum
Essen."
So waren sie an den Gärten entlang
auf den Kuppelbau zugelaufen und hatten schließlich jenen Platz erreicht, auf
dem sie nun seit knapp einer Woche
lebten. Das Stift, an dessen Fuß sie gestrandet waren, hieß St. Gereon und
folgte dem Rang nach unmittelbar dem
Dom. Sein Reichtum fand in Redewendungen und Sprichwörtern Eingang. Die verschwenderisch große Freifläche vor der Kirche diente allein dem
Zweck, die prächtige Ostseite mit dem
aus der Umfassungsmauer vor gewölbten Chor und den beiden Türmen zur
vollen Geltung zu bringen. Die von den
Kanonikern für die Bürger errichtete
Christophoruskirche erinnerte (rechts
neben ihr am Rand des Platzes) an einen
Diener, der demutsvoll im Hintergrund
auf die Anweisungen seines Herrn wartet.
Anfangs hatte den Mädchen das
Glück zur Seite gestanden. Aus ihnen
unbekanntem Grund verteilten Dienstleute des Stifts jeden Morgen eine Schale voll dünner Suppe an alle Bedürftigen. Das war nicht viel, wenn man sich
damit begnügte, doch mehr als nichts.
Eines Tages aber hörten die Almosen
der Stiftsherren auf, und die beiden
mussten sich ihr Essen auf andere Weise beschaffen. Nun wurde der Hunger
quälend. Pentia verlor allen Mut und
sah mit jedem Tag elender aus. Franziska hingegen raffte sich auf.
Sie wusste inzwischen bereits einiges
über das Stift. Es gab vierunddreißig
Kanoniker, die alle wenigstens vierzehn
adlige Vorfahren besaßen und über ausgedehnte Güter innerhalb und außerhalb
Kölns verfügten. Ohne dabei in Verlegenheit geraten zu sein, hatten sie binnen zweier Generationen ihre altehrwürdige Kirche von Grund auf umbauen
lassen. Dabei war auch die Kuppel entstanden, die größte im Kaiserreich. Wie
leicht musste es so unermesslich reichen
Leuten fallen, zwei Mädchen ohne
Heim vor dem Hunger zu bewahren!
Leider wohnten die Kanoniker ziemlich abgeschieden in großen Häusern
hinter der Kirche. Dort gingen sie, von
zahlreichen Dienern umgeben, ihren
(nicht immer frommen) Geschäften
nach und mochten nicht gern gestört
werden. Mönche waren sie nur siebenmal am Tage. Dann trugen sie die einheitliche Kanonikerkleidung und trafen
sich zum Gebet in ihrer Kirche. Um von
ihren Häusern aus dorthin zu gelangen,
brauchten sie den Stiftsbereich nicht zu
verlassen. Einige von ihnen taten es
dennoch. Nach der Andacht schlenderten sie ein wenig über den weiten Platz
oder setzten sich an den Rand, um das
Treiben der Leute zu beobachten.
Franziska überlegte lange, bei wem
sie ihr Glück versuchen sollte. Die besondere Menschenkenntnis des Bettlers
besaß sie noch nicht. Am Ende entschied sie sich für den ältesten Kanoniker, den sie zu sehen bekam, einen
Greis mit knochiger Nase, der sich
mühsam mit einem Stock vorwärts
schleppte und jeden Nachmittag für
einige Zeit auf einem Stein vor der
Chorrundung verweilte. An diesem Tag
rannte sie auf ihn zu und stützte ihn,
noch bevor sich ein Diener seiner annehmen konnte. Er ließ es sich gefallen
45
und forderte sie sogar auf, sich neben
ihn zu setzen.
"Bist du oft hier?"
Sie zögerte, um nichts Falsches zu
sagen. Er fragte sofort weiter:
"Weißt du vom heiligen Gereon und
von Gregor Maurus, seinem Gefährten?"
Sie kannte weder den einen noch den
anderen, doch sie litt Hunger und hatte
noch nichts bekommen für ihre Gefälligkeit. So sagte sie, nicht ohne Hintersinn:
"Das waren heilige Männer, die uns
Vorbild sein sollen. Meine guten Eltern
erzählten mir von der ungarischen Königstochter Elisabeth, die in der großen
Hungersnot vor zwei Jahren alles Korn
an die Armen verteilte. Gott selbst füllte
ihr die Speicher wieder auf, so dass ihr
kein Schaden entstand."
In die Augen des Alten trat ein
Leuchten.
"Du bist ein kluges Mädchen und
deine Eltern haben dich gut erzogen."
"Gewiss haben sie das - bis eine
Sturmflut sie umbrachte, unten am Meer
in Friesland."
Er ging gar nicht ein auf ihre Geschichte, sondern fragte wie ein Novizenmeister:
"Weißt du auch von den Römern und
von den Schrecken, die sie den Christen
angetan?"
Franziska nickte leicht. Der Kanoniker lächelte zufrieden.
"Dem heiligen Gereon, dem unsere
Kirche geweiht ist, schlugen sie den
Kopf ab, obwohl er ein tüchtiger
Hauptmann war. Mit ihm starben an
einem einzigen Tag alle seine Gefolgsleute."
Dann erzählte er von dem grausamen
Kaiser Diokletian, von dessen Mitregenten Maximilian, von der christlichen
Legion aus dem fernen Thebais, von
deren Ankunft am Rhein, von der Weigerung den römischen Göttern zu huldi-
gen, vom blutigen Ende mit allen Einzelheiten schließlich. Franziska hing an
seinen Lippen, weil er offenbar Wert
darauf legte. Zugleich aber verstand sie
kein Wort. Die Märtyrer aus uralter Zeit
waren ihr in diesem Moment so gleichgültig, dass es an Sünde grenzte.
"Meine Mutter sagte einmal, dass die
Römer niemals einem Bedürftigen ein
Stück Brot gaben ..."
"... Die Leichen warf man vor der
Mauer in einen Brunnen, wo sie blieben, bis die heilige Helena ihnen jene
Kirche errichten ließ, die wir nun zu
neuem Glanz haben wiedererstehen
lassen."
Er sprach noch von Helenas Sohn,
dem Kaiser Konstantin, der den Christen die ersehnte Freiheit gebracht hatte,
doch Franziska verlor die Geduld.
"Ich und meine Schwester, wir haben
Hunger. Versteht Ihr? Wir brauchen ..."
Der Kanoniker brach ab und schaute
verwirrt auf. Seine Stirn umwölkte sich.
"Was redest du da? Denkst du an die
nichtigen Bedürfnisse deines vergänglichen Leibes, wenn du von Gereon und
seinen Taten hörst?"
"Ich habe sehr wohl verstanden,
dass ..."
"Geh mir aus den Augen! Du hast
mich enttäuscht!"
Franziska bebte vor Zorn. Warum
hatte sie mit dem Schwätzer so viel Zeit
verschwendet? Gern wäre sie mit einem
Schwall derber Beschimpfungen über
ihn hergefallen und dann einfach davongerannt. Doch sie zügelte sich, um
es sich nicht mit den anderen Kanonikern zu verderben und trollte sich wie
ein mit einem Schwall Wasser verscheuchter Hund.
Sie hatte eine Niederlage erlitten, zugleich jedoch eine Erfahrung gesammelt. Allmählich bekam sie einen Blick
für die Gebefreudigkeit der Leute. Auch
verbesserte sie ihr Vorgehen. Als Erfolg
versprechend erwies sich, den Kanoni-
46
kern einen Dienst anzubieten und sie
dabei mit einer endlosen, rührseligen
Erzählung zu bedrängen. Die frommen
Chorherren fühlten sich unbehaglich,
wenn sie mit dem Elend in Berührung
kamen, wollten aber andererseits ein
arbeitsames Mädchen nicht einfach davonjagen. Ihre milde Gabe war dann so
etwas wie ein Sichfreikaufen.
Je sicherer sie sich fühlten, desto
mehr erkunden Franziska und Pentia die
Umgebung des Gereonsplatzes. Wenn
sie um die Pfarrkirche herumliefen, ka-
men sie auf die Christophorusstraße, die
an der nördlichen Begrenzung des
Stiftsbezirks entlang führte und an der
Gereonstorburg endete. Rechts dehnten
sich Wiesen aus - unkultiviertes, als
Weidefläche genutztes Land. Die nächsten größeren Häuser gehörten schon zu
einem anderen Viertel. Nur eine Straße
durchschnitt die Wiesen - die Seckengasse, an der das Propsteianwesen mit
seinem Palast lag. Hier bettelte Franziska am erfolgreichsten.
II
D
er Arglose hat den Vorteil, dass
er die mit einer Sache verbundenen Gefahren nicht fürchtet (weil er sie nicht kennt), jedoch den
Nachteil, leicht geradewegs in eine Falle hineinzulaufen. Franziska hätte sich
längst fragen müssen, warum andere
Straßenkinder ihren vortrefflichen Trick
nicht gleichfalls anwendeten. An einem
Sonntagvormittag Ende September
wurde sie von zwei Dienstleuten des
Stifts ergriffen und grob gegen eine
Wand gedrückt.
"Warum behelligst du die Chorherren?" knurrte einer von ihnen.
"Weil Barmherzigkeit eines jeden
Christen Pflicht ist und die ehrenwerten
Kanoniker doch ganz besonders ..."
Eine Ohrfeige, die ihr den Kopf gegen die Mauer schleuderte, schnitt ihr
das Wort ab.
"Von heute an wollen wir dich nicht
mehr hier sehen, nicht auf dem Platz
und nicht in der Christophorusstraße.
Halte dich daran! Sonst sperren wir dich
in den Turm der Propstei und lassen
dich hungern, bis du Schaben und Asseln isst."
Franziska sah nicht ein, wieso sie,
selbst wenn sie die Kanoniker in Ruhe
ließe, nicht auf dem Platz bleiben durf-
te. Ehe sie aber etwas erwidern konnte,
belehrte sie eine Serie weiterer Ohrfeigen, dass die Drohung ernst gemeint
war. Andererseits wusste sie inzwischen
aus belauschten Gesprächen, dass trotz
allem noch manche Möglichkeit bestand
für sie und ihre Schwester. Fremde
konnten in Köln leichter als anderswo
die Bürgerrechte erwerben, sogar unabhängig von ihrem Geschlecht. Sie mussten dafür das Beitrittsgeld und die jährlichen Steuern entrichten sowie ihren
Verpflichtungen für die Verteidigung
der Stadt nachkommen (was auch auf
das Ausrüsten und Besolden eines Vertreters hinauslaufen konnte).
Das erforderliche Vermögen aufzutreiben, war natürlich eine ernsthafte
Schwierigkeit. Franziska zum Beispiel
besaß lediglich zwei Vierteldenariusmünzen. Doch ein Ziel in weiter Ferne
ist immerhin mehr als gar keine Hoffnung. War ein Anfang gefunden, würde
sich alles weitere vielleicht ergeben.
Kleinhändlerinnen zum Beispiel unterlagen keinem Innungszwang und durften ihre Geschäfte ohne Bürgerrechte
betreiben, wenn auch nur an bestimmten
Stellen. Dann gab es noch die Möglichkeit, sich von einer Meisterin als
47
Lehrmädchen einstellen zu lassen und
allmählich hochzuarbeiten.
Als sie ihre Schwester neben sich
schluchzen hörte, wurde Franziska aus
ihren trotzigen Gedanken gerissen und
daran erinnert, dass sie erst einmal für
sie beide eine neue Bleibe suchen musste - sofern ein paar vertraute Gassen mit
gnädig gestimmten Leuten diese Bezeichnung verdienten.
"Sie werden uns auch anderswo verjagen!" würgte Pentia hervor, völlig
verstört.
"Sei, verdammt noch mal, still! Ich
muss nachdenken." brauste Franziska
auf, heftiger als gewollt. Es begann ihr
Leid zu werden, dass sie in ihr keine
größere Hilfe hatte. "Du bist elf Jahre
alt und bald heiratsfähig. Du müsstest
genug wissen und können, um Kinder
zu erziehen. Statt dessen lässt dich
selbst verhätscheln wie ein Kind."
Sie schimpfte mit ihr, obwohl sie sich
in Wahrheit um sie sorgte. Manchmal
erweckte Pentia den Eindruck, sie würde den baldigen Tod für unvermeidlich
halten und als Erlösung aus dem Elend
geradezu herbeisehnen. Wie konnte sie
ihr wieder Lebensmut einhauchen? Im
Moment war freilich keine Zeit dazu.
Die beiden Stiftsknechte standen noch
immer in der Nähe. Es wurde höchste
Zeit, ihnen aus den Augen zu gehen.
Franziska entschied sich nach kurzem
Zögern für die breite Straße, die gegenüber der Gereonskirche in Richtung
Stadtmitte führte. Auf einem Mittelstreifen standen Bäume. Auf dem Gras
darunter schritt man dahin wie auf einem Teppich.
Etwas überraschend endete jene
prächtige Straße nicht vor einem ihr
angemessenen Portal sondern an einer
Zeile dürftiger Häuser. Offenbar hatte
sie jemand rasch und so billig wie möglich bauen lassen. Keines war auch nur
halb so breit wie das der Jevers. Die
grauen Fassaden wirkten trostlos, weil
nicht einmal die Türen und Fensterläden
sich farblich abhoben.
Wer hier wohnte, konnte sicherlich an
Bettler nicht viel abgeben. Durch einen
Torbogen gelangten die Mädchen ins
nächste Viertel. Bäume gab es hier keine mehr, statt dessen schmale, schmutzige Gassen mit Dutzenden spielender
Kinder. Die schrieen, dass es in den
Ohren gellte. Manche hetzten hinter
einem Ball aus Leder mit eingenähten
Stoffresten her, andere benutzten Rinderzehenknochen als Kegel. In einer Nische waren fünf Jungen über einem Klickerspiel in Streit geraten.
Franziska und Pentia liefen immer
weiter geradeaus dorthin, wo sie den
Rhein vermuteten. Eine Bleibe fanden
sie dabei allerdings nicht. Außerdem
hatten sie noch nichts gegessen an diesem Tage. Da sahen sie eine Gruppe
von Pilgern in ein großes Eckhaus gehen - ein Hospital vermutlich, und zwar
ein vornehmeres als das bei St. Apern.
In der Hoffnung, wenigstens eine Suppe
zu bekommen, folgten sie den Männern.
Im Vorraum aber stand Franziska plötzlich einem Mann in weißer Kutte gegenüber.
"Was willst du hier?" fragte er streng
und musterte sie unangenehm aufmerksam.
"Ich und meine Schwester, wir sind
Fremde in der Stadt und haben kein
Obdach."
"Wo genau kommt ihr her?"
Franziska fühlte sich wie bei einem
Verhör, ohne recht zu wissen, welcher
schlechten Tat der Mönch sie beschuldigte.
"Dazu müsste ich Euch viel erzählen ..."
"Ihr habt immer viel zu erzählen,
wenn ihr bettelt. Anstatt euch Geschichten auszudenken, solltet ihr mit euren
Händen nützlich arbeiten."
"Das würden wir gern tun, nur ..."
"Ihr könnt es tun! Kommt mit!"
48
Franziska wollte ihm bereits folgen,
da hielt eine innere Stimme, ein verborgenes Misstrauen, sie zurück. Der Mann
war ihr plötzlich unheimlich - so wie
der Gang, der vor ihr begann und sich
im Dunkeln verlor. Die Männer, die
daraus auftauchten und wieder verschwanden, passten nicht zu einem
Hospital. Von Angst überwältigt, nahm
sie ihre Schwester beim Arm und flüchtete, ohne überhaupt nach der Art der in
Aussicht gestellten Arbeit zu fragen.
Dass sie die erhoffte Mahlzeit nicht
bekommen hatten, vergaßen die Mädchen, als sie sich unversehens auf einer
breiten Straße wieder fanden, wo der
Verkehr dahin quoll wie das Wasser in
einem Hochwasser führenden Fluss. Sie
wurden mitgerissen bis zu einer mehrbogigen Pforte, welche (obgleich weit
geöffnet) die anbrandenden Massen von
Menschen, Pferden, Karren und Wagen
aufhielt wie Buhnen die Wellen des
Meeres. Dort zogen sie sich, um dem
Gedränge zu entgehen, nach rechts in
eine Querstraße zurück. Dabei stießen
sie zufällig auf ein weiteres Hospital diesmal eines, das sich tatsächlich der
Armen annahm. Aus einem Fenster, vor
dem sich ein paar Dutzend Bedürftige
drängten und stritten, wurden gerade
kleine Stücken Brot verteilt.
Gestärkt und mit neuem Mut kämpften Franziska und Pentia sich nun durch
die Pforte. Danach hatten sie zu ihrer
Linken den Dom mit den ihn umgebenden Gebäuden und zu ihrer Rechten ein
paar Häuser, deren Größe und Schönheit wohl selbst den Kanonikern von
St. Gereon Anlass zum Neid geben
konnten. Einmal mehr erkannten sie,
dass sie wohl noch in mehreren Wochen
nicht annähernd alles entdeckt haben
würden, was diese Stadt an Erstaunlichem zu bieten hatte. In ihrer Heimat
errichteten sich die reichen Herren ihre
Wohnburgen inmitten ihres Grundbesitzes und wünschten keine Nachbarn in
der Nähe. Hier legten es die allervornehmsten Leute darauf an, sich mit zumindest einem ihrer Anwesen auf engem Raum zu drängen. Um wen scharten sie sich mit solchem Eifer? Es konnte nur der Dom sein! Für einen Moment
erschauerte Franziska beim Gedanken
an jene unermessliche Macht, die dort
irgendwo auf dem erzbischöflichen
Areal in einem geheimnisvollen Tabernakel zusammengeballt sein musste.
"Hier bleiben wir", raunte sie ihrer
Schwester zu.
Das war zunächst leichter gesagt als
getan, denn der Strom hatte sie wieder
gepackt und schien sie geradewegs aus
der Stadt hinausspülen zu wollen. Dann
aber mündete links eine weitere breite
Straße ein und das Gedränge ließ nach.
Der Platz gefiel Franziska auf Anhieb.
Anders als vor St. Gereon boten viele
Leute ihre Dienste an und zugleich gab
es auch genügend Bedarf dafür. Hier
war Gepäck zu befördern, dort
schnellstmöglich ein Schaden auszubessern. Fremde suchten nach Ortskundigen. Auch Bettler sah man überall.
Sie belagerten vor allem die Pilger,
welche die Heiligen Drei Könige anbeten wollten und in ihrer Hochstimmung
gebefreudig waren.
Die erzbischöflichen Waffenknechte,
die mit ihren langen Spießen allenthalben auf dem Platz posierten, sahen dem
Treiben ruhig zu und ergriffen nur die,
welche sich respektlos betrugen oder
die Fremden zu bestehlen versuchten.
Letzteres bedeutete übrigens nicht, dass
jeder sich seines Besitzes sicher sein
konnte. Die Gegend war vielmehr
Tummelplatz der gerissensten und
kühnsten Diebe, die es in der Stadt gab.
Selbst Dirnen kamen hier besser als
anderswo zu ihren Kunden, so sehr man
sich auch bemühte, sie (der heiligen
Reliquien wegen) zu vertreiben.
Im Laufe der nächsten Tage und Wochen lernte Franziska den Platz immer
49
besser kennen und nutzen. Das Haus an
der Einmündung war das prächtigste
von allen (nach dem Palast des Erzbischofs) und gehörte dem Herzog von
Brabant. Am anderen Ende hatten rechts
die Goldschmiede ihre Werkstätten.
Von links dröhnten von früh bis spät die
schweren Hämmer der Waffenschmiede. Das Tor zum eigentlichen Domhof
war nur zu bestimmten Zeiten geöffnet.
Dann allerdings durfte jedermann bis
zum Portal des Palastes gehen.
Franziska erkannte inzwischen auch
die ranghöchsten Dienstherren des Kirchenfürsten und wusste, wann sie sich
mit ihrem Gefolge zeigten. Der Vogt
erschien, wenn zu Gericht gesessen
wurde. Der Kämmerer tauchte vor den
großen kirchlichen Feiertagen auf, um
die Vorbereitungen für das Zeremoniell
zu überwachen. Der Marschall führte
bei den Paraden für besonders bedeutende Gäste die ihm unterstellte Ritterschaft an. An diese drei kamen gewöhnliche Bettler selten heran. Anders
verhielt es sich mit dem Schenk und
dem Truchsess, die sich gern unters
Volk mischten und empfänglich waren
für Schmeicheleien. Der Kepler, ein
blasser, immer missvergnügter, von der
Arbeit in der Kanzlei krumm gedrückter
Mann, rief manchmal nach den Waffenknechten, gab an seinen guten Tagen
aber so viel wie niemand sonst.
Franziska hatte gegenüber den anderen Bettlern einen wichtigen Vorteil sie benahm sich nach der Art der Adligen und redete auch in ihrer Weise. Die
hohen Dienstleute und noch mehr die
Grafen und Herzöge stimmte das mitunter nachdenklich, glaubten sie doch unwillkürlich, einer der Ihren stünde da im
Bettlergewand vor ihnen. Jäh an die
Vergänglichkeit irdischer Güter erinnert, verweigerten sie die Bitte des rätselhaften Mädchens selten. Geistlichen
ging Franziska aus dem Wege. Das Erlebnis vor St. Gereon hatte ihr eine fast
abergläubische Furcht vor ihnen eingeflößt.
Mit Pentia war es anfangs noch weiter bergab gegangen. Jämmerlich abgemagert (obwohl an Nahrung inzwischen
kein Mangel mehr bestand), schien ihr
Tod nahe zu sein. Ganz plötzlich aber
(und ohne einen erkennbaren Anlass)
kehrte der Lebenswille zurück. Von da
an begann sie (erstaunlich gereift) ihre
Schwester zu unterstützen. Schon nach
wenigen Tagen hatte sie beim Betteln
beträchtliches Geschick entwickelt. Es
nutzte ihr, dass sie weniger stolz war als
Franziska. So konnte sie das zierliche
Benehmen eines gut erzogenen Mädchens verbinden mit der hündischen
Unterwürfigkeit eines Waisenkindes.
Diese Mischung setzte die vornehmen
Herren unter solchen Gewissensdruck,
dass es schon an Erpressung grenzte.
Während vor St. Gereon und vor den
Hospitälern fast ausnahmslos Lebensmittel und alte Kleidungsstücke verteilt
wurden, bekamen die Bettler in der
Umgebung des Erzbischofspalastes
auch kleine Münzen. Geld ließ sich in
einem Versteck für schlechtere Zeiten
aufbewahren und man konnte sich dafür
kaufen, was man mochte. Freilich gab
es auf dem Platz kaum jemanden, der
sich Leckereien leistete. Die Verkaufsbude der Bettler war die Kotzenbank am
Eingang zum Altmarkt. Dort gab es zu
guten Preisen Hirn, Euter, Kehle und
Innereien. An den Gestank gewöhnte
man sich im Laufe der Zeit. Das Fleisch
wurde in den späten Abendstunden mitten auf dem Platz über kleinen Feuern
gekocht oder gebraten.
Die beiden Mädchen waren mit ihrem
Leben nicht gerade glücklich, angesichts der Umstände aber auch nicht
unzufrieden. Durch eiserne Sparsamkeit
legten sie nach und nach einen Schatz
von immerhin dreiundzwanzig Denaren
an. Allerdings litten sie zunehmend unter dem Wetter. Es war Mitte Oktober
50
geworden, und der Herbst zeigte sich
von seiner unangenehmen Seite. Es regnete fast täglich und um die wenigen
trockenen Nachtquartiere entbrannten
Abend für Abend erbitterte Kämpfe.
Dabei hatten Franziska und Pentia einen
ernsthaften Nachteil - ihnen fehlten
Freunde und Beschützer. In der Domgegend waren sie leider unbeliebt, weil
viele Vagabunden ihnen die Erfolge
neideten. Gegen Banden von bis zu
zehn Männern waren sie machtlos.
III
E
s kam öfter vor, dass plötzlich
große Aufregung auf dem Platz
vor dem Palast ausbrach. Das
konnte zum Beispiel daran liegen, dass
der Erzbischof mit seinem Wagen ausfuhr und ein Dutzend Waffenknechte
ihm den Weg bahnten - was sie gewöhnlich so rücksichtslos taten, dass
sich in weitem Umkreis wellenförmig
Geschrei und Gedränge ausbreiteten.
Manchmal wurden in Prügeleien, deren
Anlass durchaus nichtig sein konnte,
zwanzig oder dreißig Menschen hineingezogen. Auch wenn es etwas Besonderes zu sehen gab, entstand leicht ein
wildes Durcheinander.
Franziska und Pentia kümmerten sich
um dergleichen nicht. In der Regel mieden sie jede Art von Gedränge. Auch an
jenem Tag, als plötzlich auf der Seite
der Waffenschmiede ohrenbetäubender
Lärm aufbrandete, blickten sie kaum
hoch.
"Da sind sich wieder mal ein paar
Saufnasen gegenseitig im Weg", sagte
Franziska und schüttelte verständnislos
den Kopf.
Doch die Unruhe ebbte nicht wieder
ab wie sonst, sondern schwoll immer
mehr an. Jetzt sahen die Mädchen genauer hin. Vom Rhein her drängte irgendetwas auf den Platz und zwar mit
unglaublicher Gewalt. Menschen hetzten voller Angst in die Nebenstraßen
hinein. Blitzschnell übertrug sich die
Panik von einem zum anderen. Wer
nicht schnell genug aufsprang, wurde
umgerissen und niedergetrampelt. Fran-
ziska dachte an die Sturmfluten in ihrer
Heimat. Niemals sonst hatte sie ähnliches Entsetzen gesehen.
Dann wurde die Ursache klar. Etwa
fünfzig junge Männer in jenen kurzen,
grauen Kutten, die ihr nur allzu gut bekannt waren, rollten, zu einem Block
vereint, über den Platz. Zu einer
einzigen Macht geballt, glichen sie
tatsächlich einer Sturmflut, die alles mit
sich hinweg reißt. Ihr Angriffsziel war
jener Streifen direkt vor dem Palast, der
von jeher den Vagabunden als Ausgangsbasis und Beobachtungsstandort
beim Betteln diente.
Franziska und Pentia saßen eigentlich
weit genug von diesem Streifen entfernt
nahe dem Haus des Brabanter Herzogs.
Unglücklicherweise aber ergoss sich der
Strom der Flüchtenden genau in ihre
Richtung, was wiederum bewirkte, dass
sich auch die Verfolger dorthin wandten. Unmittelbar danach gerieten sie in
ein Inferno. Sie schlossen sich den
Flüchtenden an, waren aber nicht
schnell genug, wurden eingefangen und
sofort brutal geschlagen. Franziska versuchte, wenigstens ihre Schwester entkommen zu lassen, musste aber einsehen, dass es dafür längst zu spät war.
Durch immer neue Schläge und Tritte
ins Gesicht und in den Magen schon
halb besinnungslos, nahm sie die Beschimpfungen, die wohl so etwas wie
eine Begründung für die Misshandlungen sein sollten, nur noch wie durch
eine Nebelwand wahr.
51
"Gib zu, dass du eine Judensau bist,
du schwarzhaariges Miststück! Krepier,
du dreckige Schlampe!"
Um sich herum sah sie Köpfe, aber
keine Gesichter. Diese hassverzerrten
Masken konnten keine Gesichter sein.
Das waren Grimassen von Dämonen
ohne menschliche Züge. Jenseits dieser
Eindrücke gab es nur noch einen einzigen, unbestimmten, jeden Gedanken
erstickenden Schmerz. Sie hatte das Gefühl, in einen Bottich mit kochendem
Blut einzutauchen.
Als sie wieder aufwachte, erschien ihr
alles fremd. Statt auf Steinen oder hart
gestampftem Lehm lag sie auf weicher,
feuchter Erde. In der Luft hing ein ekelhafter Geruch nach Fäulnis und Moder.
Das konnte unmöglich der Platz vor
dem Palast des Erzbischofs sein. Wo
war das tagsüber niemals abreißende
Stimmengewirr, wo das Geschrei der
Kutscher? Ganz in der Nähe plätscherte
Wasser. Enten schnatterten. Irgendwo
zankten sich Kinder. Fremd war Franziska sogar ihr eigener Körper. Sie tastete nach ihrem Gesicht. Gehörte dieses
geschwollene, verschmierte Gebilde zu
ihr?
"Kannst du mich hören?"
Wo kam diese Stimme her? Was war
das für eine Stimme? Auch sie gehörte
zu dieser sonderbaren fremden Welt.
"Du brauchst keine Angst mehr zu
haben. Sie sind fort."
Wer ist fort? Franziska weigerte sich,
die Augen aufzuschlagen und diese
fremde Welt anzunehmen. Sollte diese
Stimme doch reden, solange sie mochte!
"Deine Schwester hat es zum Glück
nicht so schlimm erwischt."
Schwester? Pentia! Was ist mit Pentia? Franziska durfte sich dieser Welt
nicht verweigern, wenn Pentia darin
war. So schlug sie die Augen schließlich doch auf - und blickte in das hübsche, auffallend zarte Gesicht eines
höchstens sechzehnjährigen Jungen. Da
er sich über sie beugte, kitzelten einige
Spitzen seiner langen, hellblonden, seidig-weichen Haare ihre Nasenspitze, bis
sie niesen musste. Dabei wurde ihm
bewusst, dass sie sich von ihm vielleicht
belästigt fühlte, und rückte ein wenig
von ihr fort. Jetzt sah sie ihn ganz. Er
war schlank, aber nicht schwächlich,
mittelgroß - eher unauffällig also, was
seine Figur betraf. Aber es ging etwas
Rätselhaftes von ihm aus, etwas das
Franziska sofort in den Bann zog.
"Wir gehören hier beide nicht hin!"
sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
Wie kam sie darauf? Woher wollte
sie wissen, ob es etwas gab, was sie mit
diesem blonden Jungen verband? Konnte sie überhaupt schon wieder klar denken oder träumte sie noch?
"Vor dem Palast konnte ich leider
nicht viel ausrichten", sagte er. "Gegen
die ganze Bande, das ist Selbstmord.
Als sie aber nur noch zu dritt waren,
habe ich laut gepfiffen und ein paar
Namen gerufen." Er lachte über seinen
listigen Einfall. "Die dachte, es kommen
gleich ein Dutzend Leute, und feige,
wie sie nun mal sind ..."
"Das hast du für mich getan?" Ihre
Bewunderung war aufrichtig. "Du bist
sehr mutig."
"Ich fürchte, da täuschst du dich. In
diesem Moment aber ... Konnte ich
denn zusehen, wie sie dich totschlagen?"
"Du kennst mich nicht einmal ..."
"Das muss nicht so bleiben."
Plötzlich trat jemand von hinten an
ihn heran und flüsterte ihm etwas zu. Er
schüttelte energisch den Kopf und deutete auf Franziska. Der andere aber ließ
nicht locker, redete immer wieder auf
ihn ein, zog ihn am Ärmel. Schließlich
gab er nach, beugte sich aber noch einmal zu ihr herab:
52
"Ich muss fort. Sei mir bitte nicht böse! Wir werden uns bestimmt einmal
wieder sehen."
Dann verschwand er, verschwand so
plötzlich wie er kurz zuvor aufgetaucht
war. Franziska wollte ihn noch so vieles
fragen, doch sie konnte ihm nicht folgen
und erfuhr nicht einmal seinen Namen.
53
6.Kapitel
I
K
öln war eine reiche Stadt, und
Arme gehören nicht zu einer
reichen Stadt. Die besser gestellten Bürger schämten sich ihrer,
wollten sie nicht sehen, hätten sie am
liebsten bis vor die Mauern getrieben.
Doch das Vertreiben ging nicht so
leicht. Die Bürger waren stolz auf ihre
modernen, freiheitlichen Gesetze. Zudem brauchten sie die Armen für einige
besonders schwere und schmutzige Arbeiten. So entstanden besondere Viertel,
in denen das Elend zu Hause war und
die jeder anständige Kölner mied.
Eine dieser Gegenden war der Entenpfuhl, eine Straße, die einem Stück alter
Stadtbefestigung folgte. Die Mauer
stand hier noch, wurde sogar regelmäßig ausgebessert - allerdings nicht mehr
zum Schutz der Bürger vor feindlichen
Heeren sondern zur Abschirmung gegen
Bettler und Vagabunden. Der Graben
hatte die Verbindung zum Rhein verloren und war zu einem flachen, lang gestreckten Teich voll stinkender, undurchsichtiger Brühe herabgesunken.
Trotzdem diente er noch Dutzenden
Enten als Lebensraum. Eine Zeile Weiden und Pappeln grenzte Teich und
Weg voneinander ab. Doch der Pfuhl
begann, die Barriere zu überwinden.
Unaufhaltsam verwandelte sich der
Teich in einen von der Mauer bis zu den
Häusern reichenden Sumpf.
Die Grundstücke entlang der Straße
hatten jeden Wert verloren. Wer sie
besaß, musste sie behalten, da niemand
sie kaufen wollte. Die darin wohnten,
zahlten keinen Zins, weil sie zu arm
dafür waren, durften aber auch nicht
hinausgeworfen werden, damit sie nicht
wieder durch die Stadt vagabundierten.
Nur noch aus Trotz reichten die Eigen-
tümer Jahr für Jahr Schadenersatzforderungen beim Rat ein (erfolglos natürlich). Weil sie sich (verständlicher Weise) um die Häuser nicht mehr
kümmerten, verfielen sie rasend schnell.
Durch kopfgroße Löcher in den Dächern und Wänden drangen Wind und
Regen ein - was aber keineswegs verhinderte, dass ganze Familien darin unterkrochen und noch beneidet wurden,
weil sie nicht unter freiem Himmel
schlafen mussten.
Zwischen den Häusern, in den ehemaligen Höfen und überhaupt überall,
wo sich Platz dafür fand, hatten sich die
Obdachlosen aus alten Brettern und
Balken, zerbrochenen Ziegeln, Zweigen, Lehm und Stoffbahnen winzige
Hütten gebaut - nützlich wenigstens
gegen Regen und Schnee, wenn auch
nicht gegen Kälte und Schmutz. Eine
solche Hütte war keine Selbstverständlichkeit. Franziska und Pentia
hatten Glück, dass sie schon zwei Tage
nach ihrer Ankunft beobachteten, wie
man aus einer davon einen Toten heraus
trug. Sie überwanden das Grauen, das
sie zunächst beschlich, und nutzten die
Gelegenheit. Dass sie sogar doppelt
Glück hatten, erfuhren sie erst später.
Die neue Bleibe wurde ihnen nur deshalb von niemandem streitig gemacht,
weil die Leute jenen blonden, offenbar
aus guter Familie stammenden Jungen
für einen ihrer Bekannten hielten und
sie mehr als gewöhnliche Neulinge respektierten.
Trotz des glücklich gewonnenen
Nachtquartiers war Franziska allerdings
keineswegs bereit, sich mit der neuen
Lage abzufinden. Einen Augenblick
lang zog sie in Erwägung, zu den Jevers
zurückzukehren. Gundula würde sie und
ihre Schwester mit offenen Armen empfangen und ohne jeden Vorwurf wieder
aufnehmen. Doch gleich fiel ihr ein,
dass jene Graukittel, die auf dem Platz
vor dem Palast des Erzbischofs Angst
und Schrecken verbreitet hatten, dort im
Haus (zumindest im Keller) ein und aus
gingen und dass Hans, Gundulas Sohn,
einer von ihnen war. Und auch an Eike
musste sie denken, der sich an ihr rächen wollte und der ebenfalls mit den
Graukitteln in Verbindung stand.
Denkbar erschien auch eine Rückkehr
zum Haus der Herzöge von Brabant.
Allerdings wusste am Entenpfuhl niemand zu sagen, was sich dort gerade
abspielte. Von den zusammengeschlagenen und eingeschüchterten Vagabunden hatte sich noch niemand wieder in die Nähe des Doms gewagt.
Franziska gehörte (auch aus Unerfahrenheit) zu den Mutigsten. Nachdem
ihre Verletzungen verheilt waren, entschloss sie sich zu einer Erkundung.
Im Osten mündete der Entenpfuhl in
eine Hauptstraße, die auch am Domareal vorbeiführte. Nahe der Stadtmauer
trug sie den Namen Eigelstein. Vorsichtshalber wählte sich Franziska für
ihren Vorstoß die Abenddämmerung ohne zu ahnen, wie unheimlich die Gegend war, wenn Kaufleute sie nicht
mehr bevölkerten. Dunkle Gestalten
huschten aus Eingängen hervor und
verschwanden lautlos irgendwo. Berittene Nachtwächter kamen gemächlich
von der Torburg her vorüber, ohne sich
darum zu kümmern. Nachdem Franziska (all ihren Mut zusammennehmend)
noch ein Stück in Richtung Stadtmitte
gepirscht war, kamen ihr in großer Hast
fünf Vagabunden entgegen. Diesmal
zögerte sie nicht so lange wie eine Woche zuvor. Sofort drehte sie sich um und
flüchtete, noch vor den anderen, zurück
zum Entenpfuhl. Später erfuhr sie, dass
sie gut daran getan hatte. Die Graukittel
wollten das Domviertel und seine Um-
gebung für immer und ewig von Gesindel aller Art säubern. Sie überwachten
die Straßen und wurden, von vielen
Bürgern dazu ermutigt, immer brutaler.
Einen Freund der fünf hatten sie mit
einer Eisenstange erschlagen.
Nun verstand Franziska die Angst der
Anwohner des Entenpfuhls vor dem
Eigelstein. Es gab offenbar kein Entrinnen aus diesem verfluchten Viertel. Hier
gediehen nicht einmal jene wundersamen Geschichten vom unerwarteten
Reichtum, die sich Bettler gewöhnlich
so gern erzählten. Die meisten, die hier
gestrandet waren, hatten die Hoffnung
auf ein besseres Leben in dieser Welt
aufgegeben. Mit Franziska war es immerhin so weit noch nicht gekommen.
Sie grübelte noch, warum das Schicksal
sie an diesen Ort geführt hatte, ob ein
besonderer Sinn dahinter steckte.
"Jesus Christus, lieber Herr, gib mir
ein Zeichen, was ich tun soll, damit du
mir wieder gnädig bist!" betete sie.
"Hast du mich meines Stolzes wegen
bestraft? Weil ich von den Bürgerrechten geträumt habe? Warum aber
muss Pentia ebenso leiden? Was kann
sie für meine Sünden?"
Ihre größten Hoffnungen in diesen
Tagen, bezogen sich auf den fremden,
blonden Jungen. Einige Male glaubte
sie, ihn die Straße entlang kommen zu
sehen. Doch davon wurde sie nicht satt.
Betteln brachte hier nichts ein, denn
niemand besaß genug, um anderen etwas abgeben zu können. Wären die beiden Mädchen ein paar Wochen früher
angekommen, hätten sie sich noch an
der Plünderung der Gärten beteiligen
können. Die ungepflegt wuchernden
Bäume und Sträucher trugen zwar nur
noch kleine, saure Früchte (und wurden
viel zu früh abgeerntet), halfen aber
dennoch gegen den schlimmsten Hunger. Den Spätherbst und den Winter
musste jeder mit seinen Vorräten über-
55
stehen und wehe dem, der keine angelegt hatte.
Nur einen Steinwurf entfernt hinter
der Mauer lag das reiche Damenstift
St. Ursula. Über die Dächer schmucker
Häuser ragte der Kirchturm, den man
gerade um ein Stockwerk erhöhte. Dort
drüben irgendwo wurde sicherlich von
langen Tafeln köstlicher Braten gegessen. Manchmal hätte Franziska schwören mögen, den Geruch davon selbst
durch den Gestank des Morasts hindurch wahrzunehmen. Du darfst an so
etwas nicht denken! sagte sie sich dann,
doch kam sie in Wahrheit nicht los davon.
Eine einzige Pforte verband das Stift
mit dem Entenpfuhl. Sie war immer
geschlossen und zerteilte dadurch einen
ursprünglich belebten, aus der Stadt
hinausführenden Fahrweg. Das andere
Ende bildete nunmehr die einzige echte
Straße, die vom Entenpfuhl abging. Als
sei sie eben dafür angelegt, führte sie
genau auf das Anwesen der Familie
Clingelmann zu - ein großes Anwesen,
das einen Haupthof, zwei Nebenhöfe,
einen Gemüsegarten, einen Obstgarten
sowie mehrere Felder umfasste und bis
an die neue Stadtmauer reichte. Das
Herrenhaus spreizte sich an der Nordostecke und erinnerte mit seinem zinnenbewehrten Turm an eine Burg. Der
dahinter liegende Haupthof barg jenen
Schatz, welcher der Familie zu ihrem
Reichtum verholfen hatte - den einzigen
Brunnen mit sauberem Wasser weit und
breit. Den Clingelmannspütz kannte
man sogar in anderen Stadtvierteln.
Die Clingelmanns waren angesehene
Leute, doch ihre Hartherzigkeit war
sprichwörtlich. Bei ihnen um ein Almosen zu betteln, galt als völlig hoffnungsloses Unterfangen. Allerdings brauchten
sie Arbeitskräfte. Als zweite Einnahmequelle (neben dem Verkauf des Brunnenwassers) stellten sie neuerdings Tuche her. In lang gestreckten, flachen
Holzhäusern beschäftigten sie über
hundert Frauen als Wollkämmerinnen,
Spinnerinnen und Nopperinnen sowie
ein Dutzend Männer als Tuchbereiter
und Tuchglätter.
Als Franziska davon hörte, sprach sie
gemeinsam mit Pentia dort vor. Zwei
mürrische Dienstleute empfingen sie.
Nie gab sich ein Mitglied der Familie
persönlich mit den angeheuerten Leuten
ab. Durch Mauern und Hecken war das
Anwesen ebenso wie die Stadt in vornehme und niedere Bezirke unterteilt.
Die Mädchen schämten sich bei der
Begutachtung, die sie über sich ergehen
lassen mussten. Mit solchen Blicken
schätzte man sonst nur Pferde oder Kühe ab. Schließlich wurde Franziska als
Wäscherin eingestellt. Der schüchternen
Pentia traute man nichts zu und schickte
sie wieder fort.
Noch nirgends war Franziska bisher
so gedemütigt worden wie bei den Clingelmanns. Dass sie mit Gerten geprügelt
wurde wie ein störrischer Esel, empfand
sie nicht einmal als das Schlimmste.
Weit weniger ertrug sie die Beschimpfungen. Sie wohnte am Entenpfuhl, weil
Graukittel sie dorthin verschleppt hatten. Das gab niemandem das Recht, mit
ihr wie mit einer Dirne zu reden. Sie
kochte innerlich vor Wut und durfte
doch nichts erwidern, weil vor dem Tor
zwei Dutzend Frauen darauf warteten,
sie zu ersetzen.
Erst abends, wenn sie zu Pentia zurückkehrte, brach es aus ihr heraus.
Obwohl sie vom hundertfachen Auswringen der Wäsche ihre Arme kaum
noch spürte, nahm sie einen Knüppel,
drosch damit am Ufer auf die erstbeste
Pappel ein und brüllte Verwünschungen
in die anbrechende Nacht hinaus, bis die
Leute erschrocken angelaufen kamen
und meinten, es sei jemand toll geworden. Völlig erschöpft setzte sie sich
schließlich zu ihrer Schwester, noch
immer nicht beruhigt.
56
"Nein, das ist zuviel! Bei Benno oder
bei den Jevers zu arbeiten, dafür
brauchten wir uns nicht zu schade zu
sein. Das Betteln danach war schon
nicht mehr ehrenvoll. Aber dies übertrifft alles. Muss ich mir das gefallen
lassen? Ich weiß, aus welcher Familie
ich stamme."
Sie hatte schon wieder zu schreien
begonnen und die Fäuste geballt. Jetzt
aber rückte Pentia dicht an sie heran,
schmiegte sich an sie wie ein Kätzchen
und streichelte ihr übers Haar.
"Es wäre besser gewesen, wenn sie
mich dort genommen hätten. Ich ärgere
mich nicht so sehr, wenn mich jemand
beschimpft. Außerdem müsste ich mich
nicht schämen, weil du für uns beide
arbeitest, und ich hier faul herumsitze."
Tatsächlich wurde Franziska sofort
sanfter gestimmt.
"Du brauchst dich nicht zu schämen.
Du bist tapfer, beklagst dich nicht, hältst
unsere Höhle in Ordnung ... Und überhaupt - ich weiß nicht, was ich ohne
dich tun würde."
Als die Wut verflogen war, kam die
Müdigkeit. Die harte Arbeit forderte
ihren Tribut. Franziska schlang die von
ihrer Schwester gekochte Kohlsuppe
und ein paar Bissen Brot herunter und
schlief unmittelbar danach ein. Pentia
blieb länger wach. Sie ließ sich Zeit für
ihr Abendbrot und starrte dabei durch
eine der Ritzen schräg zum Himmel
hinauf. Dann träumte sie sich hinweg
aus diesem Viertel zurück in ihre frühe
Kindheit und lächelte versonnen die
Sterne an.
Sonntags gingen die Mädchen zum
Gottesdienst in eine Kapelle nahe ihrer
Behausung. Das war ein baufälliges
Holzhaus mit einem Priester, der offenkundig wenig Lust verspürte, vor einer
Gemeinde aus Vagabunden zu predigen.
Vielleicht verbüßte er eine Strafe. Aber
Gott, der Barmherzige, kam zweifellos
auch in eine dürftige Kirche wie diese.
Wenn Franziska es sich recht überlegte,
dann spürte sie Seinen Beistand noch
immer. Er schickte ihnen harte Prüfungen (warum auch immer) doch Er wies
ihnen zugleich immer noch einen Ausweg. Bisher brauchten sie nicht einmal
ernsthaft Hunger zu leiden. Die Sonntage gaben Zuversicht. Jede Prüfung
müsste doch einmal vorübergehen, jede
Sünde irgendwann gesühnt sein!
II
D
er Dezember kam und mit ihm
der erste Schnee. Pentia besserte
die Hütte aus und besorgte Fetzen aus Fell und Tuch, aus denen sie
sehr geschickt Decken gegen die Kälte
anfertigte. Doch all diese Vorkehrungen
verhinderten am Ende nicht, dass Franziska erkrankte. Sie fühlte sich eines
Morgens schlaff, hatte Kopfschmerzen
und eine heiße Stirn. Einige Tage
schleppte sie sich noch mit eisernem
Willen zu den Clingelmanns, fest entschlossen, die Krankheit in sich niederzuringen. Aber sie wurde immer schwächer und musste schließlich aufgeben.
Eigenartigerweise litt sie an jenem Morgen, als sie nicht mehr aufstehen konnte, am meisten unter der Sorge um Pentia. In ihrer Angst, sie mit in ihr Unglück hineinzureißen, fasste sie einen
Entschluss.
"Du darfst jetzt nicht bei mir bleiben", sagte sie so fest, wie es ihr noch
möglich war. "Kümmere dich um dich
selbst!"
Pentia jedoch drückte sie mit sanfter
Gewalt auf ihr Lager zurück und erwiderte:
"Was redest du da nur für einen Unsinn! Wenn du nicht mehr für uns beide
57
sorgen kannst, dann muss ich es eben
tun. Ich lass mir etwas einfallen. Du
wirst schon sehen!"
Wäre Franziska nicht vom Fieber
umnebelt gewesen, hätte sie sich über
diese Rede ihrer kleinen Schwester sehr
gewundert. Erst recht hätte sie nicht
verstanden, dass sie am Abend tatsächlich etwas Brot brachte. Auch am
nächsten Tag besorgte sie welches, dazu
ein wenig Hafer und Buchweizen für
einen Brei. Wie jemand, der einer geregelten Arbeit nachgeht, verschwand sie
frühmorgens und kehrte am Nachmittag
mit dem Lohn zurück. Dann half sie
Franziska, sich zu waschen (soweit man
das hier konnte), kühlte ihr die Stirn,
fegte den eingedrungenen Schnee aus
der Behausung.
Leider erholte die Kranke sich trotz
dieser Fürsorge nicht. Ihr Körper war
glühendheiß, und immer öfter phantasierte sie im Fieber. Manchmal hatte sie
das Gefühl, ein eiserner Reifen ziehe
sich um ihre Brust langsam zusammen.
Dann erschienen ihr die Stunden, die
ihre Schwester fort war, wie eine Ewigkeit. Der Tod schlich um die Behausung. Jederzeit konnte er hereinkommen.
Am Abend versuchte Pentia, sie mit
Geschichten aufzumuntern. Beim Erzählen bekam ihre Stimme einen eigenartigen Klang - fast so, als würde sie ein
Lied singen.
"Im fernen Britannien lebte einst eine
Königstochter. Die wollte nicht heiraten, um ihr Leben lang als Jungfrau allein Gott zu gehören. Eines Tages aber
kam ein schöner Jüngling, der sich nicht
abweisen ließ. Sie wusste nicht, was sie
tun sollte - bis ihr ein Engel erschien
und ihr riet, sich drei Jahre Zeit bis zur
Hochzeit auszubitten und nach Rom zu
pilgern. Der Bräutigam sollte sich unterdessen im Christentum unterweisen
lassen, denn er war noch ein Heide."
"Hast du dir das ausgedacht?" fragte
Franziska verwundert.
"Nein, das ist die wahre Geschichte
der heiligen Ursula, deren Kirche wir
dort drüben sehen."
"Aber woher kennst du diese Geschichte?"
"Ich kenne sie eben! Hör zu, was weiter passierte! Die Königstochter suchte
sich zehn Jungfrauen als Begleiterinnen
aus und dazu viele Dienerinnen und
Ritter. Ihr Vater rüstete für sie eine große Flotte, und dann fuhr die Schar den
Rhein hinauf bis hierher nach Köln."
Franziska war eingeschlummert. Sie
konnte nur kurze Zeit zuhören. Pentia
deckte sie zu und freute sich, ihr für ein
paar Stunden Erleichterung verschafft
zu haben. Am nächsten Tag setzte sie
fort, wo sie aufgehört hatte:
"In Köln kam wieder der Engel zu ihr
und sagte, dass sie in dieser Stadt zur
Märtyrerin werden würde. Sie erschrak
heftig, vergaß die Worte aber bald auf
dem weiteren Weg. In Rom wurden die
Pilger von Papst Cyriakus empfangen
und in der ganzen Stadt jubelten ihnen
die Leute zu."
"Wer erzählt dir nur das alles?" fragte
Franziska. Sie hätte gar zu gern erfahren, was die kleine Schwester trieb,
wenn sie fort war. Pentia wich aber
auch diesmal aus.
"Du würdest dich unnötig sorgen. Ich
sag's dir später. Leg dich wieder hin! ...
Zwei römische Jünglinge verliebten sich
in die schöne Ursula und warben um
sie. Sie hatte sich ja aber schon jemandem versprochen und wies sie ab. Die
beiden waren darüber so zornig, dass sie
die wilden Hunnen gegen die Pilger
aufhetzten ..."
Am nächsten Tag hörte Franziska im
Fieberdämmer wie Pentia draußen vor
der Hütte mit jemandem verhandelte
und ihn leidenschaftlich an etwas zu
hindern versuchte. Wenig später tauchte
ein kahlköpfiger Mann mit einem en-
58
gen, schlauchähnlichen, braunen Gewand am Eingang auf. Franziska erschrak und war sofort hellwach. Das
konnte kein anderer sein als der Leproseprüfmeister. Sie erinnerte sich, was
sie von Benno und Anne vom Melatenhospital am Hahnentor wusste. Lieber
wollte sie sterben, als für immer dort
hinter diesen Mauern zu verschwinden.
Beklommen kroch sie nach draußen.
Ein höchstens vierzehnjähriger Junge
mit großen Augen, aus denen er die
Kranke ängstlich anstarrte, trug eine
Schale mit sauberem Wasser. Der Meister ließ sie ihn auf die Erde nieder stellen und ging mit ausdruckslosem Gesicht an die Arbeit.
"Ihr dürft mir meine Schwester nicht
wegnehmen!" flehte Pentia. "Ich betreue
sie doch schon seit fast zwei Wochen
und habe mich noch nicht angesteckt."
Der Meister beachtete sie gar nicht.
Er erledigte seine Pflicht, und das tat er
so korrekt und ernst, dass es fast unmenschlich war. Nach einer langen Begutachtung, während der er kein einziges Wort redete, gab er dem Jungen das
Zeichen, ihm die Schüssel zu reichen.
Er wusch sich die Hände, schüttelte sie
trocken.
"Werdet Ihr sie mitnehmen?"
Pentia zitterte. Über ihr Gesicht liefen
Tränen. Den Prüfmeister kümmerte es
nicht. Er hatte schon zu viele Tränen gesehen in seinem Amt, war abgestumpft
dagegen. Fast teilnahmslos sagte er nur:
"Sie kann hier bleiben. Es ist kein
Aussatz."
Vor Freude umarmte Pentia ihre
Schwester derart ungestüm, dass sie mit
ihr unfreiwillig durch den Schnee kugelte.
"Nun kann ich dir wenigstens die Geschichte zu Ende erzählen." Sie lächelte
verschmitzt, während sie sich die Tränen abwischte. "Als die Pilger auf dem
Rückweg wieder am Rhein waren und
mit ihren Schiffen auf Köln zufuhren,
warnten viele sie vor den heimtückischen Barbaren. Ursula aber fiel ein,
was ihr der Engel gesagt hatte. Wenn
Gott sie in seinem unerforschlichen
Willen als Märtyrerin sehen wollte, so
durfte sie sich nicht widersetzen."
Pentia vermochte sogar den Tod in
einer Art zu beschreiben, dass er seinen
Schrecken verlor. Auch Franziska unterlag diesem Eindruck, und ihr Gesicht
verklärte sich unwillkürlich ebenso wie
das der Erzählerin.
"Ursulas Bräutigam hatte inzwischen
das Königreich seines Vaters geerbt und
kam ihr mit einer eigenen Flotte entgegen. Beide feierten Hochzeit und zogen
dann gemeinsam in Köln ein. Da plötzlich brachen die Hunnen mit dem
grimmigen Etzel an der Spitze aus ihren
Verstecken hervor und durchbohrten die
Pilger mit ihren Pfeilen. Keiner überlebte. Die Seelen der Ermordeten jedoch
wurden von einer Schar Engel in den
Himmel hinauf getragen."
Leider musste Pentia bald einsehen,
dass sie ihrer Schwester zwar Mut zusprechen konnte, gegen die Krankheit
selbst hingegen machtlos war. Drei Tage vor Weihnachten ging es Franziska
so schlecht wie nie zuvor. Sie erwachte
nur noch selten aus ihren Fieberträumen. Bleich und ausgezehrt glich sie
schon mehr einer Toten als einer Lebenden. Pentia ging nun nicht mehr fort.
Wozu auch? Wenn ihre Schwester
nichts zum Essen mehr annahm, dann
wollte auch sie nichts mehr haben. Sie
warf sich über sie, krallte sich in ihren
Kleidern fest, rüttelte sie.
"Du musst wieder aufwachen",
schluchzte sie. "Bitte wach wieder auf!
Du weißt doch noch nicht, wie Ursula
und die Jungfrauen ihres Gefolges von
den Kölnern hierher gebracht und begraben worden sind, und wie man eine
Kirche für sie gebaut hat, eine ganz
kleine zuerst, und später eine zweite,
größere ..."
59
Sie erzählte alles, was ihr gerade einfiel über Ursula, ihre verschiedenen
Kirchen und ihr Stift. Ganz laut erzählte
sie es sich selbst, schrie es geradezu, um
ihre Angst zu betäuben.
III
D
rei Tage und drei Nächte lag
Franziska in tiefer Bewusstlosigkeit. Jede Stunde konnte ihre
letzte sein. Pentia kniete neben ihr und
betete fast ohne Unterbrechung für sie.
Dann schlug die Kranke plötzlich die
Augen auf und fragte unvermittelt:
"Ist heute der Heilige Abend?"
"Ja! Woher weiß du das? Du warst
doch ..."
"Ich fühle es."
Sie starrte mit glasigem Blick geradeaus, doch ihre Gedanken waren erstaunlich klar.
"Ich möchte heute Abend im Dom
sein. Vielleicht ist das heute mein letztes Weihnachtsfest. Ich will es nicht in
dieser elenden Hütte verbringen."
"Aber du kannst doch gar nicht laufen!"
"Doch, ich kann."
Sie führte es vor. Zwar stand sie sehr
unsicher auf den Beinen und musste
sich auf einen Stock stützen, doch sie
kam ein paar Schritt voran. Pentia traute
ihren Augen nicht und war zugleich
unschlüssig, ob sie sich freuen durfte
oder nicht. Hatte Gott ein Wunder vollbracht, oder war alles nur eine letzte törichte Laune vor dem Zusammenbrechen? Trotzdem bereitete sie alles vor,
um ihrer Schwester den Wunsch zu erfüllen.
Franziska hatte den sonderbaren Eindruck, nur noch Beobachter zu sein. Sie
lief, auf Pentia gestützt, mitten auf dem
Eigelstein in Richtung Dom und fürchtete sich nicht. Ganz ruhig dachte sie an
die Graukittel, bedauerte sogar, keinen
von ihnen zu sehen. Da sie alles, was sie
kannte, noch einmal erleben wollte,
gehörten sie nun einmal dazu.
Bald kamen die beiden zu jener Pforte, hinter der das Domareal begann. Die
reichen Anwohner hatten ihre Häuser
prächtig geschmückt. In den Fenstern
standen zahllose Kerzen und Öllämpchen. An anderen Wintertagen strebte
um diese Zeit jeder nur noch seinem
Haus zu. An diesem Abend aber drängten sich auf der Straße Hunderte fröhlicher Menschen - Männer, Frauen und
sogar kleine Kinder. Alle hatten dasselbe Ziel - den Dom.
Franziska und Pentia ließen sich einfach treiben. Es war abzusehen, dass
viele die Christvesper draußen auf dem
Hof würden erleben müssen. Die beiden
Mädchen aber hatten Glück. Sie wurden
zunächst in die Nikolausvorhalle und
dann weiter bis in den Hauptraum gespült. Als sie sich dem Druck der Nachdrängenden wieder entwunden hatten
und sich umsehen konnten, fühlten sie
sich zurückversetzt in jenes Alter, als
für sie noch alle Dinge groß und beeindruckend waren. Wie Zwerge wirkten
die Menschen in der riesigen Kirche.
Da die Vesper am Marienaltar im
Ostchor gelesen wurde, fürchtete Franziska, von ihrem Platz unter dem Lettner aus zu wenig zu sehen. Deshalb
stürzte sie sich noch einmal ins Gedränge. Pentia konnte ihr kaum folgen
und begriff nicht, wieso die kranke
Schwester plötzlich so viel Kraft hatte.
In der Mitte des Doms stand der
Schrein der Heiligen Drei Könige. Ihre
Reliquien allein hätten gereicht, Christen aus aller Welt nach Köln zu ziehen.
Darüber hing ein gewaltiger Kron-
60
leuchter mit hundert Kerzen. Doch es
wäre auch ohne ihn taghell gewesen.
Zwei Dutzend Öllampen hingen von der
Decke der Seitenschiffe herab. Ebenso
viele standen zwischen den Säulen auf
der Erde. Vor den Altären und Epitaphen brannten Kerzen. Das meiste Licht
freilich kam von vorn, wo die goldenen
Reliquienkästchen und der siebenarmige Kandelaber auf dem Marienaltar
glänzten und blitzten. Der Strahlenkranzheiland darüber wurde von fünf
ungewöhnlich großen, in Kreuzform
aufgehängten Lampen angeleuchtet.
Der Gottesdienst begann, aber Franziska drängte sich immer noch weiter
nach vorn, ohne das gelegentliche Murren der Leute zu bemerken, wie im
Traum, magisch angezogen vom Licht.
Als der Priester einen neuen Teil des
Rituals einleitete, geriet sie plötzlich in
eine Bewegung hinein, die sie bis unmittelbar vor den Chor führte. Später
bemerkte sie, dass die Leute an einer
Wiege vorüber zogen. Wer das Glück
hatte, in ihre Nähe zu kommen, brachte
sie kurz zum Schaukeln und ging weiter. Dann nahm der Priester das "Jesuskind" heraus und trug es zum Altar.
Franziska wusste nicht, ob sie noch
auf der Erde weilte oder schon im
Himmel war, so fern allem Kummer
und Schmerz fühlte sie sich. Unterdessen drängten Kirchendiener, große kräftige Männer in roten Mänteln, die Menschen ein paar Schritt zurück, um Platz
zu gewinnen für eine Gruppe von Tänzern. Die Tänzer, Jungen von dreizehn
oder vierzehn Jahren, knieten kurz vor
dem Altar nieder, bekreuzigten sich und
begannen mit ihrer Vorführung. Nachdem sie verschiedene Figuren gemeinsam gebildet hatten, trat einer von ihnen
mehr und mehr in den Vordergrund, bis
er die Aufmerksamkeit ganz allein auf
sich zog und die anderen ihn nur noch
umringten.
"Der Christkindtänzer!" flüsterten eine Frau in Franziskas Nähe ergriffen.
Es gab wohl kaum jemanden im ganzen Dom, der keine Regung in sich
fühlte, gleich ob er reich oder arm war,
redlich oder unehrlich, gesund oder
krank. Ein Gesang aus Hunderten Kehlen stieg zum Gewölbe auf, und mancher glaubte, die Schar der Engel mit
ihren Harfen und Posaunen von hoch
oben antworten zu hören.
Nach dem Gottesdienst kehrten die
beiden Mädchen nicht zum Entenpfuhl
zurück. Franziska war, kaum dass der
Priester den Segen erteilt hatte, entkräftet zusammengebrochen. Pentia brachte
sie ins Freie (halb tragend, halb zerrend)
und schimpfte dabei:
"Warum bist du bis zum Altar gelaufen? Wer krank ist, muss sich schonen!
Wie kann man so dumm sein?!"
Franziska aber schmunzelte trotz der
Erschöpfung.
"Was ist nur in meine kleine Schwester gefahren? Vor ein paar Wochen
noch hast du dich keinen Schritt ohne
mich zu gehen getraut und heute zankst
du mit mir wie mit einem Kind."
"Habe ich deswegen Unrecht?"
"Nein! Trotzdem werde ich dich
morgen gleich noch einmal ärgern. In
der Kirche haben die Leute erzählt, dass
ganz in der Nähe eine Gauklertruppe
auftritt. Wenn Gott mir heute die
Christvesper nicht versagt hat, warum
soll er mir dann nicht auch noch dieses
Vergnügen gönnen?"
"Du forderst das Schicksal heraus und
das ist Sünde!"
Pentias Sorge war auf den ersten
Blick berechtigt. Die Entscheidung über
Leben und Tod fällt jedoch nicht nach
einleuchtenden Regeln. Licht und Finsternis führen einen geheimnisvollen,
unsichtbaren Kampf. Niemand weiß,
wann und woher die eine oder die andere Seite jene Unterstützung erhält, welche die Waage des Schicksals sich nei-
61
gen lässt. Auf dem Höhepunkt der Krise
stehen beide Kräfte einander gegenüber
wie zwei ausgeblutete Heere. Eine Winzigkeit, ein Zufall vielleicht, kann von
endgültiger Bedeutung sein. Aber fast
immer ist der Kranke dem Leben umso
näher, je entschlossener er mit seinem
eigenen Willen in diesen Kampf einzugreifen versucht.
Die Nacht verbrachten die Mädchen
in einem der Verstecke, die sie hier
noch kannten. Am nächsten Morgen
schlief Franziska so lange, dass Pentia
Angst um sie bekam. Doch sie war keineswegs tot, hatte sich vielmehr von
den Anstrengungen des Vortags erholt
und bestand auf ihrem Plan. Die Gaukler sollten auf dem Forum feni zu sehen
sein, einem Markt irgendwo nördlich
des Doms nahe am Rhein. Um ihn zu
suchen, liefen die beiden an den Werkstätten der Waffenschmiede vorbei bis
zum Ende des Platzes und bogen dann
nach rechts in eine Gasse ein. Gewöhnlich war hier nur mühsam hindurch zu
kommen, weil Händler, welche Becher
aus Metall, Holz und Leder anboten,
den Durchgang versperrten. Weil aber
an Weihnachten niemand arbeiten durfte, gab es kein Gedränge. Sogar der
Altmarkt, der sonst von Menschen überquoll, schlummerte jetzt friedlich unter
einer Schneedecke.
In der Straße, die gegenüber begann,
waren die Mädchen noch nie gewesen.
Sie wussten nur, dass dort regelmäßig
Kleidungsstücke aller Art aus großen
Kisten verkauft wurden.
"So wie der Mann den Weg beschrieben hat, müssten wir bald am Ziel sein",
sagte Franziska.
Tatsächlich öffnete sich vor ihnen
bald ein Platz von enormer Ausdehnung, was vor allem dadurch auffiel,
weil weder Bäume noch Verkaufsbuden
ihn gliederten.
"Man könnte denken, vor einem zugeschneiten See zu stehen", fasste Pentia ihre Eindrücke zusammen.
Menschen waren nur in der südöstlichen Ecke zu sehen. Dort standen fünf
Wagen im Halbkreis. Zwei waren vorn
und hinten offen. Über die morschen
Seitenbretter wölbte sich eine löchrige
Plane. Die übrigen hatten einen geschlossenen Aufbau, doch es schien, als
könnte ihnen das nächste Schlagloch
zum Verhängnis werden. Auch die Leute, die darin wohnten, sahen ärmlich
und schmutzig aus, was sie freilich
nicht hinderte, frohgemut zu sein. Mehrere Erwachsene saßen um ein Feuer
und unterhielten sich. Drei Kinder jagten einander kreuz und quer über den
Platz und vollführten dabei ein Spektakel, als wären sie ihrer dreißig. Franziska hatte das Gefühl, den größten Wagen
schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie war jedoch im Augenblick zu
erschöpft zum Nachdenken.
"Ich werde mich noch ein wenig ausruhen", sagte sie. "Wenn es losgeht mit
dem Auftritt, dann weck mich bitte!"
Pentia nickte, und Franziska verkroch
sich in ein kleines hölzernes Pumpenhäuschen, wo sie sofort einschlief.
"Leute, kommt her! Ihr werdet kein
zweites Mal erleben, was ihr heute seht!
Kommt her! Wir treten in jeder Stadt
nur einmal in zehn Jahren auf! Kommt!
Euch werden Kunststücke gezeigt, die
sonst keiner zeigt auf der ganzen Welt."
Franziska schreckte hoch, noch ehe
Pentia sie wecken konnte. Der Platz
hatte sich bevölkert. Die Leute kamen
vom großen Vormittagsgottesdienst und
führten nun ihre besten, eigens für das
Fest aus den Schränken und Truhen
geholten Kleider vor. In Schlangenlinie
um die Spaziergänger herum kurvten im
Gänsemarsch fünf seltsame Gestalten in
grellbunten Kostümen und mit geschminkten Gesichtern. Voraus lief eine
junge Frau mit einer durchdringenden,
62
schrillen Stimme, die mit hanebüchenen
Versprechungen für die Gaukler warb.
Die anderen unterstützen sie mit Schellen und Rasseln. Zumindest erregten sie
auf diese Weise Aufmerksamkeit.
Der Auftritt begann, wie die Ankündigung hatte befürchten lassen, mit ohrenbetäubendem Lärm und billigen
Kunststücken. Das Publikum aber war
gutmütig gestimmt, lachte über die
dümmsten Witze, steuerte selbst mit
lustigen Zwischenrufen bessere bei. Erst
als sich die Vorführung in die Länge
zog, ohne dass Aufsehen erregendes
geschah, kam ein wenig Unmut auf.
Dem hielten die Gaukler entgegen:
"Ist es nicht so, dass das beste Gericht
immer am Ende gereicht wird? Ihr geht
ganz gewiss nicht enttäuscht nach Hause. Der Höhepunkt versöhnt selbst den
Verwöhntesten."
Ein etwa dreißigjähriger Südländer
jonglierte mit kleinen Steinen, Reifen
und Stöcken. In den Pausen, die er zwischen seinen Nummern ließ, tanzte eine
junge Frau. Sie war schwarzhaarig wie
er und feurig, wie man es fast nur bei
fahrendem Volk erlebte. Die beiden
fanden mehr Anklang als die Schreihälse zuvor und verhinderten, dass die
Stimmung umschlug. Dennoch wollten
die Leute endlich den Höhepunkt erleben.
"Seid ihr nun Nachfolger der großen
Beldinis oder nur Betrüger?" rief ein
alter Mann. "Was ihr bis jetzt gezeigt
habt, kann jeder Vagabund."
Franziska beschwerte sich nicht, aber
auch sie hatte sich mehr versprochen.
Der Auftritt ermüdete sie. Die Augen
fielen ihr zu. Traum und Wirklichkeit
vermischten sich. Das Stimmengewirr
um sie herum erschien ihr wie das Tosen der Brandung in ihrer Heimat. Der
Name Beldini löste in ihr ein Wohlgefühl aus, wie wenn warmer Regen über
die Haut rieselt. Als der Beifall jedoch
anschwoll und echte Begeisterung sich
ausbreitete, war sie in eine tiefe Ohnmacht geglitten und kein Eindruck
drang mehr bis zu ihr durch.
63
7.Kapitel
I
F
ranziska träumte vom Fliegen. Es
dauerte lange, bis sie sich von
der Erde losgerissen hatte, ähnlich einem Schwan, der zum Starten fast
die ganze Länge eines Sees benötigt.
Dann aber schwebte sie, und die Häuser
unter ihr wurden kleiner und kleiner.
Sie erreichte die Wolken, stieß durch sie
hindurch und jagte immer schneller dem
Firmament entgegen. Plötzlich fühlte
sie, dass sie im Himmel war. Vor ihr
schwebte die Jungfrau Maria, von der
sie allerdings nur die Augen sah, mitten
in einem Kranz von Licht - eigentümliche blaugraue Augen, die ein wenig
starr blickten. Für einen Moment wurde
ihr beklommen zumute, denn sie glaubte, dass dieser Blick bis in ihre Seele
dringe und dort jeden bösen Gedanken
erspähe. Doch bald überwog wieder die
Überzeugung, dass Maria sie retten
würde, trotz des Schlechten in ihr. Sie
widerstand dem Blick, versenkte sich in
ihm und wurde gleichsam neu geboren
zu einem besseren Leben. Da erschienen ihr die Augen wie Brunnen voll
kristallklarem Wasser.
Plötzlich packte sie von hinten eine
Hand und riss sie zur Erde zurück. Noch
ganz benommen von ihrem Traum,
schlug sie die Augen auf und erschrak
so heftig, dass sie gerade noch einen
Aufschrei unterdrücken konnte. Umkränzt von einer Flut rotblonder Haare
anstelle des Lichtes sah sie die blaugrauen Augen der Maria wieder vor
sich. Sie gehörten einem jungen Mädchen, das neben ihr saß. Dann war sie
völlig wach und erkannte Ramira, die
Artistin, die Freundin ihres ermordeten
Bruders.
"Wie kommst du hierher? Gott selbst
muss uns wieder zusammengeführt ha-
ben, hier in Köln, nach elf Monaten und
gerade rechtzeitig, um mich vor dem
Tode zu retten?"
Das Gauklermädchen musterte Franziska ein wenig verwundert.
"Ich habe dich nicht gerettet. Du
warst schon über das Schlimmste hinweg. Jetzt musst du dich nur noch ausruhen und essen, damit du wieder zu
Kräften kommst."
"Wir sind uns auf der Burg meines
Vaters begegnet und treffen uns jetzt im
fernen Köln wieder ..."
"Hier triffst du innerhalb von ein paar
Jahren die halbe Welt. Wer im Lande
herumzieht, den verschlägt 's irgendwann mal hierher, ob er nun Gaukler ist,
König oder Bettelmönch."
"Glaubst du nicht an Gottes Fügungen?"
"Gott ... So viele Menschen beten zu
ihm. Alle wollen etwas von ihm. Allen
gleichzeitig aber kann er nicht helfen.
Mag sein, dass er zumindest alle hört.
Mag sein, er hilft zuerst denen, die ihn
am nötigsten brauchen. Aber wie viele
Leute brauchen ihn gerade jetzt viel
mehr als wir?! ... Wie war das bei deinem Vater, wenn er einen Gerichtstag
abhielt? Ich bin mir sicher, auch er
konnte niemals alle zufrieden stellen, so
sehr er sich auch darum bemühte."
Franziskas Gedanken wanderten unwillkürlich zur Wardenburg zurück, ins
kleine Land zwischen den Sümpfen, zu
ihrem Vater Wilhelm, ihrer Mutter
Martha, ihrer stolzen Schwester Agnes
und ihrem ungebärdigen Bruder Rotbert. Doch das aufkeimende Glücksgefühl wurde rasch erstickt von anderen
Erinnerungen - die Burgvogtsfrau in
Wildeshausen, die mit dem Rohrstock
droht, die heimtückischen Höflinge und
deren hochnäsigen Kinder, der jähzornige, zu jeder Untat fähige Graf Burchard. Schließlich fielen ihr die Bilder
des Mordes in der Schatzkammer wieder ein und sie versank in tiefe Traurigkeit.
"Auch ich muss noch immer häufig
an ihn denken", sagte Ramira, die ihre
Gedanken erriet.
Franziska fuhr erschrocken zusammen.
"Ja ... Das sind wir ihm schuldig. Wir
dürfen ihn niemals vergessen."
Sie schwiegen eine Zeitlang - bis das
Gauklermädchen eine Frage stellte, die
sie schon seit dem Beginn ihres Wiedersehens beschäftigte.
"Du und Pentia, ihr seht nicht so aus,
als wäret ihr zusammen mit euren Eltern
hier in Köln. Was ist geschehen?"
"Ich war dabei, als Burchard ihn umgebracht hat. Ich weiß, dass der Graf
lügt."
"Ich verstehe."
Wieder fielen sie in Schweigen.
Diesmal war es Franziska, die zuerst
wieder zu reden anfing.
"Wie ist es dir inzwischen ergangen?"
Ramira zuckte mit den Schultern.
"Da gibt's nicht viel zu erzählen. Seit
dem Tod meines Vaters bin ich wieder
eine richt'ge Artistin. Es mag sein, dass
viele Leut' uns Gaukler verachten, doch
ich bin stolz drauf dazuzugehören. Ich
bedaure die Bauern, die nie aus ihrem
Dorfe rauskommen. Wir sind heut' hier,
morgen dort, keinem Herrn untertan,
frei wie Vögel am Himmel. Uns gehört,
was sonst keinem gehört - die Sterne,
die wilden Wiesen, die versteckten
Quellen und Bäche."
Später dann fand Franziska Gelegenheit, sich umzusehen. Sie lag auf dem
Fußboden eines ziemlich engen, mit
Möbeln und Hausgerät hoffnungslos
verstellten Raumes. Neben ihr stand ein
eiserner, rostroter Ofen. Der Tisch gegenüber unter dem Fenster ließ nur ei-
nen engen Gang zu einem doppelstöckigen Bett. Ein zerschlissener Stuhl
mochte einstmals eine Bürgerstube geziert haben. Die Krüge, Töpfe und
Schüsseln stammten hingegen eher von
einem Bauernhof. Der metallisch glänzende Kerzenständer auf dem Tisch war
beinahe vornehm. Nichts passte zueinander. Über Franziskas Lager wölbte
sich eine runde, von armdicken Rippen
gestützte Holzdecke. An den Rippen
hingen Bündel von Kräutern und Netze
mit Hackfrüchten, dazu ein Vogelbauer.
Eine Woche lang waren das ihre
wichtigsten Eindrücke. Sie schlief viel,
aber nicht mehr ohnmachtähnlich wie in
der Krise sondern ruhig und tief. Dabei
kam sie wieder zu Kräften. Bald blieb
sie nur noch liegen, weil Ramira das so
wollte, und langweilte sich. Eine willkommene Abwechslung waren da die
gelegentlichen Besuche ihrer Schwester.
Seit der Krankheit sah sie Pentia mit
anderen Augen. Sie war nicht mehr das
kleine Mädchen von früher. Es gab
nunmehr Geheimnisvolles in ihrem Wesen. Eines ihrer Rätsel interessierte
Franziska besonders brennend.
"Wie hast du uns beide am Entenpfuhl vor dem Verhungern gerettet?
Verrätst du es mir?"
"Kannst du es dir nicht denken?" Pentia strahlte vor Stolz übers ganze Gesicht. "Die Kanoniker von St.Gereon
haben uns versorgt."
"Aber die darf doch niemand anbetteln!"
"Ich stand unter dem Schutz des alten
Geschichtenerzählers."
"Meinst du diesen Geizhals, der mich
weggejagt hat?"
"Das ist ein Kauz, aber kein Geizhals.
Du warst damals zu ungeduldig mit
ihm."
Eine andere Art von Abwechslung
waren die Unterhaltungen vor dem Wagen, von denen Franziska manchmal
jedes Wort verstand. Bald konnte sie die
65
Stimmen zuordnen. Das Lager vereinigte mehrere Truppen fahrenden Volkes,
die sich zufällig gefunden hatten und
nur zeitweilig zusammenbleiben wollten. Zu Ramiras Gauklerfamilie gehörten außer ihr nur noch Mario (der Südländer), seine Frau Melanie (die Tänzerin) und Alexander (dem alle voller Ehrfurcht begegneten).
Die Frau mit der schrillen Stimme
und ihre Freunde bildeten eine bunt
zusammen gewürfelte Schar ziemlich
sorgloser Leute. Keiner von ihnen konnte irgendetwas besonders gut, keiner
hatte Lust, sich anzustrengen, alle aber
verstanden meisterhaft, andere hinters
Licht zu führen. Mal traten sie mit viel
Geschrei und wenig Einfällen als Gaukler auf, mal lebten sie vom Handeln mit
wertlosem Zeug oder einfach vom
Diebstahl. Zwischen den Gauklern und
ihnen gab es seit dem gemeinsamen
Auftritt auf dem Forum ständig Streit.
"Ihr vergrault die Zuschauer anstatt
sie anzulocken", hatte Alexander festgestellt und sie damit schwer beleidigt.
Dann wohnten noch zwei Familien
mit mehreren Kindern im Lager, entflohene Dienstleute eines hartherzigen
Grundherrn auf der Suche nach einem
neuen Zuhause.
Damit, dass Franziska sie durch die
Wand des Wagens verstehen konnte,
rechneten die Gaukler übrigens nicht.
Sie redeten ganz unbefangen auch über
die beiden Mädchen aus dem Norden.
Meistens begann Melanie damit.
"Sie sind keine Gaukler wie wir. Sie
können keine Kunststücke, nutzen uns
nichts, essen aber aus unseren Schüsseln."
"Solange diese Franziska krank ist ..."
entgegnete Mario zaghaft und wollte zu
einem Vorschlag ansetzen. Seine Frau
unterbrach ihn jedoch sofort heftig.
"Das ist es ja gerade! Sie ist krank
und wird uns alle anstecken."
Damit konnte sie ihm fast immer
Angst einjagen. Freilich hätte er auch
ohne dem nicht lange widersprochen.
Obgleich auch er ein hitziges Temperament besaß, ließ er sich auf einen
Streit mit Melanie allenfalls ein, wenn
ihm eine Sache wirklich sehr am Herzen
lag. Die im Vergleich mit ihm viel stillere Ramira hingegen ließ sich nicht so
einfach nieder reden.
"Es ist kein Aussatz. Der Prüfmeister
hat sie untersucht. Und der kennt sich
aus mit den Krankheiten,."
"Du bist jung, hast von der Welt noch
nicht viel gesehen."
Trotzdem verhielt sich Melanie zu ihr
respektvoller als zu ihrem Mann. Franziska fand das erstaunlich. Zwar beruhte
der Erfolg der Truppe auf Ramiras außergewöhnlichem Talent, doch war die
Artistin erst fünfzehn Jahre alt. Es spielte wohl eine Rolle, dass nur sie und
Alexander als echte Beldinis galten. Das
war unter Gauklern so etwas wie ein
Adelstitel. Folglich hätte allein das
Wort des Alten die Meinung Ramiras
entkräftet. Der aber schwieg hartnäckig
und so blieb vorläufig alles wie es war.
II
E
s kam der Tag, an dem Franziska
auch nach Ramiras Urteil wieder
kräftig genug zum Aufstehen
war. Als sie hinaustrat und die Stufen
der kleinen Treppe hinunter stieg, fühlte
sie sich wie zum zweiten Male geboren.
Sie war glücklich, obgleich das, was sie
sah, kaum dazu beitrug. Mitten im Winter hatte es bei ungewöhnlich mildem
Wetter zu regnen begonnen, und das
Forum, auf dem nun kein Schnee mehr
lag, wirkte öde wie eine Brache. Der
66
Getreide- und Heumarkt hatte verrottete
Halme hinterlassen, der Viehmarkt von
Anfang November den Dreck der
Schweine und Rinder, Schafe und Ziegen. Die Gewandschneider sowie die
Salz- und Gewürzverkäufer, die den
Platz jetzt nutzten, zogen sich an die
Ränder zurück.
Wohl fühlten sich allem Anschein
nach nur die Leute aus der Wagenburg.
Die Kinder spielten mitten im größten
Unrat - was wohl schon gereicht hätte,
sie für die Bürger minderwertig erscheinen zu lassen. Dass sich Ramiras
Familie im guten Sinne abhob, beachtete niemand. Der glanzvolle Auftritt geriet in Vergessenheit. Die Fremden
wurden zunehmend zum Ärgernis.
Doch Franziska mochte in diesem Moment an nichts Unangenehmes denken.
Melanies wütenden Blick übersah sie
einfach. Sie war ja wieder gesund und
konnte niemanden mehr anstecken. Und
sie hatte wieder genügend Kraft, für
sich und ihre Schwester zu sorgen. Zuversichtlich, alle Missverständnisse mit
einem Gespräch aus der Welt zu schaffen, ging sie auf die junge Frau zu.
"Ab heute werde ich mich nützlich
machen. Ich weiß, dass ich euch Dankbarkeit schulde."
Melanie indes entgegnete schroff:
"Wir brauchen weder dich noch deine
Schwester."
Dann wandte sie sich ab, Franziska
völlig ratlos zurücklassend. Warum
grollte ihr die Gauklerin? Es gab im
Lager einige zwielichtige Gesellen, die
auf Kosten der anderen lebten, ohne
dass eine Krankheit sie am Arbeiten
hinderte. Mit denen aber fühlte sich
Melanie brüderlich verbunden. Franziska blickte an sich herunter. Ihr Kleid
war durch die Graukittel zerfetzt und
vom Schmutz des Entenpfuhls durchtränkt worden, so dass es sich kaum
noch unterschied von dem der gewöhnlichen Vagabunden.
Am Nachmittag richtete sie es so ein,
dass sie mit Ramira allein sprechen
konnte. Die Freundin spielte beim Zuhören zerstreut mit einem Stock und
einem kleinen Stein. Dann sagte sie nur:
"Du darfst dir das nicht zu Herzen
nehmen", und lenkte sofort auf ein anderes Thema. "Weißt du, dass Köln für
uns Beldinis eine Schicksalsstadt ist?"
"Nein. Warum?"
"Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahr'n
war uns're Sippe noch groß. Dreizehn
Erwachsene und fünf Kinder gehörten
dazu. Die Beldinis zogen im ganzen
Rheinland umher, hatten Schutzbriefe,
war'n beliebte Leute. Sie durften sogar
an vornehmen Höfen auftreten. Aber
dann kam der Krieg."
"Der Krieg, bei dem die Hohenstaufer
und die Welfen um die Königskrone
kämpften?"
"Vielleicht. Ich versteh' wenig von
den Angelegenheiten der großen Herren. Nur die Geschichte der Familie, die
kenn ich. Die weiß ich von Alexander.
Später muss ich sie an meine Kinder
weitergeben. Eine alte Sitte bei uns."
Franziska hatte geglaubt, Gaukler
würden über ihre Herkunft gar nicht
nachdenken, und schämte sich nun insgeheim ihres Irrtums.
"Damals hatte ein gewisser Adolf die
Macht über den Dom. Der war vom
Papst längst abgesetzt, hatte seinen
Nachfolger aber einfach gefangen genommen. Es gab indes nicht nur zwei
Erzbischöfe sondern auch zwei Kön'ge.
Philipp, der eine von beiden, stand eines
Tags mit einem Heer vor den Toren.
Adolf hätt' ihn gern rein gelassen, doch
die Bürger verhinderten es. Ein'ge Wochen später gewann Philipp mit seinem
Heer eine Schlacht. Da bekamen 's die
Kölner mit der Angst, öffneten rasch die
Tore und bettelten um seine Gunst, damit sie ihre Privilegien nicht verlieren."
"Was hatten deine Vorfahren damit
zu schaffen?"
67
"Eines musst du wissen: Wenn's Unfrieden gibt irgendwo, gleich aus welchem Grund, haben Rechtlose wie wir
Gaukler immer etwas damit zu schaffen."
Franziska nickte, ohne recht verstanden zu haben.
"Damals lebte noch Genevieve. Sie
war ein Mensch, wie's nur ganz wen'ge
gibt. Vielleicht erzähl' ich dir ein andermal mehr davon. Sie hatte zwei Söhne, Zwillinge mit Namen Simon und
Daniel. Simon ähnelte seiner Mutter.
Vor allem Ruhe und Klugheit hatte er
von ihr. Daniel war ein Hitzkopf und
Schwärmer, sein Sohn Martin ebenso.
Trotz aller Warnungen mischten die
beiden sich in den Streit der Bürger ein,
hielten Reden auf dem Marktplatz gegen den Erzbischof während der Belag'rung. Als König Philipp in die Stadt
kam, warf man sie ins Gefängnis. Später
wurden sie zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Bürger opferten natürlich
lieber ein paar Fremde als einen der
Ihren."
Franziska spürte ein Würgen im Hals.
Diese Geschichte war nicht so schaurigschön wie die von der heiligen Ursula.
"Hatten sie denn keine Freunde? Hat
niemand versucht, sie zu retten?"
"Während der Unruhen hatten sie viele Freunde, nachher keine mehr. Es kam
für die Beldinis sogar noch schlimmer,
denn eines Tags sagten die Leut', dass
nicht nur Daniel mit seinem Sohn sich
gegen Philipp verschworen hätt' sondern
auch seine Verwandten. Da blieb nur
die Flucht." Ramira seufzte. "Die alte
Genevieve ist bald darauf gestorben.
Daniels Frau Regina hat sich aus Kummer das Leben genommen. ... Seine
Tochter Barbara lebt vielleicht noch in
Köln. Sie wollte sich verstecken und
das Ende der Anfeindungen abwarten."
Franziska erfuhr noch, dass Ramiras
Großvater und Alexanders Vater Brüder
waren und dass es schwarze und rote
Beldinis gab - benannt nach der vorherrschenden Haarfarbe. Ramira hatte
das Bedürfnis zum Erzählen, und so
vergaßen beide die Zeit. Plötzlich aber
stand Melanie bei ihnen.
"Hier also hast du dich versteckt! Wir
wollen über den Auftritt auf dem Neumarkt sprechen."
Sie schimpfte und fand kein Ende dabei, wandte sich dabei allerdings ausschließlich an Ramira. Franziska strafte
sie durch Nichtbeachten.
III
D
ie Spannung wurde zunehmend
unerträglich. Ein Machtwort
von Alexander hätte die Gemüter beruhigt. Sein Schweigen indes
konnte alles Mögliche bedeuten. Bei
den Auftritten ließ er sich von Ramira
beeinflussen. In dieser Hinsicht konnte
die Fünfzehnjährige ihren Kopf fast
immer durchsetzen. Der Streit um Franziska und Pentia aber war etwas ganz
anderes, und das nährte Melanies Hoffnungen.
Die Artistin litt mehr, als sie zugab.
Sie lebte am liebsten in ihrer eigenen
Welt. Zwischen den Auftritten übte sie
stundenlang wie eine Besessene, erfand
immer neue Kunststücke, spielte auf der
Leier, sang selbst erdachte Lieder. Darüber vergaß sie alles, selbst das Essen.
Im Grunde war sie auf Melanie angewiesen, ließ sich an manchen Tagen von
ihr betreuen wie ein Kind. Franziska
wusste das, und es tat ihr weh, dass sie,
wenn auch ohne Absicht, die beiden
gegeneinander aufgebracht hatte. Sie
68
wäre von selbst fort gegangen. Der
Platz vor dem Erzbischofspalast wurde
inzwischen wieder wie eh und je von
Vagabunden, Bettlern und Dirnen bevölkert. Die Graukittel hatten sich seit
Wochen nicht mehr sehen lassen. Ramira jedoch wollte das nicht.
"Du brauchst nicht betteln zu gehen",
beharrte sie starrsinnig.
Franziska indes ließ sich nicht täuschen.
"Ramira, du weiß so gut wie ich, dass
es auf Dauer wie bisher nicht weitergehen kann", sagte sie eines Tages eindringlich. "Wenn du meinen Vorschlag
nicht magst und dir ein besserer einfällt,
dann soll er mir recht sein. Doch ganz
sicher werde ich nicht länger hier tatenlos herumsitze."
Ramira dachte so angestrengt nach,
dass sie schlechte Träume davon bekam. Dennoch fand sie keine Lösung,
mit der sie zufrieden war - bis ein Zufall
ihr zu Hilfe kam.
Wenn sie von der Südostecke des Forums, wo die Wagen standen, auf direktem Weg zum Rhein hinunter stieg,
gelangte sie zu einem großen Lagerplatz
für Baumaterial, vor allem für Dachschiefer. Die noch unbearbeiteten, unterschiedlich großen Platten lagen mehr
oder minder geordnet auf großen Haufen. Dazwischen verliefen Gänge, die
gerade breit genug für die als Transportmittel verwendeten Karren waren.
Am Ufer gab es drei Anlegestellen für
die schweren Schiffe, die den Schiefer
von den Steinbrüchen am Mittelrhein
heranschafften. Vor den Stegen standen
Bretterbuden.
Es gab auf diesem Gelände keine
Stelle, von der aus es zu überblicken
war. Bei Tageslicht, wenn die Arbeiter
die Schiffe entluden und die großen
zweiachsigen Wagen in die Stadt rumpelten, konnte man glauben, auf einem
gewöhnlichen Bauplatz zu sein. Sobald
sich aber die Dämmerung herabsenkte,
wurde es hier unheimlich. Dann eroberten Katzen und Ratten den Platz. Dem
Reden der Leute nach trieben sogar
Geister ihr Unwesen. Die Kräne am
Ufer hoben sich schwarz gegen den
dunkelblauen Himmel ab und glichen
Ungeheuern mit riesigen Armen.
Nach dem Dachschiefer, den man
auch Leyen nannte, hieß das Gelände
Leystapel. Ramira gehörte zu den wenigen Menschen, die den Ort auch noch
liebten, wenn die Arbeiter nach Hause
gegangen waren. Sie zog sich dorthin
zurück, wenn sie um jeden Preis allein
sein wollte. Inzwischen hatte sie sogar
schon einen Lieblingsplatz - unmittelbar
am Ufer in der Nische zwischen einer
Bretterbude und einer Trennmauer. Dort
konnte sie auf den Fluss blicken und
war zugleich nach allen anderen Seiten
hin geschützt. Zumeist nahm sie ihre
Leier mit. Sie spielte darauf ganz ausgezeichnet, obwohl sie für diese Kunst
von ihrem Vater fast nichts gelernt hatte. Vielleicht liebte sie das Instrument
gerade deshalb so sehr. Es war ihr fast
heilig, so heilig, dass sie von den Liedern, die sie sich ausdachte, die schönsten niemals öffentlich sang. Allein der
Rhein hörte sie, und der bewahrt jedes
Geheimnis.
Dass sie sich weniger fürchtete, lag
keineswegs daran, dass sie nicht abergläubisch war. Ohne es recht begründen
zu können, hatte sie einfach das Gefühl,
dass die Geister, die hier umgehen
mochten, ihr nichts zuleide tun würden.
Eine Grunderkenntnis ihrer noch jungen
Lebenserfahrung besagte, dass etwas,
das für andere galt, für sie (und ihre
Gauklergefährten) noch lange nicht gelten musste, im Guten wie im Bösen.
An jenem Tage war sie (wie fast immer, wenn sie geborgen in ihrer Nische
saß) tief in ihr Spiel versunken und unempfänglich für andere Eindrücke. So
merkte sie zunächst nicht, dass sie
diesmal einen Zuhörer hatte, einen un-
69
freiwilligen allerdings. Es war ein Mann
von außergewöhnlicher Statur und Größe, ein Riese mit welligen Haaren, die
in ihrer Üppigkeit an eine Mähne erinnerten, und einem nicht minder dichten
Bart. Die stürmische Zeit seines Lebens
hatte er wohl hinter sich. Von seinem
sonnengegerbten Gesicht war abzulesen, dass er kaum jünger als fünfzig sein
konnte. Seine Bewegungen aber hatte er
sich geschmeidig gehalten und seine
Muskeln strotzten von urwüchsiger
Kraft.
Ramira störte ihn. Sie versperrte ihm
den Weg zu einem geheimen Ort. Verärgert darüber, legte er das Bündel, das
er auf der Schulter trug, auf einem
Schieferstapel ab und warf Steine in
Richtung Fluss. "Bist du taub, du dumme Gans?!" fluchte er dabei vor sich
hin. "Die Geister murmeln mit Totenköpfen! Na los! Hab Angst und verschwinde endlich!" Da sie mit keiner
Bewegung reagierte, gab er schließlich
auf, setzte sich auf einen Balken und
wartete.
Unterdessen musste er zuhören. Zuerst tat er es unwillig und fand wenig
Anziehendes an dem Gesang. Die
Stimme erschien ihm rau und unmelodisch wie das Krächzen einer Krähe, der
Anschlag der Saiten zu hart. Allmählich
aber gewöhnte er sich daran und begriff
plötzlich, dass er diese Lieder gerade
wegen der eigenartigen Stimme und der
sonderbar groben Art, mit der Leier
umzugehen, so schnell nicht würde vergessen können. Jetzt hörte er (ohne sich
dessen bewusst zu sein) andächtig zu.
Nach einiger Zeit hielt Ramira inne.
Als ihre Aufmerksamkeit nicht mehr
gänzlich auf ihrem Spiel ruhte, fühlte
sie den Fremden in ihrer Nähe. Beunruhigt sprang sie auf, und ehe der Mann
sich verbergen konnte, hatte sie ihn entdeckt. Es war noch nicht völlig dunkel,
so dass sie sogar sein Gesicht wahrnahm. Für Sekunden spiegelte sich da-
rin noch der Eindruck des Gesangs wider - bis der Fremde sich gefasst hatte
und eine Drohgebärde annahm.
"Was willst du hier?" fragte er grob.
"Ich habe dasselbe Recht hier zu sein
wie Ihr", antwortete sie ruhig. Trotz
seiner Größe fürchtete sie sich auch vor
ihm nicht. Vor jemandem, dem ihre
Lieder gefielen, fürchtete sie sich nie,
wie immer er sich benahm. "Zwei Menschen, die sich um diese Zeit an einem
solchen Ort treffen, sind miteinander in
irgendeiner Weise verwandt. Wir sollten uns nicht streiten. Es ist Platz hier
für uns beide."
Der Mann setzte zu einer groben Erwiderung an, überlegte es sich dann
aber kurz entschlossen anders. Er baute
sich mitten auf dem Weg auf und sagte
mit leutseligem Unterton:
"Ich bin ein Kölner Bürger und wohne ganz hier in der Nähe. Vielleicht hast
du mich schon einmal auf dem Forum
gesehen. Du lebst doch dort mit deinen
Leuten?"
"Ja, so ist es."
"Weil du fremd hier bist, weißt du
wahrscheinlich nicht, dass sich hier auf
dem Leystapel des Nachts übles Gesindel herumtreibt. Diese Gesellen brechen
in unsere Häuser ein. Heute nun habe
ich mich auf die Lauer gelegt, um wenigstens einen von ihnen zu fangen.
Vielleicht schreckt es die anderen ab,
wenn die ersten am Galgen baumeln."
"Ich bin eine Gauklerin und keine ..."
"Ich weiß, ich weiß! Trotzdem kannst
du hier nicht bleiben. Der Leystapel ist
um diese Zeit kein rechter Ort für ein
junges Mädchen."
Ramira musste sich fügen und stand
auf. In eben diesem Moment kam ihr
jener Einfall für Franziska. Ohne lange
zu überlegen und ohne Übergang, begann sie, ihren spontanen Plan zu verwirklichen:
"Ich glaube, ich kenne Euch. Ihr seid
doch jener vornehme Herr, der ganz
70
allein in dem alten Patrizierhaus am
Anfang der Rheingasse wohnt?"
"Warum fragst du das?"
"Nun, ich denke, dass Ihr, da Ihr auf
Euch allein gestellt seid, vielleicht eine
Gehilfin gut gebrauchen könntet."
Der Mann wurde ungeduldig und fiel
unvermittelt in seinen groben Tonfall
zurück.
"Hör mal, du Gänslein - es geht dich
wenig an, ob ich auf mich allein gestellt
bin"
"Meine Freundin, ein gesundes und
ehrliches Mädchen mit guten Manieren,
könnte Euch die Hausarbeit besorgen",
fuhr sie unbeirrt fort. "Sie ist erst drei-
zehn aber schon ziemlich stark und
zäh."
Die Antwort war schallendes Gelächter.
"Ich lasse niemanden in mein Haus.
Hat sich das bis zu dir noch nicht herumgesprochen? Gewiss nehme ich kein
Gauklerbalg bei mir auf. Verschwinde
endlich!"
"Ich weiß, dass Ihr ein gutes Herz
habt."
Während sie davonging, hörte sie ihn
noch rufen:
"Ich habe kein gutes Herz! Merk dir
das und wage dich nie wieder hierher!"
IV
R
amira war ihrem Gefühl gefolgt, und solange das Gefühl
sie beherrschte, hegte sie auch
keinen Zweifel an ihrem Plan. Erst als
sich plötzlich ihr Verstand meldete,
überfielen sie die Bedenken. Hatte er
wirklich ein gutes Herz? Ihr fiel etwas
ein, das sie aus eigener, schmerzhafter
Erfahrung kannte - Einsamkeit erzeugt
Ungeheuer. Ein Mann braucht nicht
unbedingt eine Frau und eigene Kinder,
aber er darf kein einsamer Wolf werden,
kein Wesen, das nur noch für sich selbst
lebt. Ihr Vater, der Graukopf, wäre sicherlich ein anderer Mensch gewesen
wäre, hätte Gott ihm nicht die Frau genommen.
Oder war es nicht Gottes Wille gewesen sondern ihre Schuld? Jahrelang hatte sie aus Schuldgefühl schlimmste
Misshandlungen stumm erduldet. War
sie nun gewillt, abermals Sünde auf sich
zu laden, indem sie Franziska, ihre
Freundin, ebenso ins Unglück stieß, sie
einem durch Einsamkeit zum Ungeheuer gewordenen Mann auslieferte? Sie
beschloss, den Einfall für sich zu behalten - rechnete dabei aber nicht mit Fran-
ziskas Beobachtungsgabe. Die Freundin
sprach sie geradezu darauf an und ließ
nicht eher locker, bis sie alles wusste.
Im ersten Moment war Franziska begeistert von dem Vorschlag, glaubte sie
doch, darin einen Fingerzeig Gottes zu
erkennen. Dieser vornehme Kölner
Bürger war (wie Ramira ihn beschrieb)
sicherlich ein zuverlässiger Beschützer.
Dann aber fielen ihr Geschichten ein,
die man ihr in Wardenburg erzählt hatte. In großen Städten wurden fremde,
leichtgläubige Mädchen oft an Dirnenhäuser verkauft. Von dort gab es für sie
dann kaum noch ein Entrinnen, denn
der Bordellbesitzer und seine Knechte
bewachten sie wie Gefangene, sogar
beim Kirchgang.
Lange wusste Franziska nicht, was sie
tun sollte. Am Ende aber vertraute sie
auf Gottes Schutz und Ramiras Erfahrung mit Kupplern und Mädchenhändlern. Sorgen bereitete ihr nur die Frage,
was aus Pentia werden sollte. Zwei Tage lang zögerte sie, ihrer Schwester
überhaupt von dem Plan zu erzählen lange genug, dass diese davon schließlich auf anderem Wege erfuhr. Wieder
71
einmal saßen die Gaukler abends am
Feuer beieinander, und wieder einmal
begann Melanie mit ihrem Lieblingsthema.
"Sie würde doch bestimmt irgendwo
in der Stadt eine Anstellung finden ..."
Da verlor Ramira die Beherrschung.
Obwohl sie Franziska Stillschweigen
versprochen hatte, rief sie aus:
"Du weißt, dass nur Bürgerstöchter
eingestellt werden dürfen, brauchst dich
aber trotzdem nicht länger aufzuregen,
denn sie wird bald ..."
Sie brach ab, als sie Pentia jäh aufblicken sah. Aber es war zu spät, etwas
zurückzunehmen. Sie musste nun alles
erzählen und dabei auch auf Franziskas
kleine Schwester zu reden kommen.
"Warum geht sie nicht einfach dorthin mit?" bemerkte Melanie ohne Mitgefühl.
"Sie geht nicht dorthin, weil sie bei
uns bleibt."
Alle drehten sich verwundert um. Der
alte Alexander hatte gesprochen. Endlich! Freilich beließ er es bei dem einen
Satz und erzeugte ein peinliches
Schweigen, das anhielt, bis sich Mario
zu sagen aufraffte:
"Sie ist jung, kann noch manches
Kunststück lernen und wird ihren Platz
bei uns finden."
Diesmal widersprach Melanie ihm
nicht. Alexanders Wort war nun einmal
das Gesetz in der Sippe. Dass sie sich
auch innerlich mit dem neuen Mitglied
der Truppe abzufinden vermochte, hieß
das freilich noch längst nicht.
Am nächsten Morgen verabschiedete
sich Franziska von ihrer Schwester.
Etwas, das sich nicht vermeiden ließ,
wollte sie nicht unnötig aufschieben.
Ein wenig beklommen war beiden zumute - Franziska, weil sie nicht wusste,
was sie erwarten würde, und Pentia,
weil sie es wusste.
"Melanie wird sich irgendwann beruhigen. Bis dahin hast du Ramira und
vielleicht auch Alexander als Beschützer. Na ja, und ich besuche dich natürlich, so oft ich kann. Ich wohne ja ganz
in eurer Nähe."
Die kleine Schwester nickte stumm.
Um das Unglück nicht zu beschreien,
sprach sie nicht aus, was sie dachte.
Überhaupt tat sie alles, um ihren wahren
Kummer nicht zu zeigen. Sie begriff,
dass ihre Schwester das schwerere Los
gezogen hatte, und dass sie es ihr allein
durch ihre Tapferkeit erleichtern konnte.
"Ich bin gut versorgt. Du musst jetzt
an dich denken."
Dann umarmten sich beide, und Franziska lief mit einem kleinen Bündel
unterm Arm zu dem von Ramira beschriebenen Haus an der Rheingasse.
72
8.Kapitel
I
F
ranziska hatte wenig Mühe, das
alte Patrizierhaus zu finden, denn
es fiel auf - erstens, weil es frei
stand (durch je einen schmalen Weg
links und rechts von den Nachbarhäusern getrennt); zweitens, weil im Erdgeschoss trotz des längst angebrochenen
Tages die Fensterläden verschlossen
waren (seit längerem, den verrosteten
Schlössern nach zu urteilen); drittens,
weil der Hof (soweit er sich von der
Straße einsehen ließ) ungenutzt und
verwildert wirkte. Das Mädchen fragte
sich, wovon dieser sonderbare Mann
lebte. Jetzt noch umzukehren, verbot ihr
allerdings der Stolz. Die Vorstellung
von Melanies Schmähreden bei ihrer
Rückkehr trieben sie an, beherzt an die
Tür heranzutreten und mit der Faust
gegen die dicken Eichenbretter zu klopfen - erst zaghaft, dann (weil sich drinnen nichts regte) mehrmals sehr kräftig.
"Bei dem wirst du kein Glück haben,
Mädchen! In seinem Haus handelt der
mit niemandem."
Franziska drehte sich um und blickte
in das freundliche Gesicht einer Frau,
einer Dienstmagd der Kleidung nach.
"Ich will ihm nichts verkaufen. Ich
will bei ihm arbeiten."
"Wie kommst du darauf, dass er jemanden braucht?"
"Nun, so wie das Haus aussieht ..."
Die Frau lächelte nachsichtig, setzte
eine geheimnisvolle Miene auf und zog
sie am Arm ein paar Meter beiseite.
"Du bist nicht von hier. Darum weißt
du noch nichts von dem Herrn Stefanus.
Mit dem hat es nämlich eine besondere
Bewandtnis." Sie begann zu flüstern,
obwohl weit und breit kein Lauscher zu
sehen war. "Er ist ein mächtiger Graf
und besitzt in Bayern riesige Güter.
Niemand aber kennt seinen wahren
Namen. Hier in Köln hält er sich seit
fast genau vier Jahren im Auftrage des
Kaisers auf."
Franziska hörte ehrfurchtsvoll zu und
fragte sich, ob ein so bedeutender Mann
sie für würdig befinden könnte, ihm
dienen zu dürfen. Zaghaft fragte sie:
"Und er braucht wirklich niemanden,
der ..."
Die Frau zuckte mit den Schultern.
"Versuche dein Glück! Meine guten
Wünsche hast du. Ich weiß aber von
niemandem, der je sein Haus betreten
durfte."
Wieder allein, klopfte das Mädchen
noch einmal gegen die Tür.
"Hallo, Herr Stefanus! Ich will nicht
betteln und auch nichts zum Kauf anbieten."
Es hatte wohl keinen Zweck. Sie
blieb unschlüssig stehen und überlegte.
Sollte sie zurück zum Forum gehen?
Nein, das auf keinen Fall! Auch die
Bettelei war keine wirklich gute Aussicht. Mit dem Mut der Verzweiflung
rüttelte sie an der Tür. Und siehe da,
diese gab nach. Vor ihr lag ein dunkler
Flur. Sie trat einen Schritt hinein, dann
einen zweiten und dritten. Plötzlich
wurde sie von einer Urgewalt zu Boden
geschleudert. Die Tür fiel ins Schloss,
und ehe sie wieder klar denken konnte,
saß sie mit auf den Rücken gefesselten
Armen auf einer Bank in einem der
(durch die geschlossenen Fensterläden)
nahezu dunklen Erdgeschossräumen.
Vor Schreck wie gelähmt, fragte sie in
die Finsternis hinein:
"Was wollt Ihr von mir?"
Aus dem schwarzen Nichts antwortete ihr ein tiefes, dröhnendes, wirklich
unheimliches Lachen.
"Ich gebe dir gleich zwei Antworten.
Zum einen: Nur ich habe ein Recht,
diese Frage zu stellen, denn du bist bei
mir eingedrungen. Zum anderen: Was
wird ein Mann schon wollen von einem
Mädchen, das so dumm ist, sich ihm
auszuliefern?"
Wenigstens hatte das unsichtbare
Wesen eine Stimme, eine dunkle, kräftige, menschliche Stimme.
"Ihr beobachtet mich schon einige
Zeit?"
"Allerdings."
"Und warum habt Ihr mir nicht geantwortet?"
"Ich weiß, was du willst - und ich
brauche dich nicht."
"Meine Freundin hat ..."
"Das Gänslein hat dir von meinem
guten Herzen erzählt? Ein vortrefflicher
Scherz! Hat sie mich gar als Lehrmeister empfohlen? Du wirst dich wundern,
was es bei mir zu lernen gibt."
Wieder lachte er in der ihm eigenen
dröhnenden Art und Franziska hielt
plötzlich die Hohnreden Melanies und
das Bettlerleben gleichermaßen für verlockender als dieses unheimliche Haus
mit seinem unheimlichen Bewohner.
"Da Ihr keine Magd braucht, werde
ich mich woanders umsehen. Verzeiht
mir, dass ich ..."
"Leider kann ich dich jetzt nicht mehr
gehen lassen."
"Warum nicht?"
"Weil ich nicht weiß, was du gesehen
hast. Es gibt nur noch zwei Möglichkeiten - entweder ich bringe dich um oder
ich nehme dich tatsächlich in meine
Dienste - wie du das nennst."
Franziska war sich keineswegs sicher,
welcher der Möglichkeiten er mehr zuneigte und beruhigte sich erst wieder,
als er nach persönlichen Dingen zu fragen begann.
"Du bist keine Gauklerin. Du
stammst aus besserer Familie."
Das klang mehr wie eine Feststellung
als wie eine Frage. Zudem war unklar,
ob es bei diesem Menschen Vorteile
brachte, Tochter eines Lehnsritters zu
sein. Ramiras Eindruck, die Behauptungen der Magd und ihre eigenen
Empfindungen, das alles passte nicht
zusammen. Nachdem Stefanus eine
Öllampe geholt hatte, konnte sie ihn
wenigstens sehen.
"Folge mir!" befahl er.
"Wohin?"
"Das wirst du gleich sehen."
Mit der Lampe in der Hand ging er
voran. In einem winzigen Zimmer auf
der Hofseite schlug er einen abgewetzten Teppich zurück und öffnete eine
Klappe im Fußboden. Eine Stiege führte
hinab zu einem Kellerraum, der wohl
zum Lagern verderblicher Vorräte gedacht war, jedoch leer stand. Lediglich
ein altes Regal gab es darin. Damit allerdings hatte es eine besondere Bewandtnis. Es ließ sich vermittels eines
Scharniers bewegen und verdeckte eine
Tür, hinter der ein abschüssiger Gang
begann.
"Wohin gehen wir?" wiederholte
Franziska ihre Frage.
Diesmal bekam sie gar keine Antwort. Nach etwa zwanzig Schritten
mündete der enge Gang in einen größeren.
"Wir sind am Ziel."
"Wie meint Ihr das?"
"Wie ich es sage. Das hier ist mein
Königreich."
Das Mädchen blickte sich um. Der
Gang war sorgfältig mit Ziegeln ausgemauert, mit einem Tonnengewölbe abgedeckt und erlaubte sogar sehr großen
Menschen, aufrecht darin zu laufen.
Eine Funktion indes besaß er offenbar
nicht.
"Ein vergessener Abwasserkanal der
Römer", erklärte Stefanus, der ihre Gedanken erriet. "Vor ein paar hundert
74
Jahren wären wir hier buchstäblich im
Dreck gewatet."
"Ihr seid König über einen Abwasserkanal?"
Einen Augenblick fürchtete sie, er
würde ihr die vorlaute Frage verübeln,
doch er lachte nur.
"Mein Reich besteht nicht nur aus
diesem Kanal. Es ist in Wahrheit so
groß, dass du es nie wirst ganz kennen
lernen."
Bei diesen Worten öffnete er mit einem langen Schlüssel eine eiserne Tür.
Nun nahm für Franziska das Staunen
kein Ende mehr. Dieser geheimnisvolle
Mensch besaß unter der Erde ein ganzes
Labyrinth aus verschieden großen Räume und Gänge. Drei der unterirdischen
Kammern hatte er sogar mit Möbeln,
Teppichen und allerlei Schmuckstücken
ausgestattet. Wie war ihm gelungen, die
großen Stücken über die Stiege und
durch den engen Gang hierher zu bringen? Wahrscheinlich besaß das Labyrinth noch andere Ausgänge. Fraglich
war auch, weshalb Stefanus überhaupt
all diese Kostbarkeiten gesammelt hatte,
denn die Möbeln ließ er verstauben, die
Teppiche von Motten zerfressen und die
Intarsien eines Schrankes durch herabtropfendes Wachs verderben. Es sah
so als, als legte er es direkt darauf an,
die sonst nur Patriziern und Adligen
zustehenden Gegenstände in einer völlig
unpassenden Umgebung so lächerlich
wie möglich erscheinen zu lassen, sie
gewissermaßen stellvertretend für die
Mächtigen der Stadt zu demütigen.
"Nun, wie gefällt es dir hier?"
Während das Mädchen noch nach einer ungefährlichen Erwiderung suchte,
setzte er hinzu:
"Du wirst dich schon dran gewöhnen.
Ich muss dich für zwei Tage hier unten
einsperren."
"In dieser Gruft?!"
Er zuckte mit den Schultern.
"Nur so kann ich verhindern, dass du
mir davonläufst, wenn ich nicht im
Haus bin. Übrigens hast du genügend
Essen und Trinken hier unten. Auch das
Öl für die Lampe müsste reichen, wenn
du sparsam damit umgehst."
Jede weitere Unterredung lehnte er
ab. Er ging einfach und schloss die Tür
hinter sich ab.
II
F
ranziska begriff, dass sie eine
Gefangene war, und argwöhnte,
dass dieser undurchschaubare
Einzelgänger von Raub, Diebstahl oder
Wilderei lebte. An die Geschichte von
seiner geheimen Mission im Auftrage
des Kaisers glaubte sie jedenfalls nicht
mehr. Obwohl sie eigentlich kein Hasenfuß war, schlug ihr das Herz bis zum
Halse. Sie lauschte auf jedes Geräusch,
das sie sich nicht erklären konnte, und
davon gab es genug in dieser Behausung. Ihrer Freundin Ramira grollte sie
trotzdem nicht. Sie hätte sich auf ihren
Vorschlag ja nicht einzulassen brauchen.
Nach mehreren Stunden lähmender
Angst wurde sie wieder etwas ruhiger.
Unmittelbar drohte ihr wohl keine Gefahr. Also nahm sie die Öllampe und
begann, das unterirdische Reich zu erkunden. Im hintersten der drei eingerichteten Räume fand sie in der Decke
einen Riss, der das Tageslicht hereinließ. Das steigerte ihre Zuversicht, auch
wenn sie durch den engen Spalt nicht
nach draußen gelangen konnte. Im Übrigen tröstete sie sich mit ein wenig
Selbstbetrug. Hieß es nicht, dass oft
gerade die unfreundlichen Menschen
ein weiches Herz besitzen? In Wildeshausen hatte sie oft den Schmieden,
75
Maurern und Zimmerleuten zugesehen.
Schon immer waren ihr die Heuchler
unangenehmer gewesen als die Grobiane.
Als Stefanus zurückkehrte, brachte er
sie (nach einer Begrüßung die eher ein
Brummen war als ein verständlicher
Satz) wieder nach oben in sein Haus,
genauer: in einen auf der Hofseite gelegenen, verhältnismäßig großen Raum,
der als Küche und Wohnzimmer gleichermaßen diente. Dort packte er (ohne
sie anzublicken, ganz so, als wäre er
allein) bedächtig einen Sack aus. Vor
allem Lebensmittel holte er daraus hervor - einen Laib Brot, ein halbes Dutzend Käseecken, ein stattliches Stück
Schinken, Butter, Gemüse, anderes
mehr. Das meiste davon verstaute er in
einem Loch unter dem Fußboden, um es
kühl zu halten. Gegen Ungeziefer
schützte eine Steinplatte als Abdeckung.
Franziska, deren Augen sich noch
nicht umgewöhnt hatten, empfand den
Raum als hell. In Wahrheit schien die
Sonne nur frühmorgens hinein und
selbst das lediglich im Sommer. Immerhin aber waren tagsüber die Fensterläden geöffnet, da Stefanus auf dieser
Seite des Hauses nicht mit neugierigen
Blicken zu rechnen brauchte. Das Mädchen nahm die vermeintliche Helligkeit
und den Duft der frischen Lebensmittel
als Bestätigung ihrer Zuversicht und
versuchte, ein Gespräch zu beginnen.
"Wart Ihr weit fort?"
"Das geht dich nichts an!"
Immerhin wies er ihr mit einer kurzen
Handbewegung einen Platz am Tisch zu
und schob ihr ein rundes Holzbrett hinüber. Dann schnitt er eine dicke Scheibe
Brot ab, bestrich sie reichlich mit Butter
und nahm sich mit der Spitze eines langen Dolches aus einer Schüssel ein
mächtiges Stück kalten Braten. Franziska, die kein Messer bei sich trug, bediente sich mit den Händen. Der ersten
Scheibe folgten eine zweite und dritte.
Das Mädchen musste lange zurückdenken, um sich an eine ähnlich reichhaltige Mahlzeit zu erinnern.
Am Essen mangelte es bei Stefanus
auch in der Folgezeit nie - neben dem
Schutz vor Kälte und Wind, Regen und
Schnee ein großer Vorzug. Ansonsten
jedoch gab es für Franziska wenig Ursache zum Wohlfühlen. Vor allem litt
sie darunter, dass sie tatsächlich nicht
gebraucht wurde. Der Sonderling erledigte all jene Arbeiten, die gewöhnlich
zu den Aufgaben der Frauen gehörten,
mit dem verblüffenden Geschick des
Einzelgängers selbst. Und was er für
überflüssig hielt, sollte auch kein anderer für ihn tun.
Beim Zubereiten der warmen Mahlzeiten bediente er sich eines verschwenderisch großen Herdfeuers.
Fleisch briet er nach Art der Ritter im
Feld an einem Spieß, alles andere kochte er in einem eisernen Kessel. Allerdings legte er fast nur auf die Menge
wert. Mit Gewürzen konnte er nicht
umgehen, Rezepte kannte er nur wenige. So schmeckten seine Gerichte ziemlich eintönig, obwohl die Zutaten gut
genug für die Tafel eines Adligen gewesen wären.
Franziska langweilte sich derart, dass
sie eines Tages aufbegehrte, so sehr sie
sich auch vor ihm fürchtete.
"Warum lasst Ihr mich nicht wenigstens kochen?"
Er musterte sie lange, dann fragte er
zurück:
"Kannst du denn kochen?"
Sie wurde verlegen, und er begann,
ohne eine Antwort abzuwarten, höhnisch zu lachen.
"Du kannst es nicht. Du bist eine
Tochter aus besserem Hause. Man hat
dir Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Sicherlich sprichst du ein wenig Lateinisch und Französisch. Du
weißt auch, wie man sich in Gegenwart
eines Kirchenfürsten benimmt. Aber du
76
würdest ohne Mägde und Knechte auf
Dauer nicht überleben."
Sie wollte ihm entgegenhalten, dass
sie ein paar Monate sehr wohl auf sich
allein gestellt überlebt hatte. Doch sie
ließ es bleiben, weil sie begriff, dass er
sie einfach nicht mochte, weder als
Mädchen noch als Gefährtin. Dass er ihr
so unverhüllt zu verstehen gab, wie lästig sie ihm war, kränkte sie sehr und sie
schwor sich, bei der nächsten Gelegenheit zu fliehen, um sich woanders nach
einer Bleibe umzusehen.
Allerdings erwies sich Stefanus als
ungewöhnlich aufmerksam. Selbst wenn
er allem Anschein nach fest schlief,
merkte er sofort, wenn sie aufstand und
sich anzog. Folglich blieben ihr nur jene
Stunden, in denen sie in seinem unterirdischen Reich allein war. Im festen
Glauben an einen zweiten Zugang, begann sie (seiner Verbote zum Trotz),
den vom hintersten Raum abgehenden
Gang zu erkunden.
Mit der Öllampe in der Hand (und
mit weichen Knien) drang sie in die
Finsternis vor. Von den Wänden lief in
dünnen Rinnsalen Wasser herab. Mäuse
huschten an ihren Füßen vorüber.
Spinnweben streiften ihr Gesicht. Die
Schauergeschichten, die Stefanus ihr
erzählt hatte, um sie von den Gängen
fernzuhalten, taten ein Übriges. Dreimal
kehrte sie, von ein paar Tropfen oder
ihrem eigenen Schatten genarrt, in heller Panik um.
Der tonnegewölbte Gang, dem sie anfangs folgte, begann sich nach etwa
hundert Schritten zu verästeln. Manche
Wege verloren sich im Grundwasser,
andere waren eingestürzt. Immer wieder
aber blieb wenigstens einer, der in neue
Teile des unterirdischen Reiches führte.
Franziska fand Räume, deren Decke
fremdartig verzierte Säulen stützten,
und solche, in denen heidnische Figuren
aus bleichem Gestein standen. Das alles
mutete an wie eine versunkene Stadt.
Was hatten die Bewohner dieser Stadt
verbrochen, dass ihre Häuser nun unter
der Erde standen? Hatte womöglich der
Teufel sie mit all ihrer Habe in die Tiefe
gezogen? Aus Furcht, sich zu verlaufen
und auch, weil es ihr des Grauens genug
war, brach sie die Erkundung schließlich ab - ohne einen Ausgang gefunden
zu haben (und argwöhnend, ein bedeutsames, womöglich furchtbares Geheimnis noch nicht zu kennen).
III
Z
wei Wochen vergingen, ohne dass
etwas Besonderes geschah, dann
aber erlebte Franziska eine Überraschung.
"Weißt du eigentlich, wovon ich lebe?" fragte Stefanus unvermittelt beim
Frühstück.
"Es heißt, Ihr wäret ein Graf aus Bayern."
"Glaubst du das?"
"Nein."
"Es stimmt auch nicht. Allerdings habe ich etwas gemeinsam mit den Adligen. Ich lebe von dem, was andere Leu-
te sich erarbeitet haben. Unterschiedlich
ist allein, dass jene mit Billigung der
Kirche und des Kaisers rauben, ich hingegen ohne einen solchen Freibrief.
Wenn du willst, kannst du mich auf
meinem nächsten Beutezug begleiten."
Franziska war so verblüfft über diese
Wendung, dass sie zunächst nicht wusste, was sie davon halten sollte. Wieso
schenkte er ihr plötzlich so viel Vertrauen? Wollte er sie an einen einsamen
Ort führen und dort ermorden? Und was
erwartete er von ihr, falls sein Angebot
aufrichtig war? Letztlich aber fühlte sie
77
sich auch geehrt. Sie wurde sich bewusst, dass sie ihn nicht nur fürchtete,
sondern in gewisser Weise auch bewunderte.
Mitten in der Nacht holte er sie aus
dem Bett und kletterte mit ihr zum Abwasserkanal der Römer hinab. Dort verband er ihr die Augen, damit sie das
Labyrinth nicht gar zu gut kennen lernte. Erst als er mit ihr nach einem langen,
verwirrenden Weg nahe dem Rhein aus
der Tiefe hinaufgestiegen war, nahm er
ihr die Binde wieder ab. Nun schlichen
sie am Ufer entlang bis zu einem verborgen bereitliegenden Floß.
Stefanus sprach kein Wort und erwartete, dass Franziska von selbst das Richtige tat. Erriet sie etwas nicht sofort,
lenkte er sie mit schmerzhaften Rippenstößen. Die Strömung trug sie zwischen
der Stadt auf der linken Seite und den
dicken Türmen der römischen Festung
Deutz auf der rechten dahin. Durch
leichte Steuerbewegungen mit einer
Planke erreichten sie ein gutes Stück
hinter der Kunibertstorburg (dem nördlichsten Turm der Mauer) das andere
Ufer. Dort verwarnte Stefanus das Mädchen:
"Verhalte dich lautlos wie eine Katze!
Ich erwürge dich, wenn du mich durch
deine Tollpatschigkeit verrätst."
Da sie fürchtete, dass er seine Drohung wörtlich meinte, war sie von nun
an aufmerksam wie ein Luchs.
Vor ihnen hoben sich schwach die
Umrisse einer Siedlung vom Nachthimmel ab. Zuerst schlichen sie sich
gebückt an, dann, als die ersten Hunde
anschlugen, warfen sie sich auf den
vom Schneeregen durchnässten, eisig
kalten Erdboden und krochen wie Eidechsen bis zu einer mannshohen Hecke, die das gesamte Dorf einfriedete.
Stefanus entdeckte mit geübtem Blick
trotz der Finsternis einen Durchschlupf
im dichten Gezweig. Freilich war das
Loch so eng, dass die Dornen ihnen die
Haut zerrissen, als sie sich hindurchzwängten.
Im ersten Gehöft gab es offenbar wenig zu holen.
"Hinter dem Strauch entlang! Dann
nach rechts!" raunte der Räuber.
Franziska glitt gehorsam in die befohlene Richtung. Als sie sich dabei an
einer spitzen Luftwurzel eine tiefe, blutende Wunde in den Arm schnitt, biss
sie sich in den Daumen, um einen
Schmerzenslaut zu unterdrücken.
Am Anger stand das Haus des
Schultheißen, ein großes Haus mit einem ausgedehnten, durch eine eigene
Hecke vom übrigen Dorf abgegrenzten
Garten. Stefanus kletterte über das Tor,
Franziska folgte ihm. Plötzlich hörten
sie ein Knurren, und mit gefletschten
Zähnen sprang ihnen ein Wachhund von
der Größe eines Kalbs entgegen. Der
Räuber hatte damit wohl gerechnet, riss
blitzschnell ein Schwert heraus und
schnitt ihm die Kehle durch. Im nächsten Moment brach der Hund zusammen,
ohne noch einmal bellen zu können.
Franziska stand daneben, sah wie das
Blut hervorspritzte und glaubte in seinen Augen die Frage zu lesen, warum
dieser fremde Mensch ihn für seine
Treue umbrachte. Zitternd vor Schreck
und Grauen, musste sie sich abwenden.
"Was stehst du herum?" fauchte Stefanus und stieß sie hinter einen Holzstapel. "Oh! Die Prinzessin ist zart besaitet
und würde sich lieber von so einer Bestie zerreißen lassen, als sie zu töten!"
Aus der Deckung beobachteten beide
das Haus. Nichts rührte sich. Nun begann der Räuber, wahllos Hühnern und
Gänsen den Kopf abzuschlagen, während Franziska die toten Tiere einsammeln musste. Viel Zeit blieb ihnen dafür
nicht, denn das wilde Schnattern weckte
den Schultheiß und seine Knechte. Bald
waren Männerstimmen zu hören. Fackeln erleuchteten den Garten. Stefanus
und Franziska jedoch krochen bereits
78
wieder dem Schlupfloch entgegen. Und
dann rannten sie auch schon, so schnell
ihre Füße sie trugen, den Uferhang hinab zu ihrem Floß.
Während sie stromaufwärts zurück in
die Stadt ruderten, fielen Franziska ihre
Fluchtpläne wieder ein. Sie fühlte, dass
sie (wenn überhaupt) nur während eines
Raubzuges Gelegenheiten zum Entkommen haben würde. Als sie sich dem
Ufer näherten, war sie fest entschlossen.
Kurz nach dem Anlegen kam tatsächlich die erhoffte Situation. Stefanus
hantierte am Floß, ohne auf sie zu achten. Sie hätte nur davonzulaufen brauchen, doch - sie tat es nicht, wartete
stattdessen auf ihn und ließ sich dann
ohne Zwang wieder die Augen verbinden.
Obgleich er es nicht aussprach, war
Stefanus beim ersten gemeinsamen
Streifzug offenbar mit Franziska zufrieden gewesen. Er gab ihr Ratschläge,
erklärte ihr seine nächsten Pläne, nahm
sie immer häufiger bei seinen Unternehmungen mit - kurz: er nahm sie
ernst. Ihr wiederum begann dieses Leben zu gefallen. Abends auf ihrem Lager besann sie sich manchmal mit Erschrecken darauf, dass sie mindestens
einmal in der Woche nichts Geringeres
als den Galgen riskierte. Doch ihr fielen
jedes Mal Ausreden ein. Stefanus war
für sie so etwas wie ein Vormund und
sie musste ihm gehorchen. Zudem beraubten sie (allein schon der zu erwartenden Beute wegen) ausschließlich die
Reichen, die ihr Geld und Gut meistens
auch nicht auf gottgefällige Weise zusammengerafft hatten.
Wenn Stefanus einen Beutezug plante, bereitete er sich sorgfältig vor. Hatte
er beispielsweise das Haus eines reichen
Bürgers im Auge, beobachtete er es
tagelang und prägte sich jede Kleinig-
keit ein. Niemals ließ er sich auf ein
unsicheres Unternehmen ein. Seit er
durch eine Unvorsichtigkeit von der
Gauklerin Ramira an einem verdächtigen Ort in Verlegenheit gebracht worden war, hüllte er sich beim Rauben in
einen weiten Kapuzenmantel. Wenn
Franziska ihn begleitete, musste sie sich
in ähnlicher Weise verkleiden.
Die Beutestücke verkaufte er auf geheimnisvolle Weise an einen geheimnisvollen Hehler, den das Mädchen
niemals zu sehen bekam. Dabei spielten
verschiedene Verstecke eine Rolle. Eines davon befand sich mitten im Gewirr
des Leystapels, ganz in der Nähe jener
Stelle, wo Ramira ihn gesehen hatte.
Mit dem Geld, das er dabei einnahm,
ging er auf den Markt und besorgte sich
wie ein ehrbarer Bürger, was ihm beliebte.
Ein wenig wunderte sich Franziska,
dass Stefanus nicht mit ihr anzubändeln
versuchte. Er behandelte sie wie einen
Kumpan und schien gar nicht zu bemerken, dass sie ein Mädchen war. Sie gewöhnte sich deshalb an, in ihm eine Art
Vater zu sehen. Nur wegen zwei Dingen
grämte sie sich - dass sie nicht in die
Kirche gehen und nicht ihre Schwester
sehen durfte. Als sie den Räuber deshalb ansprach, begann er zu fluchen:
"Was liegt dir an den Pfaffen? Willst
du Absolution von ihnen? Glaubst du,
dass diese Hurenböcke dich mit dem
lieben Gott aussöhnen können? Vielleicht beten sie für dich, während sie
einer Dirne zwischen den fetten Schenkeln liegen! Diese Aasgeier!"
Für ihre Sehnsucht nach Pentia brachte er mehr Verständnis auf. Er richtete
es fortan so ein, dass sie gelegentlich
auf dem Weg zu einem der Märkte am
Gauklerlager vorbeikamen.
79
IV
E
s war Mitte März geworden. Der
Winter hatte seine Kraft verloren, doch gänzlich zog er sich
noch nicht zurück. An manchen Tagen
schien die Sonne, an anderen schneite
es. In den Nächten gefroren die Pfützen
des getauten Schnees. Ähnlich widersprüchlich sah es auch in Franziska aus.
Stefanus behandelte sie wieder fast so
grob und geringschätzig wie am Anfang, ohne dass sie herausfand, weshalb
er ihr grollte. Immerhin nahm er sie
weiterhin auf seine Streifzüge mit. Unterwegs freilich kränkte er sie häufig
mit gehässigen Bemerkungen.
"Ich warte noch ein wenig, damit du
die Heilige Jungfrau um Erlaubnis fragen kannst", sagte er einmal, "Dein
Gewissen zieht dich herunter, als würde
dir ein Mühlstein am Hals hängen", ein
andermal.
Manchmal trug er ihr eine Arbeit auf,
bei der er annahm, dass sie sich ungeschickt anstellen würde, und verhöhnte
sie, wenn sich seine Vermutung als zutreffend herausstellte. Sie biss die Zähne
zusammen, wollte sich den Ärger nicht
anmerken lassen, wollte vor allem beweisen, dass er sie ganz falsch einschätzte. Doch sie kam an die Grenzen
ihrer Geduld. Als er sie den Kessel säubern ließ und sie dabei ununterbrochen
reizte, warf sie schließlich den Wischlappen in eine Ecke und ging trotzig
davon, ohne Rücksicht auf die zu erwartende Strafe.
Abermals schmiedete sie Fluchtpläne
und abermals geschah etwas, das sie
letztlich hinderte, einen davon auszuführen. Stefanus brachte ihr ein Geschenk mit, einen lang gestreckten, in
ein Stück Leinwand eingehüllten Gegenstand. Sie wickelte ihn aus und hielt
ein Schwert in der Hand. Es hatte eine
verhältnismäßig kurze Klinge und war
dadurch nicht allzu schwer. Der Steg
lief auf beiden Seiten in kleine, als Fratzen gestaltete Knäufe aus. Der Griff war
mit Draht umwickelt und endete mit
einem Gebilde, das an die Flügel eines
Schmetterlings erinnerte. Das alles
wirkte ein wenig verspielt und verschleierte den eigentlichen Sinn als
Waffe. Andererseits war sie aus gutem
Stahl gefertigt. Die Klinge zeigte keine
einzige Roststelle.
"Wie für dich geschaffen!" rief er begeistert.
"Geschaffen, um jemanden damit
umzubringen", murmelte sie, etwas beklommen.
"Du bist dafür verantwortlich, was du
damit anstellst, nicht der Schmied."
"Dann will ich es nicht haben."
"Und wie verteidigst du dich, wenn
du überfallen wirst?"
"Ihr müsst mich verteidigen! Ihr seid
ein Mann, ich bin ein Mädchen. Der
Apostel Paulus hat gesagt ..."
"Lass mich mit deiner Frömmelei in
Frieden!" schrie er ernstlich aufgebracht. "Ich werde dich nicht verteidigen. Ich zeige dir, wie du dich selbst
wehren kannst, nicht mehr und nicht
weniger."
"Jeder sagt mir etwas anderes. Der
Priester ..."
"Prinzessin! Ich schlage dich tot,
wenn du noch ein einziges Wort deines
elenden Priesters wiederholst. Ansonsten ist es deine Sache, ob du dir von mir
das Fechten beibringen lässt oder nicht.
Nur vergiss nicht: Dort draußen werde
ich dir nicht beistehen, niemals, was
auch geschieht."
Franziska dachte an den Einbruch der
Graukittel im Keller der Jevers und an
den Angriff vor dem Erzbischofspalast.
Stefanus hatte wohl Recht. Schon am
nächsten Tag erteilte er ihr unten im
Labyrinth die ersten Lehrstunden.
"Ich greife dich an, und du versuchst,
meine Schläge abzuwehren."
Sie nickte und gab sich redlich Mühe.
Schon nach kurzer Zeit aber schmerzten
ihr die Unterarme und vor allem die
Handgelenke so sehr, dass sie das
Schwert kaum noch anheben, geschweige denn damit fechten konnte.
"Im Ernstfall wärst du jetzt tot", sagte
er lakonisch.
"Ich bin eben ein Mädchen und hab
nicht so viel Kraft."
"Unsinn! Wenn du das Schwert wie
eine Stricknadel hältst, brauchst du dich
nicht zu wundern, dass dir die Arme
lahm werden. Sieh her! Du musst die
Ellebogen durchdrücken und den Griff
mit beiden Händen packen. Will dir nun
jemand den Kopf halbieren, holst du
Schwung, indem du die Klinge nach
hinten führst. Du lässt die Füße, wo sie
sind, und verdrehst den Körper, so weit
du kannst. Das ist so, wie wenn du ein
Bündel Gerten verbiegst."
Er führte es ihr mehrmals vor.
"Hast du's begriffen? Gut! Morgen
üben wir das. Und binde dir Lederriemen um die Handgelenke - so fest, dass
du sie nicht mehr bewegen kannst!"
Franziska verstand schnell, was Stefanus ihr zeigte. Sie lernte, dass Angriffe von oben sehr wirksam sind, weil
dann das Gewicht der Waffe hilft, dass
ihnen aber, wenn man nicht trifft, ein
Verteidigungsschlag von unten folgen
muss. Sie lernte, bei den Attacken zwischen rechts und links zu wechseln, dies
aber auf keinen Fall regelmäßig zu tun.
Und sie lernte, die Füße richtig zu setzen, um immer im günstigsten Winkel
zum Gegner zu stehen. Von ihrem
Rhythmusgefühl war ihr Lehrmeister so
begeistert, dass er sie manchmal (ganz
gegen seine Gewohnheit) dafür lobte.
Nach zwei Wochen verstand sie bereits, an den Schwüngen eines Angreifers zu erahnen, was er plant. Sie übte
nun, wie man Treppen und Möbelstücke
im Kampf ausnutzt, sich aus einer Ecke
befreit, aus einem Versteck heraus angreift. Ihre Hiebe wurden unterdessen
(ohne dass sie es merkte) immer wuchtiger. Als Stefanus ihr einmal statt seines Schwertes einen armdicken Ast
entgegenhielt, sah sie erschrocken, dass
das frische Holz zersplitterte.
Die schnellen Erfolge entfachten ihren Ehrgeiz und riefen unterdrückte
Veranlagungen wach. Als Kind hatte sie
sich mit den Söhnen der Bauern wilde
Stockgefechte geliefert und damit die
Missbilligung der Eltern zugezogen. In
beiden Fällen aber waren diese Übungen für sie nur ein Spiel - was ihrem
Lehrmeister selbstverständlich nicht
entging. Eines Tages tadelte er sie:
"Ich habe dir dein Schwert aus der
Hand geschlagen und du lachst darüber.
Du strengst dich nicht an."
"Das ist nicht wahr!"
"Doch! Es ist dir gleichgültig, ob du
siegst oder verlierst."
"Was soll ich ausrichten gegen einen
Mann wie Euch?!"
"Du würdest auch gegen einen
Schwächling verlieren. Wenn du fechtest, schaust du drein wie eine Nonne,
die gerade Waisenkinder versorgt. Dein
Gesicht muss aber einer Dämonenfratze
gleichen. Es darf nichts anders darauf
zu sehen sein als der Wille zu töten kein Schmerz, keine Angst, kein Mitleid. Dein Herz muss stark sein, nicht
dein Arm. Ist es im Kampf hart wie dein
Schwert, wirst du jeden besiegen."
Franziska erwiderte nichts. Stefanus
redete wie jemand, dem Glaube und
Ehre nichts bedeuten, und sie fragte sich
(zum hundertsten Mal wohl schon) ob
er ein Knecht des Teufels war (vor dem
sie sich in Acht nehmen musste) oder
ob vielmehr sie (wie er behauptete)
81
nichts von der Welt verstand. Ihre
Zweifel änderten freilich nichts daran,
dass sie weiterhin mit ihm fechten übte,
dass sie seine Hinweise gelehrig beher-
zigte und dass sie bald so manchen
Knappen hätte bedenkenlos herausfordern können.
V
A
m ersten Sonntag im Juni wollte
der Herzog von Brabant in seinem Kölner Anwesen ein Fest
geben und hatte einige der reichsten
Patrizier der Stadt mitsamt ihren Familien dazu eingeladen. Nun galt es als
Zeichen besonderer Würde und Bedeutung, mit einem großen Gefolge zu
erscheinen, was einen der Geladenen zu
dem Einfall trieb, seine gesamte Dienerschaft mitzunehmen und sein Haus für
mehrere Stunden leer stehen zu lassen.
Stefanus erfuhr durch Zufall von diesem
Plan und gedachte, sich die gute Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Kurz
vor Sonnenuntergang jenes Tages brach
er gemeinsam mit Franziska auf.
Nördlich des Forum feni floss der
Duffesbach, der von Westen nach Osten
die ganze Stadt durchschnitt und mehrmals die Farbe wechselte, ehe er den
Rhein erreichte. Hinter der Bachpforte
führte er noch sauberes Wasser und
konnte von den Wäschern und Bleichern genutzt werden. Rot sah er aus,
nachdem die Gerber ihre Rinderhäute
darin behandelt hatten, blau hinter den
Werkstätten der Waidfärber. Schließlich
eignete er sich nur noch zum Antreiben
von Mühlen und für die bescheidenen
Bedürfnisse der Hutmacher. Am unteren Ende wurde er gar nicht mehr genutzt. Hier schlängelte er sich durch
Anwesen einiger sehr vornehmer Kölner Familien, die sich gegen den
schmutzigen Bach mit soliden Mauern
abgrenzten.
Jene Gegend war selbst für Stefanus
zu gefährlich. Patrizier dieses Ranges
leisteten sich eine Bewachung wie Ad-
lige. Nordwestlich davon aber schloss
sich das Viertel um das Stift St.Georg
an. Die hier wohnten, waren zwar
gleichfalls steinreiche Kaufherren,
konnten aber eine Winzigkeit weniger
für ihre Sicherheit tun. Das genügte, sie
zu Opfern der kühnsten und gerissensten unter den Räubern werden zu lassen.
Der Vollmond erleichterte den beiden
den Weg zu ihrem Ziel, zwang sie aber
zugleich zu besonderer Vorsicht. Stefanus ging voran. Nach einer halben
Stunde blieb er plötzlich stehen und
flüsterte:
"Dort ist es."
Franziska spannte sich innerlich,
wurde aufmerksamer. Er zeigte ihr eine
leicht zu erklimmende Stelle an der
Umfassungsmauer. Sie nickte und kletterte hinauf. In wenigen Sprüngen
durchquerten beide den Vorgarten. Er
brach fast lautlos einen Fensterladen
auf. Sie reichte ihm das Handwerkszeug
zu. Beide verstanden einander blind und
ohne Worte.
Sich ohne Licht in einem fremden
Haus zurechtzufinden, ist nicht einfach.
Stefanus besaß allerdings auch dabei
seine Erfahrungen. Als sie die drei besten Räume der Herrschaftsfamilie gefunden hatten, verhängten sie alle Fenster mit dunklen Tüchern und entzündeten eine Kerze. Nun konnten sie sich in
Ruhe umsehen und vom Wertvollsten
soviel in die mitgebrachten Säcke stopfen, wie sie zu tragen vermochten.
Der Raubzug gelang vorzüglich - bis
plötzlich Schritte zu hören waren. Beide
hielten inne, lauschten. Sie hatten sich
nicht geirrt. Jemand näherte sich der
82
einzigen Tür, durch die sie hätten fliehen können. Stefanus zog sein Schwert
und bedeutete Franziska, sich hinter
einem Schrank zu verstecken. Eine Gestalt trat ins Zimmer. Der Räuber hatte
schon die Waffe zum Angriff gehoben,
da sah er, dass es eine Frau war. Offenbar noch völlig arglos, untersuchte sie
kopfschüttelnd die auf dem Tisch stehende Kerze.
Stefanus erkannte die junge Frau des
Patriziers wieder. Warum sie ihren
Mann nicht zum Empfang des Herzogs
begleitet hatte, wusste er nicht, und es
beunruhigte ihn, dass es einen Fehler
gab in seinem Plan. Er fragte sich, ob
womöglich auch noch ein paar Knechte
zurückgeblieben waren, und durchdachte blitzschnell alle Möglichkeiten,
die ihm offen standen. Dann steckte er
leise sein Schwert in die Scheide, zog
stattdessen seinen Dolch, verhüllte sein
Gesicht mit einem Tuch und stürzte sich
von hinten auf die Frau. Indem er ihr
mit seiner breiten Hand den Mund zuhielt, hinderte er sie am Schreien.
"Ein Laut von dir und ich bringe dich
um!" raunte er und zeigte ihr den Dolch.
Sie starrte ihn aus großen Augen an,
war völlig verängstigt.
"Warum bist du nicht auf dem Fest
des edlen Herzogs?"
"Eines von unseren Kindern ist krank
geworden."
"Wer ist außer dir noch hier?"
"Das kranke Kind - ein sechsjähriger
Knabe. Sonst niemand."
"Du lügst."
Er holte die Kerze vom Tisch, stopfte
der Frau ein Stück Stoff als Knebel in
den Mund und ließ das heiße Wachs in
ihren Busen tropfen. Sie versuchte verzweifelt, sich ihm zu entwinden, doch er
hielt sie an den Haaren fest. Als er
glaubte, dass es genug sei, zog er ihr
den Knebel wieder aus dem Mund und
fragte:
"Habe ich dich überzeugt?"
"Zwei Diener sind noch da. Sie schlafen unten in der Laube."
"Ich wusste, dass wir uns einigen.
Jetzt will ich nur noch eine kleine Gefälligkeit von dir, und schon bist du
mich wieder los."
Mit diesen Worten riss er ihr das
Kleid auf und schleuderte sie auf den
Boden.
"Bitte nicht!" flehte die junge Frau,
doch das nutzte ihr wenig.
Stefanus sprang auf sie drauf und befriedigte an ihr seinen Trieb wie ein
Tier. Anschließend, als sei nichts gewesen, sagte er zu Franziska:
"Wir verschwinden durch den Garten
hinter dem Haus. Es ist fast ein Wunder,
dass uns die Diener nicht gehört haben,
als wir vorhin direkt an der Laube vorbeigegangen sind!"
Das Mädchen nickte, nahm ihre zwei
Beutesäcke und folgte ihm wie eine
Traumwandlerin. Sie hatte schon
Schlimmeres gesehen, seit sie in Köln
angekommen war. Dass aber Stefanus,
an dessen Seite sie monatelang gelebt,
den sie als Vaterersatz anerkannt, dem
sie vertraut hatte, dass er sich kaum
anders benahm als die Graukittel, das
konnte sie nicht verwinden.
"Ihr müsst Buße tun", sagte sie, als
sie mit ihm wieder im Versteck angekommen war.
Noch hoffte sie, ein böser Geist sei
plötzlich über ihn gekommen, ein Dämon, der sich mit Gebeten und einem
geweihten Kreuz vertreiben lässt. Er
aber war weit davon entfernt, etwas zu
bereuen.
"Warum soll ich dir das erklären? Du
wirst es nicht begreifen. Ich hatte das
Recht mir die Frau zu nehmen - ich war
stärker als sie. Die Welt gehört den
Wölfen, und wenn du nicht selbst ein
Wolf wirst, musst du dich fressen lassen."
83
VI
F
ranziska hielt nun endgültig
nichts mehr bei dem Räuber, und
sie war fest entschlossen, die
nächste Gelegenheit zur Flucht tatsächlich zu nutzen. Das wusste aber auch
Stefanus. Er nahm sie nicht mehr zum
Markt mit (was zur Folge hatte, dass sie
ihre Schwester nicht sah), unternahm
seine Raubzüge wieder ausschließlich
allein und sperrte sie, wenn er das Haus
verließ (und sei es nur kurz) in sein unterirdisches Reich ein.
Sie hatte wieder viel Zeit zum Grübeln. Dass er sie im Grunde nicht
brauchte, beunruhigte sie. Sie traute ihm
neuerdings durchaus zu, sie einfach zu
ermorden, um sie loszuwerden und
gleichzeitig als Mitwisser zum Schweigen zu bringen. Freilich besaß sie inzwischen ein Schwert, mit dem sie umzugehen verstand. Ob ihr das gegen
einen Mann wie Stefanus helfen würde,
das wusste sie nicht, aber sie nahm sich
vor, um ihr Leben zu kämpfen. Die
Waffe lag immer griffbereit in ihrer
Nähe.
Tatsächlich packte er sie eines Tages
unten im Labyrinth und drückte sie gegen eine Wand, freilich nicht, um sie
zum Schweigen zu bringen, sondern
allem Anschein nach um sie als Frau zu
nehmen. Das verblüffte sie, denn
schließlich hatte er sie monatelang ganz
wie einen Jungen behandelt. Dann kam
es zu einem erbitterten Kampf. Sie riss
sich los, nahm ihr Schwert in die Hand
und ging damit auf ihn los. Er wich geschickt aus, angelte sich ihren rechten
Arm und entwaffnete sie. Sie griff nach
seinem rechten Ohr und drehte mit aller
Kraft daran. Er befreite sich mit einem
Fausthieb. Sie taumelte zurück, gab sich
aber nicht geschlagen.
"Willst du mich totschlagen oder als
Frau benutzen? Ich werde dir in beiden
Fällen die Augen auskratzen."
Sie war so von Hass erfüllt, dass sie
keinerlei Angst hatte. Nachdem sie sich
ein Stück in den Gang hinein abgesetzt
hatte, sammelte sie faustgroße Steine.
Er verzichtete dann allerdings darauf,
sie zu verfolgen.
Erst am nächsten Morgen kam sie
wieder hervor. Wortlos begleitete sie
Stefanus, der sie abholte, nach oben,
setzte sich zu ihm an den Frühstückstisch und bediente sich, wobei sie ihn
ständig im Auge behielt. Er war offenbar gut gelaunt.
"Ich bin stolz auf dich. Du hast viel
gelernt."
"Wollt Ihr mir einreden, dass Ihr
mich nur prüfen wolltet?"
"Du warst mutig und entschlossen.
Das alles hätte dir aber nichts genutzt.
Ich werde dir heute zeigen, wie du dich
wirklich retten kannst."
Gleich nach dem Essen befahl er ihr,
das Schwert zu holen, und ging mit ihr
nach unten.
"Zeige nicht sofort, dass du bewaffnet
bist! Trag dein Schwert unter den Kleidern oder verstecke es unter einem
Strauch oder einer Decke! Du musst es
blitzschnell greifen können, aber es darf
nicht zu sehen sein."
Franziska hörte ihm nur mit halbem
Ohr zu. Sie glaubte ihm nicht, dass er
ihr wirklich helfen wollte. Er war ohne
Zweifel ein Ungeheuer. Was konnte sie
von ihm erwarten?
"Stell dich am Anfang furchtsam!
Männer mögen es, wenn Frauen vor
ihnen Angst haben. Sie weiden sich
gern daran. Aber das macht sie auch
unaufmerksam. So kannst du dich unauffällig zurückziehen bis zu jener Stel-
le, wo dein Schwert versteckt ist.
Kommt er dann wie ein brünstiger Bulle
auf dich zu galoppiert, hältst du die
Klinge hin und spießt ihn auf, als ob du
ihn überm Feuer braten willst."
"Um Gottes Willen!"
"Du traust dich nicht? Nun gut! Ich
werde es mit dir üben, bis du dich
traust. Wir sparen uns das Possenspiel
am Anfang. Stell dich dort an die
Wand! Zurückweichen kannst du nicht,
aber du hast hinter deinem Rücken das
Schwert in der Hand. Jetzt beobachte
mich!"
Sie stellte sich an die befohlene Stelle. Er wartete einen Moment, dann
sprang er sie an. Sie reagierte praktisch
überhaupt nicht.
"Was soll das? Hast du mir nicht zugehört?"
"Ich kann doch nicht ..."
"Was kannst du nicht, Prinzessin?
Woher weißt du, dass es Spaß ist, was
wir hier treiben? Du hältst mich doch
für einen Dämon. Du erzählst es fast
jede Nacht im Traum. Vielleicht stimmt
es ja."
Franziska zitterte, hatte Todesangst.
Als er sie zum zweiten Mal angriff, war
sie dennoch zu langsam. Sie brachte es
einfach nicht fertig, die Klinge gerade
vor ihren Körper zu halten, so dass er
hineinlaufen musste.
"Fang nur nicht auch noch zu heulen
an! Wir versuchen es ein drittes Mal,
und diesmal ist es ernst."
Sie sah ihn auf sich zuspringen. Instinktiv riss sie das Schwert nach vorn
und - kniff die Augen zu. Ein gewaltiger
Stoß schleuderte sie gegen die Wand. Er
war hineingelaufen. Sie hatte ihn umgebracht. Halb irrsinnig ließ sie die Waffe
fahren, warf sich auf den Boden und
schlug die Hände vors Gesicht. Da
plötzlich hörte sie seine Stimme.
"Na bitte! Wenn du 's nicht getan hättest, wäre dir das allerdings auch verdammt schlecht bekommen!"
Sie schlug die Augen auf und sah,
wie er seelenruhig ein dickes Holzbrett
unter seinem Hemd hervorzog.
"Ich werde das niemals, niemals wieder tun! Beim nächsten Mal lasse ich
mich lieber umbringen."
Er antwortete nicht.
85
9.Kapitel
I
G
undula saß in der inzwischen
völlig finsteren Guten Stube und
wartete. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er um diese Zeit noch
käme, doch sie klammerte sich fest an
ihre vage Hoffnung, weil sie die Wahrheit einfach nicht ertrug. Dass er ab und
an eine Nacht nicht zu Hause verbrachte, daran hatte sie sich gewöhnt, und sie
stellte ihn längst nicht mehr zur Rede
deswegen. Sie wusste, dass er dann bei
einem seiner neuen Freunde schlief und
redete sich ein, dass er dort gut aufgehoben sei. Diesmal aber war er zwei
Nächte hintereinander fort geblieben und eine dritte Nacht hatte gerade begonnen.
"Ihm ist etwas zugestoßen!" dachte
sie und erinnerte sich, manchmal Spuren einer Prügelei an ihm gesehen zu
haben.
In diesen Wochen erzählte man sich
in der Stadt viel von Straßenschlachten
zwischen jungen Leuten, die sich entweder zum Erzbischof oder zum Rat
bekannten. Da sie Diplomatie und Geduld für Feigheit hielten, trugen sie jene
Kämpfe im Kleinen aus, welche ihre
Väter im Großen noch vermieden. Sie
gingen nicht mit scharfen Waffen aufeinander los, doch gefährlich war das
trotzdem. Faustgroße Steine warfen sie
mit Handschleudern durch die Luft, und
nicht selten wurden einzelne Mitglieder
der einen Partei von ganzen Gruppen
der anderen hinterhältig überfallen und
mit
Knüppeln
gnadenlos
zusammengeschlagen. Der Hass auf beiden Seiten war groß.
Gundula hatte dafür kein Verständnis.
Räuber und Diebe waren gottloses Gesindel, gegen das man sich schützen
musste. Was aber trieb Söhne aus ehr-
baren Familien zu solchen Gräueltaten?
Was trieb Hans dazu, der doch nichts zu
entbehren brauchte? Sie wusste auch
nichts mit den Losungen anzufangen.
Was hatten Juden, Gaukler und Bettler
mit dem Streit zwischen Erzbischof und
Rat zu schaffen? Die Juden hatten nicht
den rechten Glauben und lebten vom
Wucher, die Gaukler waren Schmutzfinken und stahlen wie die Raben, die
Bettler setzten sich zumeist nur deshalb
an den Straßenrand, weil ihnen die Lust
zur Arbeit fehlte. Es gab Grund genug,
ab und an dazwischenzuschlagen. Was
aber ging Hans das an? Gab es dafür
nicht die Waffenknechte? Auf das Geld
der Juden waren die Jevers nicht angewiesen, die Gaukler hielten sich fast nur
in der Innenstadt auf, die Bettler ebenso.
Leider konnte sie mit ihrem Sohn
darüber nicht reden. Dabei verstand sie
sich noch sehr viel besser mit ihm als
Ludwig. Für den gab es Hans nicht
mehr. Irgendwann in den letzten Monaten hatte er sich mit dem Verlust abgefunden. Der Erbe und Nachfolger war in
seinen Gedanken und Gefühlen gestorben. Wenn ihm dieser große, kräftige,
blonde Mann im Haus begegnete, zog er
die Stirn in Falten, senkte den Blick und
ging rasch weiter. Er sah einen Fremden
in ihm, einen Störenfried, den er nur der
Nachbarn und seiner Frau wegen nicht
vor die Tür zu setzen wagte. Die Ehe
der Jevers hatte Risse bekommen. Nicht
zuletzt deshalb mochte Gundula nicht
nach oben gehen. Ihr Mann war ihr keine Hilfe in ihrem Kummer. Was sollte
sie im Bett zu ihm sagen? Die Wahrheit,
um dann seine Befriedigung zu spüren,
seine Hoffnung, dass der Unglückssohn
tatsächlich verschwunden bliebe?
Dass Hans ganz aus freien Stücken
fortblieb, konnte sie noch immer nicht
denken. Lieber stellte sie sich vor, dass
er von einem Stein getroffen, blutend
bei seinen Freunden lag. Hätte sie gewusst oder wenigstens geahnt, wo diese
Freunde zusammenkamen, wäre sie
mitten in der Nacht aufgebrochen, um
zu ihm zu gehen. Wie viele junge Männer hatten schon Helden sein wollen
und dann in der größten Not doch nach
ihrer Mutter geschrieen! Ganz sicher
brauchte er sie jetzt, und sie konnte
nichts für ihn tun, außer zu beten.
II
A
uch Benno fand in dieser Nacht
keinen Schlaf. Ein ganzes Jahr
war vergangen, und er lebte noch
immer bei den Jevers. Handel treiben
durfte er in Köln nicht mehr, und auch
eine andere Arbeit bekam er nicht. Als
Fremder wurde er in der Stadt nur geduldet. So half er seinem Freund ein
wenig. Um aber Scherereien mit dem
Rat zu vermeiden, bestand Ludwig darauf, dass dies im Rahmen des Erlaubten geschah. Damit sank der Fernhändler auf die Stufe eines Knechts herab,
zumal er längst sein gesamtes Geld als
Ausgleich für die Beherbergung hergegeben hatte.
Allerdings wurde er sich seiner Lage
allmählich bewusst. Seine Sehnsucht
nach Franziska begann zu verblassen
und er fand die Kraft zu einem Entschluss. Er wollte nach Bremen reisen,
seine Niederlage eingestehen und mit
dem Geld seiner Frau einen Neubeginn
wagen. Ein leichter Gang würde das
nicht sein, doch entwürdigender als hier
in Köln konnte es für ihn kaum noch
kommen. Ludwig verachtete ihn immer
offener. Er hatte den Tag der Abreise
festgelegt und seinen inneren Frieden
wieder gefunden. Aber dann war ihm
auf dem Altmarkt Pentia über den Weg
gelaufen. Wie vom Himmel herab gefallen, stand sie plötzlich vor ihm. Sie trug
die typische Kleidung der Gaukler, war
etwas verlegen am Anfang, dann allerdings erstaunlich selbstbewusst. Er erkannte sie kaum wieder.
"Geht es dir gut?" fragte er sie, um irgendetwas zu sagen.
Sie nickte und beantwortete ihm unaufgefordert die Frage, an der allein ihm
wirklich gelegen war:
"Meine Schwester ist nicht bei uns.
Sie besucht mich manchmal am Abend,
aber nicht an jedem Abend."
Dann wurde sie gerufen und verschwand im Gewühl. Diese kurze Begegnung warf all seine Pläne wieder
über den Haufen. Er verschob die Abreise, um Franziska wenigstens Lebewohl zu sagen. Abend für Abend ging
er zum Forum und wartete. So aufmerksam er die Wagen aber auch beobachtete, er entdeckte sie nicht. Entweder sie
war ausgerechnet jetzt für längere Zeit
gehindert, zu ihrer Schwester zu gehen,
oder die beiden trafen sich heimlich an
einem ganz anderen Ort. Vielleicht hatte
die Kleine ihn sogar angelogen.
In jener denkwürdigen Nacht nun
rang Benno sich dazu durch, dennoch
abzureisen. Nur noch einmal wollte er
zum Forum gehen. Um sich die herablassenden Blicke der Jevers zu ersparen,
versuchte er, sich unbemerkt nach draußen zu schleichen. Aus der Guten Stube
vor ihm drangen jedoch Stimmen. Die
eine gehörte Gundula, die andere Hans.
Durch die Tür verstand Benno nichts,
merkte aber, dass sie sich stritten. In der
Hoffnung, dass sie zu sehr mit sich
selbst beschäftigt seien, um auf ihn zu
achten, schlüpfte er hinein. Er gelangte
jedoch nicht auf die Straße, denn Hans
87
versperrte ihm unabsichtlich den Weg,
so dass er unfreiwillig Zeuge der Auseinandersetzung wurde.
"Überlege es dir doch noch einmal!"
bettelte Gundula mit rot geweinten Augen. "Du weiß doch, wie sehr du uns
fehlen wirst!"
"Vor allem dem Herrn Kaufmann
Jever, den ich einmal meinen Vater
nannte, werde ich fehlen. Auf wen wird
er in Zukunft seine Misserfolge schieben? Wen brüllt er an, wenn ihm gerade
nach Brüllen zumute ist? Mit wem ..."
In eben diesem Moment kam Ludwig
herein. Die letzten Sätze hatte er wohl
mit angehört. Dennoch wirkte er gefasst
wie bei einer Verhandlung. Er trat langsam auf seinen Sohn zu und sagte nur
ein Wort:
"Raus!"
Die Kälte, die ihm da entgegenschlug, verwirrte Hans. Er wollte seinen
Eltern eigentlich noch einiges aus seiner
Kindheit vorhalten, wollte sich gewissermaßen davon frei reden, doch das
ging jetzt nicht mehr. Man wies ihn
hinaus wie einen Eindringling. Nicht
einmal für ein Abschiedswort war jetzt
noch Raum. Als er ging, ließ er beklemmendes Schweigen zurück. Gundula weinte leise, Ludwig lief von einer
Wand zur anderen auf und ab. Wie zum
Hohn stieg beiden dabei der Duft von
der festlich gedeckten Tafel in die Nase.
Unberührt dampfte in einer großen
Schüssel Schaffleisch mit Zwiebeln.
Auf den guten Zinntellern lag helles
Weizenbrot, wie es sonst nur zu den
hohen Festtagen gegessen wurde. Sogar
die fein gefertigten Daubenschalen, die
wie winzige Fässchen aussahen, hatte
Gundula aus der Truhe geholt, nur um
die Rückkehr des verloren geglaubten
Sohnes zu feiern. Nun war alles vergebens.
"Er hätte uns vielleicht noch das Haus
über dem Kopf angezündet!" rief Ludwig.
Eigentlich wollte er seine Frau damit
trösten, erreichte aber nur, dass sie noch
heftiger schluchzte, was wiederum in
ihm die Wut steigerte. In dieser Stimmung sah er den noch immer verstört an
der Tür stehenden Benno und fuhr ihn
an:
"Darüber freust du dich, nicht wahr?
Ein wenig Unterhaltung, da du ja nichts
zu tun hast, außer nach deiner Hure zu
suchen." Endlich konnte er sich an jemandem abreagieren. "Dein Anblick
wird unserem Sohn auch nicht gerade
angenehm gewesen sein. Du bist ein
Nichtsnutz, der das Unheil ins Haus
lockt. Seit du hier wohnst, folgt ein
Schlag dem anderen. Gestern misslang
mir ein sicheres Geschäft im letzten
Moment. Heute geht Hans fort ..."
Benno hielt sich die Ohren zu. Er
wusste nicht, wann sein Freund ihm so
fremd geworden war, nicht einmal, ob
er sich nicht vielleicht vom ersten Tag
an in ihm getäuscht hatte. Er wusste
nur, dass er gehen musste, erst einmal
für diesen Tag, und dann so bald wie
möglich für immer.
Über dem Neumarkt schien die Sonne
und in der Luft lag Blütenduft. An diesem Tag gab es keinen Markt, sondern
es wurden Wettkämpfe mit Bogen und
Armbrust ausgetragen. Nirgends sonst
in Köln konnte man dergleichen gefahrlos tun. Benno sah eine Weile dem
Treiben zu, ehe er sich durch das Gewühl der Schildergasse drängte, bis zum
Turm der Domus bellica. Dort fragte er
sich (wie damals, als er zum ersten Mal
nach ihr gesucht hatte), ob sich Franziska gerade mit dem Sohn Winrichs des
Griechen unterhielt. Sehr wahrscheinlich war das allerdings nicht mehr, denn
Winrich hätte auch Pentia zu sich genommen. Am Judenviertel wich Benno
in abergläubischer Furcht drei Männern
mit langen Schläfenlocken aus. Eine
Zeitlang lief er dann kreuz und quer
über den Altmarkt, von den Obstverkäu-
88
fern zu den Fischhändlern, von den Gewürzständen zu den Apotheken. Nur die
Ecke der Geldwechsler mied er, um Ole
nicht zu begegnen. Gegen Mittag begab
er sich schließlich hinüber zum Forum
feni.
Jetzt im Juni war der Platz nicht mehr
leer und öde wie im Winter. Vom
Schmutz der herbstlichen Getreide- und
Viehverkäufe gereinigt, ließ er sich
wieder von den verschiedensten Händlern als Ganzes nutzen. Dort, wo Benno
ihn betrat, wurden Zwiebeln und Salz
feilgeboten. Rechts hatten Gewandschneider ihre Stände aufgebaut. Von
der Mitte her drang der Geruch der
Fleischbänke herüber. Links konnte
man Gemüse, Käse und Gewürze kaufen. Hinten aber, wo sich Leute vor
mehreren Garküchen und Weinzapfen
drängten, standen noch immer die Wagen der Gaukler.
Benno wollte wenigsten mit Pentia
sprechen, traf jedoch nur einen alten
Mann und ein paar Kinder an. Da die
anderen vor dem Abend nicht zurückkehren würden, ging er gleich weiter
auf den Duffesbach zu. Jetzt wartete er
nur noch, dass die Zeit verging. Doch
ausgerechnet, als er nicht mehr ernsthaft
nach ihr Ausschau hielt, meinte er,
Franziska gesehen zu haben, und zwar
in der Plektrudisgasse, die hinauf zum
Plateau der Marienkirche führte. Er lief
ein Stück in diese Richtung und überzeugte sich, dass er sich nicht getäuscht
hatte. Allerdings war sie in Begleitung
eines außergewöhnlich großen, bärtigen
Mannes. Benno schlich sich immer näher heran, bis er sich in Hörweite in
eine Nische drücken konnte.
"Allein schon meines Seelenheils
wegen werde ich Euch nicht folgen. Ihr
seid vor Gott verflucht!" vernahm er
dort Franziskas wütende Stimme.
"Seit wann bestimmst du, wen Gott
verflucht?" versetzte der Bärtige nicht
minder aufgebracht. "Nimm das Bündel
und komm!"
"Oh nein! Ich verlasse Euch, und Ihr
könnt mich jetzt nicht mehr daran hindern. Ich hasse Euch! Ihr seid ein gemeiner Schurke, wahrscheinlich sogar
ein Mörder."
"Überlege dir, was du sagst! Ich habe
dich aus Mitleid wieder zum Markt mitgenommen, weil du bleich aussiehst wie
ein Gespenst. Ist das dein Dank dafür?"
"Warum sehe ich so bleich aus? Ist es
nicht, weil Ihr mich eingesperrt habt?"
Sie drehte sich um und wollte davonlaufen. Er indes sprang ihr nach und
bekam sie am Kleid zu packen.
"Wenn du im Guten nicht hören
willst, muss ich dich zwingen!"
Er brüllte nicht, weil er auf der Straße
kein Aufsehen erregen durfte, die Drohung aber war unüberhörbar. Trotzdem
riss Franziska sich los.
"Du kommst nicht weit!" fauchte der
Bärtige.
Sie schüttelte den Kopf und über ihr
Gesicht huschte der Anflug eines höhnischen Lächelns. Da nahm der Riese
bebend vor Zorn einen dicken Holzknüppel.
"Ich warne dich zum letzten Mal."
Benno wurde in seiner Nische hin
und her gerissen zwischen seiner Liebe
und seinem Verstand. Verzweifelt suchte er nach einem Weg, der zwischen
Feigheit und Tollkühnheit lag, fand jedoch keinen. Und als der bärtige Riese
den Knüppel hob, als wolle er im nächsten Moment zuschlagen, gewann das
Gefühl die Oberhand über den Verstand.
Stefanus war von dem jähen Angriff
in seinen Rücken völlig überrascht. Er
hatte in der Plektrudisgasse weit und
breit keinen dritten Menschen gesehen.
Dennoch reagierte er schnell und wirkungsvoll. Er griff nach einem Arm des
Angreifers, zog kräftig daran und beugte sich dabei mit einem Ruck nach vorn.
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Benno verlor den Boden unter den Füßen und rollte über den Rücken des Riesen. Nun staunte Stefanus zum zweiten
Mal. Dieser kleinwüchsige Mann mit
dem vor gewölbten Bauch eines Genießers war weder ein Räuber noch ein
Waffenknecht. Was in aller Welt hatte
ihn zu diesem Überfall veranlasst?
"Bist du des Lebens müde oder vom
Wahn besessen? Pack dich, ehe ich dich
durchprügle!"
Der sonderbare Fettwanst war ihm
lästig. Womöglich entwischte ihm
Franziska mitsamt dem Bündel, während er sich gerade mit ihm abgab. So
versuchte er, ihn zu vertreiben wie eine
aufdringliche Katze. Benno indes raffte
sich noch einmal auf.
"Ist das noch in Worte zu fassen? Du
musst wahrhaftig wirr im Kopfe sein!"
Stefanus kämpfte halbherzig. Nur, als
Benno ihm an den Hals sprang und ihm
die Luft abdrückte, setzte er sich etwas
heftiger zur Wehr. Er schloss seine
Hände wie zwei eiserne Zangen um die
Oberarme des Angreifers und befreite
sich mit einem derben Fluch. Der
Kaufmann wirbelte wie eine Strohpuppe
durch die Luft, prallte gegen einen Pfahl
und sackte dann in sich zusammen.
Franziska hätte fliehen können. Sie
ahnte, dass ihr ehemaliger Dienstherr
ihr genau dazu verhelfen wollte. Doch
sie vermochte sich nicht loszureißen
von der sonderbaren Szene. Niemals
hätte sie dem behäbigen Benno solchen
Mut zugetraut. Übrigens fand sie ihn
dabei trotz seiner hoffnungslosen Unterlegenheit keineswegs lächerlich. Als sie
ihn reglos auf der Straße liegen sah, lief
sie zu ihm hin und beugte sich über ihn.
Nachdem sie ihn auf den Rücken gedreht hatte, flüsterte sie:
"Ihr habt ihn umgebracht."
Stefanus war verwirrt, was selten
vorkam bei ihm.
"Es war ein Unglücksfall! Was sollte
ich denn tun gegen diesen Verrückten?"
"Ihr seid nie um eine Entschuldigung
verlegen."
Sie warf ihm das Bündel vor die Füße
und kehrte ihm den Rücken zu.
"Was weiß du denn vom Leben?" rief
er ihr noch nach. "Was weiß du von
mir? Prinzessin!"
Sie hörte ihm nicht mehr zu, ging einfach davon.
III
H
ans kam zu der großen Versammlung im Hospiz St.Maria
Magdalena weit vor der Zeit. Der
Türhüter musterte ihn verwundert, ließ
ihn aber ein, weil er ihn kannte. Den
ganzen Tag über war er durch die Stadt
gelaufen, ohne Pause und ohne Essen.
Das hatte ein wenig den Hass in ihm
gedämpft, zugleich aber eine Leere hinterlassen, die er auch jetzt noch spürte,
als er den Saal betrat.
Bis die Dominikaner kamen, waren
hier Kranke versorgt worden, manchmal
(wenn schwere Epidemien in der Stadt
wüteten) über hundert Menschen zu-
gleich, zusammengepfercht dicht an
dicht. Hans glaubte manchmal, noch
immer das Stöhnen der Sterbenden von
damals zu hören. Ein Dominikanerbruder steckte gerade Kerzen in die Halterungen an den Wänden und rückte die
Stühle und Bänke zurecht. Dabei sprach
er kein Wort, hob nicht einmal den
Blick zu dem jungen Mann an der Tür.
Hans war schon oft hier gewesen, noch
nie aber hatte er sich so elend und verlassen gefühlt wie an diesem Abend.
Niemand füllte die Leere in ihm aus,
niemand kam, mit ihm zu sprechen, ihm
zuzuhören, auf ihn zu zählen. Als der
90
Mönch fast lautlos hinausgegangen war,
blieb er allein mit dem gekreuzigten
Jesus, der ihn von der kahlen, weißen
Wand herab so durchdringend anblickte, dass er erschauerte. Noch vor drei
Tagen hatte er hier als Sohn eines Kaufmanns gesessen. Er trug keinen der bekannten, wohl aber einen anständigen
Namen. Jetzt war er ein Stadtstreicher.
Er schreckte hoch, als er Schritte auf
dem Gang hörte. Christian kam, Christian der Judenhasser, Jüdenkrischan.
Sein Gesicht verriet, dass er sich kaum
besser fühlte als Hans. Aber wann fühlte er sich schon gut, seit sein Vater
nichts anderes mehr tat, als sich zu betrinken, und das Geld, das die Mutter
als Käuflerin verdiente, gerade reichte,
um nicht vor Hunger zu verrecken.
Als Kind hatte Krischan noch die guten Zeiten der Familie miterlebt. Der
Vater führte einen Krämerladen in guter
Lage nahe am Altmarkt. Das Geschäft
brachte keine Reichtümer ein, wohl aber
einen halbwegs sicheren Lebensunterhalt. Eines Tages tauchte in der Nachbarschaft ein findiger Jude auf, der nicht
nur bessere Waren zu geringeren Preisen anbot, sondern wegen seiner
Freundlichkeit auch persönlich beliebt
war. Krischans Eltern blieben die Käufer aus, was der Vater niemals verwand.
Er wurde mürrisch und unbeherrscht,
womit er schließlich noch die letzten
seiner Kunden vergraulte. Bald reichte
das Geld nicht mehr für die Miete. Der
Pächter ließ die Familie gegen einen
monatlichen Strafzins von zwölf Denarien noch ein Jahr lang sein Verkaufsgewölbe nutzen, dann forderte er
es zurück.
Nun geriet der Vater völlig auf Abwege. Er kaufte zwar eine kleine Bude
aus Holz, empfand es aber als entehrend, wenn ihn seine Bekannten darin
stehen sahen, trank immer häufiger und
vernachlässigte das Geschäft. Schließlich konnte er nicht einmal mehr die
Steuern und Wehrbeiträge entrichten.
Allein die Innung, die noch zu ihm
hielt, bewahrte ihn und die Seinen vorerst vor dem Schlimmsten, indem sie
die Steuern zahlte und zinsfreie Kredite
gewährte. Krischans Vater jedoch sank
noch tiefer. Wenn er betrunken aus der
Schankstube kam, grölte er politische
Parolen und ließ sich auf Handgreiflichkeiten ein. Einmal musste er sich
sogar vor einem Richter verantworten.
Die Innung sah sich nun zur Wahrung
ihres Ansehens gezwungen, ihn auszuschließen. Zugleich ging die Verkaufsbude verloren, und die Familie
geriet endgültig ins Elend.
"Was ziehst du für 'ne Grimasse? Bei
mir ist das normal, aber bei
dir ... Wolltest du nicht mit deinem Alten ..."
"Halt den Mund!" brüllt Hans und
sprang auf, als wolle er mit den Fäusten
auf den so ungeduldig erwarteten
Freund losgehen.
"Reg' dich nicht auf! ... Es hat also
Stunk gegeben!"
"Rausschmiss und zwar für immer."
"Scheiße! Was machst du jetzt?"
"Keine Ahnung."
"Verdammt, wir dürfen uns nich' unterkriegen lassen von den bürgerlichen
Arschkriechern. Verstehst du?" Er ließ
sich schwer auf eine Bank fallen und
starrte das Kruzifix an. "Ich möcht' auf
was stolz sein. Dieses Scheißleben muss
doch 'n Sinn haben! Gestern war mein
Alter wieder so voll gedröhnt, dass er
unter 'n Tisch gerollt ist. Vorher gab's
Senge für Mutter! Da stehst du daneben
und könntest gleich kotzen. Ist doch
normal, dass du irgendwann selber
säufst."
"Hab' vorige Woche deine Mutter gesehen", sagte Hans. "Sie sieht aus wie
der Tod, und mein Vater, das fette
Schwein, hat sie behandelt wie ..."
Krischan hörte ihm gar nicht zu. Er
träumte.
91
"Wenn uns dieser Dreckjude damals
nicht alles kaputt gemacht hätt', würd'
ich jetzt im Verkaufsgewölbe stehen.
'Bitte schön, gute Frau!' 'Hat der Herr
noch einen Wunsch?' Vorbei! Vergessen! ... Oh, wie ich diese Itzigs hasse!"
"Wem sagst du das?!"
"Wenn ich genau wüsste, dass die uns
hier wirklich brauchen, verstehst du,
dann höre ich auf mit dem Gesaufe."
"Klar brauchen die uns! Kannst drauf
schwören."
"Uns hängt das mit dem Keller an.
Gestern hat mich wieder einer angeödet.
Dabei weiß ich von nichts. War viel zu
voll."
"Höre nicht drauf! Vielleicht bekommen wir heute einen großen, gefährlichen Auftrag, einen bei dem wir
zeigen können, wozu wir taugen."
Allmählich hatte sich der Saal mit
jungen Männern in kurzen, grauen Kitteln gefüllt. Mit einer größeren Gruppe,
die durch ihr lärmendes Auftreten die
feierliche
Ruhe
des
Dominikanerklosters störte, kam Michael, der
Erzengel. Seine Eltern, seine Geschwister und auch er selbst arbeiteten gemeinsam auf dem Grundbesitz eines reichen
Bürgers. Ein Vogt beaufsichtigte sie
dabei, und so standen sie rechtlich kaum
über den Leibeigenen in den Dörfern.
Allerdings gestattete ihr Herr ihnen
großzügig eine Reihe von Freiheiten, so
dass sie sich beinahe wie Grundeigentümer gebärden konnten, wenngleich in
einer nicht eben vornehmen Gegend.
Michael gehörte zu jenen Menschen,
die sich nicht schämten, am Stadtrand
zu wohnen, und denen jeder ihr Herkommen ansah. Sein breites Gesicht mit
der von einer Wirtshausschlägerei verunstalteten Nase, seine Angewohnheit,
lauthals über Dinge zu reden, von denen
er nichts verstand (als wolle er seinen
Mangel an Bildung geradezu zur Schau
stellen), seine Grobheit in fast jedem
Wort und fast jeder Bewegung, das alles
gehörte zu ihm wie sein Name. Selbstverständlich mochte er nicht als Knecht
gelten, doch reichte ihm, wenn die
Kaufmannssöhne ihn aus Furcht vor
seinen von schwerer körperlicher Arbeit
gestählten Fäusten den Worten nach
achteten.
Hinter ihm her trottete wie ein Schatten der Rächer. So wie dem einen der
Schweinemistgeruch des Stadtrandes
anhaftete, so stand dem anderen die
gute Erziehung im Gesicht geschrieben.
Seine Eltern dienten dem erzbischöflichen Hof. Der Vater war Schreiber, die
Mutter half bei der Ausgestaltung der
Säle und Salons für die zahlreichen Feste, bei der Betreuung der Gäste, beim
Aufräumen. Beide Ämter galten nicht
als ehrenvoll und auch die Bezahlung
schuf keine Neider. Wer jedoch tagtäglich Umgang mit den einflussreichsten Männern der Stadt hat, für den fallen trotzdem kleine Vorteil ab.
Freilich spezialisiert sich niemand
ungestraft auf das Aufsammeln der
Krumen unter dem Tisch der Mächtigen. Ohne dass sie es noch selbst merkten, waren bei dem Paar Treue und Ehrbarkeit (ihr Stolz und ihr Selbstverständnis) zu Speichelleckerei und kleinlicher Sittenstrenge verkommen. Ihr innig geliebter, gegängelter und verzärtelter einziger Sohn träumte unterdessen
von Heldentaten (wie jenen, die man
sich von den Palästinakreuzfahrern erzählte). Er selbst hatte sich den Spitznamen Rächer des Herrn zugelegt. Zu
seinem Leidwesen tat ihm bei den Canes niemand den Gefallen, ihn auch so
zu nennen. Fast alle riefen ihn Söhnchen, wie seine Mutter es tat. Um zur
Gruppe gehören zu dürfen, musste er
tun, was der Erzengel, Jüdenkrischan
und Hans von ihm verlangten.
"Die Blödköpfe werden nicht fertig
mit der Kirch'", behauptete der Erzengel, als er sich zu Hans und Jüdenkrischan setzte. "Wühlen Löcher, als
92
wie um Satanas auszugraben. Das seh'n
wir nicht mehr, dass die mal steht."
Die beiden antworteten nicht, begrüßten ihn nur kurz mit Handschlag.
"Möcht' wissen, warum Theobaldus
heut' alle Gruppen bestellt hat. Alle! Da
muss irgendwas sein."
"Hoffentlich machen wir endlich mal
was gegen die Judenschweine", forderte
Krischan verbittert. "Mutter hat sich bei
ihnen fünfzig Denare geliehen. Wisst
ihr, wie viel sie zurückzahlen muss?
Achtzig! Und zwar innerhalb der nächsten drei Monate, sonst werden 's hundert."
"Gegen die Juden?" rief der Erzengel
mit unverkennbarer Begeisterung. "Mir
soll's recht sein. So 'n Pogrom is' was
Großartiges. Außerdem gibt's beim Wucherjuden was zu holen. Nur leider verstecken die Mistsäcke ihre Reichtümer
und jammern dir dann vor, nicht mal
was zum Fressen zu haben. Vor ein paar
Jahren nahmen wir uns mal einen ran,
der die Kirche beschissen hatte. Der
Kerl war unglaublich zäh. Kein Wort,
was wir auch mit ihm anstellten. Zum
Glück konnten wir dann seine Tochter
schnappen, ein hübsches Mädel, noch
Jungfrau. Die zogen wir aus und bestiegen sie einer nach dem anderen."
Söhnchen wurde ganz aufgeregt, und
seine Augen wirkten noch größer, als
sie ohnehin waren. Der Erzengel bemerkte es, konnte sich vor Lachen kaum
halten und schlug ihm seine Pranke
schmerzhaft auf die Schulter.
"Was das für'n Gefühl ist, wenn du so
einer Hure einen reinrotzt, davon hat dir
deine Mama wohl
nichts
erzählt?! ... Jetzt wird er auch noch rot!
Was soll man mit einem wie dem bloß
anfangen? ... Dieser elende Jude jedenfalls schwieg noch immer. Da mussten
wir leider sein Töchterchen ein bisschen
rösten."
Hans empfand ein leises Unbehagen,
nicht nur der Geschichte wegen sondern
mehr noch wegen der Art, mit der sein
Freund sie erzählte. Aber er beruhigte
sich innerlich damit, dass die Wucherjuden Verdammte vor Gott wären und
es nicht besser verdient hätten.
"Seid gegrüßt Brüder! Ich habe eine
Neuigkeit für euch."
Die vier drehten sich um und gewahrten Eike. Selbstsicher und offenbar gut
gelaunt stand er da, und um seinen
Mund spielte ein leichtes Lächeln, das
sich durchaus als hochmütig und spöttisch deuten ließ. Über der Nase des
Erzengels gruben sich zwei Falten ein.
Anfangs hatte er den Norddeutschen bewundert, zeitweilig fast verehrt. Mehr
und mehr aber fühlte er sich gering geschätzt.
Bei Hans hatte die Abneigung andere
Gründe. Für ihn war Eike ein Verbrecher. Er kannte nicht seine ganze Vergangenheit, aber was er wusste, erschien ihm des Schlimmen mehr als
genug. Er wünschte sich die Organisation sauber, würdig der großen Verpflichtung, für den Erzbischof, den Orden der
Prediger und die römische Kirche einzustehen. Das hieß für ihn vor allem,
dass es Regeln gab. Diese konnten einmal Härte fordern, ein andermal Bescheidenheit und Zurückhaltung. Ketzer, Juden und arbeitsscheue Stadtstreicher zu misshandeln, war erlaubte Härte, Diebstahl und Raub dagegen etwas
Verabscheuenswürdiges. Sonderbarerweise aber stand Eike mit einigen Führern nach wie vor auf freundschaftlichem Fuß und wusste oft mehr als die
meisten anderen.
"Bruder Maginulfus wird predigen,
unten am Rhein vor St.Maria ad
Gradus."
Bei Hans und dem Erzengel siegte die
Neugier über das Misstrauen.
"Aus welchem Anlass? Worüber?"
"Was Genaues weiß ich auch noch
nicht, aber soviel steht fest: Ihr könnt
93
euch einrichten auf eine Predigt, die in
die Chroniken eingeht."
"Und unsere Aufgabe dabei?"
"Wir werden Hütehunde sein, Hütehunde, so wie immer."
Das war eine Anspielung, von der
keiner wusste, ob er sie abwertend oder
ehrfürchtig gemeint hatte (wobei Eikes
spöttischer Gesichtsausdruck für ersteres sprach). Die Mitglieder der Organisation wurden Canes genannt, was aus
dem Lateinischen übersetzt Hunde bedeutet. Andererseits bezeichneten die
Brüder des Predigerordens sich zuweilen selber (durchaus mit Stolz) als Domini canes, also Hunde des Herrn - ein
Wortspiel mit dem zweiten Namen des
Predigerordens: Dominikaner (nach
dem
Gründer
Dominikus
von
Caleruega). Mithin stand Canes ursprünglich nicht für eine Beschimpfung
sondern für eine Auszeichnung.
IV
W
arum geht es nicht los?" murrte der Erzengel.
Niemand konnte das verstehen. Von den höheren Führern war noch
keiner im Saal. Immerhin erschien dann
wenigstens Udo.
"Worauf müssen wir warten?" erkundigte sich Jüdenkrischan.
Der Gruppenführer wurde ein wenig
verlegen, denn ihn band noch eine
Schweigepflicht. Doch der Erzengel
half ihm.
"Bruder Theobaldus lässt uns nicht
grundlos warten. Wenn es befohlen
wird, bleibe ich hier die ganze Nacht."
Er war ein völlig anderer Mensch,
seit Udo vor ihm stand. So gern er
Schwächere unterdrückte und quälte, so
sehr brauchte er auch jemanden, der
ihm Anweisungen gab. Oft reichten ihm
ein Blick oder eine Geste. Nach Sinn
und Zweck fragte er nie. Dem Gruppenführer wiederum gefiel das. So waren
die Regeln. Theobaldus musste er gehorchen, über den Erzengel (und die
anderen aus der Gruppe) konnte er herrschen. Auf Herrschen und Beherrschtwerden beruhte die gesamte Struktur
der Canes.
Die Sorge um seinen Respekt hinderte Udo allerdings, je über sich selbst zu
sprechen. Er war ältester Sohn eines
Kupferschlägers, hatte sich mit der Ar-
beit in der dunklen, engen Werkstatt
jedoch nie anfreunden können. Aus
Mangel an einem Ausweg war er zunächst noch ein recht gelehriger, nicht
ungeschickter Geselle gewesen. Dann
aber hatten ihm die Dominikaner eine
andere Zukunft versprochen, und seitdem lockerten sich die Bindungen zu
seiner Familie. Der Vater fand sich inzwischen mit dem Verlust ab, und der
zweitälteste Sohn nahm die Stellung des
Erstgeborenen als Nachfolger des Meisters ein. Udo grollte seinen Eltern nicht,
hatte sich mit ihnen auch niemals so
bösartig gestritten wie Hans mit seinem
Vater. Sie waren ihm einfach gleichgültig geworden. Seit er im Hospital wohnte, seit er bei den Canes sein Organisationstalent entfalten, seine kräftige Stimme gebrauchen und sein Machtbedürfnis ausleben konnte, seitdem fühlte er
sich wie ein zweites Mal zur Welt gekommen. Sein Dasein hatte nun ein
Ziel, das er für lohnenswert hielt. Die
Ansichten der Prediger waren auch die
seinen geworden.
Seine Autorität sah der Gruppenführer übrigens nicht nur in Gefahr, wenn
er sich zu vertrauensselig zeigte sondern
auch, wenn er vor seinen Gefolgsleuten
längere Zeit schwieg und somit nicht im
Mittelpunkt stand. Deshalb nahm er die
Pose eines Lehrmeisters ein und fragte:
94
"Was wisst ihr von den Albigensern?"
"Sind das diese Franzosen, die sich
selbst Katharer nennen?" fragte Hans.
"Richtig."
"Ich weiß nur, dass der Papst gegen
sie zum Kreuzzug hat predigen lassen
und dass die meisten von ihnen auf dem
Scheiterhaufen gelandet sind, wo sie
auch hingehören."
"Die meisten, aber leider nicht alle."
"Erzähl uns von ihnen", forderte Jüdenkrischan.
Der Erzengel und Söhnchen nickten
zustimmend.
"Immer wieder schickt der Teufel
Kreaturen durchs Land, damit sie unter
leichtgläubigen Leuten Verderben bringende Lehren verbreiten. Werden die
falschen Propheten schnell gefangen
und dem Richter übergeben, lassen sich
die verlorenen Schafe leicht zur Herde
zurückführen. Wehe aber, wenn solches
nicht gelingt wie vor einem Menschenleben in Frankreichs Süden, wo die Verführer so zahlreich wurden, dass Priester und Bischöfe keine Macht mehr über
sie hatten. Es kam so weit, dass Grafen
und Herzöge vom rechten Glauben abfielen, dass die Ketzer sich unbehelligt
zu einem eigenen Konzil zusammenfanden und dass sich hohe Geistliche zu einem Disput über Glaubensfragen herabließen."
Udo sprach nicht mehr mit seinen eigenen Worten sondern mit denen des
Theobaldus, seines Führers und Lehrers.
Während er sich gewöhnlich keineswegs durch überragende Klugheit auszeichnete, war sein Gedächtnis beachtlich. Er behielt sogar längere Texte in
fremder Sprache. Ob er vom Inhalt etwas verstand, spielte dabei keine Rolle
für ihn.
"Um dem Satansspuk ein Ende zu bereiten, sandte der Papst den Zisterzienserbruder Peter von Castenau nach
Frankreich. Das war ein entschlossener
Mann, der die nachlässigen und feigen
Bischöfe absetzte und die Grafen in
Christi Namen streng ermahnte. Raymund von Toulouse, den mächtigsten
und uneinsichtigsten unter den Fürsten,
die den Ketzern Schutz gewährten, exkommunizierte er. Mehr zu tun, war
ihm jedoch nicht vergönnt, denn er
wurde hinterhältig ermordet."
Niemanden störte es, dass Udo plötzlich viel gelehrter sprach als sonst, nicht
einmal den Erzengel. Berichte dieser
Art gehörten zum Ritual der Gruppe.
Nicht anders als der Erzähler bemühten
sich auch die Zuhörer kaum darum, alle
Zusammenhänge zu begreifen. Wichtig
war allein, zwischen dem Lager des
Teufels und dem Lager Gottes zu unterscheiden.
"Der Papst beauftragte nun den Abt
des Klosters Cîteaux, gegen die Ketzer
den Kreuzzug zu predigen. Der Legat
Amalrich übernahm die Leitung, Simon
de Montfort sammelte ein Heer. Nach
erbitterten Kämpfen wurden mehrere
Burgen und Städte erobert und die Ketzer, die man darin fand, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Graf Raymund
musste sich öffentlich demütigen und
das Lande verlassen. Doch waren die
Ketzer damit noch längst nicht endgültig geschlagen."
Jüdenkrischan vertiefte sich so sehr in
die Geschichte, die er hörte, dass er vorübergehend seinen betrunkenen Vater
und das ruinierte Geschäft vergaß. Ihm
war, als kämpfe er selbst mit in den
Schlachten gegen die Ketzer, und er
konnte sich gut vorstellen, dass auch die
Canes einmal Teil eines Heeres wie das
des Simon de Montfort sein könnten.
Oh, seine Feinde würden nichts zu lachen haben! Seinen ganzen Hass würde
er in seine Hiebe hineinlegen. Und gemessen am Ausmaß dieses Hasses würde sein Schwert wohl selbst durch das
Eisen der besten Rüstungen dringen wie
durch dürres Gezweig.
95
"Als sich das Heer der Kreuzfahrer zu
zerstreuen begann, schöpfte Graf Raymund neuen Mut, verbündete sich mit
König Peter von Aragonien und kehrte
zurück. In der Schlacht bei Muret jedoch wurden die Ketzer abermals besiegt."
"Das wird den Ketzern gewiss eine
Lehre gewesen sein!"
"Nicht so sehr, um nicht einen dritten
Waffengang herauszufordern. Als der
große Papst Innozenz starb, nahmen das
die von den falschen Lehren noch immer besessenen Bürger von Toulouse
zum Anlass, um Simon de Montfort aus
der Stadt zu vertreiben. Graf Raymund
kehrte ein zweites Mal zurück und eroberte sich in kurzer Zeit das ihm abgesprochene Lehen zurück. Der Krieg
tobte erbitterter als je zuvor. Nicht einmal ein frisch aufgestelltes Heer des
Königs von Frankreich vermochte etwas
auszurichten."
"Also sind die Ketzer immer noch
nicht wirklich besiegt?" fragte Jüdenkrischan mit unverkennbarer Hoffnung.
"Ja und nein. Raymund starb vor einigen Jahren. Sein Sohn unterwarf sich
zu ehrenvollen Bedingungen der französischen Krone und gelobte, den Feinden
der römischen Kirche keinen Schutz
mehr zu geben. Die Ketzer haben sich
aber in Höhlen und Burgen verschanzt
und treiben von dort aus nach wie vor
ihr Unwesen."
"Warum erobert man die Burgen
nicht?"
"Das Land dort ist schroff und die
Burgen stehen fast uneinnehmbar auf
hohen Felsen. Ich weiß von einer, die ist
dreifach geschützt durch ..."
In diesem Augenblick betrat Theobaldus den Saal. Udo bemerkte ihn sofort, so eifrig er auch von den Albigensern erzählte. Er hatte ein besonderes
Gefühl dafür, wann sein Führer sich in
seiner Nähe aufhielt. Wie von einem
unsichtbaren Mechanismus in Bewe-
gung gesetzt, brach er mitten im Satz
ab, sprang ruckartig auf und brüllte:
"Gelobt sei Jesus Christus!"
Die jungen Männer in den grauen
Kitteln sprangen daraufhin ebenso mechanisch auf wie er. Die Gruppen lösten
sich auf und gingen ein in einen einheitlichen Körper.
"Wir schwören der Heiligen Römischen Kirche, dem Papst als Nachfolger
Petri, dem Kölner Erzbischof als seinem
getreuen Gefolgsmann sowie dem Orden der Prediger ewige Treue bis in den
Tod hinein", klang es wie aus einem
Munde.
Die einzelnen Worte waren kaum zu
verstehen. Der Sprechchor erinnerte an
ein Donnergrollen und ließ die Mauern
des ehemaligen Hospitals erzittern.
Theobaldus lächelte leicht. So gefielen
ihm seine Canes am besten, in Reih und
Glied beieinander stehend wie ein Heer
und einem Kommando gehorchend ohne Widerrede und ohne Zögern. Auf
sein kurzes Nicken hin lösten sich alle
aus der verkrampften Körperhaltung,
blieben aber stehen. Er überzeugte sich
noch kurz, dass jeder ihm die gebührende Aufmerksamkeit widmete, und verkündete dann mit schneidender, eher
einer Strafpredigt angemessener Stimme:
"In einer Woche wird Bruder Maginulfus gegen die Ketzerseuche in der
Stadt predigen. Eine Gemeinde der verfluchten Albigenser hat sich in unseren
Mauern eingenistet. Wir wissen noch
nicht, wer ihr angehört, und wir wissen
auch nicht, wo sich ihr Unterschlupf
befindet. Die unheilvolle Saat ihrer Irrlehre aber beginnt schon aufzugehen.
Wenn wir das Unkraut nicht ausraufen,
solange es niedrig und vereinzelt
wächst, überwuchert es bald die guten
Pflanzen und erstickt sie. Bruder Maginulfus wird die Bürger zur Wachsamkeit mahnen. Die Ketzer indes fürchten
ihn und seine Wortgewalt und trachten
96
ihm nach dem Leben. Mitten in der Predigt wollen sie ihn ermorden, um ihn so
vor allen Leuten zum Schweigen zu
bringen und behaupten zu können: 'Sein
Tod beweist, dass er lügt, denn sonst
hätte Gott ihn besser geschützt.'"
Er ließ eine Pause entstehen und stellte befriedigt fest, dass die Canes noch
immer mit gläubigen Blicken an seinen
Lippen hingen und so bestürzt und empört waren, wie sie es sein sollten.
"Ihr müsst dafür sorgen, dass den
Ketzern ihr teuflisches Vorhaben misslingt. Von euch wird abhängen, ob das
heilige Köln in die Hände des Satans
gerät oder nicht."
Die jungen Männer hielten den Atem
an angesichts der Erhabenheit der ihnen
zukommenden Aufgabe. Viele von
ihnen bekreuzigten sich und murmelten
Gebete.
"Aber euch ist nicht allein das Leben
des Bruder Maginulfus anvertraut.
Wenn die Ketzer merken, dass ihr
Mordplan scheitern muss, werden sie
andere Schliche ersinnen, um die Predigt zu stören. Mischt euch also unter
das Volk und gebt Obacht, dass kein
Feind das Haupt zu erheben wagt."
Am Schluss steigerte er seine Stimme
noch einmal zu einem Brüllen.
"Habt ihr verstanden, was euch aufgetragen ist?"
Ein Chor tiefer Stimmen schmetterte
ihm ein "Ja!" entgegen.
"Ihr könnt jetzt gehen, bis auf die
Gruppenführer."
Die jungen Männer drängten zur Tür,
bis nur noch sieben von ihnen übrig
blieben, unter ihnen Udo. Sie stellten
sich im Halbkreis vor den Dominikaner,
unter dessen forschend von einem zum
anderen wanderndem Blick sie sich um
einen Eindruck besonderer Entschlossenheit bemühten.
"Über das, was ich euch jetzt anvertrauen will, habt ihr Stillschweigen zu
bewahren."
"Jawohl!" antworteten die Sieben fast
zugleich, und zwar viel lauter als erforderlich.
"Unter den gewöhnlichen Canes sind
viele innerlich noch nicht gefestigt genug, um die ganze Wahrheit mit all ihren scheinbaren Widersprüchen zu verstehen. Ihr werdet also mehr wissen als
sie und müsst in geschickter Weise Einfluss auf sie nehmen, ohne sie aufzuklären."
Er hielt inne und musterte abermals
jeden von ihnen.
"Ich verlasse mich auf euch. Die Predigt des Bruders Maginulfus wird sich
nicht nur gegen die Albigenser in der
Stadt richten und wird folglich nicht nur
diesen missfallen. In Köln herrscht Aufruhrstimmung, nicht offen auf den Straßen und selten erkennbar deutlich, im
Untergrund aber umso verderblicher.
Der Rat und eine Gruppe einflussreicher
Patrizier wollen den Erzbischof vertreiben und selbst die Macht übernehmen.
Dafür hetzen sie die Bürgerschaft auf,
und zwar mit wachsendem Erfolg. Alle
Missstände lasten sie dem Stadtherrn
an. Aber unsere Stadt wird bald sauber
sein (ohne die heuchlerische Hilfe des
Rates) und die Bürger müssen schon
jetzt spüren, dass da eine Kraft ist, die
aufzuräumen versteht. Die einen werden
das mit Befriedigung beobachten, die
anderen mit Furcht, je nachdem auf
welcher Seite sie stehen. Ihr sollt also
nicht still beobachten, sondern euch zu
erkennen geben. Verleiht den Worten
des Maginulfus zusätzlich Gewalt!"
Den sieben jungen Männern war
nicht anzusehen, was sie dachten, denn
sie hatten ihre Gesichtszüge zu beherrschen gelernt. Im Innern aber versuchte
jeder von ihnen, den tieferen Sinn der
Worte des Theobaldus zu verstehen. Die
meisten gaben schließlich auf, die politischen Hintergründe erfassen zu wollen, und nahmen lediglich zur Kenntnis,
dass sie die Bürger einschüchtern soll-
97
ten (während der Predigt und auch noch
danach) und dass es wohl eine zweite
Säuberung geben würde, eine Säuberung, die sich vielleicht nicht nur gegen
die Bettler in der Dom- und Palastgegend, sondern zum Beispiel auch gegen
das Judenviertel oder gegen die Gauklertruppen richten würde. Als der Dominikaner sie fragte:
"Kennt ihr jetzt all eure Pflichten?"
antworteten sie mit einem kurzen
"Ja!"
Was noch zu sagen blieb, war rein
organisatorischer Natur. Welche Gruppe
beschützt den Prediger? Wie verteilen
sich die anderen Gruppen über den
Platz? Welche Zeichen werden zur Verständigung vereinbart? Welche Mittel
sind am geeignetsten, um die Bürger zu
beeindrucken? Was ist zu vermeiden,
um sie nicht gar zu sehr zu verschrecken? Was soll am Ende der Predigt
geschehen? Theobaldus hatte sehr präzise Anweisungen für jede Situation.
98
10.Kapitel
I
S
tefanus starrte unverwandt auf
das Bündel zu seinen Füßen wie
auf etwas Fremdes, Verdächtiges. Er konnte sich nicht entschließen,
es an sich zu nehmen und damit zu verschwinden, obgleich die Vernunft ihm
das (angesichts des Toten) dringend
anriet. Etwas ging in ihm vor, das er seit
Jahren nicht mehr bei sich beobachtet
hatte. Es schnürte ihm den Hals zu,
lähmte ihn. Und es ließ sich nicht abschütteln.
Die letzten Tage mit Franziska waren
hässlich gewesen. Vor allem an ihr
Schweigen erinnerte er sich, und an ihre
Art, ihn zu mustern, aufmerksam aber
kalt. Stumm hatte sie beim Essen am
Tisch gesessen, stumm die ihr aufgetragenen Arbeiten erledigt. Wortlos war
sie frühmorgens aufgestanden, wortlos
am Abend ins Bett gegangen. Sie hatte
ihn offenbar nicht einmal mehr gefürchtet, vielleicht im Vertrauen darauf, dass
Gott stärker ist als der Teufel.
Weil bei den Raubzügen jedes überflüssige Wort Gefahr heraufbeschwor,
waren beide an eine Zeichensprache gewöhnt. Sie beherrschten diese Art der
Verständigung so gut, dass sie im Alltag
fast alles damit ausdrücken konnten.
Nicht selten hatten sie, ohne sich dessen
gewahr zu werden, in der Höhle ohne
Notwendigkeit ebenfalls auf Worte verzichtet. Franziskas Schweigen in diesen
Tagen aber war damit nicht zu vergleichen. Sie schwieg aus Trotz und Verachtung.
Stefanus wollte ihr von seinem Leben
erzählen. Ein fast unbezwingliches Bedürfnis drängte ihn dazu - etwas Neues,
das ihn beunruhigte. Bisher hatte er sein
Schicksal als sein größtes Geheimnis
sorgsam gehütet, selbst wenn er mit
anderen seines Schlages Bündnisse eingegangen war. Warum wollte er es ausgerechnet diesem Mädchen enthüllen,
der Prinzessin, die sicher ohnehin nichts
mit der Geschichte anzufangen wüsste?
Aber er kam nicht los davon und litt
darunter, dass sie ihm keine Gelegenheit
ließ.
Oben, am Ende der Treppe zur Marienkirche, kreischte eine Tür. Stefanus
wurde aus seinen Gedanken gerissen,
griff das Bündel und ging rasch (aber
ohne sichtbare Hast) zu seinem Haus in
der Rheingasse. Wenn er sich auf solche
Weise rettete, tat er das Notwendige so
sicher und unbewusst wie er atmete.
Dann aber überfiel die Trauer ihn erneut. Mit nichts konnte er sich überzeugend einreden, dass er nicht brauchte,
was er verloren hatte.
Franziska war inzwischen zum Duffesbach hinab gelaufen. Hier, an der
Grenze zwischen dem Mühlenviertel
und den Anwesen der Patrizier, verflog
ihre anfängliche Angst, Stefanus würde
ihr folgen, um sie wie Benno zu erschlagen. Es war heller Tag und an der
kleinen Brücke drängten sich die Menschen. Unermessliche Freude stieg in
ihr auf. Sie blinzelte in die Sonne und
begriff, dass der Sommer begonnen
hatte. In der Gefangenschaft war ihr das
Gefühl für die Zeit fast verloren gegangen. Die Gottesdienste an den Sonntagen und an den kirchlichen Festen
gaben dem Leben einen Rhythmus vorausgesetzt man besuchte sie regelmäßig und mit innerer Anteilnahme.
Zeiten der Mühen wechselten mit Zeiten der Freude. Der Klang der Glocke
teilte auch den Tag ein. Ohne sie geriet
alles aus dem Takt. Es gab nichts mehr,
worauf es sich zu freuen lohnte, und das
Dasein verlor Ziel und Sinn. Franziska
fühlte sich wie aus dem Vorhof der Hölle gerettet.
Wieder mutig geworden, ging sie zurück zur Gasse an der Marienkirche.
Rund um den toten Benno hatten sich
etliche, schreiend gestikulierende Leute
versammelt. Die einen behaupteten, er
sei vom Huf eines durchgegangenen
Pferdes getroffen worden, andere sprachen von Raubmord. Franziska blieb
nur kurz stehen. Sie wollte zum Forum,
um Pentia und Ramira wieder zu sehen,
überlegte es sich dann aber anders,
drängte sich an der Menschentraube
vorbei und stieg am Ende der Gasse die
breite Treppe zur Marienkirche hinauf.
Sie hatte nur ihre Neugier befriedigen
wollen, doch nun, oben auf dem östlichen Vorplatz, war sie plötzlich bis ins
Innerste beeindruckt. Mächtig und lieblich zugleich wölbten sich die drei Teile
eines Kleeblattchores, und es gab
nichts, was die Harmonie störte, nichts,
woran der Blick nicht ungestört vorüber
gleiten konnte, keine spitzen Giebel,
keine sich in den Himmel reckende
Türme. Die Gebäude, die sich links und
rechts an die Seitenchöre anschlossen,
gaben allem zusammen das Aussehen
eines riesigen Engels, der mit ausgebreiteten Flügeln das Stift schützt.
Ziemlich lange stand Franziska regungslos staunend auf dem menschenleeren, links und rechts mit Mauern und
kleinen Toren begrenzten Platz vor jener Kirche, von der die Kölner mit fast
ebenso viel Stolz sprachen wie vom
Dom - Sankt Maria im Kapitol. Könige
und Kaiser hätten sie ihres Besuches gewürdigt, hieß es, einmal sogar der Papst
höchstselbst mit vielen Bischöfen als
Begleitung. Die vierunddreißig hochadligen Damen, die dem Stift angehörten,
standen im Mittelpunkt vieler Legenden
und regten durch ihre Lebensart die
Phantasie der einfachen Gemüter täglich
aufs Neue an.
Auch Franziska geriet ins Träumen.
Ihre Vorstellungen vom Leben mit einem Gelübde waren noch recht verschwommen. Vom unbedingten Gehorsam gegenüber der Äbtissin oder Priorin
hatte sie gehört, aber auch von erstaunlichen Freiheiten. Durch ihren Bruder
kannte sie Gedichte einer gewissen Roswitha von Gandersheim. In Köln war
die gewaltige Predigt einer fremden
Äbtissin mit Namen Hildegard von
Bingen noch nach über sechzig Jahren
in aller Munde. Bald allerdings wurde
Franziska sich wieder bewusst, dass sie
in der Stadt als Vagabundin galt. Und
selbst wenn sie durch ein Wunder einen
glaubwürdigen Zeugen fände für ihre
wahre Herkunft, würde ihr das kaum
nutzen, denn als Tochter eines unbedeutenden Ritters war sie für ein Stift wie
dieses noch lange nicht vornehm genug.
Zurückgekehrt in die Wirklichkeit,
durchdachte sie ihre Möglichkeiten. Ein
besonderer Weg stand sogar den Ärmsten offen. Sie konnten sich selbst der
Kirche schenken. Danach entrichteten
sie einen Zins in Form von Wachskerzen, bekamen bestimmte Arbeiten zugewiesen und genossen als Ausgleich
einen besonderen Schutz. Doch letztlich
bedeutet dies eine Preisgabe der persönlichen Freiheit und das kam für Franziska nicht in Frage, selbst wenn ihre Lage
noch verzweifelt werden mochte. Allerdings war die Aussicht, bei einer Rückkehr zu den Gauklern wieder Melanies
Gehässigkeit ausgesetzt zu sein, auch
nicht erquicklich. Um Zeit zu gewinnen,
verschob sie alle anstehenden Entscheidungen auf den nächsten Tag und richtete sich am Fuße der Kirche für die
Nacht ein.
Am nächsten Morgen erwachte sie
zeitig. Nach den Monaten in den düsteren Zimmern des Hauses an der Rheinstraße und im unterirdischen Labyrinth
des Räubers freute sie sich über den
Sonnenaufgang wie ein kleines Kind. In
100
dieser Stimmung ging sie geradewegs
zum Forum.
"Endlich bist du wieder einmal hier!"
freute sich Pentia, die gerade die Treppe
des Wohnwagens herunterkletterte.
"Das ist schön! Bleibst du diesmal länger bei uns?" Sie umarmte und herzte
die Schwester. "Wo ist Stefanus?"
Gerade wollte Franziska zu einer Erklärung ansetzen, da traten Mario und
Melanie heran.
"Wir dachten, du bist krank, weil du
so lange fort warst."
"Ich bin gesund, nur ..."
"Darfst du neuerdings allein umherlaufen? Dieser kauzige Kerl hat dich
bewacht wie eine Gefangene! Nun ja,
wenigstens schlägt er dich nicht."
Franziska staunte, dass Melanie ihr
gegenüber so gesprächig war, brachte es
nun aber erst recht nicht über sich, die
Wahrheit zu gestehen. Sie ließ alle in
dem Glauben, nach wie vor bei Stefanus
zu leben, blieb ein paar Stunden und
schlenderte dann kreuz und quer durch
die Stadt in der schwachen Hoffnung,
dank eines glücklichen Zufalls eine An-
stellung oder wenigstens eine kostenlose Herberge zu finden. Das Schicksal
verwöhnte sie an diesem Tage jedoch
nicht. Müde und verzagt setzte sie sich
schließlich in der Nähe des Buttermarktes an den Rhein.
Nur einen Steinwurf entfernt lagen
zwei halb verrottete Kähne auf dem
Trocknen. Die hatten sich Obdachlose
als Nachtquartier ausgebaut. Als die
Stadtstreicher von ihrer Betteltour auf
den Märkten zurückkamen, konnte
Franziska ihre Gesichter sehen - graue,
zu Stein erstarrte Gesichter mit glanzlosen Augen darin. Da waren sie wieder, die Bilder vom Entenpfuhl!
"Herr Jesus, was soll ich nur tun?"
flüsterte das Mädchen. "Ob ich mich im
Vertrauen auf deinen Schutz auf eigene
Faust durchzuschlagen versuche oder ob
ich mich einem Stärkeren anvertraue,
am Ende lauert immer ein Unglück.
Bitte gib mir ein Zeichen!"
Das Forum im großen Bogen umgehend, kehrte sie zur Marienkirche zurück und verbrachte eine zweite Nacht
an ihrem Fuß.
II
A
m nächsten Tag erlebte Franziska eine Überraschung, denn auf
dem sonst so stillen Vorplatz
blieb sie diesmal nicht lange allein. Einzeln oder in kleinen Gruppen strömten
Menschen herbei und drängten sich vor
einer Seitentür. Es musste einen besonderen Anlass geben, dass man das Volk
herein ließ, denn gewöhnlich war für
Bürger die Pfarrkirche Klein Sankt
Martin vorgesehen. Das Mädchen wollte sich das Ereignis (was auch immer es
sein mochte) nicht entgehen lassen. Ehe
sie aber den Leuten folgen konnte,
musste sie ihr Schwert (das sie noch
verborgen unter ihrem Umhang bei sich
trug) irgendwo verstecken. Als geeigne-
ter Ort dafür erschien ihr ein Gestrüpp
am Duffesbach (etwas abseits von der
Brücke und von dort aus nicht einzusehen). Auf dem Rückweg benutzte sie,
um nicht zu spät zu kommen, eine Abkürzung durch ein Tor in der Römermauer. Von diesem hieß es übrigens,
dass eben hier (in der Glanzzeit des
Erzbischofs Reinald von Dassel nach
dem zweiten Italienzug Kaiser Barbarossas) die Gebeine der Heiligen Drei
Könige in die Stadt gebracht worden
seien.
Noch immer strömten die Leute in die
Kirche hinein. Während sie vorwärts
geschoben wurde, dachte das Mädchen
an die Christvesper im Dom - damals,
101
als sie geglaubt hatte, sterben zu müssen. Ähnlich wie dort gab es auch hier
einen Vorraum mit einem kleinen Altar.
Was sie dann aber sah, war ganz anders.
Zunächst gelangte sie in einen breiten,
den gesamten kleeblattförmigen Chor
umspannenden Gang. Mächtige Säulen
trennten ihn vom Altarraum, wo die
noch leeren Stühle der Stiftsdamen wie
Throne standen und angesichts der Weite und Höhe ein wenig verloren wirkten.
Das Volk sammelte sich in den Seitenschiffen.
Franziska durchströmte ein beinahe
wollüstiges Wohlbehagen. Nicht nur
außen, auch innen war die Kirche geprägt von Ebenmäßigkeit und Harmonie. Im Chor wölbten sich über anmutigen, schlanken Säulen runde, braun
und weiß gestreifte Bogen, während im
Langhaus dicke Pfeiler ein Gefühl vollkommener Geborgenheit vermittelten.
Durch die Fenster fiel sanftes Licht. Die
Altäre der Kanonissen träumten im
Dämmerschlaf. Auch die Bemalung der
Decke und der Wände kündete von
Frieden. An der Grenze von Chor und
Langhaus war ein Deckenbogen so
kühn gespannt, als wäre er an die Gesetze der Natur nicht gebunden. Am
Hauptaltar, so erzählten sich die Leute,
wache unsichtbar Tag und Nacht ein
Engel. Franziska glaubte seine Nähe in
diesem Moment unmittelbar zu spüren.
Sie wollte nie wieder von hier fortgehen.
Eine Frau in ihrer Nähe bemerkte ihr
andächtiges Staunen, lächelte unwillkürlich und sprach sie dann an:
"Das ist noch gar nichts! Du müsstest
hier sein, wenn am Plektrudistag an
jedermann Wein aus dem großen Pokal
gespendet wird."
"Plektrudis?"
"Du kennst die heilige Plektrudis
nicht? Sie hat hier das erste Kloster gegründet."
"Welch wunderschöne Kirche!"
"Eine ganz besondere Kirche. Sie
sieht aus wie die Geburtskirche unseres
Herrn Jesus in Bethlehem. Deshalb wird
am Heiligen Abend der erste Gottesdienst nicht im Dom gefeiert sondern
hier. Das Fenster zur Empore hin erinnert wiederum an den Dom zu Aachen,
wo die deutschen Könige gekrönt werden. Die Krypta schließlich ist fast so
groß wie jene der Kaiser im Dom zu
Speyer."
In diesem Moment stieg ein Gesang
zur hohen, hölzernen Decke hinauf und
in feierlichem Zug betraten (vom westlichen Haupteingang her) die Stiftsdamen die Kirche. Ihre prächtigen Kleider
und
ihr
blitzender,
schillernder
Schmuck aus Gold, Silber und Edelsteinen löste ein leises Raunen aus, obgleich den Menschen, die hier standen,
der Anblick längst hätte gewohnt sein
müssen.
"Vor hundert Jahren war Sankt Maria
ein Kloster", flüsterte die Frau. "Viele
Gebäude von damals stehen noch heute."
Nachdem die adligen Stiftsdamen auf
ihren Stühlen im Chor Platz genommen
hatten, durfte das Volk auch das Mittelschiff nutzen, so dass das Gedränge
nachließ. Franziska, noch immer trunken von ihren Eindrücken, vermochte
kaum den Worten des Priesters zu folgen. Wieder stieg die Sehnsucht nach
dem Kloster in ihr auf, viel stärker noch
als zwei Tage zuvor und unabhängig
von der Frage, inwieweit sie sich befriedigen ließ. Wie viel Unglück hatte
Benno seine Jagd nach dem Geld gebracht! Wie verbittert war Stefanus geworden trotz seiner zusammen geraubten Schätze! Ramira dagegen strahlte
durch Gottes Gnade von tief innen her
Mut und Freude aus. Nur wer alles gibt,
kann alles gewinnen, nur wer sich erniedrigt, wird aufgehoben werden.
Nach dem Gottesdienst lief sie ganz
benommen durch die Stadt, so dass
102
mancher sie wohl für eine Närrin hielt.
In gewissem Sinne war sie tatsächlich
närrisch - närrisch wie eine Verliebte.
Leider war ihr Geliebter nicht von
Fleisch und Blut sondern namenlos,
unsichtbar, nicht fassbar. Am ehesten
meinte sie ihn in der Marienkirche finden zu können. Als sie die Seitentür
zwei Tage später zufällig offen fand,
schlüpfte sie hindurch. Im nunmehr
leeren Chor ließ sie sich vor dem Altar
auf die Knie sinken und betete. In ihrer
Verzücktheit glaubte sie, den wachenden Engel als hauchfeinen Schleier zu
erkennen. Allerdings blieb sie nicht
lange ungestört. Eine Hand packte sie
derb am Kleid und zerrte sie hoch. Sie
gehörte einer Frau mit strengem Gesicht
in der Ordenstracht der Benediktinerinnen, die wohl einen wichtigen Dienst
für die Stiftsdamen verrichtete. Jedenfalls sprach sie von der Kirche wie von
ihrer eigenen.
"Willst du uns bestehlen? Geh freiwillig, ehe ich dich greifen und einsperren lasse!"
Franziska sah die Frau an und konnte
lange nicht begreifen, was sie von ihr
wollte, denn sie war sich im Herzen
keinerlei Schuld bewusst.
"Warum sind die Engel, die uns begegnen, immer nur die Cherubine, die
uns aus dem Paradies vertreiben?" sagte
sie schließlich traurig.
"Willst du Gott lästern an diesem
Ort?" schrie die Frau.
Das Mädchen dachte bei sich, dass
man in dieser Kirche nicht schreien sollte, erwiderte aber nichts mehr und trollte sich.
III
A
m Abend besuchte sie die Gaukler und verbrachte bei ihnen auch
die Nacht. Am nächsten Morgen
aber begab sie sich beizeiten auf den
Weg, etwas zum Essen aufzutreiben.
Am Rhein trennte die mit Häusern
überbaute, längst ihrer Funktion enthobene Stadtmauer zwei Straßen voneinander, wobei mehrere Tore einen bequemen Übergang ermöglichten. Die
eine (unmittelbar am Ufer) bildete den
Stapelplatz für mehrere aufeinander
folgende Häfen, die andere verband eine
Kette von Märkten.
Über den Turmmarkt, den Knitmarkt,
den Eisenmarkt und den Buttermarkt
gelangte Franziska zur Einmündung der
Salzgasse, wo man gerade ein Dutzend
Weinfässer vorbeirollte. (Wein durfte
grundsätzlich nur an der Salzgassenpforte eingeführt werden, wo der Weinsteuermeister saß.) Auf dem Fischmarkt
packte sie ein solcher Heißhunger, dass
sie das letzte verbliebene Geld aus den
Taschen zusammensuchte und sich einen Hering braten ließ. Dann ging sie
über die Mauthgasse, an der das Marktviertel endete, weiter in Richtung Dom.
Mehrmals hatte sie das Gefühl, verfolgt
zu werden. Zweimal glaubte sie, als sie
sich kurz umdrehte, eine Gestalt schattengleich hinter einer Hausecke verschwinden zu sehen. Später aber sagte
sie sich, dass sie sich wohl geirrt habe.
Am alten Bollwerk, wo große Lagerhäuser für Fisch standen, versuchte sie,
wenigstens für ein paar Stunden eine
Arbeit zu finden, doch leider waren an
diesem Tage nur kräftige Männer gefragt. Enttäuscht setzte sie sich am Kai
auf einen Anlegepflock und beobachtete
ein paar Stunden lang das Entladen der
Schiffe im Fischereihafen. Am Nachmittag schlenderte sie zurück auf dem
Weg, auf dem sie gekommen war. Unterwegs fiel ihr auf, dass etliche Menschen einem bestimmten Ziel zustrebten. Zunächst meinte sie, dass deren
103
Ziel die Samstagabendmesse im Dom
wäre. Warum aber bogen sie gegenüber
dem neuen Torturm am Hafenviertel in
die Trankgasse ein? Diese ruhige, vornehme Straße führte an der Nordseite
des Doms vorbei. Und warum tuschelten so erregt miteinander?
Als sich Franziska aus Neugier anschloss, merkte sie bald, dass der Strom
sich auf den Platz vor der Stiftskirche
Sankt Maria ad Gradus ergoss, welcher
an Ausdehnung den nahe gelegenen
Altmarkt übertraf, aber im Gegensatz zu
diesem kaum genutzt wurde. Die wohlhabenden Anwohner überquerten ihn
mit feierlichem Ernst. Ab und an erschütterten ihn die Räder eines Wagens.
Ansonsten harrte er darauf, dass die
dreißig hochadligen Chorherren sich
anlässlich frommer Prozessionen seiner
erinnerten. Nichts sollte den hier beerdigten heiligen Bischof Agilolf in seiner
ewigen Ruhe stören - und nichts die
Kanoniker in ihrer Andacht. So erschien
es beinahe unerhört, dass sich ausgerechnet hier eine schreiende, gereizte
Menschenmenge zusammenfand. Franziska fühlte sich unwohl, doch zum
Umkehren war es zu spät. Wie ein
Sandkorn im Sturm wurde sie bis dicht
vor die Mauern der Kirche geschleudert,
wo sich ihr Unbehagen weiter steigerte,
als sie eine Gruppe junger Männer in
kurzen grauen Kitteln entdeckte.
Plötzlich ging ein Raunen durch die
Menge. Franziska reckte sich hoch und
sah zwei Mönche in weißer Ordenstracht. Die Kirche stand an einem zum
Rhein hin abfallenden, durch steinerne
Stufen befestigten Hang - ein Umstand,
der den beiden ermöglichte, von erhöhter Position aus zu den Leuten zu reden.
Der eine war ein großer, stattlicher
Mann und erinnerte in seiner Haltung
mehr an einen Ritter als an einen Geistlichen. Der andere musste jener Prediger sein, den die vielen Leute auf dem
Platz hören wollten. Da seine Kutte im
Wind um ihn herum schlotterte wie bei
einer Scheuche, hätte man ihn (an einem anderen Ort und weniger symbolträchtig gekleidet) für einen wunderlichen, armen Alten gehalten. Als er jedoch die Stimme erhob, zerstob dieser
erste Eindruck schnell. Franziska mochte kaum glauben, dass ein so dürftiger
Körper eine so gewaltige Predigt hervorbringen konnte.
"Das Böse geht um. Der Teufel
schickt seine Dämonen aus, und die
Dämonen nehmen siebenmal sieben
verschiedenerlei Gestalt an. Als schöner
Sukkubus sielen sie sich in den Betten
der Männer und pflanzen in ihre Herzen
den Hass wider die christliche Kirche.
Als Inkubus erscheinen sie nächtens den
Weibern und zeugen Ungeheuer mit
neun Schwänzen und dem Kopf eines
Salamanders. Ich sah Trolle mit lüsternem Blick durch die Gassen streunen.
Eulen fliegen um die Häuser. Es gibt
der Zeichen so viele, dass niemand sie
leugnen kann, wenn er nicht schon der
Verführung erlegen und dadurch blind
geworden ist."
Maginulfus sagte nichts, was nicht
jeder seiner Zuhörer schon in der eigenen Pfarrkirche gehört hatte, denn kein
Priester versäumte, seine Gemeinde vor
den Verlockungen des Teufels zu warnen. Die Worte gewannen jedoch aus
dem Munde des Ketzerjägers eine solche Kraft, dass sie bis ins Herz der Leute trafen. Völlig verstört meinten manche, die dämonischen Heerscharen seien
schon mitten unter ihnen, und bekreuzigten sich hastig.
Auch Franziska blieb nicht ungerührt.
Ihre Angst galt aber nicht nur den Unholden aus der Predigt sondern auch
(sogar vor allem) dem Prediger selbst.
Sie hatte plötzlich die Vision, er reite
auf einem grässlichen Ungeheuer, welches ihr zuvor als Reittier des Antichristen an einer Kirchentür aufgefallen war,
wo es mit seinen riesigen Krallen gera-
104
de einen Löwen in Stücke zerriss. Erschrocken fragte sie sich, was da in sie
gefahren sei, dass sie in einem Dominikanerprediger den Antichristen zu erkennen glaubte. Hatte sie etwa die Dämonen schon in sich?
"Wollt ihr erkennen, wer sich mit des
Teufels Bestien abgibt, so schaut auf die
Taten eines jeden! Zuvorderst Habgier
und Verschwendungssucht unterscheiden die Diener des Bösen von rechtgläubigen Christen. Ich habe Weiber
gesehen, die in ihrer Eitelkeit Kleid um
Kleid kauften, ohne jede Notwendigkeit. Der Glanz ihrer goldenen
Ketten und Ringe überstrahlt beim Gottesdienst das Tabernakel. Bei rauschenden Festen wird gesoffen und gefressen
wie in Babylon, als die Schrift an der
Wand erschien. Unzucht wird in so abscheulicher Weise getrieben, dass keine
Worte sie beschreiben können."
Plötzlich wurde klar, gegen wen die
Predigt sich richtete, und auf diesen
Moment hatten die Leute offenbar gewartet. Sie schrieen Verwünschungen
gegen den Rat und gegen bestimmte
angesehene Familien. Franziska vermutete, dass schon seit Tagen bösartige
Gerüchte umgingen und dass dieser
Mönch, der fromme Leidenschaft vorspiegelte, in Wahrheit einen Plan verfolgte und die Bürger mit Vorbedacht
aufhetzte.
"Woher stammt der Reichtum, den
diese Leute verprassen? Durch Betrug
haben sie ihn zusammengescharrt. Der
Herr lehrte uns, den Nächsten zu lieben
wie uns selbst. Diese Teufelsjünger aber
betrügen ihren Nächsten und mästen
sich dabei."
Jetzt begannen die Canes, den Prediger mit Zwischenrufen zu unterstützen.
Die Handwerker und Straßenhändler,
welche die Mehrheit auf dem Platz bildeten, ließen sich leicht anstecken. Es
waren aber auch Anhänger des Rates
anwesend, die sich in den Pausen zwi-
schen den Sprechchören nicht viel weniger lautstark gegen die Anschuldigungen verwahrten.
"Ihr sprecht vom Erzbischof und von
den Festen in seinem Palast! Bürger!
Wer ist es, der Euch betrügt? Ist es der
Kaufmann, der von weither unter unzähligen Gefahren all das heranschafft,
was ihr längst für selbstverständlich
haltet, obwohl ihr es selbst nicht herstellen könnt - Salz, Eisen, Gewürze - oder
ist es der Pfaffe, dem ihr alles hingebt,
damit er für euer Seelenheil betet, und
der so sündhaft lebt, dass sein Gebet
nichts bewirkt?"
Durch solche Reden wurde mancher,
der gerade noch ganz im Banne der
Predigt stand, wieder schwankend. Maginulfus jedoch ließ nicht zu, dass die
Stimmung umschlug. Unvermittelt begann er von den Ketzern zu reden - dabei geschickt den Anschein erweckend,
dass diese etwas mit dem Rat zu tun
hätten, ohne diese ungeheuerliche Anschuldigung offen auszusprechen.
"Wen kann es angesichts all dieser
Gräuel noch wundern, dass die widerwärtigste aller Sekten, die der Katharer
nämlich, sich abermals in der Stadt ausbreiten konnte, nachdem sie unter dem
großen Erzbischof Reinald von Dassel
für alle Zeit von hier verbannt zu sein
schien? Bei ihren Zusammenkünften
weilt unter ihnen ein schwarzer Kater,
größer als ein Kalb, und seine Augen
glühen. Der Kater aber ist niemand anderer als der Teufel. Er hebt den
Schwanz, damit jedermann sein stinkendes Hinterteil sehen kann und seine
Jünger es küssen können. So bekennen
sie ihren widerwärtigen Glauben. Dieser
Kater gab ihrer Sekte auch den Namen."
Die Canes nahmen die Wende in der
Predigt zum Anlass, mit dem Ruf:
"Schlagt die Ketzerfreunde tot!" gewalttätig gegen die Gegner des Erzbischofs
vorzugehen. Abermals rissen sie dabei
viele der Handwerker und Straßenhänd-
105
ler mit, so dass an verschiedenen Stellen
des Platzes Schlägereien entbrannten,
und (in deren Folge) ein unbeschreibli-
ches Gedränge entstand. Gellende
Schreie zerrissen die Luft. Die Begeisterung ging über in Panik und Entsetzen.
IV
F
ranziska wurde gegen die Kirchenmauer gequetscht und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, dem Inferno zu entkommen.
Dabei entdeckte sie plötzlich mitten in
der Menge ein bekanntes Gesicht. Zuerst sah sie es nur für einen winzigen
Moment und glaubte an eine Täuschung. Dann aber fand sie es ein zweites und drittes Mal. Der blonde Junge,
der ihr schon einmal das Leben gerettet
hatte, kämpfte sich Schritt für Schritt
durch das Gewühl hindurch zu ihr hin.
Er erschien ihr wie ein Schutzengel, und
sie wäre nicht erstaunt gewesen, hätte er
plötzlich Flügel ausgebreitet, um durch
die Luft zu ihr zu gelangen.
Ein neuer Stoß riss sie jedoch wenig
später aus seiner Nähe fort. Hilflos
konnte sie nur noch Acht geben, dass
sie nicht stürzte. Zu ihrem Glück wurde
sie in die Nähe des Ausgangs an der
Trankgasse gespült und konnte sich aus
dem schlimmsten Gedränge befreien.
Wo aber war der blonde Junge geblieben? War er in eine der Schlägereien
hineingeraten? Warum sorgte sie sich
eigentlich so sehr um ihn? Weil er ihr
damals geholfen hatte, aus Dankbarkeit
also, oder weil sie noch irgendetwas
von ihm erwartete? Warum musste sie
in dieser ohnehin so verwirrenden Woche nun auch noch ihm begegnen? Bennos Tod, die endgültige Trennung von
Stefanus, der Gottesdienst in der großen
Marienkirche, das herrliche Gefühl, als
sie sich dem Stift schenken wollte, und
die bittere Enttäuschung, als sie vom
Altar weggerissen und aus der Kirche
hinausgeworfen worden war, die Predigt, bei der sie in einem Dominikaner
den Teufel zu erkennen geglaubt hatte.
Warum ließ Gott das alles auf sie herabstürzen, ohne ihr Zeit zu geben, über
den Sinn nachzudenken? Sie wollte
endlich zur Ruhe kommen, musste aber
in einer Nische ausharren, während
Massen fremder Menschen mit wutverzerrten Gesichtern an ihr vorbei rannten.
Plötzlich fasste sie jemand am Arm.
"Komm mit! Es ist besser, wenn wir
von hier verschwinden."
Er war es.
"Wie ... wie hast du mich gefunden?"
Er lachte hell und klar.
"Das war nicht besonders schwer. Es
sieht ja fast so aus, als ob du auf mich
gewartet hättest."
"Nein, das ist nicht wahr. Ich konnte
überhaupt nicht weg von hier. Wie
kannst du nur denken, dass ..."
Sie merkte, dass sie sich ganz unsinniger Weise so sehr empörte und brach
ab. Ohne noch länger zwecklos zu versuchen, Ordnung in ihre Gefühle zu
bringen, folgte sie dem Jungen mit der
Zutraulichkeit eines Kindes.
"Du beobachtest mich schon den ganzen Tag über. Habe ich Recht?"
Er stutzte.
"Aber nein. Ich dachte, du bist längst
nicht mehr in der Stadt und war wirklich erstaunt, dich bei der Predigt plötzlich zu sehen."
"Aber du musst das doch gewesen
sein! Der einzige, der so etwas außer dir
hätte tun können, der ist tot. Mich kennt
kaum jemand hier in Köln."
"Vielleicht bist du gar nicht verfolgt
worden."
Sie erwiderte nichts mehr, ließ sich
innerlich aber von ihrem Einfall nicht
106
abbringen. Die Vorstellung, dass er
schon seit dem Morgen, vielleicht seit
Wochen in ihrer Nähe gewesen sei und
sie unerkannt beschützt habe, durchrieselte sie so angenehm wie heiße Milch
mit Honig. Des Grübelns überdrüssig,
empfand sie nur noch tiefe Dankbarkeit,
dass sie da jemand sanft und dennoch
entschlossen einfach bei der Hand nahm
und führte.
Beide folgten einer langen Straße mit
schmucken Bürgerhäusern auf beiden
Seiten, die in leichtem Bogen vom Dom
weg nach Norden in ein dem Mädchen
noch völlig unbekanntes Viertel führte.
An ihrem Ende weitete sie sich zu einem kleinen Platz. Dort sagte der Junge:
"Warte hier auf mich! Ich habe etwas
für meinen Vater erledigt und muss ihm
kurz berichten. Es dauert nicht lange."
Dann verschwand er nach rechts, wo
Franziska eine große Kirche über die
Giebel der Wohnhäuser ragen sah. Neugierig folgte sie ihm ein Stück, verlor
ihn aber bald aus den Augen und kehrte
um. Ringsherum sah sie großzügig angelegte Grundstücke mit schmucken
Häusern, ausgedehnten Gärten und
mehreren Nebengebäuden. Die Straßen
waren ungewöhnlich sauber und gepflegt. Nach links zum Beispiel führte
eine, an deren Rand Wacholdersträucher wuchsen. Franziska schloss das
Viertel sofort ins Herz, nicht nur weil er
hier wohnte. Übrigens kannte sie noch
immer seinen Namen nicht! Das sollte
sich ändern. Als er wiederkam, fragte
sie ihn sofort danach.
"Raimund", antwortete er. "Raimund
Cranboim."
"Raimund ... ein merkwürdiger Name."
"Oh, in Frankreich heißen viele so."
"Du bist Franzose?"
Er musste lachen, wobei seine Gesichtszüge noch zarter wirkten als ohnehin. Dabei war er ganz sicher drei
Jahre älter als sie und galt somit den
Sitten nach schon als ein Mann.
"Ich bin ein echter Kölner. Der Großvater meiner Mutter allerdings ist als
Kind mit seinen Eltern aus Frankreich
hierher gekommen, und der hieß eben
Raimund. Aber nun musst du auch was
erzählen. Oder nein! Lass mich raten!
Du kommst aus dem Norden, vielleicht
aus Hamburg. Deine Eltern waren reiche Kaufleute. Dann ist etwas Schlimmes passiert. Sie sind Bankrott gegangen ..."
"Hör auf! Du kommst ja doch nicht
drauf. Ich bin nämlich eine Adlige. Ja!
Ich heiße Franziska von Westerholt,
mein Vater hat eine Burg nahe bei Bremen."
Raimund sprang vor sie hin, kniete
vor ihr nieder wie in einer Posse und
rief feierlich:
"Können Eure Hoheit mir mein ungebührliches Betragen entschuldigen und
so gnädig sein, hiermit - wenn auch viel
zu spät - meine Huldigungen entgegenzunehmen?"
Er vermochte dabei derart ernst zu
bleiben, dass sie vor Lachen kaum noch
Luft bekam.
"Was bist du nur für ein seltsamer
Kerl! Übrigens kannst du getrost wieder
aufstehen. Mein Vater ist kein Graf
sondern nur ein Lehnsmann, ein Ritter."
"Warum sagst du 'nur'? Lehnsritter zu
sein, ist eine Ehre, für die manch reicher
Bürger sein halbes Vermögen hergegeben hat."
"Nun ja. Das mag schon sein. Aber
mir nutzt das im Moment leider wenig.
... Ach, lass uns über etwas anderes reden!"
Die Ausgelassenheit war jedoch ein
wenig verflogen. Schweigend gingen
sie nebeneinander die Straße mit den
Wacholdersträuchern entlang. Auf den
Ästen der Sträucher saßen unzählige
Krähen.
107
"Immer, wenn ich hier vorbeikomme,
frage ich mich, warum ich ausgerechnet
so heiße wie diese schwarzen Viecher.
Es ist aber nun einmal so. Die Bäume
nennt man 'Krähenbäume', die Straße
hier entsprechend 'Unter den Krähenbäumen', und den Urgroßeltern meines
Vaters, die dort drüben einst das erste
größere Anwesen unserer Sippe kauften, fiel nichts besseres ein, als sich
selbst 'von den Krähenbäumen' zu taufen."
"Auf den Namen kommt es doch
nicht an! Zum Glück siehst du ja nicht
so aus wie die Krähen."
Franziska sah ihn verstohlen immer
wieder an. Seine Augen waren blau, und
es spiegelte sich etwas darin wieder, das
sich am besten mit dem Wort fröhlich
beschreiben lässt. So wie Ramiras Blick
immer ein wenig beklommen stimmte,
vermittelten Raimunds Augen von Natur her Fröhlichkeit. Mindestens ebenso
aber hatten es Franziska seine nackenlangen, hellblonden Haare angetan. So
weich und seidig waren sie, dass sie das
Verlangen, über sie hinweg zu streichen
und sie durch die Finger gleiten zu lassen, nur mit Mühe unterdrücken konnte.
Wer sie beide sah, hielt sie gewiss für
ein schönes Paar. Mit ihrem tiefschwarzen Schopf stellte sie das ideale Gegenstück zu ihm dar. Dass sie vielleicht ein
wenig zu kräftig war als Braut eines
Patriziersohnes, fiel da nicht mehr ins
Gewicht.
Da gebot sie sich erschrocken Einhalt. Was dachte sie da bloß für wirres
Zeug! Wie kam sie darauf, dass er ein
Patriziersohn sei? Wieso sollte er sie
heiraten wollen? Unerfahren und hungrig nach Liebe und Zärtlichkeit, war sie
völlig durcheinander geraten.
Nachdem sie sich von Raimunds Anblick endlich losgerissen hatte und umsah, stellte sie nicht ohne Erschrecken
fest, dass sie sich am Ende der Straße
unter den Krähenbäumen mitten auf
dem Eigelstein wieder fand und zwar
ausgerechnet gegenüber der Einmündung des Entenpfuhl. Genau hier hatten
die Canes auf Bettler gelauert. Raimund
bemerkte ihre zwiespältigen Gefühle
und beruhigte sie lächelnd.
"Du glaubst doch nicht, dass ich mit
dir jetzt zu den Enten gehen will?!"
Tatsächlich mündete unmittelbar neben dem Entenpfuhl eine zweite Straße
ein, die sich im spitzen Winkel schräg
nach rechts von ihm entfernte. Sie war
auf beiden Seiten bebaut, wobei es zwischen den Häusern größere Lücken gab.
In ihnen wuchsen Sträucher und Bäume,
vor allem Weiden.
"Das ist die Weidengasse", sagte
Raimund. "Leider verkommt sie ein
bisschen - wegen der Stadtmauer. Seit
ein paar Jahren kommt man vorn nicht
mehr durch, und die besser gestellten
Leute verschwinden nach und nach.
Aber ein Hauch alter Würde steckt noch
drin in der Gegend."
Vor einem Eckhaus blieb er stehen
und öffnete die Tür zum Keller.
"Nur vorübergehend", entschuldigte
er sich. "Hier hast du ein Dach über
dem Kopf, bis ich eine bessere Bleibe
für dich finde. An den Mietshäusern der
Herren von Klockring in der Nachbarschaft darfst du dich nicht stören. Die
Leute, die da wohnen, sehen zwar nicht
sehr Vertrauen erweckend aus, sind aber
anständig, arme Leineweber zumeist."
Franziska erwartete einen Lagerraum
(ähnlich dem der Jevers) und staunte,
als sie eine Wohnstube betrat (wenn
auch eine etwas merkwürdige). Drei
Bänke standen darin, breit genug, um
darauf zu schlafen, dazu ein Tisch und
zwei unterschiedlich große, einfache
Truhen. Das alles sah sauber aus, und in
der Luft lag (ganz leicht, aber doch unverkennbar) der Geruch von Gebratenem. Wer wohnte hier (oder hatte es bis
vor kurzem getan)? Später fiel ihr noch
auf, dass fast jeglicher Schmuck fehlte.
108
Wer nicht wusste, wo er die Nacht verbringen sollte, fand alles vor, was sein
Herz begehrte. Auf Dauer hingegen
konnte sich hier niemand wirklich wohl
fühlen. Diente der Raum vielleicht anspruchslosen Pilgern als Unterkunft?
Raimund diese Fragen zu stellen, erschien Franziska jedoch unschicklich.
Es wäre vielleicht der Eindruck entstanden, sie wolle sich beschweren. Zudem
lag ihr etwas anderes noch viel mehr auf
dem Herzen.
"Was hat dieser Dominikaner eigentlich gepredigt? Ich meine: Was wollte
er wirklich sagen? Die Leute auf dem
Platz waren alle so wütend, als ob ... ein
böser Geist umgegangen sei."
Raimund, der sich gerade damit beschäftigte, Brot, Käse und ein wenig
Fett auf den Tisch zu stellen, hielt inne
und sah das Mädchen ernst, vielleicht
sogar ein wenig erschrocken an. Für
einen Moment verlor sich die Fröhlichkeit in seinen Augen, kehrte aber
schnell zurück.
"Maginulfus ist ein Irrer. Er sieht
überall den Teufel, körperlich mit
Schwanz, Hörnern und Schwefelgeruch.
Irgendwann werden das die Leute hier
hoffentlich merken und sich sein Gefasel nicht mehr anhören."
"Vorhin haben sie ihn angehört wie
einen Propheten."
"Sie hätten jeden angehört, der irgendetwas über den Rat oder den Erzbischof oder alle beide erzählt. Die Stimmung in Köln ist schlecht. Die Geistlichen und die Bürgerlichen sind einander
spinnefeind. Vielleicht wird Blut fließen
wie damals, als der zweite Anno nur mit
Mühe und Not sein Leben behielt."
"Es gab schon einmal einen Aufstand?"
"Mehr als einen! Der gegen Anno
aber war der größte. Damals kamen die
Bürger sogar für ein paar Tage an die
Macht. Wahrscheinlich würden die Patrizier sofort wieder losschlagen, wüss-
ten sie die Handwerker und Knechte
sicher auf ihrer Seite. Die aber werden
vom Erzbischof und von den reichen
Kaufherren gleichermaßen drangsaliert."
"Und jetzt versucht jede Partei, ihnen
einzureden, dass sie nur unter den jeweils anderen zu leiden hätten."
"Genauso ist es."
"Und was hat das alles mit den Ketzern zu tun?"
"Gar nichts."
"Trotzdem hat der Dominikaner davon gesprochen! Warum?"
"Er ist ein Irrer. Wie soll ich dir erklären, was im Kopf eines Irren vorgeht?"
Franziska überzeugte das nicht, doch
sie wollte ihn nicht mit einem ihm offenbar unangenehmen Thema verärgern
und sagte beiläufig:
"Ich bin seit genau achtzehn Tagen
vierzehn Jahre alt."
"Du bist erst vierzehn? Ich habe dich
viel älter geschätzt."
"Viele halten mich für älter", erwiderte sie und fühlte sich geschmeichelt.
"Aber es ist gut, dass ich erst vierzehn
bin. Sonst müsste ich mich schon bald
sorgen, keinen Mann zu bekommen."
Er hob verständnislos die Schultern.
"Willst du dich einem beliebigen
Mann hingeben, nur weil es die Sitte
vorschreibt? Es gibt viele schlechte Sitten. Manche davon sind sogar eine Sünde vor Gott."
"Du hast Recht."
Sie aßen miteinander, lachten und
scherzten. Raimund legte es allerdings
nicht darauf an, sie in Verlegenheit zu
bringen. Seine Späße waren niemals
zweideutig. Durch nichts wurde der
Anstand verletzt, so verfänglich die
Situation an sich auch war.
In ihrer Verwirrung empfand Franziska zunächst Dankbarkeit für diese
Zurückhaltung, denn durch sie blieb sie
vor einer denkbaren Unüberlegtheit
109
bewahrt. Später freilich, als sie allein in
der fremden Stube saß und das Hereinbrechen der Nacht abwartete, grollte sie
ihm ein wenig, dass er nicht wenigstens
den Versuch unternommen hatte, sie zu
verführen.
110
11.Kapitel
I
D
ie Predigt des Maginulfus auf
dem Platz vor St.Maria ad
Gradus hatte die Stadt in Aufruhr versetzt.
Angesehene
Bürgerfamilien wurden öffentlich verdächtigt, zu den Katharern oder einer anderen Sekte von Teufelsanbetern zu gehören. Es kam zu Morddrohungen, sogar
zu Anschlägen. Die Anhänger des Rates
ließen mit einer Antwort nicht lange auf
sich warten und beschuldigten Persönlichkeiten aus der Umgebung des Erzbischofs, bei perversen Orgien junge
Mädchen aus der Stadt zu schänden und
anschließend bestialisch zu ermorden.
Die jungen Burschen, die sich zu den
verschiedenen Parteien bekannten, lieferten sich mehr denn je blutige Straßenschlachten. Bei den Canes wuchs
das Selbstbewusstsein, denn sie fühlten
sich bestätigt - auch in ihren Gewalttätigkeiten.
Das war keine gute Stimmung für
Rechtlose wie die Gaukler. Fast immer
entlud sich der Volkszorn am Ende auf
sie, gleichgültig ob sie sich auf die Seite
eines der Gegner geschlagen hatten oder
neutral geblieben waren. Wo aber gab
es überhaupt einen Ort, wo sie sich ganz
ohne Furcht aufhalten konnten? Auf
einsamen Straßen lauerten ebenso viele
Gefahren. In der reichen Stadt Köln
brauchten sie zumindest nicht zu hungern, verdienten sogar genug, um Vorräte für Notzeiten anzulegen.
Es war Sommer. An manchen Tagen
barst der Altmarkt vor Menschen. Besonders der Zugang zum Dom, die für
ihre Enge berüchtigte Bechergasse,
wurde oft zum Schauplatz wilden Gedränges. Zwischen Brunnen und Pranger aber fanden die Gaukler meistens
noch genug Platz für ihre Vorführun-
gen. Außer den Frischfischhändlern, die
das Wasser brauchten, mieden die Kaufleute dieses Areal. Vielleicht rief der
Schandkäfig ihr schlechtes Gewissen
und damit ihre heimlichen Ängste wach.
Sobald die Gaukler auftraten, lockten
sie einen dichten Ring von Zuschauern
an. Hatte die Begeisterung den Höhepunkt erreicht, gingen Ramira und Pentia durch die Reihen und sammelten ein,
was die Bürger zu geben bereit waren.
In den vergangenen Jahren hatte es in
der Gegend keine Kriege, keine Seuchen und keine schweren Unwetter gegeben. Die Speicher waren gefüllt und
die Leute sprachen nur noch von Luxusdingen, weil ihnen das zum Überleben Notwendige als selbstverständlich
galt. Es hätte sie mithin nicht schmerzen
dürfen, ein paar Künstlern für ihre gute
Vorstellung den gebührenden Lohn zu
geben. In Wahrheit aber erwachte plötzlich die Sparsamkeit in ihnen, und sie
fanden hundert Argumente beim Feilschen mit sich selbst. ("Die kriegen von
den vielen anderen schon mehr als genug!"; "Die haben ganze Truhen voll
Schmuck aus Gold und Silber in ihren
Wagen versteckt."; "Die haben ihren
Lohn längst bei uns gestohlen.") Der
letzte Vorwurf war übrigens nicht ganz
unberechtigt. Für fahrendes Volk gehörte alles, was unbeaufsichtigt herumlag,
demjenigen, der es fand und an sich
nahm. Allerdings stahlen sie (anders als
marodierende Waffenknechte) niemals
gewalttätig.
Die Hartherzigkeit der Leute zu
durchbrechen, war Ramiras Aufgabe.
Sie hatte ein Gespür für den Charakter
desjenigen, vor dem sie stand, und stellte sich ganz auf ihn ein. Dem Machtbesessenen unterwarf sie sich, dem Einge-
bildeten gab sie sich hochachtungsvoll,
dem Lüstling schenkte sie ein aufreizendes Lächeln. Wie in einem Zauberspiegel hätte jeder an ihrem Gebaren
seine Laster ablesen können. Niemand
jedoch verstand diese Botschaft - zum
Glück.
Pentia war beim Geldeinsammeln
ebenfalls durchaus geschickt, jedoch
niemals ganz so erfolgreich. Da sie zudem bei den Auftritten nach wie vor nur
zu Hilfestellung eingesetzt wurde, fühlte sie sich ein wenig unwohl, und so
hatte sie auf eigene Faust Kunststücke
zu üben angefangen - zumeist in der
Nähe des Lagers auf dem Forum, mitunter auch mitten auf dem Altmarkt.
Dabei kam sie zu völlig unerwarteten
Erfolgen. Gerade weil ihr so vieles
misslang, fanden die Leute sie drollig
und blieben, belustigt (und auch ein
wenig mitfühlend), vor ihr stehen. Sie
war ein hübsches Kind - zierlicher als
ihre Schwester, schüchtern, aber immer
zu einem freundlichen Lächeln bereit;
das ebenmäßige Gesicht umrahmt von
den kurzen, sehr dichten, leicht welligen
schwarzen Haaren. Jeder mochte sie
ihrer offenkundigen Friedfertigkeit wegen, und nicht wenige gaben ihr ein
Almosen als Lohn für ihre Unverdrossenheit. Mit ihrem ersten selbst
verdienten Geld, hatte sie sogar Melanie
überzeugt. Wie es deren Wesen entsprach, übertrieb sie die Zuneigung nun
ebenso wie die Abneigung zuvor.
Sich mit Melanie gut zu stehen, war
übrigens vorteilhaft, denn sie herrschte
nahezu unbeschränkt über die Vorräte.
Auch beim Kochen, Waschen und Putzen, den Verrichtungen des Alltags, die
auch anderswo den Frauen zufielen, ließ
sie sich von niemandem hineinreden.
Die Bürgerinnen pflegten allerdings die
Nase über sie zu rümpfen. Gaukler zogen umher und lebten unter freiem
Himmel. Ihre Wagen nutzten sie als
Schutz vor Kälte, Wind und Regen. Sie
fühlten wie kaum jemand sonst, dass
alles im Fluss ist und nichts sich halten
lässt. Folglich sahen sie keinen Grund,
wieder und wieder zum Glänzen und
Blitzen zu bringen, was durch Gottes
Willen offenbar nicht zum Glänzen und
Blitzen geschaffen war. Auf Wanderschaft fiel das nicht auf, weil es sich aus
den Umständen erklärte. In der Stadt
freilich war das anders, und so konnten
die Bürgerinnen ihren Töchtern am Beispiel jener Gauklerin verständlich machen, was eine schlechte Hausfrau ist.
Melanie war mit den Vorurteilen aufgewachsen und im Laufe der Jahre unempfindlich dagegen geworden. Es gab
aber neuerdings noch einen anderen
Grund für ihre gute Stimmung selbst
angesichts gröbster Beschimpfungen sie erwartete von Mario ihr erstes Kind.
Schon im fünften Monat schwanger, fiel
ihr die Arbeit allmählich schwer. Aber
sie legte Wert darauf, weiterhin ihren
vollen Anteil für die Gemeinschaft zu
leisten. Das Lager auf dem Forum feni
bestand inzwischen aus sieben Wagen,
in denen zusammen fünfzig Menschen
lebten. Das Verhältnis der Beldinis zu
den Nachbarn war unterschiedlich. Mit
einigen von ihnen traten sie gelegentlich
auf, mit anderen sprachen sie kaum.
Melanie betreute häufig die kleineren
Kinder, wofür andere Frauen ihr beim
Tragen des schweren Waschzubers halfen.
Am Abend nach der letzten Mahlzeit
ging jeder seine eigenen Wege. Alexander saß oft an einem einsamen Platz am
Rhein. Melanie und Mario genossen die
wenigen gemeinsamen Stunden, scherzten miteinander, sprachen über die Zukunft zu dritt. Pentia und Ramira zogen
sich meistens in den Wagen zurück.
"Stimmt es, dass der Stammvater aller Beldinis aus Italien nach Deutschland gekommen ist?" fragte Pentia,
während sie sich auf dem Bett aus-
112
streckte und hinaufblickte zu dem Vogelkäfig an der Decke.
"Ja. Alexander sagt, dass er ein großer Künstler war. Einmal hat ihm ein
Herzog vor allen Leuten einen silbernen
Teller geschenkt. Aber das ist lange her.
Es heißt, dass er als Kind noch die Ritter zum ersten Kreuzzug aufbrechen
sah. Seine Frau Fatima kam aus dem
fernen Arabien. Mit ihr hatte er drei
Söhne, die allesamt Gaukler geworden
sind wie er - Giorgio, Antonio und Gioseppo."
"Und von welchem der drei stammst
du ab?"
"Von Gioseppo."
"Das war gewiss eine glückliche Zeit
damals."
"Aber mit einem bösen Ende. Als der
Papst zum zweiten Mal das heil'ge Grab
wollt' befreien lassen und allenthalben
bewaffnete Männer durchs Land zogen,
wurden (wieder einmal) viele Juden
erschlagen, weil die ja schuld sind am
Tod von unser'm Herrn Jesus. Ein Erzbischof mit Namen Arnold aber schützte die Kölner Juden, indem er sie in
seine Burg ließ. Aus Ärger darüber haben die Kreuzritter sich an die Bettler
und Gaukler gehalten."
"War auf der Burg kein Platz mehr
für sie?"
"Die Juden haben dem Erzbischof
Geld gegeben. Die großen Herren machen nichts für umsonst."
"Was ist geschehen mit den Beldinis?"
"Giorgio entkam mit denen Seinen
über die Alpen nach Italien. Antonio
verlor seine ganze Familie, konnte
selbst aber fliehen. Später heiratete er
ein zweites Mal. Gioseppo schließlich
wurde in der Gefahr zu einem richt'gen
Helden. Er stellte sich den Angreifern
entgegen, kam um dabei, rettete aber
seine Frau und seine beiden Kinder."
II
E
ines Abends erschienen zwei
junge Männer im Lager und verlangten, den Sippenältesten zu
sprechen. Niemand wusste so recht,
wen sie damit meinten. Schließlich
schickte jemand sie zu Alexander. Den
fragten sie geradezu:
"Dieses rothaarige Mädchen, das jeden Tag auf dem Altmarkt am Brunnen
ihre Kunststücke vorführt, gehört das zu
deinen Leuten?"
Der Alte nickte zögernd und fragte
sich, was die beiden im Schilde führten.
"Unser Dienstherr schickt uns im
Namen der Bürger vom Stadtteil Niederich."
"Dort sind wir noch niemals gewesen!" behauptete Alexander sicherheitshalber. Dass sie sich ausdrücklich nach
Ramira erkundigten, beunruhigte ihn.
"Nun, das ist es ja eben. Die Bürger
aus Niederich wollen eine Vorführung
von euch erleben, und zwar auf einem
besonderen Platz, wo sie alle zusehen
können, ohne sich drängen zu müssen."
Der Alte konnte nur mit Mühe seine
Freude unterdrücken. Im Gegensatz zu
seiner Behauptung kannte er das reiche
Viertel sehr gut, und wusste, welch gute
Gelegenheit sich ihnen bot. Solange
jedoch der Preis nicht feststand, spielte
er Gelassenheit vor.
"Unser Dienstherr ist überzeugt, dass
ihr euch über die Einladung sehr freuen
werdet."
Alexander wiegte den Kopf.
"Wir sind zufrieden. Die Leute auf
dem Altmarkt mögen uns. Was wir verdienen, genügt uns. Übermut kommt
vor dem Fall."
113
"Gibt es nichts, was euch umstimmen
könnte?"
Der Alte zierte sich lange, betonte
immer wieder, dass er eigentlich nicht
viel von der Sache halte, nannte schließlich aber doch seine Bedingungen.
"Für einen solchen Auftritt müssen
wir manches vorbereiten. Unterdessen
können wir nicht auf den Altmarkt gehen und haben Verlust. Es wäre also
recht und billig, wenn uns die Bürger im
Voraus vier Solidor geben."
"Vier Solidor, achtundvierzig Denare? Dafür bekommt man ein halbes
Schwein. Du machst dir einen Spaß mit
uns."
"Außerdem wollen wir, dass wir in
Niederich ein Lager aufschlagen dürfen,
und dass man uns das mit Brief und
Siegel bestätigt."
Die beiden Knechte seufzten und erklärten sich überfordert mit einer solchen Entscheidung. Beim Abschied
versprachen sie aber, am nächsten
Abend wiederzukommen, was sie dann
auch taten.
"Nun, was hat euer Dienstherr zu unserer bescheidenen Bitte gesagt?" erkundigte sich Alexander.
"Dass ihr ein unverschämter Kerl
seid. Drei Solidor könnt ihr bekommen
und keinen Denar mehr."
"Drei Solidor? Das ist ja gerade die
Hälfte von dem, was wir verlieren würden!"
"Die Hälfte? Gestern hast du Halunke
von vier ..."
"Niemals! Sechs Solidor verdienen
wir auf dem Altmarkt an einem einzigen
Tage. Der Herr danke den guten Leuten
ihre Freigebigkeit!"
"Du wirst deinen Starrsinn noch bereuen."
"Habt ihr auch an unseren Lagerplatz
gedacht?"
"In Niederich ist nirgends genug
Raum für so viele Wagen."
"Auch nicht für zwei?"
"Denke darüber nach! Du wirst die
Bürger verärgern und nie wieder ein so
gutes Angebot bekommen", drohten die
Knechte, doch Alexander gab nicht
nach.
So mussten die beiden ein drittes und
viertes Mal kommen. Schließlich erklärte sich der Alte mit dreieinhalb Solidor
und einem Lagerplatz für zwei Wagen
einverstanden.
Vor Mario hatte Alexander die Gespräche geheim gehalten - zum einen,
weil er dessen überschäumendes Temperament bei den Verhandlungen für
gefährlich hielt, zum anderen, weil er
beweisen wollte, dass er längst noch
nicht überflüssig in der Truppe war, nur
weil er viele Kunststücke mit seinen
steifen Knochen nicht mehr zeigen
konnte. Als er nun alles erzählte, blieb
der Streit über seine Eigenmächtigkeit
nicht aus, doch überwog natürlich die
Freude. Wenige Tage später verließen
die Beldinis das Lager auf dem Forum
feni, und zwar zusammen mit einer
Gauklerfamilie, die erst seit zwei Wochen in Köln weilte, mit der sie sich auf
Anhieb gut verstanden hatten und mit
der zusammen sie nun auch das Programm in Niederich gestalten wollten.
Die Fahrt durch die Stadt war schwierig. Um das Gedränge auf den Märkten
zu vermeiden, brachen sie erst am
Abend auf, als die Händler ihre Stände
abgebaut hatten. Sie verließen das Forum über die Kästnergasse. Kurz vor
dem Altmarkt bogen sie nach rechts in
die Lintgasse ein, die mit schleimigem
Wasser bedeckt war, weil hier tagsüber
Fische verkauft wurden. Auf gefährlich
abschüssigem Weg erreichten sie
schließlich die Straße an der alten
Stadtmauer, die (dem Rhein folgend)
bis nach Niederich führte. Hinter dem
Frankenturm (nahe dem Platz vor dem
Stift St.Maria ad Gradus), wo es keine
Häfen mehr gab, konnten sie dann
selbst mit ihren großen Wagen mühelos
114
fahren. Allerdings brach da auch schon
die Dunkelheit herein.
"Da seht ihr, was diese graukitteligen
Hohlköpfe mit ihrer Krakeelerei erreichen!" rief Mario. "Wir sind Künstler.
Die Leute wollen uns sehen und werden
deshalb dafür sorgen, dass wir unseren
Frieden haben."
"Was erwartest du von den Leuten?
Mit Gott musst du deinen Frieden
schließen! Wisst ihr nicht mehr, wie er
die schwarzen Beldinis für ihren Hochmut bestraft hat? Habt ihr vergessen,
dass gestern ..."
Alexander sagte das, und sein Alter
und seine Würde als echter Beldini verboten eigentlich, ihm einfach das Wort
abzuschneiden. An einem so glücklichen Tage aber wollten sich Mario und
Melanie nicht einmal von ihm die Laune verderben lassen.
"Hör auf! Du bist trübsinnig, weil du
alt wirst."
"Gerade weil ich alt bin, solltest du
dir überlegen, was du zu mir sagst. Übrigens bist du mir mehr schuldig als nur
die Achtung vor meinem grauen Haar."
Pentia zupfte Ramira am Kleid und
flüsterte:
"Was meint er?"
"Melanie ist eigentlich die Frau von
Alexander. Dann kam Mario."
"Und Alexander ist freiwillig zurückgetreten?"
"Melanie wollt gern ein Kind, und
Alexander ... nun er hatte auch mit seiner ersten Frau keines. Außerdem weiß
er natürlich, dass er zu ihr nicht passt."
"Und was meint er mit dem Hochmut
der schwarzen Beldinis?"
"Wir, die roten Beldinis, sind die
Nachkommen von Gioseppo, die
schwarzen stammen ab von Antonio
und Djalila, seiner zweiten Frau. In der
einen Sippe gibt's nur Rothaarige, in der
anderen nur Schwarzhaarige, ohne eine
Ausnahme. Die einen sind nach dem
alten Beldini geraten, die anderen nach
Fatima aus Arabien. Nachdem Antonio
aus Köln geflohen war, gründete er in
Lübeck seine zweite Familie. Zwei
Kinder wurden geboren, ein Junge und
ein Mädchen. Dann ging er mit den Seinen nach Hamburg, wo die von ihm
geleitete Truppe so berühmt wurde, dass
Herzog Heinrich der Löwe (der viel
Verständnis für Künstler hatte) sie zu
sich nach Braunschweig an seinen großen Hof holte."
"Aber das ist doch etwas sehr Gutes?
Warum sagt Alexander, dass Gott sie
bestraft habe?"
"Ich weiß nicht, ob Gott sie wirklich
bestraft hat. Vielleicht richtete sich Sein
Zorn wen'ger gegen sie als gegen ihren
neuen Herrn. Mit dem Herzog nämlich
nahm's kein gutes Ende. Als er sich gegen den Kaiser Barbarossa auflehnte,
zogen von überallher Ritter gegen ihn
ins Feld. Und weil Antonio wusste, was
Krieg für Gaukler bedeutet, ist er mit
der Sippe aus Braunschweig geflohen."
Ramira unterbrach ihre Erzählung,
weil einer der Wagen in einem Loch
stecken geblieben war und jeder zupacken musste, ihn wieder herauszuheben.
"Immerhin gab's danach noch einmal
eine richtig gute Zeit. Als Kaiser Barbarossa seine beiden Söhne zu Rittern
machte, ließ er auf den Wiesen vor den
Toren der Stadt Mainz ein gewalt'ges
Fest veranstalten. Mehrere Tage dauerte
es. Bei den Turnieren wurden unzählige
Lanzen zerbrochen. An den Abenden
wetteiferten Künstler aus aller Herren
Länder miteinander. Die meiste Ehre
heimsten natürlich die Dichter ein. Aber
auch die Artisten bekamen Beifall und
Lohn."
Wieder unterbrach Ramira, diesmal
ohne ersichtlichen Grund. Pentia spürte,
dass sie zu dem, worauf Alexander angespielt hatte, noch gar nichts gesagt
hatte - wohl weil auch sie plötzlich davor zurückschreckte, den glücklichen
Tag mit einer traurigen Erinnerung zu
115
stören. Schließlich brachte sie die Geschichte mit ein paar Sätzen beinahe
hastig zum Ende.
"Zwei Jahre später suchte eine Seuche das Land heim. Dabei sind ein'ge
aus der Truppe gestorben. Die anderen
verloren die Freude am Gauklerleben.
So war das."
Vorn tauchten die Türme von
St.Kunibert auf. In den letzten Strahlen
der Sonne glich die Ostfassade der
Stiftskirche mit den dicken, viereckigen
Türmen und dem sich zwischen ihnen
massig vorwölbenden Chor einer riesigen schwarzen Katze, die sich zum
Schlafen niedergelegt hatte. Davor erstreckte sich ein weiter, wenig genutzter
Platz bis zum Rhein. Da sie bis zur völligen Dunkelheit mit der Errichtung
eines Lagers nicht mehr fertig werden
konnten, stellten die Gaukler ihre beiden Wagen erst einmal an der nächst
besten Stelle ab und legten sich zum
Schlafen nieder.
Am nächsten Morgen erwachten sie
vom Geschrei und Stimmengewirr der
ersten Leute, die neugierig die Gäste
ihres Viertels umringten. Die meisten
wussten, was es mit ihnen auf sich hatte
und begegneten ihnen wohlwollend,
wenn auch mit der typischen Scheu des
braven Bürgers vor jeglichem Fremden.
Es gab allerdings auch einige, denen der
geplante Auftritt mit allem, was damit
zusammenhing, unverkennbar ein Dorn
im Auge war. ("Bald wird's hier auch so
aussehen wie auf dem Forum!"; "Und
das vor der Kirche des heiligen Kunibert! Pfui!"; "Unsere Söhne und Töchter
können genauso gut musizieren und
tanzen! Da braucht man sich nicht solche wie die da herzulocken.") Zum
Glück bildeten diese Störenfriede eine
Minderheit und wurden mit missbilligenden Blicken schließlich vergrault.
Am Nachmittag allerdings, als das
Lager bereits aufgeschlagen war, und
Melanie über dem Feuer das erste Essen
am neuen Platz kochte, wurden die
Gaukler abermals darauf gestoßen, dass
es in Niederich zwei Parteien mit
grundverschiedenen Meinungen über
sie gab. Wie aus dem Boden gewachsen, tauchten Jugendliche auf. Sie brüllten zuerst aus etwa zehn Schritten Entfernung gemeine Beschimpfungen und
begannen dann, kleine Steine zu werfen.
"Verschwindet von hier! Wir wollen
euch hier nicht!"
Aber auch diesmal hatten die Gaukler
am Ende Glück. Männer der Stadtwache
bemerkten den Angriff, packten drei der
Jugendlichen, verprügelten sie mit
Holzknüppeln und drohten ihnen mit
dem Gefängnis in der gefürchteten
Kunibertstorburg. Mario sah zu und
lachte. Es kam nicht alle Tage vor, dass
sich Waffenknechte so energisch für ein
paar Gaukler einsetzten.
III
F
ranziska wollte sich den Auftritt
ihrer Freundin auf keinen Fall
entgehen lassen, denn seinerzeit
auf dem Forum feni hatte sie, mehr tot
als lebendig, kein einziges ihrer Kunststücke gesehen. Die Bürger hatten für
die Gaukler eine kleine Bühne aufgebaut. Die dahinter stehenden Wagen
sollten zum Umkleiden dienen. Zwi-
schen zwei fest verankerten Pfosten war
ein Seil gespannt. Für die reichsten und
vornehmsten Bewohner des Viertels gab
es Bänke. Franziska war ziemlich zeitig
gekommen und das erwies sich als klug,
denn offensichtlich ging der Wunsch
der Niedericher, unter sich zu sein, nicht
in Erfüllung. Die Beldinis hatten inzwi-
116
schen etliche Freunde in der ganzen
Stadt gewonnen.
Endlich ging es los. Zuerst traten Artisten auf, die zu der befreundeten Sippe
gehörten. Aber anders als zu Weihnachten auf dem Forum bestand niemals die
Gefahr, dass die Zuschauer schon vor
dem Höhepunkt vergrault wurden. Zwei
Männer, eine Frau und drei Kinder führten eine turbulente Komödie mit vielen
geschickt in die Handlung eingebauten
Kunststücken vor. Es gab viel zu lachen
und es fehlten auch die stets beliebten
frechen Anspielungen nicht. Die Leute
forderten zweimal eine Zugabe.
Nun kam für die Beldinis ein schwieriger Moment. In einer Vorführung sollte auf Gutes nicht Schlechtes folgen,
doch Melanies Schwangerschaft war
schon zu weit fortgeschritten, als dass
sie hätte mit Mario auftreten können.
Deshalb musste die unerfahrene Pentia
einspringen. Mario spielte den Meister,
das Mädchen im Kostüm eines Harlekins den eifrigen aber untalentierten
Schüler. Aber die Verlegenheitslösung
erwies sich als hervorragend. Von den
Lachsalven der Zuschauer vorangetrieben, blieben die beiden viel länger
auf der Bühne als geplant. Mario war
gut aufgelegt und hätte wohl auch allein
reichlich Beifall geerntet, Pentia mit
ihrem treuherzigen Blick und ihrem
einfach liebenswerten Wesen jedoch
sorgte erst für die wahre Stimmung.
Übrigens probierte sie am Ende viele
Tricks tatsächlich zum allerersten Mal.
Nach einer Pause, in der Pentia durch
die Reihen ging, um zum ersten Mal an
diesem Abend Spenden einzusammeln,
kam Ramira an die Reihe. Um die
Spannung zu steigern und auch um die
Dämmerung noch ein wenig mehr hereinbrechen zu lassen, dehnten die Gaukler die Pause aus, ohne sich von Zwischenrufen beeindrucken zu lassen.
Franziska wurde derweil immer unruhiger. Zwar kannte sie das Programm,
wusste also, dass bisher alles so gut
verlaufen war, wie irgend möglich,
wusste, warum es diese lange Pause
gab, wusste auch, dass ihre Freundin
noch niemals versagt hatte, doch
wünschte sie sich dennoch von Herzen,
dass alles schon vorbei sein möge.
Die Bühne und ihre nähere Umgebung wurden von zahlreichen Fackeln
in rötliches Licht getaucht und wirkten
geheimnisvoll, als Ramira darauf erschien. Sie trug ein enges Kleid, das
ihre Beine bis übers Knie sehen ließ und
unter anderen Umständen anstößig gewirkt hätte. Doch als Gauklerin stand
sie in gewisser Hinsicht außerhalb der
gesellschaftlichen Normen. Freilich
gelangen ihr viele Kunststücke überhaupt erst dank dieser Narrenfreiheit.
Sie wirbelte in atemberaubenden
Sprüngen und Überschlägen von einem
Ende der Bühne zum anderen - manchmal sogar darüber hinaus, wie um zu
beweisen, dass ihre Kunst jeden Rahmen sprengte. Dann verharrte sie plötzlich, um Proben ihrer Biegsamkeit zu
zeigen, bis mancher wohl glaubte, sie
habe keinen einzigen Knochen im Leib.
Niemals wusste man, was sie im nächsten Augenblick tat, und genau das half
ihr, immer wieder die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Später huschte sie einem Eichhörnchen gleich einen der beiden Pfosten
hinauf und balancierte mehrmals auf
dem Seil hin und zurück. Aber plötzlich
zögerte sie. Auf der schmalen Plattform
an der Spitze des einen Pfostens nahm
sie Schwung, fing sich ab, probierte es
ein zweites, schließlich ein drittes Mal.
Die Zuschauer hielten den Atem an.
Dieses nächste Kunststück war zweifellos gefährlicher als alle vorherigen, da
selbst sie sich offenbar davor fürchtete.
"Nun mach schon, du Angsthase!"
rief jemand.
Da nahm die Artistin ein weiteres
Mal Schwung, vollführte einen Salto
117
und versuchte dann, mit den Füßen auf
dem Seil Halt zu finden. Dabei rutschte
sie jedoch ab. Ein paar Frauen kreischten gellend auf. Das Mädchen stürzte
aber nicht ab, sondern kam auf dem Seil
zu sitzen, die Beine zu beiden Seiten
herunterhängend. Aus dieser Stellung
sprang sie blitzschnell wieder auf und
balancierte sicher zum anderen Pfosten
hinüber. Selbst Franziska, die genau
wusste, dass ihre Freundin sowohl die
Furcht als auch den Unfall nur vorgespielt hatte, weil die Leute dergleichen
sehen wollten, und dass sie dieses
Kunststück mit traumwandlerischer
Sicherheit beherrschte, war ganz heiß
vor Aufregung.
Inzwischen kletterte Ramira wieder
herunter vom Seil, schmückte sich mit
einem hölzernen, schnitzereiverzierten
Diadem sowie einem durch aufgenähte
Metallplättchen vielfarbig schillernden
Gürtel und nahm in jede Hand eine Fackel. Sie spielte jetzt eine Prinzessin aus
einem fernen Land und drehte sich anmutig in einem verwirrenden Tanz. Jetzt
war das kurze Kleid nicht mehr ohne
Sinnenreiz wie zuvor, als alle nur auf
die Sprünge und Überschläge achteten.
Die Fackeln wirbelten um ihren Körper
herum und zeichneten geheimnisvolle
Leuchtspuren. Mario trommelte unsichtbar einen fremdartigen Takt.
Die Spannung hätte größer nicht sein
können. Franziska fühlte das wollüstige
Schnauben der Männer um sich herum,
und dachte an die Zeichnung eines Drachen mit einem Dutzend Köpfen, dampfenden Nüstern und feurigem Atem. Sie
ahnte, was in diesen widerwärtigen Kerlen vorging, wie sie gerade davon
träumten, diesem (ihrer Vermutung
nach noch unschuldigen) Mädchen das
Kleid vom Leib zu fetzen. Am liebsten
hätte sie ihr ein Zeichen gegeben und
sie angefleht, dieses Spiel mit dem Feuer abzubrechen, ihre Haare wieder in
Unordnung zu bringen und sich mit
ihrem zerschlissenen, unsauberen Alltagskleid zu schützen. Ramira indes
steckte die Fackeln in den Boden und
tanzte um sie herum. Dabei legte sie
ganz langsam unter Marios Trommelwirbel zuerst das Diadem und dann
auch den Gürtel ab. Sie stand nun so da
wie am Anfang und dennoch wirkte sie
nackt. Es war gerade so, als ob Holzdiadem und Flittergürtel sie zuvor in magischer Weise verhüllt hätten. Die Zuschauer tobten, gerieten ganz außer
sich. Der nicht mehr zu übertreffende
Höhepunkt der Vorstellung war erreicht.
Pentia stürzte sich mutig in den brodelnden Kessel, um Geld einzusammeln. Für Ramira wäre das jetzt lebensgefährlich gewesen, aber auch das kleinere, offensichtlich noch nicht heiratsfähige Mädchen wurde festgehalten
und belästigt. Der Wahn der Leute hatte
indes auch seine nützlichen Seiten, denn
er verdrängte den Geiz. In der unklaren
Hoffnung, sich die schöne Artistin auf
der Bühne damit kaufen zu können,
gaben einige Männer so viel wie sonst
wenigstens zwanzig von ihnen.
Als sich der Platz endlich leerte, war
es schon tiefe Nacht. Ramira hatte sich
umgezogen und in ein Versteck am
Rhein gerettet. Franziska kannte das
Versteck und folgte ihr dorthin.
"Du glaubst nicht, welche Angst ich
um dich hatte."
"Ach was! Ich weiß ganz genau,
wann ich aufhören muss, sonst hätte mir
schon längst irgendein abartiger Kerl
den Bauch aufgeschlitzt."
"Wenn ich mir nur sicher wäre, dass
du es wirklich immer weißt!"
"Gauklerleben ist nun einmal gefährlich. Je mehr wir das Schicksal herausfordern, desto größer der Gewinn."
"Ich habe Schmierereien dieser Canes
gesehen. Die wollen nicht, dass eure
Wagen vor einer großen Stiftskirche
stehen."
118
"Wir haben die Erlaubnis des Rates,
hier zu wohnen, und der Rat muss uns
jetzt auch beschützen wie jeden anderen
Bürger der Stadt."
Franziska seufzte und war noch
längst nicht überzeugt, sagte aber nichts
mehr. Natürlich freute sich Ramira und
zwar mit recht. Die Vorstellung hätte
nicht besser enden können. Der Erlös
machte die Beldinis und ihre neuen
Freunde (für Gauklerverhältnisse) geradezu reich.
119
12.Kapitel
I
Z
wei Wochen lang hatte sich Franziska in ihrer neuen Bleibe sehr
wohl gefühlt und ausgiebig genossen, noch einmal ganz so zu leben
wie vor Jahren in der Burg ihres Vaters,
geschützt und wohl versorgt. Raimund
brachte ihr jeden Abend ihr Essen,
manchmal leckere Dinge wie Hasenbraten oder mit Korinthen angerichteten
Schinken. Aller Sorgen ledig, konnte sie
den ganzen Tag über treiben, was sie
wollte. Doch mit der Zeit begann sie
sich zu langweilen und war immer häufiger schlecht gelaunt.
"Warum tust du das eigentlich alles
für mich?" fragte sie eines Abends, als
Raimund zu ihr kam, scheinheilig.
"Vielleicht weil ich dich nett finde."
"Das kann nicht sein", entgegnete sie.
"Wenn man jemanden nett findet,
spricht man mit ihm und lässt ihn nicht
den ganzen Tag über allein."
"Du weißt doch, dass ich für meinen
Vater ..."
"Ach, dein Vater!" fiel sie ihm ins
Wort. "Schön für dich, dass dich dein
Vater Besorgungen erledigen lässt!
Dadurch brauchst du nicht so wie ich
herumzusitzen."
"Was ist heute nur los mit dir?" fragte
er verwirrt.
Sie sah ein, dass sie sich nicht so an
ihm abreagieren durfte, und sagte, nun
viel freundlicher:
"Du brauchst mich nicht zu füttern
wie ein Kind, denn ich bin alt genug,
um für mich selbst zu sorgen. Willst du
mir einen wirklichen Dienst erweisen,
dann verschaffe mir Arbeit. Es muss
doch Wege geben, das Fremdengesetz
zu umgehen."
"Ich weiß vielleicht eine Möglichkeit", sagte er zögernd. "Kannst du mit
Leder umgehen?"
"Ich habe es bei meiner Erzieherin in
Wildeshausen ein bisschen gelernt."
Franziska war begeistert, obgleich sie
sich eigentlich hätte erinnern müssen,
dass das Ledernähen von allen Handarbeiten zu den anstrengendsten und undankbarsten gehörte. In ihrer Lage aber
hasste sie nichts mehr als das Müßiggehen.
Übrigens erledigte sich bei dieser Gelegenheit ganz nebenbei noch eine andere Unstimmigkeit. Zweimal in der
Woche, immer am Sonntag und am
Mittwoch, hatte sich Franziska aus ihrer
Bleibe vertreiben lassen müssen. Sie
durfte sich dann nicht einmal in der
Nähe aufhalten und Raimund legte
größten Wert darauf, dass sie sich an
das Gebot auch hielt. Ganz sicher hätte
sie ihn früher oder später zur Rede gestellt und sich nicht mit durchsichtigen
Ausflüchten abspeisen lassen. Die neue
Arbeit aber war mit einem Umzug verbunden, und somit entfiel der Anlass.
Schon am nächsten Tag brachte er sie
zu einem gleichfalls in der Weidengasse, jedoch dichter an der Stadtmauer
gelegenen Haus. An der Tür stand eine
große, schlanke Frau mit kurzen, glatten, dunkelblonden Haaren. Man hätte
sie für eine Dreißigjährige gehalten,
wäre nicht eine gewisse Strenge von
ihrem Wesen ausgegangen - ein Eindruck, der von der altmodischen Frisur
und dem dünnen Mund herrührte. Franziska kostete es Überwindung, ihr
freundlich und offen entgegenzugehen,
zumal sie in ihren unverwandt auf sie
gerichteten Augen ein stummes Misstrauen zu lesen glaubte.
"Das ist Ursula", stellte Raimund sie
eine Spur zu hastig vor. "Sie wird dir
das Haus zeigen und alles erklären."
Letzteres tat sie freilich nicht. Ohne
ein Wort zu reden, nahm sie die Neue
beim Oberarm und zog sie hinter sich
her durch einen großen, das gesamte
Erdgeschoß einnehmenden Raum. Vier
Bänke waren darin zu einem lang gestreckten Karree zusammengestellt und
dienten als Arbeitsplatz für zehn Frauen
unterschiedlichen Alters. Sie fertigten
Geldbeutel, kleine Umhängetaschen und
ähnliche kleine Gebrauchsgegenstände.
Vor ihnen standen kleine Tische, auf
denen Messer und Nadeln lagen und an
die auch Hilfsvorrichtungen für besonders komplizierte Nähte angebracht
waren. Hinter ihnen türmten sich Lederhäute und fertige Produkte.
Die Stille im Raum erstaunte Franziska, denn in den Werkstätten auf
Schloss Wildeshausen hatten es sich die
Frauen niemals nehmen lassen, sich bei
der gemeinsamen Handarbeit lustige
Geschichten zu erzählen und zu lachen.
Vielleicht gehörte das Haus zu einem
Beginenkonvent. Dafür sprach, dass
Raimund an der Tür stehen geblieben
war wie an der Pforte eines Klosters.
Die Beginen legten zwar kein Gelübde
ab und unterstanden keinem geistlichen
Orden, nahmen es mit den für Nonnen
üblichen Geboten jedoch oft außerordentlich genau.
Franziska waren diese kleinen Konvente, die es in Köln fast auf jeder Straße gab, stets ein wenig unheimlich gewesen. Da Ursula aber mit forschem
Schritt schon die Treppe zum Obergeschoß hinaufstieg, konnte sie darüber
nicht lange nachdenken. Auch in diesem
Stockwerk reichte ein einziger Saal von
einer Außenwand zur anderen. Allem
Anschein nach war das Gebäude erst
vor kurzem umgebaut worden, wobei
man die Trennwände entfernt und an
ihrer Stelle die Decke durch Balken
gestützt hatte. Der obere Raum diente
zweifellos als Schlafsaal. Ursula indes
stieg noch eine halsbrecherische Treppe
hinauf bis ins Dachgeschoß, wo sie das
Mädchen zu einer Kammer mit schräger
Wand führte. Franziska gefiel diese
Aussonderung überhaupt nicht.
"Ist unten kein Platz mehr für mich?"
fragte sie vorsichtig.
Die Antwort war ein kurzes, hartes
"Nein", das ihr die Lust zu weiteren
Fragen nahm. Es kam sogar noch
schlimmer. Sie durfte nicht einmal mit
den anderen gemeinsam arbeiten. Ursula brachte ihr Lederstücken, dicke
Fäden und Nadeln hinauf auf die Kammer, zeigte ihr, was sie zu tun hatte, und
ließ sie dann allein. Schweren Herzens
blieb ihr nichts anderes übrig, als sich
mit ihren Pflichten abzulenken und den
Rufen der Bauarbeiter an der Stadtmauer zu lauschen.
Am Anfang verglich sie Ursula mit
Melanie, stellte aber bald fest, dass die
Feindseligkeit beider von gänzlich anderer Art war. Ursula sagte mit keinem
Wort, dass sie das Mädchen nicht mögen oder auf ihre Hilfe keinen Wert
legen würde. Sie war auch nicht launisch und niemals wirklich unfreundlich. Wenn Franziska etwas nicht verstand oder gar durch Unkenntnis und
Ungeschicklichkeit etwas verdarb, erwies sie sich als geduldige Lehrmeisterin. Sie tat aber alles nur irgend Mögliche, um sie von den anderen Hausbewohnern zu trennen - gerade so, als
wolle ein besorgter Abt sie an der Verführung der ihm anvertrauten Mönche
hindern.
Es fiel ihr schwer, eine Bezeichnung
für ihre sonderbare Stellung zu finden.
Sie war keine Gefangene, denn sie durfte sich frei bewegen, wurde auch nicht
erniedrigt, hatte sogar einige besondere
Vorrechte. Sie war aber auch kein geachtetes Mitglied dieser Gemeinschaft,
denn es fehlte jedes Zeichen von Wert-
121
schätzung. Und bis auf Ursula ging ihr
jeder aus dem Wege. Am ehesten sah
sie sich als eine Geduldete. Immerhin
aber durfte sie umsonst wohnen und
essen. Darüber hinaus bekam genügend
Geld, um sich schon bald neue Kleider
leisten zu können. Und nicht zuletzt traf
sie sich an jedem Sonntag mit Raimund,
um ausgedehnte Spaziergänge mit ihm
zu unternehmen.
II
W
ie geht es dir?" fragte er sie,
als er sie abholte.
"Diese Ursula eine nette
Frau zu nennen, wäre wohl eine Lüge
..."
"Du darfst dir das nicht zu Herzen
nehmen. Sie ist nicht nur zu dir so
streng."
"Dazu müsste ich sie mal mit anderen
zusammen sehen, aber leider darf ich
nicht einmal beim Essen aus der Kammer raus."
"Mach die Augen zu!" unterbrach er
sie.
Etwas widerstrebend tat sie es, und er
streifte ihr etwas über den Arm. Als sie
die Augen wieder öffnete, sah sie, dass
es ein Armreif war, ein breiter, nicht
echter aber mit einer schönen Gravur
verzierter Reif.
"Als Entschädigung", sagte er - und
sie vergaß sofort ihren Verdruss.
"Das muss teuer gewesen sein!"
Er zuckte mit den Schultern.
"Ich stamme aus einer wohlhabenden
Familie."
"Du hast mir noch nie etwas von deiner Familie erzählt."
"So aufregend ist das nun auch wieder nicht. Ich habe einen älteren, ungewöhnlich tüchtigen Bruder, zwei jüngere, ungewöhnlich hübsche Schwestern,
einen ungewöhnlich erfolgreichen Vater
und eine ungewöhnlich fürsorgliche
Mutter. Ich bin der einzige, der nichts
Außerordentliches an sich hat, sieht
man von den außerordentlich vielen
Fehlern bei Diensten für meinen Vater
ab."
"Gehört dein ungewöhnlicher Vater
etwa sogar dem Rat an?"
"Um in den Rat gewählt werden zu
können, genügt es nicht, reich, klug und
erfolgreich zu sein. Dafür muss man
einer alteingesessenen Familie angehören. Die haben die Schöffenbruderschaft
gegründet und lassen da keinen Fremden rein."
"Was wird aus dir, wenn dein Bruder
von deinem Vater das Geschäft übernimmt?"
"Soweit ist es noch lange nicht.
Wahrscheinlich wird sich mein Bruder
die Arbeit mit mir teilen. Mein Vater
will das so."
"Ich dachte schon, du musst auf
Wanderschaft gehen oder Mönch werden."
So miteinander plaudernd, schlenderten sie die Weidengasse entlang stadteinwärts. Links von ihnen zog sich ein
altersschwacher Zaun mit zahlreichen
Löchern dahin. Durch eines dieser Löcher krochen sie hindurch und gelangten auf einen schmalen Weg zwischen
hohen Sträuchern und Obstbäumen. Der
Eigentümer kümmerte sich um den Garten schon seit Jahren nicht mehr, so dass
er allmählich verwilderte. Franziska
aber liebte ihn gerade so, wie er war.
"Versuch mich zu fangen!" rief sie
und war im nächsten Augenblick im
Dickicht verschwunden.
Er jagte ihr nach, verlor sie aus den
Augen, fand sie dann doch wieder, weil
sie sich durch ihr Kichern selbst verriet,
und angelte sich ihren Arm. Besiegt
hatte er sie damit freilich noch lange
122
nicht, denn nun begann sie mit ihm eine
wilde Rauferei. Um sich vor ihr als Junge keine Blöße zu geben, kämpfte er so
verbissen, dass sie sich vor Vergnügen
kaum zu halten wusste.
"Ich ergebe mich", sagte sie schließlich. "Was forderst du, damit ich mich
erlösen kann?"
"Ein wahrer Ritter fordert nichts vom
besiegten Gegner."
"Schade!" maulte sie. "Ich dachte, du
willst einen Kuss."
Sie liefen weiter, erreichten den Eigelstein, überquerten ihn schräg und
kamen zu einem eingezäunten Areal mit
mehreren kleinen Feldern. Das konnten
sie durch ein gewöhnliches Tor betreten, denn es gehörte den Cranboims und
deren weit verzweigter Verwandtschaft.
An Wochentagen arbeiteten hier Mägde
und Knechte. Jetzt am Sonntag aber
waren Franziska und Raimund ganz für
sich allein.
"Ich würde deine Familie gern einmal
kennen lernen."
"Warum?"
"Was ist daran so sonderbar?"
"Eigentlich nichts, nur ... Meine Eltern sollen nicht denken, dass ... Ich
stelle dich ihnen später einmal vor."
Sie verstand das nicht, war sogar ein
wenig enttäuscht, weil sie argwöhnte, er
würde sich ihretwegen schämen, drängte ihn aber nicht zu einer Erklärung und
wollte auch nicht lange darüber nachdenken.
Auf dem freien Gelände wehte ein
frischer, in der heißen Julisonne sehr
angenehmer Wind. Franziska beobachtete, wie Raimunds weiches, seidiges
Haar zerzaust wurde, und spürte wieder
wie vor einem Monat unter den Krähenbäumen und wie noch einige Male
danach ein tiefes Verlangen, es sich
durch die Finger gleiten zu lassen, ein
Verlangen, das um so heftige wurde, je
länger sie es nicht stillen konnte. Wieso
etwas derart Nichtiges alles in ihr so
durcheinander brachte, konnte sie sich
freilich nicht erklären.
Sehnsüchtig wartete sie darauf, dass
er sie zu umwerben beginnen würde,
wie das die Bauernburschen taten, sobald ein Mädchen sie dazu ermunterte.
Im Grafenschloss von Wildeshausen
wäre das natürlich nicht so leicht möglich gewesen, und vielleicht galten bei
den vornehmen Kaufherrenfamilien
ähnlich strenge Ansichten. Doch von
dem, was sich im Dickicht des Gartens
an der Weidengasse abspielte, erfuhr
niemand. Warum also ließ er sich nicht
einmal dort von ihr umarmen? Davor,
dass er sich gar zu sehr herausgefordert
fühlen und zu weit gehen könnte, fürchtete sie sich nicht, denn sie wusste von
den Raufereien her, dass sie nicht
schwächer, vielleicht sogar stärker war
als er. Zu ihrem Leidwesen aber wich er
stets scheu wie ein Vogel vor ihr zurück, sobald sie ihm zu nahe kam, obgleich er sie andererseits oft mit kleinen
Geschenken überraschte und sich nett
mit ihr unterhielt.
Bei der Suche nach einer Ursache dafür fielen ihr die Bemerkungen ihre älteren Schwester Agnes bei den Bällen des
Grafen von Wildeshausen auf der
Wardenburg ein. Damals hatte sie die
meisten davon noch nicht recht verstanden. Jetzt ahnte sie, dass sie wohl bezogen waren auf solche jungen Männer,
die sich an Mädchen nicht recht herantrauten und sich deshalb langweilen
mussten, während andere sich vergnügten. Allerdings fand es Franziska
sehr hässlich, jemanden daraufhin noch
mutwillig zu ärgern. Da Raimund offenbar an dieser merkwürdigen Krankheit litt, wollte sie ihm helfen.
Ihr Entschluss versetzte sie in eine
solche Hochstimmung, dass sie sonst so
gut wie nichts um sich herum wahrnahm. Es störte sie nicht, dass Ursula
eher immer unfreundlicher als netter zu
ihr wurde. Dass der geheimnisvolle
123
Verfolger plötzlich wieder aufgetaucht
war, veranlasste sie lediglich dazu, ihr
Schwert aus dem Versteck am Duffesbach zu holen und unter einem weiten
Mantel verborgen bei sich zu tragen,
wenn sie sich allein in etwas zweifelhafte Gegenden begab. Während sie allein
in ihrer Kammer saß und Lederstücke
zusammennähte, entwarf sie die abenteuerlichsten Pläne, um Raimund aus
seiner Zurückhaltung herauszulocken.
Bei solchen Gedanken wurde sie immer
sehr aufgeregt, und nicht selten folgten
ihr die Wünsche bis in die Träume nach.
Sie hatte merkwürdige Träume, darunter solche, die sie ganz verwirrt und mit
schwerem Kopf aufwachen ließen. Oft
sah sie Raimund in der Gestalt des geheimnisvollen Verfolgers. Manchmal
war er groß wie ein Riese, manchmal
hatte er sich zu einer Bande finsterer
Gesellen vervielfacht. Immer überfiel er
sie am Ende. Sie wehrte sich wie besessen, doch er war so stark, dass sie nichts
gegen ihn ausrichten konnte. Was er
dann mit ihr anstellte, gehörte zu den
Dingen, die zu träumen sie sich schämte. Nichtsdestoweniger musste sie am
Tage immer wieder daran zurückdenken, so dass sie Ursula immer häufiger
Pfusch ablieferte.
Eines Tages - Franziska und Raimund
waren wieder einmal durch das Loch im
Zaun des Gartens an der Weidengasse
gekrochen - ergab es sich, dass sie unter
einem mächtigen Pflaumenbaum rasteten. Ein Ring verfilzter Sträucher verwandelte den Ort in ein wahres Liebesnest. Raimund freilich schien nichts zu
merken davon, denn er wollte unbedingt
ein Gespräch über das Buch irgendeines
berühmten alten Griechen anfangen.
Franziska interessierte sich im Grunde
sehr wohl für Bücher, nicht aber in diesem Moment, denn die günstige Gelegenheit beschwor in ihr die wildesten
ihrer Träume herauf, bis es ihr völlig
gleichgültig wurde, ob sie im nächsten
Moment Schande über sich brächte oder
nicht.
Zuerst täuschte sie ein wenig Zerstreutheit vor und ließ ihr Kleid wie
zufällig bis über die Knie heraufrutschen. Sie beobachtete, dass er tatsächlich verstohlen nach ihren Beinen
schielte und den Faden beim Erzählen
verlor. Dennoch unternahm er nichts.
Da vergaß sie sich völlig und nahm ihn
einfach in den Arm wie ein Mädchen
aus der Schwalbengasse, die noch einen
zweiten, höchst unanständigen Namen
trug. Raimund wusste vor Überraschung
nicht recht, was er tun sollte, und erwiderte die Umarmung andeutungsweise.
Sie wertete das als Einverständnis und
begann, seinen Rock aufzuknöpfen.
Dabei aber wehrte er sie ab.
"Franziska, ich hab dich wirklich sehr
gern, nur ..."
"Ach, was! Du traust dich nur nicht,
aber du wirst sehen, dass es Spaß
macht."
"Was trau ich mich nicht? Kannst du
Gedanken lesen?"
Erschrocken merkte sie, dass er
ernsthaft wütend wurde. Er stand auf
und sah sie so böse an, wie sie es ihm
nie und nimmer zugetraut hätte.
"Daran also hast du die ganze Zeit
über gedacht!" schrie er sie an. "Ich bin
aber nicht dein Spielzeug. Merk dir
das!"
Ihre Erregung war schlagartig wie
weggeblasen, und sie suchte verzweifelt
nach einem Weg, die nun auch für sie
äußerst peinliche Situation zu retten.
Ehe sie jedoch überhaupt etwas sagen
konnte, ging er davon. Sie blieb zurück
und rührte sich wie fest gezaubert lange
nicht von der Stelle. Dass sie furchtbar
ungeschickt gewesen war, das sah sie
ein, sie begriff aber nicht, warum er sie
daraufhin gleich so wütend, ja hasserfüllt angesehen hatte. Vielleicht gehörte
er zu jenen Männern, die sündiger Weise nur Ihresgleichen lieben können?
124
Dann aber hätte er sich auch sonst anders zu ihr verhalten müssen.
In ihrer Ratlosigkeit beschloss sie,
sich Ramira anzuvertrauen. Im Grunde
erwartete sie ein wenig Zuspruch in
ihrem Kummer, obgleich sie sich nicht
gerade im Recht fühlte. Die Gauklerin
jedoch antwortete nicht, sah sie nicht
einmal an, während sie ihr seltsam unruhig zuhörte. Plötzlich warf sie den
Kopf herum, und in ihren Augen war
für einen Augenblick ein böses Funkeln.
"Du bist also auch nicht besser!"
schrie sie, ohne sich näher zu erklären.
Franziska prallte zurück, nicht allein,
weil sie ihre Freundin nie zuvor so maßlos wütend erlebt hatte sondern mehr
noch, weil sie deren Reaktion noch viel
weniger verstand als zuvor die von
Raimund.
"Was habt ihr heute nur alle gegen
mich? Ich will seine Frau werden. Die
Bauernpaare feiern fast alle ihre Hochzeit im Stroh einer Scheune, bevor sie
zur Kirche gehen." Dann hielt sie inne
und fügte fast bettelnd hinzu: "Was ist
los? Dir habe ich doch nun wirklich
nichts getan."
Ramira blickte ihr noch immer aus ihren eigentümlichen blaugrauen Augen
gerade ins Gesicht. Das Funkeln war
aber daraus verschwunden und einem
Ausdruck tiefer Traurigkeit gewichen.
"Warum will jeder immer einen anderen besitzen? Weißt du eigentlich, was
das heißt, besessen zu werden? Ich weiß
es. Du schreist, wehrst dich mit aller
Kraft, aber es nutzt dir nichts. Du bist
gefangen. Der andere kann mit dir machen, was er will. Du glaubst, dass er
sogar Macht über deine Seele hat. Am
Ende ekelst du dich vor dir selbst."
Franziska spürte ein Würgen im Hals.
"Du denkst an deinen Vater, ja? Gott
wird ihn bestrafen."
"Gott kann ihn strafen oder ihm vergeben. Es ist mir gleich. Übrigens hat er
mir fast alles beigebracht, was jetzt die
Leute so sehr bewundern. Ich war eine
eifrige Schülerin, denn beim Üben hat
er mich zwar angebrüllt und geschlagen,
ansonsten aber in Ruh gelassen. Er
konnte immer nur eins von beiden sein,
Artist oder Mann."
Beide schwiegen lange. Dann sagte
Franziska zaghaft:
"Aber warum ... warum wirfst du mir
das vor? Ich habe doch nicht ..."
"Wirklich nicht? Warum bist du nicht
froh, dass dieser Raimund feinfühliger
und rücksichtsvoller ist als die meisten
anderen? Willst du ihn dir nur zu Füßen
legen wie der Jäger einen toten Hasen?"
Franziska zwang sich zu einem Lächeln, das ihr allerdings etwas verzerrt
geriet.
"Du bist wenigstens ehrlich!"
III
A
m Sonntag nach dem Streit lief
Franziska schon am frühen Morgen die Weidengasse auf und ab
und hielt nach Raimund Ausschau. Sie
wollte sich bei ihm entschuldigen, mit
ihm aussprechen und dann wieder mit
ihm versöhnen. Wenn er sie auch nicht
liebte, so konnte er doch wenigstens mit
ihr befreundet bleiben! Was sollte sie
ohne ihn anfangen? Sicher würde sie
mit ihm auch die Arbeit und die Kammer wieder verlieren, denn bei Ursula
durfte sie kaum auf Verständnis und
Hilfe hoffen. Ihr graute davor, wieder
durch die Straßen getrieben zu werden
auf der Suche nach etwas Essbarem und
nach einem Schlafplatz für die Nacht.
Spätestens jetzt bereute sie bitter, dass
sie wie ein besessener Spieler alles gewagt und vielleicht alles verloren hatte.
125
Zu allem Überfluss war auch das
schöne Wetter vorbei. Seit zwei Tagen
regnete es ununterbrochen. Die (bis auf
eine für die schweren Wagen aus Bohlen gelegte Spur) ungepflasterte Straße
hatte sich in einen knöcheltiefen Morast
verwandelt. Franziska wurde schmutzig
und triefend nass, zumal sie wie eine
Büßerin ihren Mantel absichtlich in der
Kammer gelassen hatte.
"Du wartest hier mitten im Regen auf
mich?"
So sehr sie nach ihm Ausschau gehalten hatte, stand er nun doch völlig überraschend vor ihr, und sie brachte kein
Wort über die Lippen. Wie weggeblasen
war alles, was sie sich zuvor im Kopf
zurechtgelegt hatte, um es ihm zu sagen.
"Entschuldige, dass ich so wütend
geworden bin", sagte er. "Ich war
schlecht gelaunt, wegen etwas anderem.
Bist du einverstanden, dass alles wieder
wird wie früher?"
Sie nickte verwirrt.
"Jetzt musst du dich aber erst einmal
umziehen. Sonst erkältest du dich."
Sie nickte abermals, ging ins Haus
und kam wenig später im trockenen
Kleid und mit ihrem regenfesten Mantel
zurück.
Es wurde zwischen ihnen tatsächlich
wieder wie vor dem Streit. Franziska
hütete sich, ihn noch einmal zu provozieren, und Raimund vergaß, dass sie es
je getan hatte, dem Anschein nach zumindest. Am darauf folgenden Feiertag
unternahmen sie wieder einen gemeinsamen Spaziergang. Zwar war der
Sommer offenbar schon zu Ende, doch
regnete es zumindest nicht mehr, und
gegen Wind und Kühle konnten sie sich
warm anziehen.
Um nicht gleich wieder an jenem unglückseligen Garten vorbeizukommen,
schlug Franziska vor, gleich hinter dem
Haus in die Clingelmannpützstraße einzubiegen. Damit beschwor sie zwar
gleichfalls schlechte Erinnerungen her-
auf, nämlich jene an die hartherzige
Familie Clingelmann, doch waren das
weit zurückliegende Ereignisse. Franziska legte es sogar darauf an, sich die
überwundene Zeit des schlimmsten
Elends noch einmal mit einem gewissen
Schaudern zu vergegenwärtigen. Nicht
zuletzt deshalb trieb sie das Spiel so
weit, nicht parallel zur Stadtmauer bis
zum Platz vor Sankt Gereon zu schlendern, sondern sich am Clingelmannhaus
nach links zum Entenpfuhl hin zu wenden.
Gegenüber der wie immer verschlossenen Pforte des Ursulastifts jenseits
des zum stinkenden Sumpf gewordenen
alten Grabens blieb sie stehen. Ihr war,
als sei der Sumpf in der Zwischenzeit
schon wieder ein wenig breiter geworden und somit noch ein Stück näher an
die Häuser heran gekrochen. Ansonsten
hatte sich nichts verändert. Wie erstarrt
wirkten die Hütten und Verschläge,
auch die darin hausenden Bettler, selbst
die Bäume und Büsche, so als würden
sie alle nur darauf warten, vom Pfuhl
verschlungen, in die Tiefe gerissen zu
werden.
"Gute Jungfer, habt Erbarmen mit einem armen Krüppel!"
Ein alter Mann, von Krankheit und
Elend so krumm gedrückt, dass er kaum
halb so groß war wie das Mädchen, hielt
die Hand auf. Genauso hatte sie selbst
manches Mal um Almosen gebettelt. In
Gedanken versunken, gab sie ihm einen
Vierteldenarius, wohl wissend, dass
dieser Mann sein Gebrechen vermutlich
nur vortäuschte, dass er ganz sicher
nicht zu den Allerärmsten hier gehörte,
weil jene vom Hunger geschwächt und
vom Fieber geschüttelt in irgend einer
Ecke lagen. Auch dass nun viele andere
kamen, weil nun jeder etwas haben
wollte, wusste sie vorher. Bald konnte
sie sich des Andrangs nicht mehr erwehren, und der Aufbruch geriet zur
Flucht.
126
"Merkwürdig! Plötzlich gehöre ich zu
den Wohlhabenden, die man anbettelt.
Vor ein paar Monaten war ich ihre
Schwester, und nun hassen sie mich
wahrscheinlich ... Weißt du, was mich
damals immer wieder aufgerichtet hat?
... Die Ursulakirche hinter der Mauer!"
"Die Kirche der heiligen Jungfrauen?" fragte Raimund ungläubig und
dozierte: "Anfangs eine kleine Kapelle
über den Gräbern der Märtyrerinnen,
dann ein Kanonikerstift des Erzbischofs. Durch die Nordmänner zerstört, aber bald wieder aufgebaut. Seit
dem Jahr 922, als die Ungarn Gerresheim eroberten und zerstörten, ein Stift
für vornehme Damen. Wie kann das
jemanden im Elend aufrichten?"
"Oh, du kennst dich ja besser aus als
ich! Das wusste ich alles noch gar nicht.
Das habe ich aber auch nicht gemeint."
"Was dann?"
"Die Geschichte um die Kirche, das
Leben der heiligen Ursula, ihren festen
Glauben, ihre Schicksalsergebenheit."
Er zuckte mit den Schultern, sehr respektlos, wie sie fand.
"Berührt dich so etwas denn gar
nicht?"
"Mich berührt etwas ganz anderes,
wenn ich an Sankt Ursula denke. Beim
Ausheben des Grabens, von dem heute
nur noch der Entenpfuhl übrig ist, sind
die Bauleute vor ungefähr hundert Jahren auf alte Gräber gestoßen und haben
hunderte Knochen zu Tage gefördert.
Woher sie stammen, wusste keiner so
recht. Der Erzbischof aber behauptete,
sie seien allesamt Reliquien heiliger
Märtyrerinnen. Nicht elf Jungfrauen
seien damals unterwegs gewesen sondern ihrer elftausend. Stell dir das einmal vor! Eine ganze Armee von Jung-
frauen! Ich bin Kaufmannssohn und
weiß ziemlich gut, wie viel es kostet,
wenn elftausend Leute durch die Gegend ziehen. Aber es ging wohl gar
nicht darum, dass diesen Unfug irgendjemand in Köln wirklich glaubt, denn
mit der Geschichte ließ sich Geld verdienen. Man stellte eine riesige Menge
hölzerner Mädchenköpfe her, schüttete
in jeden davon ein paar Knochen rein
und verscherbelte sie dann in alle Welt im Namen der Dreifaltigkeit, versteht
sich. Nun sage mir bitte, was das ist Geschäftssinn, Dummheit oder Gotteslästerung?"
Raimund ereiferte sich mehr, als es
die Sache wert zu sein schien. Franziska
erschrak zunächst über seine Heftigkeit,
gab ihm dann aber in gewisser Hinsicht
recht und musste schließlich laut lachen
über seine bissige Ausdrucksweise.
"Die Kölner sind schon ein sonderbares Völkchen!" sagte er und lachte nun
auch.
Nachdem sie sich mit Raimund ausgesöhnt hatte, gewann Franziska schnell
ihre Unbekümmertheit zurück. Wie sie
es auch drehte und wendete - immer
erschien er am Ende als der beste irgend
denkbare Mann für sie. Er war klug und
mutig, aber auch rücksichtsvoll und
aufmerksam. Bei ihm brauchte sie sich
nicht vor Schlägen zu fürchten. An seiner Seite konnte sie sich geborgen fühlen und zugleich selber stark sein. Sollte
ihm diese Seelenverwandtschaft auf
Dauer verborgen bleiben? Früher oder
später wird er sie lieben und sie ganz
selbstverständlich auch das tun lassen,
was sie vorerst nicht einmal versuchen
durfte. Aber das lag schon außerhalb
ihres Alltags und erregte sie deshalb
nicht mehr so sehr wie zuvor.
127
IV
W
enn Franziska frei hatte,
Raimund sie aber nicht besuchen konnte, ließ sie sich
von Lust und Laune allein durch die
Gassen treiben und genoss ihr ungebundenes Leben. Inzwischen kannte sie
sich ziemlich gut aus in der Stadt. Sie
wusste nun auch, wie sie selbst in den
verrufensten Vierteln den Gefahren
ausweichen konnte, und ließ ihr
Schwert, das sie unterwegs mehr behinderte als schützte, in einem Versteck im
verwilderten Garten an der Weidengasse.
Manchmal schlenderte sie über den
Platz vor Sankt Gereon, von dem sie
nun keiner mehr vertrieb. Ein andermal
umging sie die alte Stadtmauer und beobachtete die Damen von Sankt Ursula,
wie sie über den Stiftshof flanierten und
ihre Kleider zur Schau stellten. Manchmal unternahm sie noch größere Ausflüge - die Mauer entlang, vorbei an der
Baustelle für das Eigelsteintor und an
den Kontoreien der reichen Niedericher
Korporationen bis zum Rhein, wo die
Mauer nach rechts zur Kunibertstorburg
mit ihrem finsteren Gefängnis hin abknickte. Am meisten aber mochte sie
den Eigelstein. Inzwischen hatte sie
keine Furcht mehr vor ihm und fand ihn
noch viel interessanter als die Domgegend. Am Dom trafen sich nur die ganz
reichen und die ganz armen Leute, auf
dem Eigelstein hingegen drängten sich
Menschen aller Art.
Die breite, die gesamte Stadt durchschneidende Straße war vortrefflich
geeignet, um zu hören, was in Köln und
in der Welt gerade geschah. Der neugierigen Franziska entging nichts. Als ein
gewisser Konrad von Marburg in der
Stadt weilte, wusste sie das noch bevor
der Erzbischof ihn empfangen konnte.
Der Name sagte ihr nichts, doch musste
er ein bedeutender Mann sein, denn die
Leute waren nicht viel weniger aufgeregt als vor der Predigt des Maginulfus.
Am Dom hoffte sie, noch mehr zu erfahren.
Auf dem Wege dorthin sah sie am
Straßenrand einen Mann liegen, um den
sich niemand kümmerte, obwohl er offensichtlich kein Bettler war. Als Franziska zu ihm hin ging und sich über ihn
beugte, bemerkte sie, dass er aus Mund
und Nase blutete.
"Was ist mit Euch geschehen?" fragte
sie ihn und half ihm, sich ein wenig
aufzurichten.
"Bringe dich in Sicherheit!" stieß er
mühsam hervor.
"Warum soll ich das tun?"
"Frag nicht lange! Lass mich hier liegen!"
"Ich denke gar nicht daran."
Plötzlich hörte sie hinter sich eine
harte Männerstimme, die ihr bekannt
vorkam.
"Das ist ein Ketzer, der Reden gegen
den Papst gehalten hat. Wer ihm hilft,
macht sich mitschuldig."
Sie blickte auf und fand sich von etwa zehn Canes umringt. Der gesprochen
hatte, war Hans. Auch Eike erkannte
sie. Er trug jetzt einen ebensolchen kurzen grauen Kittel wie die anderen und
auch ein großes eisernes Kruzifix um
den Hals. Franziska brachte kein Wort
heraus. Sie hatte Angst.
"Sei froh, dass ich dich kenne und
verschwinde von hier!" befahl Hans.
Dabei gab er ihr einen Weg aus dem
Ring frei, den sie schleunigst nutzte.
Doch sie war damit keineswegs in Sicherheit, denn im selben Moment beschwerte sich Eike:
"Ihr wollt sie gehen lassen? Ich kenne
sie auch und weiß, dass sie ihren ehemaligen Dienstherrn bestohlen hat."
Die anderen ließen sich beeinflussen
und begannen eine wilde Hetzjagd auf
128
das Mädchen. Die vielen Menschen, die
den Eigelstein bevölkerten, hüteten sich,
in das Geschehen einzugreifen, erschwerten allerdings durch ihr bloßes
Vorhandensein die Verfolgung ungewollt. Indem sie verwirrende Haken
schlug, gewann Franziska einen gewissen Vorsprung und konnte schließlich in
den vertrauten Garten in der Weidengasse flüchten. Dort setzte sie sich
ins Gras, um sich erst einmal zu erholen.
Sie fühlte sich gerettet, aber das war
ein verhängnisvoller Irrtum, denn plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen,
stand Eike vor ihr und grinste sie an.
"Da staunst du wohl! Jetzt sitzt du aus
eigener Schuld in der Falle."
Die Sträucher hinter ihr waren so verfilzt, dass sie nicht entkommen konnte,
und er kam Schritt für Schritt näher.
"Bitte bleibe stehen", flehte sie ihn
an.
"Da müsste ich aber sehr dumm sein."
"Ich werde mich wehren."
"Wehr dich nur! Das mag ich."
Dann packte er sie. Ihr Schreien beeindruckte ihn wenig. Er streifte ihr
brutal das Kleid hoch. Eine Welle von
Hass durchfuhr ihren Körper. Sie biss
ihm mit aller Kraft in die Schulter und
riss sich los.
"Oh, du Miststück!" schrie er. "Das
wirst du bereuen!"
Franziska konnte nicht weiter zurückweichen, denn die dornigen Zweige
eines Strauches stachen ihr bereits in
den Rücken.
"Bitte lass mich in Frieden!" bettelte
sie noch einmal. "Es ist nicht meiner
Jungfernschaft wegen, sondern ..."
"Du hast Angst, mein Täubchen, ja?"
Er stand einige Meter von ihr entfernt, wartete und weidete sich an ihrer
Hilflosigkeit.
"Du brauchst nicht auf ein schnelles
Ende zu hoffen. Ich weiß, wie das quält,
wenn man nicht weiß, was kommt. Da-
rum lasse ich dich jetzt schön lange
zappeln."
Plötzlich geriet sie völlig außer Rand
und Band. Sie brüllte wie am Spieß, und
ihr Blick bekam den irren Glanz einer
Besessenen. Dann warf sie sich auf die
Erde und kroch unter den Strauch. Offenbar sah sie schließlich aber endgültig
ein, dass sie auf diesem Wege nicht
entkommen konnte. Schicksalsergeben
sprang sie wieder auf die Füße und riss
sich mit der linken Hand das Kleid auf,
während sie die rechte verkrampft auf
dem Rücken hielt, als sei sie gefesselt.
"So nimm mich doch, du Teufel!"
schrie sie und senkte den Kopf.
Alles was danach geschah, erlebte das
Mädchen unwirklich langsam, so als
bremse Gott für einen Moment die Zeit.
Langsam kam ein Schatten auf sie zugeflogen, langsam führte sie die rechte
Hand mit dem Schwert vom Rücken
nach vorn vor den Körper. Sie setzte
den Knauf genau auf die eiserne Schnalle ihres Gürtels, umklammerte den Griff
ganz fest mit beiden Händen und spannte die Bauchmuskeln an. Langsam bohrte sich die Klinge bis ans Heft von unten her in Eikes Brust. Im Stürzen wurde er regelrecht aufgeschlitzt. Gleichzeitig flog Franziska in den Strauch
hinein.
Röchelnd richtete er sich noch einmal
auf und wandte sich dem Mädchen zu.
"Ich wusste doch schon in Osnabrück, dass das Ganze nach Ärger stinkt.
Warum habe ich mich nicht auf meinen
Riechhaken verlassen?"
Dann brach er sterbend über Franziska zusammen.
Sie musste ihre ganze Kraft aufbieten,
um ihn von sich zu wälzen. Dabei
spritzte ihr eine Woge Blut direkt ins
Gesicht. Sie hatte ihn doch gewarnt!
Warum war er nicht stehen geblieben?
Sie hatte es doch nicht gewollt! ... Aber
sie hatte es getan! Sie zitterte, und weder die Arme noch die Beine gehorchten
129
ihren Befehlen. Die Dornen und spitzen
Zweige des Strauches bohrten sich ihr
ins Fleisch, doch sie spürte es nicht.
Wie tot lag sie da, und ihre Gedanken
stumpften ab, bis sie nicht einmal mehr
wusste, ob das Blut in ihrem Kleid und
auf ihrem Gesicht vielleicht ihr eigenes
war, ob sie vielleicht verblutete.
So lag sie auch noch da, als sie plötzlich die große Gestalt eines der Canes
auftauchen sah, die Gestalt jenes Graukittels, den sie seinem Auftreten nach
für den Anführer der Gruppe gehalten
hatte.
130
13.Kapitel
I
W
arst du auch am Dom? Wie
viele von diesen Graukitteln
hast du gesehen?"
"Was machen die Waffenknechte des
Erzbischofs?"
"Was reden die Leute über diesen
Konrad von Marburg?"
Von allen Seiten mit Fragen bestürmt,
wusste Mario nicht, wem er zuerst antworten sollte.
"Da gibt's nicht viel zu erzählen? Ihr
kennt doch die Leute. Da stellt sich so
ein Prediger auf den Marktplatz und
erzählt ihnen, dass eine neue Zeit anbricht und alles anders werden muss,
und schon benehmen sie sich wie toll,
schreien herum und prügeln sich."
Er zuckte mit den Schultern und zog
in tiefer Verachtung für die Bürger seine Mundwinkel herab.
"Du erzählst das alles gerade so, als
ob's uns gar nichts angeht", hielt ihm
Ramira erregt entgegen. "Wenn sie uns
erschlagen, ist's doch egal, ob sie toll
sind oder nicht."
"Sie werden uns schon nicht erschlagen."
"So? Woher weißt du das denn so genau? Hat's dir Gott im Traum gesagt?"
Das Feuer knisterte und verbreitete in
der Stille des zur Neige gehenden
Abends ein trügerisches Geborgenheitsgefühl. Sein Licht reichte nur einige
Meter weit und schuf eine Insel inmitten
des großen Platzes. Selbst Sankt Kunibert schien schon weit weg in einer anderen Welt zu stehen.
Pentia liebte solche Lagerfeuer leidenschaftlich. An diesem Abend jedoch
vermochte nicht zu träumen wie sonst.
Jetzt, da alle schwiegen, blickte sie von
einem zum anderen und fragte sich,
woran jeder wohl gerade dachte. Mario
versuchte, die Holzscheite neu zu ordnen, verbrannte sich dabei und schleuderte wütend einen Stecken hinter sich.
Warum war er so fahrig, wenn er so fest
an ein gutes Ende glaubte? Ramira verfolgte mit dem Blick die zum Himmel
stiebenden Funken. Auch sie versuchte
sich wohl irgendwie abzulenken. Ihre
Freunde, die Schauspieler, beschäftigten
sich mit den drei Kindern. Die Frau
erzählte ihnen leise eine Geschichte.
Melanie, die mittlerweile im neunten
Monat schwanger war, sah fast flehend
zu Mario herüber. Der aber konnte ihr
auch nichts wirklich Beruhigendes sagen. Allein Alexanders Gesicht blieb
undurchdringlich. Zu viele Spuren der
Vergangenheit waren darin eingegraben, als dass neue Erlebnisse es hätten
so rasch verändern können. Der Sippenälteste brach schließlich auch das
Schweigen.
"Wir sollten weiterziehen."
"Aber warum denn?" ereiferte sich
Mario sofort. "Wir haben die feste Zusicherung, dass wir hier auf diesem Platz
bleiben dürfen, solange wir wollen. Wir
haben Geld, wofür wir uns nirgends so
viele gute Ware kaufen können wie in
Köln. Wir haben noch immer Erfolg bei
unseren Auftritten."
"Weiß du eigentlich, wie sehr wir uns
alle um dich gesorgt haben?" redete
Ramira abermals auf ihn ein. "Hier ist's
ruhig geblieben, aber die Leute erzählen
von schlimmen Dingen."
"Die Leute übertreiben."
"Und selbst wenn sie übertreiben,
sollten wir weiterziehen", beharrte Alexander. "Den Beldinis ist's nie gut bekommen, wenn sie aufs Glück allein
vertraut haben."
"Aber was wird aus mir?" rief Melanie. "Soll ich mein Kind irgendwo auf
einer Straße bekommen?"
"Vielleicht wäre es besser."
"Niemals!" lehnte sich Mario nun
sehr energisch auf. "Mögen wir meinethalben weiterziehen - aber erst, wenn
das Kind auf der Welt ist."
Alexander war keineswegs überzeugt,
gab diesmal aber nach, und so blieb es
bei der guten Absicht, ohne dass sich im
Leben der Gaukler etwas Entscheidendes änderte. Allerdings fiel es allen immer schwerer, die Warnzeichen einfach
zu ignorieren. Konrad von Marburg
gehörte nicht nur demselben Mönchsorden an wie Maginulfus, sondern war
auch ein ebenso erbitterter Ketzerfeind.
Vielleicht übertraf er ihn sogar noch an
Entschlossenheit. Zudem hatte ihn der
Papst zwei Jahre zuvor zum Generalinquisitor ernannt und ihm damit eine
gewaltige Macht übertragen. Selbst der
Erzbischof versuchte, sich mit ihm gut
zu stellen, wobei es diesem zweifellos
nicht ganz ungelegen kam, dass ein
Fremder die Blutarbeit zu übernehmen
gedachte.
Vorgeblich bestand Konrads Aufgabe
darin, eine in der Stadt vermutete Ge-
meinde der Katharer aufzuspüren und
deren Mitglieder entweder zu Umkehr
und öffentlicher Buße zu bewegen oder
aber auf den Scheiterhaufen zu bringen.
Vorgeblich wollte er sich persönlich
zurückhalten und nur als Berater wirken. In Wahrheit aber unterließ er
nichts, um die Bürger einzuschüchtern,
und mancher befürchtete nicht ganz
grundlos Verhältnisse wie in Südfrankreich, wo die Menschen einander aus
Missgunst, Rache oder einfach nackter
Angst gegenseitig bei den Predigermönchen denunzierten.
Gewalttaten wie in den ersten Tagen
nach Konrads Ankunft wurden freilich
seltener. Allem Anschein nach hatte
Theobaldus seine Canes zur Zurückhaltung ermahnt. Vielleicht waren die Unruhen zu diesem Zeitpunkt dem Großinquisitor nicht genehm. Die am helllichten Tage auf den Straßen und Märkten gebrüllten Sprüchen aber ließen
erahnen, dass ein einziger Funken ausreichen konnte, um den Brand wieder
auflodern zu lassen, und dass nicht nur
die überzeugten Feinde des Papstes und
der katholischen Kirche in Gefahr
schwebten sondern ebenso die Juden,
die Gaukler und die Bettler.
II
D
ie Stimmung bei den Beldinis
und ihren Freunden war gedrückt. Einer ging dem anderen
aus dem Wege, weil jeder auf das
kleinste Missgeschick, den kleinsten
Widerspruch gereizt und ungeduldig
reagierte. Ramira lenkte sich ab, indem
sie Kunststücke bis zur Erschöpfung
übte oder ihre Leier nahm und sich in
die Welt ihrer Lieder flüchtete. Eines
Tages aber wurde sie daraus durch einen spitzen Schrei jäh in die Wirklichkeit zurückgerissen. Der Schrei kam
aus dem Wohnwagen, und sie rannte
sofort dorthin. Als sie die Tür aufriss,
fand sie Melanie, die kreidebleich auf
dem Bett saß und sich den Bauch hielt.
"Was ist? Fühlst du dich nicht wohl?"
"Ich glaube, es geht los."
Nun wurde auch Ramira blass. Sie
war eine große Künstlerin, dafür aber
fehlte ihr eine Menge Erfahrung, was
die eigentlichen Pflichten der Frauen
anging. Die Sippe hatte sie stets davon
verschont, um ihre ungewöhnlichen
Talente besser ausnutzen zu können.
Wenn sie auch die alltäglichen Verrichtungen (sofern sie ihr ausnahmswei-
132
se einmal zufielen) trotz allem irgendwie meisterte - als Hebamme eignete sie
sich ganz und gar nicht. Ziemlich kopflos eilte sie hinaus, um irgendeine erfahrene Frau als Hilfe herbeizuholen.
Der Platz aber war wie leergefegt, und
Melanie rief verzweifelt immer wieder
nach ihr. Lediglich Pentia fand sie.
"Was sollen wir nur tun?"
"Wir werden ihr helfen und darauf
vertrauen, dass Gott uns sagt, was wir
tun müssen", sagte die Zwölfjährige
sanft, und das wirkte sonderbarer Weise
beruhigend.
Melanie hatte sich auf das Bett gelegt, das Kleid hochgeschlagen und die
Schenkel gespreizt. Die Wehen wurden
von mal zu mal stärker. Die Stirn war
nass vom Schweiß. Währenddessen
versuchte Pentia, sauberes Wasser heranzuschaffen.
Ramira fiel vorerst nichts Besseres
ein, als immer wieder auf die Gebärende einzureden.
"Hab keine Angst! Es wird alles gut.
Ganz bestimmt."
Innerlich bangte sie, dass Pentia nicht
rechtzeitig zurückkäme. Die aber wusste gut genug, dass es auf sie ankam, und
war die ganze weite Strecke bis zum
nächsten öffentlichen Brunnen und zurück gerannt. Völlig erschöpft konnte
sie sich danach kaum noch auf den Beinen halten, ließ es sich aber nicht nehmen, ohne eine Atempause die Wickeltücher für das Kind zurechtzulegen.
Wenig später begann die Geburt. Melanie war zum Glück eine gesunde und
kräftige Frau. Sie fiel nicht in Ohnmacht und wusste, obgleich sie ihr erstes Kind zur Welt brachte, ziemlich gut,
was sie tun musste. Teilweise wusste sie
es von Natur her, teilweise erinnerte sie
sich an eine Geburt, bei der sie als Mädchen einmal hatte helfen müssen. So
konnte sie Ramira Anweisungen geben.
Die wiederum war im entscheidenden
Augenblick so besonnen und selbstsi-
cher, dass sie Melanie (die eigentlich
die Wahrheit kannte) die Vorstellung
vermittelte, eine verlässliche Stütze zu
sein.
Trotzdem lag die junge Frau am Ende
mit geschlossenen Augen auf dem Bett
und rührte sich nicht mehr. Ramira erschrak. Genauso hatte gewiss auch ihre
Mutter dagelegen, als sie selbst auf die
Welt gekommen war. Sie fragte sich, ob
Mario wohl auch sein Kind für den Tod
seiner Frau würde büßen lassen.
"Melanie! Sag doch was! Du darfst
jetzt nicht sterben!"
Sie hätte alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten, in der Hoffnung,
dadurch einen Teil der Schuld, die sie
auf sich lasten fühlte, abzutragen. "Drücke mir die Hand, wenn du mich hören
kannst!"
Erst als Melanie es tat, war sie beruhigt, zumindest für kurze Zeit.
In ihrer Angst dachte sie an das Kind
fast gar nicht mehr, obwohl es sich mit
einer recht kräftigen Stimme durchaus
in Erinnerung rief, und so blieb Pentia
allein mit der Aufgabe, es zu waschen
und zu wickeln. Das Wickeln war eine
schwierige Prozedur, die sie mehr
schlecht als recht vom Zusehen her
konnte. Eigentlich sollte das Kleine
vom Hals bis zu den Zehen von den
Tüchern wie mit einem Panzer umschlossen sein, mitsamt den Ärmchen,
und zwar so fest, dass sein Herz langsamer schlug und es deshalb sehr brav
blieb und viel schlief. Pentia hatte aber
Angst um das winzige Wesen und zog
die Tücher so gut wie gar nicht fest,
darauf vertrauend, dass bald eine erfahrene Frau kommt, die sich auf dergleichen besser versteht. Dennoch war sie
stolz auf sich, fast so, als sei auch sie
selbst ein wenig Mutter geworden.
Mario und Alexander erfuhren erst
am Abend von Melanies Entbindung
und wussten sich vor Freude kaum zu
fassen, zumal das Kleine ein Junge war.
133
Er erhielt den Namen David. Die junge
Mutter, die nach einigen Stunden Schlaf
bereits wieder erstaunlich munter wirkte, wollte es so haben und setzte sich
durch.
Das neue Mitglied der Sippe brachte
viel Arbeit mit sich, die Melanie allein
nicht bewältigen konnte. Als Helfer
suchte sie sich ausgerechnet Pentia aus.
Niemandem sonst wollte sie ihr über
alles geliebtes Kind anvertrauen. Selbst
wenn Mario es auf dem Arm hielt, blieb
sie in unmittelbarer Nähe stehen, weil
sie fürchtete, er würde es fallen lassen.
Es war und blieb ein Geheimnis, warum
sie die kleine Ritterstochter, der sie anfangs nicht für den hundertsten Teil
eines Denarius über den Weg getraut
hatte, plötzlich für verlässlicher als alle
anderen hielt. Melanie, Pentia und
Klein-David standen zueinander in einer
ganz besonderen Beziehung und fühlten
sich allem Anschein nach am wohlsten,
wenn sie unter sich waren.
III
G
egen Ende Oktober spürten die
Beldinis die Folgen der Ketzerhysterie erstmals unmittelbar.
Es kam zu keinen echten Pogromen,
doch die Canes überfielen gezielt (und
zweifellos auf Grund eines Befehls)
einige kleine Händler, raubten sie aus
und misshandelten sie. Das waren
Händler, die im Ruf standen, mit Juden
und Fremden Geschäfte abzuschließen,
manchmal unter Umgehung der Gesetze. Dadurch blieben Mario plötzlich
viele Türen verschlossen. Wollte er weiterhin gute Ware für sein Geld, musste
er sich an Kaufleute wenden, die als
seinesgleichen galten, an Juden also.
Die Juden galten im Deutschen Reich
als Unfreie, genossen in der Stadt Köln
jedoch einige Privilegien, seit Friedrich
Barbarossa ihnen einen Schutzbrief
ausgestellt hatte. Als Kaiserliche Kammerknechte standen sie gegen eine jährliche Kopfsteuer unter dem Kaiserlichen Frieden. Das bewahrte sie freilich
im Alltag noch lange nicht vor Anfeindungen und Übergriffen. Dass ihnen die
Kölner ein wenig mehr Respekt entgegenbrachten als die Bürger anderenorts,
war vor allem das Verdienst des großen,
vor vier Jahren hinterrücks erstochenen
Erzbischofs Engelbert, der mutig einen
Adligen für den Mord an einem Juden
zum Tode verurteilt hatte.
"Hochwürden, Ihr könnt mich doch
nicht dafür sterben lassen, dass ich unseren Herrn Jesus Christus gerächt habe!" versuchte der Angeklagte sich zu
verteidigen.
Engelbert indes entgegnete ungerührt:
"Wohlan, so magst du auch noch büßen für deinen Großvater und für dessen
Schandtaten während des ersten Kreuzzuges im Heere des unseligen Emich
von Leiningen!" und befahl, ihm unverzüglich den Kopf abzuschlagen.
Das Viertel bestand aus einer geraden, verhältnismäßig breiten, gepflegten
Straße an seinem östlichen Rand und
einer Vielzahl verwinkelter Gassen, die
auf einen Fremden wie ein Labyrinth
wirkten. Auf der gepflegten Straße
stand rechts das Haus der Rates, ein
lang gestrecktes, zweigeschossiges Gebäude, das sich an die Reste der Römermauer anlehnte. Dass die Bürger
ihren wichtigsten Versammlungsort
ausgerechnet hier in unmittelbarer
Nachbarschaft zu den Andersgläubigen
errichtet hatten, beruhte auf einem
ziemlich unreligiösen Grund. Köln war
Straße für Straße aufgeteilt und den verschiedenen Zünften und Korporationen
zugeordnet. Wohin sollte man also ein
134
allen gehörendes Haus bauen? Jeder
Standort hätte irgendjemanden bevorzugt. Da bot sich am Ende der neutrale
jüdische Grund und Boden als Ausweg
an. Links überragte die Synagoge die
davor stehenden niedrigeren Gebäude.
Der Tatsache, dass man darin noch am
alten Ritus festhielt, was einzigartig war
weit und breit, verdankte das gesamte
Viertel den Ehrennamen Rheinisches
Jerusalem. Dicht daneben gab es noch
eine vergleichsweise winzige Frauensynagoge.
Mario wusste das alles aus den Erzählungen der Händler, hatte aber wenig
Sinn dafür. Er war viel zu sehr dem Alltagsleben verbunden, um die komplizierten politischen und religiösen Streitigkeiten zu verstehen. So schenkte er
weder dem stolzen Rathaus noch der
nicht minder stolzen Synagoge einen
Blick, als er in das Labyrinth hineintauchte. Er kannte sich inzwischen
halbwegs aus. Geradezu endete die Gasse an der Mikwe, einem Badehaus, wo
sich die Juden vor jedem Gottesdienst
im fließenden Grundwasser waschen
mussten. Dahinter lag das Hochzeitsund Spielhaus mit seinem großen Saal.
Mario bog aber schon vorher nach links
ab, stieg nach wenigen Metern ein paar
Stufen nach oben und wandte sich dahinter sofort wieder nach rechts, in jene
Richtung, woher ihm ein intensiver Geruch nach frischem Brot vom nahe gelegenen Backhaus her entgegenwehte.
Dort befand sich der Krämerladen eines
gewissen Herrn Goldstein im Keller
eines von außen ziemlich ärmlich erscheinenden Gebäudes.
Mario klopfte an die Tür. Ein weißhaariger, freundlicher Mann mit munteren, flinken Augen öffnete ihm, begrüßte ihn mit einem freundlichen "Schalom!" und führte ihn in eine Stube hinter dem Laden.
"Adasse!" rief Goldstein. "Unser Gast
wird durstig sein!"
Eine etwas füllige Frau mit einem
breiten Gesicht, das viel Güte ausstrahlte, servierte ein leicht süßlich schmeckendes Getränk, das Mario nicht kannte. Auch die Einrichtung des Zimmers
wirkte auf ihn fremdländisch. Doch das
freute ihn mehr als es ihn störte, denn er
vermutete in jedem, der (wie er selbst)
anders lebte als die christlichen Bürger
der gewöhnlichen Viertel, einen Freund.
"Was ist aus der Anzeige beim Rat
geworden?" fragte der Gaukler, als
Goldsteins Frau wieder gegangen war.
"Gar nichts! Zwei der Ratsmitglieder
schicken doch selbst ihre Ehefrauen und
Töchter zu uns. Jedermann weiß, dass
es in Köln kaum jemanden gibt, der sich
in der Heilung von Frauenleiden besser
auskennt als meine Adasse. Vor dem
Schmerz und dem Tod bleibt der Glaube gering. Die Christen kommen heimlich und in den sonderbarsten Verkleidungen, aber sie kommen. Übrigens
(weil wir gerade vom Rat reden) dieser
Konrad von Marburg ist gestern überraschend abgereist. Es sieht so aus, als ob
sich die Bürgerlichen und die Kirchlichen verständigen wollen."
Mario zuckte mit den Schultern.
"Etwas anderes war doch auch gar
nicht zu erwarten. Irgendwann geht jeder Spuk vorbei."
Der Alte wiegte den Kopf.
"Was heißt das: Der Spuk geht vorbei? Für wen geht er vorbei? Für den
Erzbischof? Für den Rat? Für die Bürger der Stadt? Für uns Juden? Das ist
nicht dasselbe."
Mario zupfte ungeduldig an seinem
Ärmel. Goldstein verfiel oft auf solche
Erörterungen. Wahrscheinlich fehlte
ihm ein geeigneter Gesprächspartner.
Mario, der fast nichts verstand, war
denkbar ungeeignet, gab sich aber wenigstens so, als hörte er zu.
"Der Rat und der Erzbischof sind und
bleiben erbitterte Feinde. Wenn sie sich
jetzt verständigen, so nur, weil sich kei-
135
ner von beiden seiner Sache sicher sein
kann. Wie aber sollen sie das jetzt dem
aufgehetzten Volk erklären? Die jungen
Männer auf beiden Seiten brennen darauf, einem Feind den Schädel einschlagen zu dürfen. Was sagt man denen,
wenn plötzlich kein Feind mehr da ist?"
Er blickte Mario aufmerksam ins Gesicht, und dieser fühlte sich zu einer
Antwort genötigt.
"Sollen sie doch Waffenknechte werden bei irgendeinem Grafen oder Herzog."
"Oh, ich glaube nicht, dass ihnen der
Sinn danach steht, so rasch aus ihrem
geliebten Köln fort zu gehen. Außerdem
werden sie sich fragen, was sie die
Wünsche eines fremden Fürsten angehen. Nein, sie wollen einen Feind in der
Stadt haben und nirgends woanders."
Während er noch redete, begann er
schon, die Waren auszubreiten, die er
anbieten wollte.
"Es gefällt mir nicht, dass einige Patrizier neuerdings ähnlich wie die Dominikaner von einer sauberen Stadt reden."
Dann kam er unvermittelt auf das Geschäftliche zu sprechen, und dabei wurde Mario wieder hellwach. Die Verhandlungen zogen sich (immer wieder
unterbrochen durch Abschweifungen)
bis in den späten Nachmittag hin. Am
Ende waren beide zufrieden und verabschiedeten sich beinahe herzlich voneinander.
Schwer bepackt verließ der Gaukler
das Judenviertel wieder und wollte auf
dem kürzesten Wege zum Lager vor
Sankt Kunibert zurückkehren. Da versperrten ihm plötzlich nahe dem Platz
vor dem Palast des Erzbischofs fünf
Canes den Weg. Zuerst beachtete er sie
gar nicht, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass sie es tatsächlich auf ihn
abgesehen hätten. Als er sich aber an
ihnen vorbeidrängen wollte, hielt einer
ihn am Arm fest.
"Du Schwein bist also ein Judenfreund! Wir haben dich beobachtet. Erzähl uns, wofür man so viele Geschenke
bekommt!"
"Das sind keine Geschenke."
Die jungen Männer lachten provokatorisch.
"Für wie dumm hältst du uns? Du
machst bei der jüdischen Verschwörung
gegen die Christen mit, du dreckiger
Gaukler!"
Schon versuchten sie, ihm das Bündel
von den Schultern zu reißen. Mario war
aber kein Schwächling, und erst recht
war er nicht feige. Er ließ das Bündel
fahren, versetzte dem, der es nahm, im
nächsten Augenblick einen kräftigen
Fausthieb und eroberte es sich so zurück. Einen zweiten der Canes hielt er
sich mit einem Tritt in den Magen vom
Leibe. Angesichts dieser entschlossenen
Gegenwehr ließen die übrigen von ihm
ab und begnügten sich damit, ihm aus
sicherer Entfernung Rache zu schwören.
IV
R
amira lief, wenn sie keine
Kunststücke vorführte, stets ein
wenig
liederlich
umher.
Manchmal aber legte sie es (aus welchem Grund auch immer) geradezu darauf an, einer Bettlerin zu gleichen. In
einem völlig zerlumpten Kleid, das sie
sich nicht wegnehmen ließ, sah sie dann
so heruntergekommen aus, dass ihr
selbst Mario mit einem gewissen Widerwillen aus dem Wege ging, obwohl
er in dieser Hinsicht mit Melanie Kummer gewöhnt war. An einem solchen
Tage kam Raimund ins Lager, um nach
Franziska zu fragen. Ramira hatte gerade, um die mit ihrem Säugling beschäf-
136
tigte Melanie zu unterstützen, den
Wohnwagen notdürftig gesäubert und
balancierte mit einem Holzzuber voll
schmutzigem Wasser die schmale Treppe herunter. Als er das sah, stürzte er
aus gewohnheitsmäßiger Hilfsbereitschaft auf sie zu. Dabei jedoch (sei es,
weil sie zu überrascht war, sei es seiner
Ungeschicklichkeit wegen) rutschte der
Zuber beiden durch die Hände, und ein
beträchtlicher Teil des Wassers ergoss
sich über die Kleider des Kaufherrensohnes.
Ramira bemühte sich ängstlich um
ihn, wusste sie doch, dass angesichts der
gereizten Stimmung in der Stadt selbst
ein so nichtiger Zwischenfall schlimme
Folgen haben konnte. Viel bewirken
konnte sie freilich nicht. Schließlich
hinderte er sie sanft an ihrem hoffnungslosen Tun und sagte lächelnd:
"Was macht das schon? Ich setze
mich ein Weilchen an euer Feuer, bis
der Rock trocken ist. Gewaschen werden muss er ohnehin."
"Aber ..."
"Wenn ich dir doch sage, dass es gut
so ist!"
Beide waren allein, denn Melanie saß
mit ihrem David am Rhein, Alexander
übte irgendwo mit Pentia Kunststücke,
und Mario hielt sich noch im Judenviertel auf. Während Ramira - immer noch
misstrauisch - dem Kaufherrensohn ans
Feuer folgte und sich ihm nach kurzem
Zögern schräg gegenüber auf eine Bank
setzte, überlegte sie verwundert, weshalb er ihr überhaupt hatte helfen wollen, und begann zu ahnen, wer er war.
"Du hast einmal Böses erlebt, nicht
wahr?" fragte er unvermittelt.
Sie verstand nicht, was er meinte, und
sah ihn mit dem ihr eigenen Blick ihrer
graublauen Augen durchdringend an.
"Ja! Genau das ist es! Genauso hast
du mich schon einmal angesehen. Du
wirst dich nicht mehr daran erinnern.
Wir sind uns ganz zufällig begegnet, auf
dem Altmarkt. Du bist nach einer Vorstellung herumgegangen, um Geld einzusammeln. ... Ich kann das schlecht
beschreiben. Es ist, als ob du fragst:
'Bist du einer, der mir weh tun will?'"
Er wurde plötzlich feuerrot und versuchte, seine Verlegenheit mit einem
Lachen zu überspielen.
"Ach, vergiss das wieder! Ich rede
Unsinn."
Er stocherte mit einem Stöckchen in
der Glut herum. Immer wieder aber hob
er den Kopf, um das Mädchen anzuschauen, und ihm wurde ganz heiß dabei. Bisher hatte er sie nur im Kostüm
gesehen, bei den Auftritten, und nie
etwas anderes an ihr im Gedächtnis behalten als ihre Augen. Jetzt aber, da sie
diese Lumpen trug, war er bis ins Innerste ergriffen, und es gab nichts mehr
an ihr, das ihm nicht gefiel. Vielleicht
erinnerte sie ihn an eine Heilige.
Da fühlte er, dass er diesen Augenblick nicht ungenutzt vorüber gleiten
lassen durfte. Er kam zu Ramira auf die
Bank, rückte dicht an sie heran und
strich ihr behutsam ein paar Strähnen
ihrer strubbeligen, rotblonden Mähne
aus dem Gesicht. Sie wehrte ihn mit
einer heftigen Armbewegung ab und
fauchte:
"Lass mich in Ruh! Ich bin nicht zu
kaufen."
Sie wollte noch mehr sagen, wollte
ihm androhen, ihm die Augen auszukratzen (was sie im Notfall auch getan
hätte) merkte jedoch, dass dieser Aufwand unnötig war. Raimund wurde so
verlegen, dass er ihr fast Leid tat.
"Du traust mir doch nicht zu, dass ich
dich für eine ..."
Er hatte, obwohl fast siebzehn Jahre
alt, im Grunde panische Angst vor
Mädchen und wäre nicht einmal im
Weinrausch darauf verfallen, sich in der
Schwalbengasse eine Dirne zu mieten.
"Wenn ich dich beleidigt habe, bitte
ich dich hiermit um Verzeihung."
137
Indem er sich vor sie auf den Erdboden setzte, erreichte er, dass sie ihn
überragte. Er wollte sie um jeden Preis
überzeugen, dass sie sich vor ihm nicht
zu fürchten brauche. Zugleich fragte er
sich, woher diese Hartnäckigkeit bei
ihm mit einem Male kam. Normalerweise hätte er sich von solch unmissverständlicher Ablehnung und solcher Unnahbarkeit gründlich abschrecken lassen. Diesmal jedoch übten ungemein
starke Gefühle eine unüberwindliche
Macht auf ihn aus, Gefühle die er bei
sich nicht kannte.
"Du bist eine verzauberte Königstochter!" versicherte er.
"Ich bin eine Gauklerin, die Tochter
eines Gauklers", widersprach sie kühl.
Als er dann aber ihrer Hände zu sich
heranzog, ließ sie es geschehen.
"Was soll das? Was sagst du, wenn
einer deiner Verwandten jetzt hier vorbeikommt und dich so sieht?"
Er würde gar nichts sagen, weil es in
diesem Falle keinen Zweck hätte, eine
Erklärung abzugeben. So sehr ihm das
aber bewusst war, so gleichgültig war es
ihm auch. Er konnte sich auf nichts
mehr besinnen, das wichtig sein konnte
außer ihr.
"Ich werde nichts tun, was dir nicht
gefällt", sagte er.
Dann setzte er sich abermals neben
sie. Sie machte sich steif wie ein Ast,
war noch immer ganz und gar auf Abwehr eingestellt. Sie hatte jedoch keine
Angst mehr vor ihm und hielt es für
klug, ihn bis zu einem gewissen Maß
gewähren zu lassen. Immerhin waren
durch ihre Schuld seine Kleider besudelt. Er streichelte ihr zärtlich mit zwei
Fingern über die Wangen und liebkoste
sie mit winzigen Bewegungen seiner
Hände. Sein Arm lag so sacht auf ihrer
Taille, dass sie ihn kaum wahrnahm.
Keine seiner Gesten erbat mehr von ihr,
als nicht fort zu gehen. So saßen sie
lange beieinander und schwiegen.
"Du wirst noch schmutziger werden,
als du schon bist", warnte sie ihn
schließlich.
"Schmutz kann man abwaschen - außer dem Schmutz der Seele."
Er sagte, was er wirklich dachte. Das
zerlumpte Kleid, die hoffnungslos zerzausten Haare, die ungewaschenen
Hände und Füße, all das, was sonst
selbst die Landsknechte vertrieb wie das
Kruzifix den Teufel, es löste in ihm
nicht einmal für den einen Augenblick
ein Gefühl des Ekels aus. Seine Sinne
nahmen anders wahr. Er fühlte ihre
Wärme und das heftige Pochen ihres
Herzens, und dahinter wurde jeder andere Eindruck belanglos.
Seine sonderbaren Worte brachten sie
dazu, den Kopf zu wenden, so dass beider Blicke einander begegneten. Die
Fröhlichkeit, die sie in seinen Augen
fand und die zuvor schon Franziska so
beeindruckt hatte, verwirrte sie. Sollte
es für sie wirklich noch einmal solche
Sachen geben können wie Wärme und
Geborgenheit? Sie versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Unerfüllbare,
gar zu schöne Träume sind schädlich für
Menschen, die täglich ums Überleben
kämpfen müssen. Man fällt zu tief von
solchen Wolken. Doch Raimund war
kein Traum. Er saß leibhaftig neben ihr.
Sie musste an Arnold denken, ihren
Ersatzvater, ihren Lehrer, ihren Liebhaber schließlich, dessen Tod sie nie endgültig überwinden würde.
Ihr Widerstand wurde schwächer und
plötzlich - sei es, dass er sie zu sich heranzog, sei es, dass sie von sich aus kam
- setzte sie sich auf seinen Schoß. Er
hielt sie in seinen Armen und drückte
sie an sich, so wie wenn man jemanden
tröstet.
"Glaubst du mir, dass ich dir niemals
wehtun werde?" fragte er, und sie nickte
so leicht, dass er es nur merken konnte,
weil seine Hand an ihrer Wange lag.
138
Ramira konnte sich an niemanden erinnern, der sich ihr jemals so behutsam
und rücksichtsvoll genähert hatte, von
Arnold abgesehen. Männer kannte sie
nur als rohe Tiere oder als Kameraden.
Raimund unterschied sich von ihnen
allen derart gründlich, dass er nicht von
dieser Welt zu sein schien. War vielleicht Arnold in fremder Gestalt zu ihr
zurückgekehrt, ihr Arnold? Mit einem
tiefen Seufzer kuschelte sie sich vollends an Raimund, den Kaufherrensohn,
der sie Königstochter genannte hatte,
legte den Kopf auf seine Schultern und
vertraute sich ihm mit geschlossenen
Augen an. Geschützt in seinen Armen
fühlte sie sich unermesslich wohl.
139
14.Kapitel
I
F
ranziska schlug die Augen auf
und blickte auf eine von zwei
sich kreuzenden Balken getragene Decke. Irgendwann hatte sie diese
Decke schon einmal gesehen, wusste
jedoch nicht mehr, wann und in welchem Zusammenhang. Der Raum, den
die Decke überspannte, war ziemlich
dunkel. Ein schmales Fenster, die einzige Lichtquelle, beleuchtete nur einen
Teil davon, während sich der andere,
größere nur erahnen ließ. Von der gegenüberliegenden Wand blätterte die
Farbe ab. Wer immer hier wohnen
mochte, er legte offenbar auf Behaglichkeit wenig Wert. Franziska beschäftigte
sich einige Zeit damit, sich in die Umrisse der Stellen nackten Mauerwerks
Figuren hineinzudenken. Das tat ihr gut,
weil es sie ablenkte von Erinnerungen,
die immer wieder wie Blitze durch ihren
Kopf zuckten - grelle Bilder, die
Schmerzen hervorriefen.
Ein Mann trat ein. Wer war er? Es
musste eine besondere Bewandtnis mit
ihm haben. Woher kannte sie sein Gesicht? So sehr sie sich auch anstrengte,
ihre Gedanken zu ordnen, sie enteilten
ihr immer wieder wie Vögel.
"Wie fühlst du dich?" fragte der
Mann.
"Ich bin müde", antwortete sie.
"Du kannst gleich wieder schlafen.
Vorher aber musst du etwas essen."
Sie sah ein, dass sie etwas essen
musste, aber sie vermochte sich nicht zu
bewegen. Sie wollte aufstehen, spannte
all ihre Muskeln an, glaubte zumindest,
sie anzuspannen, doch nichts geschah.
Ihr war, als habe ihre Seele nichts mehr
mit ihrem Leib zu schaffen, und sie bekam panische Angst. Hätte sie es gekonnt, wäre sie aufgesprungen und da-
vongerannt. Tatsächlich hingegen blieb
sie wie fest gekettet liegen und glaubte,
der Kopf würde ihr im nächsten Augenblick zerspringen.
"Es geht nicht!" flüsterte sie.
Der Mann strich ihr mit der Hand
über die Wange, bis sie sich beruhigt
hatte, und fütterte sie dann wie ein
Kind. Wenig später schlief sie wieder
ein.
Im Traum sah sie sich durch einen
Wald laufen, den Wald nahe dem Westerholthof, dem alten, nun von einer
Bauernfamilie verwalteten Hof ihrer
Eltern. Dort hatte sie mit den Dorfkindern gespielt, bis sie zur Erziehung
nach Wildeshausen geschickt worden
war. Von ihren Freunden aber fand sie
niemanden mehr. Stattdessen umringten
sie plötzlich sieben Riesen in grauen
Kitteln. Sie glaubte sich schon verloren,
als plötzlich der Teufel neben ihr stand
und ihr ein gewaltiges Schwert gab.
Vielleicht war das allerdings auch gar
nicht der Teufel, denn er hatte zwar
Hörner jedoch keinen Quastenschwanz
und auch keinen Geißfuß. Zuerst fürchtete sie, das Schwert gar nicht anheben
zu können, dann aber erwies es sich als
federleicht. Außerdem focht es ganz
von selber. Im Nu hatte es den Riesen
die Köpfe abgeschlagen und aus den
toten Leibern schoss ein Blutstrom hervor, der wie die Wellen einer Sturmflut
an der norddeutschen Küste alles mit
sich hinweg riss. Auch das Mädchen
wurde von ihm erfasst und direkt vor
die Füße eines von dem Zauberschwert
offenbar verschonten Riesen geschleudert. Der grinste sie an und holte mit
einem Baumstamm aus, um sie zu erschlagen. Da wachte sie auf.
"Warum schreist du?" fragte der
Mann besorgt.
"Der Riese will mich erschlagen."
"Der Riese? ... Hat er breite Schultern
und kurze, dunkelblonde Haare? Trägt
er ein Kreuz um den Hals?"
"Ja, das ist er!"
"Den habe ich besiegt. Du brauchst
dich also nicht mehr vor ihm zu fürchten. Schlaf jetzt weiter!"
Drei Tage lang hielt die Lähmung an,
dann verschwand sie plötzlich. Franziska stand auf, wie betrunken hin- und
herschwankend zunächst, dann aber
zunehmend sicherer. Gleich zu Anfang
trat sie ans Fenster. Vor ihr breitete sich
ein Hof aus, der ebenso vernachlässigt
aussah wie das Zimmer. Noch immer
vermochte sie sich nicht zu erinnern,
doch spürte sie, dass sie der Lösung des
Rätsels ganz nahe war. Als dann der
Mann herein trat, blickte sie ihn lange
an und fragte ihn schließlich:
"Heißt du Stefanus?"
"Weißt du das denn nicht?"
"Ich bin mir nicht sicher."
"Du weiß nicht mehr, dass du hier ein
paar Monate lang gewohnt hast?"
"Mein Kopf ist leer."
Verzweifelt kämpfte sie um ihr Gedächtnis. Wenn sie sich anstrengte,
tauchten immerhin einige verschwommene Bilder aus Köln vor ihr auf - das
Hahnentor zum Beispiel, der zur Weihnachtsmesse im Licht hunderter Kerzen
erstrahlende Dom und die große Marienkirche. Leider konnte sie keinen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen
und wusste nicht, was sie selbst mit
ihnen zu schaffen hatte. Manchmal setzte sich Stefanus zu ihr und half ihr. Dabei kam es vor, dass er etwas sagte, das
sie wie ein Peitschenhieb traf. Dann
weigerte sich ihr Kopf, noch weiter die
Vergangenheit heraufzubeschwören.
Nach und nach allerdings ertrug sie
die Wahrheit. Wie wenn der Meister ein
Gemälde aus immer neuen Figuren ent-
stehen lässt, erst nur in grauen Umrissen
angedeutet, dann immer farbiger und
feiner, so vervollständigte sich auch
Franziskas Erinnerung. Nach zwei Wochen wusste sie schon wieder über ihre
Ankunft in Köln und über die Zeit bei
den Jevers Bescheid. Sie besann sich
auf den Platz vor Sankt Gereon, das
Gelände um den Palast des Erzbischofs
und den Entenpfuhl. Ihre Erlebnisse an
der Seite des Räubers erschienen ihr ein
wenig unwirklich, was aber weniger an
ihrer Krankheit lag, als vielmehr daran,
dass er sich ihr gegenüber ganz und gar
anders verhielt als damals. Lediglich der
Tag, an dem sie auf dem Eigelstein von
den Canes angegriffen worden war,
fehlte in ihrer Erinnerung nach wie vor.
Sie ging davon aus, dass sie etwas
Schreckliches erlebt hatte und dass sie
Stefanus ihr Leben verdankte.
Eine Woche später nahm Franziska
endlich all ihren Mut zusammen und
fragte rundheraus:
"Was ist mit mir passiert?"
"Du hast einen Rat von mir befolgt
und etwas sehr Vernünftiges getan, obwohl du es nicht wolltest und bis heute
nicht wahrhaben willst."
Krampfhaft suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer Entsprechung zu
diesem sonderbaren Hinweis, fand aber
nichts.
"Einer dieser Canes wollte dich vergewaltigen, vielleicht anschließend auch
umbringen, in einem Garten an der
Weidengasse. Siehst du den Garten vor
dir?"
Sie sah ihn vor sich, und sie wusste
schlagartig auch, was sich darin zugetragen hatte.
"Dafür werde ich in die Hölle kommen."
Sie starrte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand an und blieb minutenlang steif an einem Fleck stehen wie
eine Statue. Stefanus redete auf sie ein,
141
doch sie reagierte nicht, hörte ihn gar
nicht.
II
D
ie Erinnerung daran, wie sie
Eike getötet hatte, löste bei
Franziska eine neue Nervenkrise
aus. Sie aß fast nichts, lief häufig quer
durch einen Raum, unterwegs vergessend, was sie eigentlich holen wollte,
und wurde nachts von Alpträumen geschüttelt. Zugleich aber setzte sie sich
mit ihrer Tat auseinander, versuchte, sie
irgendwie in ihr Leben einzuordnen.
Häufig ging sie dazu in eine ganz in der
Nähe von einer Patrizierfamilie für die
Schiffer des Viertels erbaute, kleine, behagliche Kirche. Dort saß sie manchmal
noch nach dem Gottesdienst stundenlang im Gespräch mit Gott. Niemand
störte sie dabei. Der Priester dachte
vielleicht, sie würde um einen nahen
Verwandten trauern.
Dass sie Stefanus einmal gehasst und
verachtet hatte, war ihr jetzt völlig unverständlich. Einen sanfteren und verständnisvolleren Menschen als ihn
konnte sie sich gar nicht denken, und
seine urwüchsige Körperkraft gab ihr
jenes Gefühl absoluter Geborgenheit,
das sie brauchte, um wieder gesund zu
werden. Ein wenig erschien er ihr wie
ein Wesen mit übermenschlichen Kräften. Wie zum Beispiel hatte er wissen
können, dass sie in Gefahr war? Auf
welch geheimnisvolle Weise hatte Gott
ihn zu ihr geführt?
Als sie sich bei ihm danach erkundigte, kostete ihn die Antwort sichtlich
Überwindung.
"Gott hat mir gar nichts gesagt. ... Ich
... ich war sehr oft in deiner Nähe."
Überrascht blickte sie zu ihm hoch.
"Dann warst du also dieser geheimnisvolle Verfolger! Aber warum?"
"Ich wollte dich überreden, zu mir zurückzukommen. Seitdem du fort bist,
fühle ich mich allein nicht mehr wohl."
Ein Gefühl der Rührung stieg in ihr
auf. Ob sie ihn mochte, wusste sie nicht,
aber dass sie gebraucht wurde, dass sie
jemandem wichtig war, stimmte sie so
froh, dass dadurch sogar die schlimmen
Erinnerungen an den verhängnisvollen
Zusammenstoß mit den Canes in den
Hintergrund traten.
Hinterher empfand Stefanus sein Geständnis als Albernheit und versuchte
seine vermeintliche Schwäche mit Unnahbarkeit und dem rüden Umgangston
vergangener Zeit auszugleichen. Franziska ließ sich darauf aber nicht mehr
ein, sondern blieb freundlich und redselig, und so verging auch diese Misshelligkeit innerhalb weniger Tage. Eines
Abends forderte er sie nach ein paar
Bechern Wein plötzlich auf, ihm zu folgen.
Über die Stiege, den ungenutzten
Vorratskeller und den schmalen Gang
gelangten beide in den römischen Abwasserkanal. Bis hierher war der Weg
nichts Besonderes für Franziska. Links
lagen die drei eingerichteten Räume, in
denen sie manchen Tag und manche
Nacht als Gefangene hatte zubringen
müssen. Wer in dieser Richtung weiterging, gelangte an den Rhein zu einem
der geheimen Ausgänge. Der Kanal
mündete in eine Einsturzgrube, deren
Grund immer unter Wasser lag und die
gegenüber durch die Kaimauer begrenzt
wurde. In diese Mauer hatte der Fluss
ein Loch gefressen. Stefanus war dank
diesem Umstand durch beherztes Tauchen einige Male mit knapper Not Verfolgern entkommen.
142
Im linken Teil des Kanals kannte
Franziska fast jeden Stein, dagegen
wusste sie vom rechten fast nichts. Nun
führte Stefanus sie dorthin. Wie lang
der Gang in Wahrheit war, überraschte
das Mädchen. Minutenlang konnte man
ihn schnellen Schritts entlanggehen,
ohne dass er sich in irgendeiner Weise
veränderte. Was mochte wohl jetzt über
ihnen liegen? Vielleicht die Plektrudisgasse? Oder bereits die Straße nach
Bonn?
Schließlich ging ein zweiter Kanal
nach links ab - von gleicher Bauart, aber
etwas niedriger. Stefanus musste sich
bücken, Franziska nicht. In diesen
Querkanal wiederum mündete ein
Gang, der in seiner Enge an jenen hinter
dem schwenkbaren Schrank im Vorratskeller erinnerte. Dann standen die
beiden in einem Kellergewölbe, das bis
unter die Decke mit Schätzen gefüllt
war, Schätzen, die einem Adelshof zur
Ehre gereicht hätten. Es gab Kisten mit
goldenen und silbernen Schmuckstücken, reliefgeschmückte Tafeln unterschiedlicher Größe, Rüstungen fremdländischer Art, vieles mehr. Franziska
konnte unmöglich alles überblicken.
"Hast du das gestohlen?" fragte sie
fassungslos und bewundernd zugleich.
Stefanus lachte.
"Oh nein! Nicht ein Dutzend Räuber
von meiner Sorte könnten das je im
Leben zusammentragen. Das ist eine
Schatzkammer der Römer. Nicht weit
von hier entfernt befand sich ihr Tempelberg, dessentwegen noch heute die
Marienkirche im Kapitol genannt wird."
Das Mädchen wich entsetzt einen
Schritt zurück.
"Dann sind das Opfergaben für Heidengötter?"
"Ich weiß es nicht. Aber ich habe
auch keine Furcht davor. Jetzt gehört
die Schatzkammer mir. Warum soll ich
sie verschmähen, wo sich doch sogar
die ehrbaren Stiftsdamen nichts daraus
machen, dass ihre Kirche auf den
Grundmauern des Tempels steht?"
"Stefanus, ich möchte dich gern etwas fragen."
"So frag doch!"
"Du darfst es mir aber nicht verübeln
... Wie stehst du zu Gott? Ich sehe dich
niemals in eine Kirche gehen, es sei
denn, dass du daraus etwas stehlen
willst. Ob du wenigstens manchmal im
Stillen betest, weiß ich nicht. Ich dachte
einmal allen Ernstes, dass du dem Teufel verfallen bist."
Er wurde nicht wütend, wie sie befürchtet hatte, sondern setzte sich auf
den Rand einer Truhe, und es war, als
sei sein Blick in weite Ferne gerichtet.
"Wie ich zu Gott stehe ... Es ist dein
gutes Recht, mich danach zu fragen.
Manchmal wünsche ich mir, selbst eine
Antwort darauf zu wissen ... Ich bin mit
sieben Jahren in ein Kloster gegeben
worden. An meine Verwandten kann ich
mich kaum noch erinnern. Mein Vater
war ein ziemlich unbedeutender Graf in
Lothringen. Vielleicht ist er es immer
noch. Ich habe mich nie danach erkundigt."
Franziska setzte sich auf eine andere
Truhe ihm direkt gegenüber.
"Du wirst mir vielleicht gar nicht
glauben, dass ich ein wirklich vorbildlicher Mönch war. Ich wollte so sanft wie
Christus sein. Wenn Arbeit verteilt
wurde, meldete ich mich freiwillig für
die schwerste. Wenn mich jemand beschimpft hat, bin ich zu ihm besonders
freundlich gewesen. So ging das etliche
Jahre lang. Ich war der Stärkste und ließ
mich trotzdem von anderen Novizen
verprügeln, weil ich dachte, dass ich
mich nicht wehren darf. Glaube nur
nicht, dass es in einem Kloster immer
fromm und friedlich zugeht!"
Er schnaubte heftig, und ihn packte
noch immer die Wut, wenn er sich erinnerte, wie man ihn ausgenutzt hatte.
143
"Ich weiß nicht mehr genau, seit
wann ich an Gottes Gerechtigkeit zweifle. Vielleicht hat mich ein bestimmtes
Erlebnis, an das ich mich nicht mehr
erinnere, ganz plötzlich aufgeweckt,
vielleicht bin ich nach und nach schlauer geworden. Ich sagte mir jedenfalls,
dass der Herr doch die Raffgierigen und
Rücksichtslosen nicht so sehr bevorzugen würde, wenn er nichts für sie übrig
hätte. Wenn er tatsächlich die Bescheidenen und Sanftmütigen liebt, warum
lässt er sie nicht wenigstens in seiner
eignen Kirche zu Ruhm und Ehre kommen? Sieh dich doch um in der Welt!
Gibt es jemanden, der sich weniger an
das Evangelium hält als die Bischöfe
und Päpste?"
Franziska wollte eigentlich nur still
zuhören, doch diese Behauptung mochte sie denn doch nicht unwidersprochen
hinnehmen.
"Der heilige Martin hat als junger Offizier seinen Mantel entzwei geschnitten, um die Hälfte davon einem Bettler
zu geben, und ist später Bischof geworden. Die meisten Priester sind von Gott
erfüllt. Es mag sein, dass der Teufel
sich manchmal auch als Kirchenmann
ausgibt. Das lässt der Herr aber nur zu,
damit wir unsere Festigkeit im Glauben
beweisen können."
"Woher weiß du das alles so genau?"
"Daran muss man glauben!"
Stefanus lachte bitter.
"Man muss daran glauben, weil es die
allmächtige katholische Kirche so verlangt. Ich glaube aber nicht daran. Gott
hat die Menschen wie Wölfe geschaffen. Wenn du kein Wolf sein willst,
wirst du gefressen."
"Als Wolf lebst du vielleicht hier auf
Erden ein wenig besser als andere, dafür
aber kommst du nach dem Jüngsten Gericht in die Hölle."
"Die ehrenwerten Mönche meines
Klosters waren da ganz anderer Meinung. Sie dachten, dass sie mit Christus
genauso reden können wie mit dem Abt.
Wenn Christus Mensch war, ist er vielleicht auch für Schmeicheleien empfänglich. Jede Schandtat lässt sich beschönigen, wenn man die richtigen
Worte findet."
"Was bleibt noch an Hoffnung, wenn
man nicht einmal mehr an die Gerechtigkeit beim Jüngsten Gericht glaubt?"
rief Franziska verwirrt.
"Hoffnung? Alle geben sich mit der
Hoffnung zufrieden, zumindest alle die
keinen schönen Titel führen und nicht
reich sind. Dabei weiß jedes Kind, wie
trügerisch solche Hoffnungen sein können. Ich habe mir abgewöhnt, mich auf
etwas zu verlassen, von dem ich nicht
genau weiß, dass ich es wirklich bekomme."
Nach diesem Gespräch ließ Franziska
die ersten Monate an der Seite des Räubers noch einmal an sich vorüberziehen
und verstand vieles, was er gesagt und
getan hatte, plötzlich viel besser. Dennoch blieb ihr seine Einstellung zum
Leben und vor allem zu Gott unheimlich. Er war wohl nicht ganz im Unrecht
mit seiner Meinung über den Zustand
der Welt und gewiss nicht vom Teufel
besessen, sicherlich aber auch nicht
glücklich.
Ihre Dankbarkeit dafür, dass er ihr
das Leben gerettet hatte, war freilich
unabhängig von diesen Gedanken. Sie
fühlte sich ihm in besonderer Weise
verpflichtet. Das bedeutete nicht zuletzt,
dass sie ihm seine Launen nicht mehr
verübelte. Leicht fiel ihr das in den
nächsten Wochen nicht immer, denn je
mehr sie sich erholte, desto wortkarger
wurde er, und es hatte zuweilen den
Anschein, als bereute er sein freimütiges Bekenntnis. Sobald sie auf jenes
Gespräch zurückkam, gleich in welchem Zusammenhang, reagierte er gereizt.
Eines Tages geschah es, dass sie mit
ihm, trotz ihrer Vorsätze, hart aneinan-
144
der geriet. Sie sorgte sich um das
Schicksal ihrer Schwester Pentia und
ihrer Freundin Ramira, denn wenn die
Canes in der Stadt wieder ihr Unwesen
trieben, war es leicht möglich, dass sie
auch die Gaukler behelligten. Immerhin
hatte sie der Lagerplatz vor Sankt Kunibert vom ersten Tage an gestört. Von
Stefanus erfuhr sie zwar, dass ihnen
während des Besuchs Konrads von
Marburg nichts geschehen war, doch
beruhigte sie das nur zum Teil.
"Können wir den Gauklern nicht helfen?" fragte sie schließlich zaghaft. "Ich
meine: Im Labyrinth wären sie in Sicherheit, bis die Leute sich beruhigt
haben."
Er sah sie erstaunt, beinahe fassungslos an.
"Bist du närrisch? Dies hier ist allein
deshalb ein Versteck, weil außer mir
und dir niemand davon weißt. Ich warne
dich: Wenn du unser Geheimnis verrätst, erwürge ich dich."
"Willst du zulassen, dass meine
Schwester und meine beste Freundin
umgebracht werden?"
"Was gehen sie mich an? Die sind
beide alt genug, sich allein durchzuschlagen. Ihnen zu helfen, wäre nicht
nur gefährlich sondern auch sinnlos.
Wer für diese Welt taugt, braucht keine
Hilfe, wer nicht dafür taugt, geht früher
oder später so oder so zu Grunde. Mit
dir bin ich ein Bündnis eingegangen,
weil es nützlich ist - für dich und auch
für mich. Ich helfe nur Leuten, die mir
später nützlich sein können."
Das war wieder jener Stefanus, den
sie in Erinnerung hatte. Tief enttäuscht,
spürte sie den Hass und die Verachtung
von damals wieder in sich aufsteigen, so
sehr sie sich auch innerlich ermahnte,
ihn als Lebensretter zu sehen.
"Du sagst das nur so und meinst es
anders!" sagte sie mit Nachdruck, fast
beschwörend.
"Ich meine es, wie ich es sage", gab
er kalt zurück und ließ sich auf kein
weiteres Gespräch mehr ein.
In der darauf folgenden Nacht wälzte
sich Franziska von einer Seite auf die
andere und quälte sich mit dem Gedanken, ihn noch einmal der Gaukler wegen anzusprechen, doch fiel ihr, so sehr
sie auch grübelte, nichts ein, mit dem
sie hoffen konnte, ihn umzustimmen.
Sie kannte ihn. Hatte er sich einmal
festgelegt, wich er nicht mehr zurück.
Aus Furcht, dass der Alltag mit ihm
wieder hässlich werden würde, schlich
sie sich am nächsten Morgen heimlich
davon.
III
A
ls Franziska nach ihrer abermaligen Flucht am Leystapel stand
und auf den Rhein hinab blickte,
überkam sie ein jähes Glücksgefühl,
dessen Ursache sie sich zunächst nicht
erklären konnte, wusste sie doch nicht
einmal, wie sie sich das Essen für diesen Tag besorgen sollte. Vielleicht war
da in ihr schon der Keim des Entschlusses, den sie wenig später fassen würde.
Den Vormittag über irrte sie noch ziellos durch die Stadt, dann folgte sie ziel-
strebig dem Uferweg an den Häfen, bis
sie den Platz vor Sankt Kunibert erreichte, wo sie erleichtert ihre Schwester, ihre Freundin und die anderen
Gaukler unbeschadet antraf.
"Wo bist du gewesen?" fragte Ramira, nachdem sie sich ans Feuer gesetzt
hatte. "Wir haben uns Sorgen um dich
gemacht. Anfangs dachten wir, dass du
außerhalb Kölns auf Arbeitssuche bist.
Aber du hättest dich dann gewiss spä-
145
testens nach einer Woche bei uns gemeldet."
"Ich kann wirklich von Glück reden,
dass ich noch lebe", antwortete sie und
musste nun natürlich die ganze Geschichte erzählen.
"Und wie geht es euch?" fragte sie am
Ende.
"Wir haben uns zwei Monate lang
nicht mehr gesehen, und inzwischen ist
viel passiert, leider fast nur Schlechtes",
antwortete Ramira. "Wir gehen so bald
wie möglich fort von hier. Selbst Mario
sagt jetzt nichts mehr dagegen. Die Canes werden immer dreister. Sie haben
schon versucht, nachts unsere Wohnwagen in Brand zu stecken. Ich glaube
nicht, dass alle Menschen hier so bösartig sind. Die meisten aber sehen weg,
wenn wir angegriffen werden."
"Ja, auf die braven Bürger würde ich
mich an eurer Stelle auch nicht verlassen. Warum aber zögert ihr noch, wenn
ihr euch schon entschlossen habt?"
"Wegen dem kleinen David. Er hustet, und Melanie hat Angst, dass er auf
einer langen Wanderung stirbt."
"Lasst euch nur nicht zu viel Zeit!"
Dann wechselte Franziska unvermittelt
das Thema. "Du kennst dich doch gewiss schon gut aus in Niederich. Weißt
du zufällig, wo die Familie Cranboim
wohnt? Das muss eine sehr reiche Familie sein."
Ramira zuckte zusammen, aber nur
ein wenig, so dass ihre Freundin es
nicht bemerkte. Zuerst wollte sie die
Adresse für sich behalten, dann aber
überlegte sie es sich anders. Raimund
war nun einmal Franziskas Freund, vielleicht sogar ihr künftiger Mann. Ein
Gauklermädchen hatte nicht das Recht,
sich da einzumischen - abgesehen davon, dass die Ritterstochter pfiffig genug war, alles auch allein herauszufinden.
"Die Cranboims sind ein weit verzweigtes Geschlecht und besitzen meh-
rere Häuser. Du aber willst bestimmt
nur wissen, wo dein Raimund zu Hause
ist. Gehe immer geradeaus am Ufer entlang! Du kommst dann zur Straße des
heiligen Klemens. Dort suchst du ganz
einfach das Haus mit einer großen,
schwarzen Krähe am Giebel."
Es war nicht weit bis dorthin. Franziska stellte verblüfft fest, dass sie dem
Anwesen schon oft ziemlich nahe gewesen war. Die Straße Unter den Krähenbäumen mündete am Kunibertstift in
die Straße Unter den kalten Häusern.
Bis dorthin hatte Raimund sie bei den
Spaziergängen geführt, niemals weiter.
Die nächstfolgende Straße aber war
eben jene des heiligen Klemens.
Die dem Rhein zugewandte Frontseite des Hauses bot einen prächtigen Anblick. Über dem Erdgeschoß erhoben
sich zwei Stockwerke, und jede der drei
Fensterreihen hatte eine andere Form.
Beeindruckend waren vor allem die mit
Ornamenten verzierten Doppelbögen im
ersten Obergeschoß, wo das Mädchen
einen Festsaal vermutete. Da das Haus
annähernd dieselbe Breite und Länge
hatte, erinnerte es an die Wohntürme
mancher Herrensitze auf hohen Bergen.
Nur ein wie eine Nase nach hinten herausragendes
Nebengebäude
beeinträchtigte die geometrische Regelmäßigkeit. Franziska dachte bei sich,
dass man in einem solchen Haus nicht
schlechter Hof zu halten verstand als im
Schloss mancher Grafen. Das gab ihr
einerseits ein Gefühl des Vertrautseins,
stimmte sie aber auch beklommen, denn
sie fürchtete, man werde sie für eine
Vagabundin halten und einfach davonjagen. Die Magd, die ihr auf ihr Klopfen
hin öffnete, beäugte sie dann auch tatsächlich misstrauisch von oben bis unten.
"Was willst du? Almosen für die Armen gibt es in zwei Stunden hinten im
Hof."
146
"Ich bin keine Bettlerin sondern eine
gute Bekannte von Raimund."
Nun wurde die Magd erst recht misstrauisch und war wohl schon drauf und
dran, die Tür zuzuschlagen, als der
Hausherr hinzukam. Franziska schätzte
den äußerlich eher unbedeutend wirkenden, kleinen Mann Mitte vierzig
richtig ein, ohne ihn zu kennen. Sein
Auftreten verriet ihn als einen Menschen, der Erfolg hatte und zu bestimmen gewohnt war.
"Wer ist dieses junge Mädchen?"
fragte er beiläufig, während er nach
seinem Kutscher Ausschau hielt.
"Sie behauptet, Euren Sohn Raimund
zu kennen."
"Dann ruf ihn, damit er klärt, was es
damit auf sich hat! Ich werde frühestens
in drei Tagen zurück sein."
Franziska wurde ins Haus gebeten in einen schmalen Durchgang, der geradeaus zur Haupttreppe führte. Rechts
befand sich ein geräumiges Kontor mit
zwei Fenstern zum Fluss hin. Dort sollte
das Mädchen warten. Während sie sich
umschaute und erstmals überlegte, ob
sie sich hier wohl fühlen könnte, fiel ihr
vor allem die vornehme Ruhe auf. An
das Kontor grenzte die Schlaflaube der
Hausdiener. Dahinter lagen Wirtschaftsräume. Dem Geruch nach konnte auch
die Küche nicht fern sein. Dort wurde
gearbeitet, aber ohne Geschrei und Geklapper.
Raimund war, als er Franziska sah,
derart erschrocken, dass er vergaß, sie
zu begrüßen. Noch verlegener wurde er,
als dicht hinter ihm seine Mutter eintrat.
Anders als bei ihrem Mann ging von
ihrem Wesen nichts Herrisches aus. Sie
war eine hübsche, mädchenhaft zierliche Frau mit blonden, schulterlangen,
lockigen Haaren, der man ihre fast erwachsenen Söhne kaum zutraute. So
jugendlich erschien sie aber nicht nur
ihrer Figur wegen sondern mehr noch
auf Grund ihrer offenen, freundlichen
Art. Obgleich sie noch nicht wusste,
welcher Natur Raimunds Verhältnis zu
ihr war, gab sie Franziska lächelnd die
Hand und setzte sich zu ihr.
"Ich glaube, ich kenne dich noch
nicht."
Das Mädchen stellte sich vor, wobei
sie betonte, dass sie durch unglückliche
Umstände in die Rolle einer Herumtreiberin geraten war. Von ihrem Vater,
dem Ritter mit Ansprüchen auf den Grafentitel, erzählte sie freilich nichts, denn
sie fürchtete, danach nicht mehr ernst
genommen zu werden. Umso eifriger
berichtete sie von Raimunds Rettungstat
und von einigen Erlebnissen an seiner
Seite. Damit jedoch auch dabei kein falscher Eindruck entstehen konnte, versicherte sie am Ende:
"Es ist nichts Unkeusches zwischen
uns vorgefallen."
Kaum hatte sie das freilich ausgesprochen, zitterte sie, dass womöglich
ihr ungeschickter Annäherungsversuch
im Garten an der Weidengasse hier
schon bekannt sein könnte. Da Frau
Cranboim indes noch immer freundlich
lächelte, war das eher unwahrscheinlich.
"Wenn du möchtest, kannst du mit
uns essen. Außer meinem Mann sind
heute auch Jan und die beiden Mädchen
zu Mittag nicht im Hause, und da können wir einen Gast gut gebrauchen."
Franziska nahm die Einladung gerne
an. Gegessen wurde im ersten Obergeschoß. Der eigentliche Festsaal wurde in
der kalten Jahreszeit fast nie benutzt,
denn so hoch und ausgedehnt wie er
war, ließ er sich nur mit Unmengen von
Holz beheizen. Das Familienleben
spielte sich im danebenliegenden kleinen Saal ab. In die Diele davor mündete
die Treppe. Von dort aus gelangte man
auch zum Nebengebäude, wo sich (von
der darunter befindlichen Küche mäßig
gewärmt) die Schlafräume der Herrschaftsfamilie befanden - vorn das der
147
Eltern und Töchter, dahinter ein deutlich kleineres für die Söhne.
Beim Essen ging es hier sehr viel feierlicher zu als bei den Jevers. Die Tafel
war mit einem fleckenlos weißen Tuch
bedeckt, und an jedem Platz lagen ein
Messer und ein Löffel mit aus Geweih
geschnitztem Griff. Zum Trinken dienten Gläser mit einem Muster aus gekreuzten Rippen, Maigeleine genannt.
Gegessen wurde von runden Holzplatten, die zum Auffangen der Soßen mit
Brot belegt waren, wobei das Brot nicht
ganz bis zum Rand reichte, so dass das
eingebrannte Muster sichtbar blieb.
Vor Beginn der Mahlzeit standen alle
auf und die Hausfrau sprach (in Vertretung ihres Mannes) ein Dankgebet.
Dann reichte ein Diener eine Schüssel
und ein Gießgefäß mit Wasser herum,
damit sich jeder die Hände waschen
konnte. Das war durchaus angebracht,
denn vieles aß jeder unbefangen mit den
Fingern. Der Braten allerdings war vom
Koch geschnitten worden, so dass die
mundgerechten Stücke nur noch aufgespießt werden mussten.
Mehrere Gänge folgten aufeinander,
doch hätte es recht unschicklich gewirkt, sich übermäßig den Magen voll
zu schlagen. Die meisten Schüsseln
blieben halb voll und wurden von einem
Diener hinunter in den Hof getragen,
wo bereits ein Dutzend Bettler auf die
Almosen wartete. Diese Spenden waren
Pflichten der christlichen Nächstenliebe,
und keine auf ihr Ansehen bedachte
Familie durfte wagen, sich ihr zu entziehen.
Franziska fühlte sich an den Grafenhof von Wildeshausen zurückversetzt
und beachtete ganz unbewusst die einst
einstudierten, hier wieder gültigen Verhaltensregeln. Siglinde Cranboim fiel
das auf. Allerdings sagte sie nichts. Ihre
Ähnlichkeit mit Gundula Jever war nur
oberflächlich. Die Liebe zur Harmonie
vernebelte ihr nicht den Blick für die
Wirklichkeit. Sie hatte einen wachen
Verstand und kannte sich aus in der
Welt.
Außer Siglinde, Franziska, Raimund
und zwei Geschäftspartnern der Cranboims, die sich für ein paar Tage in der
Stadt aufhielten und im Hause wohnten,
saß noch ein alter, schon recht gebrechlicher Mann mit am Tisch - Johannes,
Raimunds Großvater väterlicherseits.
Seit er sich vor einigen Jahren aus dem
Geschäft zurückgezogen hatte, betrachtete er sein Lebenswerk als abgeschlossen. In die Angelegenheiten seiner beiden Söhne mischte er sich so gut wie
nie mehr ein und beriet sie allenfalls
dann, wenn sie das ausdrücklich wollten. Aber er war noch bei klarem Verstand und beobachtete als Zuschauer
aufmerksam alles, was um ihn herum
geschah.
Anfangs hatte der erstgeborene Sohn,
der im Stammhaus der Familie an den
Krähenbäumen wohnte, die besseren
Möglichkeiten besessen, seine Vorrangstellung aber schon bald eingebüßt.
Während dem älteren Zweig das Pech
anzuhaften schien, blühte der jüngere
sichtlich auf. Der alte Johannes freilich
glaubte nicht an Glück und Unglück im
Geschäft. Seiner Meinung nach bestand
Wolfhards Vorteil ganz einfach in seiner Frau.
Wolfhard hatte Siglinde als blutjunges, unerfahrenes Mädchen geheiratet
und in den folgenden Jahren oft allein
gelassen. Sie war nahe daran gewesen,
auf die Stufe einer verträumten, ungeschickten Hausangestellten herabzusinken. Da hatte der Schwiegervater begonnen, sie regelmäßig zu Vertragsabschlüssen mitzunehmen. Er zeigte und erklärte ihr die Urkunden, ermunterte sie gelegentlich, sich im Voraus eine eigene Meinung zu bilden.
Später ließ er sie mit kleinen Warenmengen und einem begrenzten Geldbudget selbständig Handel treiben.
148
Noch später übertrug er ihr einfache
Buchführungsaufgaben. Schließlich gab
er ihr das Wechselbuch, das wichtigste
von allen Büchern, in volle Verantwortung und kontrollierte immer seltener.
Im Unterschied zu seinem Bruder
konnte Wolfhard die Stadt getrost für
mehrere Wochen verlassen, ohne befürchten zu müssen, dass ihm ein gewinnbringendes Geschäft entging. Siglinde besaß inzwischen sämtliche Vollmachten, um Waren selbst in großen
Mengen zu kaufen oder zu verkaufen,
um Kredite aufzunehmen, Schulden
einzutreiben und sogar Prozesse anzustrengen. Sie hatte Johannes niemals
vergessen, was sie ihm verdankte, und
kümmerte sich, seit ihn die körperlichen
Kräfte allmählich verließen, in rührender Weise um ihn. Allerdings schlief er
nach wie vor im Stammhaus der Familie. Er war an seine Stube dort zu
sehr gewöhnt, um sich von ihr trennen
zu wollen.
Wenn sie nicht den Schwiegervater
bediente, unterhielt sich die junge Frau
mit Franziska. Beide fühlten vom ersten
Augenblick an eine gewisse Seelenverwandtschaft. Raimund jedoch verhielt
sich weiterhin sonderbar. An der Befürchtung, seine Familie würde eine
Verbindung zu diesem (für eine Ritterstochter recht abgerissen aussehenden) Mädchen empörend findet, konnte
das nun eigentlich nicht mehr liegen.
Franziska nahm sich vor, ihn später zu
fragen. Vorerst fand sie keine Gelegenheit dazu, denn sie wollte Siglinde
das Angebot, ihr das Haus zu zeigen,
auf keinen Fall abschlagen.
Das zweite Obergeschoß war schmaler als das erste, weil hier bereits das
Dach ansetzte. Neben mehreren Lagerräumen befand sich hier eine besondere
Stube für Jan, ein kleines Kontor im
Grunde, das den künftigen Hausherrn
bezeichnete.
"Das Haus ist fast hundert Jahre alt."
"Tatsächlich? Ich hätte es viel jünger
geschätzt."
"Wolfhards Großeltern haben nur das
Beste zum Bauen genommen: Stein statt
Fachwerk für die Wände, Schieferplatten statt Ziegel oder Stroh für das
Dach."
Den ganzen Nachmittag liefen sie
plaudernd so von einem Raum zum anderen und sahen sich auch die beiden
Höfe und den Garten an. Als sie
schließlich wieder im kleinen Saal anlangten, fragte Franziska:
"Warum habt Ihr so viel Vertrauen zu
mir?"
und Siglinde entgegnete, ohne zu zögern:
"Ich weiß zwar nicht, ob du zu unserem Raimund passt, aber dass du aus
guter Familie stammst und keine Diebin
bist, das sehe ich."
Dabei war sie sich ihrer Sache so sicher, dass sie ihr im Vorraum an der
vorläufig nicht benutzten Tür zum großen Saal einen Schlafplatz anbot.
"Ich kann dich doch jetzt nicht auf die
dunkle Straße hinausjagen!" meinte sie.
149
15.Kapitel
I
A
u! Du ziepst mich!" protestierte
die dreizehnjährige Katharina
und verzog das Gesicht.
"Ich sehe mich ja schon vor", beschwichtigte die Zofe, eine etwas beleibte Frau unbestimmbaren Alters. Sie
hatte die Langmut eines Engels, was für
ihre Arbeit bei den Cranboims auch
erforderlich war, denn die beiden Töchter des Hauses konnten sich an Eigensinn mit Fürstenkindern messen.
"Du willst doch die Hübscheste in der
Kirche sein, also musst du dich auch
kämmen lassen."
"Der neue Kamm taugt nichts. Wo ist
denn der andere geblieben, der mit den
Elfenbeinzinken?"
Ohne eine Antwort abzuwarten,
sprang sie plötzlich auf und kramte hektisch in einem Schrankfach.
"Ob die silberne Spange zu meinem
neuen Kleid passt? Ach nein! Die gefällt mir nicht mehr, seit Radegundis
eine ähnliche hat."
"Ich denke, das ist deine Freundin."
"Oh! Das war einmal. Sie ist eingebildet, weil ihre Eltern Patrizier sind.
Dabei haben sie Schulden. Vater sagte,
dass wir auch bald zu den Patriziern
gehören ... Ich muss heute unbedingt
noch lernen. Morgen kommt wieder
dieser neue Lehrer. Ich mag ihn nicht.
Er ist immer so streng."
"Sei nicht störrisch und denk daran,
was deine Mutter dir gesagt hat! Wenn
du schon jetzt schreiben, rechnen und
mit Büchern umgehen lernst, wird es dir
später in der Ehe leichter fallen, deinem
Mann eine Stütze zu sein."
"Ich weiß gar nicht so recht, ob ich
mich freuen soll, dass Vater nach einem
Mann für mich sucht. Natürlich will ich
keine alte Jungfer werden. Die Hoch-
zeitsfeier wird bestimmt großartig sein.
Es müssen mindestens siebzig Gäste
kommen. Bei den Overstolzens waren
es damals über hundert. Aber so einen
hässlichen Kerl wie den Leopold von
nebenan will ich auf gar keinen Fall.
Lieber gehe ich ins Wasser."
"Katharina! So etwas darfst du nicht
einmal denken."
"Na ja, vielleicht gehe ich nicht ins
Wasser. Aber ich wäre dann sehr unglücklich, und das wird Vater ja wohl
nicht wollen."
Während sie so plapperte, blieb sie
wenigstens eine kurze Zeit lang ruhig
sitzen, was der Zofe Gelegenheit gab,
das prächtige, rotblonde, bis zur Hüfte
hinabreichende Haar in eine ansprechende Frisur zu legen. Kaum war das
geschafft, kam die elfjährige Dorothea
herein, woraufhin Katharina augenblicklich wieder aufsprang.
"Willst du etwa so in die Kirche gehen?" entrüstete sie sich. "Das Tuch
passt überhaupt nicht zu dem Umhang."
"Ich ziehe an, was mir gefällt!" schrie
die Kleine und ballte die Fäuste, wild
entschlossen, ihr grün-gelb gemustertes
Lieblingstuch unter allen Umständen zu
verteidigen. Wer die beiden nur oberflächlich kannte, kam leicht zu der Ansicht, sie wären wie Hund und Katze.
Die selbst für ihr Alter auffällig kleine,
zerbrechlich schlanke und zierliche
Dorothea fühlte sich von so ziemlich
jedem unterdrückt und benachteiligt,
besonders aber von ihrer Schwester.
Entsprechend gereizt reagierte sie beim
geringsten Anlass. Versuchte gar jemand, ihr mit Gewalt etwas wegzunehmen, kam es vor, dass sie wie ein wildes
Tier kratzte und biss. Katharina ließ es
aus Angst um ihr Gesicht darauf zu-
meist nicht ankommen. Im übrigen war
sie selbst eher klein und zierlich und
wirkte erst durch ihre Erwachsenenkleider, nach denen sie leidenschaftlich
verlangte, wie eine kleine Dame.
"Sag du ihr, dass das hässlich aussieht!" versuchte sie, die Zofe als Verbündete zu gewinnen.
"Lass ihr doch ihren Willen! Wir haben nicht mehr viel Zeit."
Maulend kehrte das Mädchen auf den
Stuhl zurück und ließ sich die Kette um
den Hals legen. Über die Schulter hinweg unterhielt sie sich unterdessen mit
ihrer Schwester, die sich, seit sie keine
Gefahr für ihr Tuch mehr witterte,
schnell beruhigt hatte.
"Was hältst du denn von dieser Franziska?"
"Ich find sie nett."
"Na ja, ich weiß nicht, ob sie wirklich
die Tochter eines Ritters ist. Vater
glaubt das auch nicht."
"Es ist mir egal, was ihr glaubt. Sie
kann so schön Geschichten erzählen."
"Reg dich doch nicht gleich wieder
auf! Du kannst dir ja weiter was von ihr
erzählen lassen. Außerdem wäre
Raimund schön dumm, wenn er sie
nicht will. Für den findet Vater ja gar
keine andere, so wie er sich anstellt!"
Wolfhard Cranboim und sein Sohn
Jan waren schon fertig angezogen und
schlenderten hinter dem Haus über die
beiden Höfe, vorbei an den Hütten der
Dienstleute, den Werkstätten, den Ställen und der großen Scheune. Die Anlage des Anwesens war unverkennbar den
Schlössern des Landadels nachempfunden. Das dafür notwendige große
Grundstück hatte Wolfhards Großvater
lange vor der Stadterweiterung von
1180 im damals noch außerhalb der
Befestigungsanlagen liegenden Land für
wenig Geld erworben. Wie durch ein
Wunder war es in mehreren Kriegen
und Revolten unbeschädigt geblieben
und allmählich immer mehr gewachsen.
Ein Gebäude, worin man Wasser zum
Baden anwärmen konnte, gehörte zu
den jüngsten Erweiterungen. Den familieneigenen Brunnen gab es seit dreißig
Jahren.
"Ich habe gestern mit einem Berater
des Erzbischofs gesprochen. Seiner
Meinung nach wird bald wieder Ruhe in
Köln einziehen. So sehr ich Veränderungen fordere - dieses tobsüchtige Gesindel richtet nur Schaden an. Einige
Kaufleute trauen sich nicht mehr in die
Stadt."
Der siebzehnjährige Jan nickte, nicht
nur aus Ehrfurcht sondern aus (auf
Kenntnis der Lage beruhender) Überzeugung. Er war nicht groß (ein Merkmal, das allen Familienmitgliedern
mehr oder minder ausgeprägt anhaftete), hatte zarte, helle Haut (durch die
stellenweise die Adern schimmerten)
und blondes, gepflegtes Haar, das ihm
bis auf die Schultern reichte. Man
mochte kaum glauben, dass ihm das
energische Wesen und der Ehrgeiz des
Vaters im Blute lag und dass er sogar
hart zupacken konnte, wenn es nötig
war. Wolfhard Cranboim schätzte ihn
beinahe schon wie einen Teilhaber,
übertrug ihm wichtige Aufträge, bei
denen er eigene Entscheidungen treffen
musste, und hörte sich interessiert seine
Meinung an. So war es auch diesmal,
als Jan zu bedenken gab:
"... vorausgesetzt, der Erzbischof hat
über die Dominikaner hier noch genügend Macht. Diesen Maginulfus halte
ich für einen Eiferer, der sich nicht
leicht beiseite schieben lässt."
"Es gibt nichts Schlimmeres, als
wenn ein Schwachsinniger, der eigentlich ins Hospital gehört, plötzlich zu
Einfluss kommt. Aber selbst seine
Macht ist begrenzt. Wenn er sich nicht
in die Erfordernisse schickt, wird er es
eines Tages dahin bringen, dass selbst
sein eigener Orden ihn loswerden will.
Der Besuch seines genauso schwach-
151
sinnigen Bruders Konrad hat sein Possenspiel nur ein wenig verlängert. Ein
halbes Jahr gebe ich ihm noch."
"Was ist aus dem Bauholzgeschäft
geworden?" wechselte Jan das Thema.
"Die Verträge sind unterschrieben.
Der Rat muss aber noch eine Beschwerde verhandeln."
"Was für eine Beschwerde?"
"Wenn sich das Geschäft entwickelt,
wie wir hoffen, können wir die Preise
höher treiben. Das empfinden drei Familien (die Namen kann ich mir wohl
sparen) als Verletzung der Gleichheit."
"Ich verstehe. Haben wir Aussicht auf
Erfolg?"
"Beim Rat natürlich nicht. Ich werde
aber meine Verbindungen zum Domkapitel ausnutzen. Noch ist der Erzbischof
Stadtherr."
Sieglinde Cranboim und Franziska
flüchteten vor dem durch die Mädchen
verursachten Aufbruchsdurcheinander
in Jans Zimmer im zweiten Obergeschoß. Sie halfen sich gegenseitig beim
Ankleiden und kamen rasch voran. Im
Stockwerk unter ihnen wurde geschrieen und gezetert. Türen schlugen, und
Truhendeckel fielen polternd ins
Schloss. Doch das ging sie alles nichts
an.
"Das erinnert mich an die Steilküste
bei Sturm. Unten schäumt das Wasser,
und man steht oben und ist in Sicherheit."
"Du sehnst dich noch sehr nach deiner Heimat?"
"Nur manchmal. Ich möchte wieder
zu einer Familie gehören, egal ob hier in
Köln oder im Norden."
"Würde dich dein Vater wieder bei
sich aufnehmen?"
"Er würde sich freuen, mich wieder
zu sehen. Aber ich habe noch immer
Angst. Ich bin ja nicht vor meinem Vater geflohen sondern vor Burchard von
Wildeshausen."
"Wer ist das?"
Sie erzählte es ihr.
"Und dein Vater ist Ritter bei diesem
Burchard?"
"Ja, leider. Dabei leben die Westerholts schon viel länger in dieser Gegend
als alle Oldenburger Grafen. Die kamen
erst vor knapp einhundertfünfzig Jahren
aus dem Lüneburger Land dorthin und
waren danach erst einmal nur Vizegrafen bei den sächsischen Billungern. Wir
besitzen Urkunden, die beweisen, dass
wir freie Herren auf unserem Grund und
Boden sind und niemandem zu dienen
brauchen."
Sieglinde Cranboim musste lächeln,
wie sich Franziska über das ihrer Familie zugefügte Unrecht ereiferte.
"Es wird sich eines Tages schon ein
Weg finden, eure Ansprüche durchzusetzen."
"Ja, vielleicht ... Wo steckt eigentlich
Raimund?"
"Er ist schon auf dem Weg. Ich würde gern wissen, was in ihm vorgeht. Seit
ein paar Wochen verhält er sich eigenartig - kommt spät nach Hause, ohne zu
sagen, wo er war, hat Geheimnisse vor
uns, ist ohne ersichtlichen Grund mal
fröhlich und ausgelassen, mal völlig
niedergeschlagen. Warum vertraut er
sich nicht jemandem an?"
"Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht
mag er mich nicht und denkt, dass ich
mich ihm aufdrängen will."
"Nein, das glaube ich nicht. Etwas
anderes bedrückt ihn."
152
II
D
as Kunibertstift stand auf traditionsreichem Grund, denn schon
zur Zeit der ersten Frankenkönige gab es an dieser Stelle eine dem
heiligen Klemens geweihte Kapelle.
Bischof Kunibert ersetzte sie durch eine
größere Kirche, die bald durch die von
Pippin dem Älteren gestifteten Reliquien der heiligen Ewaldi eine besondere Bedeutung erhielt. Die Chorherren
zogen gegen Ende des achten Jahrhunderts ein. Sie gaben der Kirche nicht nur
ihren Namen, sondern mehrten auch
ihren Besitz in einer (selbst für Kölner
Verhältnisse) erstaunlichen Weise. Der
Reichtum veranlasste sie schließlich,
den ihrer Meinung nach zu unscheinbaren Bau bis auf die Grundmauern abzureißen und zu ersetzen.
Seit vierzehn Jahren war das Gelände
nun schon geprägt von Steinmetzen und
Maurern. Auf der Rheinseite fiel das
nicht auf, denn der Chor mit seinen
mächtigen Flankierungstürmen stand
bereits. Langhaus und Westbau jedoch
waren erst bis zur Hälfte gediehen. Mit
dem Westbau hatte es insofern eine besondere Bewandtnis, als er den vornehmen Bürgern des Stadtteils Niederich
als Pfarrkirche dienen sollte. Um den
Gottesdienst schon vor der Fertigstellung zu ermöglichen, hatte man ein provisorisches Dach gespannt. So gewann
man im Innern (zumal angesichts der
reichen Innenausstattung) durchaus den
Eindruck, es sei nur noch wenig zu tun.
Übrigens hatten die Chorherren die
Baupläne nicht nach dem neuen französischen Stil, sondern nach den alten
Formen entwerfen lassen - was ihrer
Einstellung zur Welt entsprach.
Als die Cranboims in die Kirche einzogen, wurden bereits die ersten Gesänge angestimmt. Dennoch blieben sie
nicht unbeachtet. Die Leute drehten sich
um und tuschelten miteinander. Katha-
rina und Dorothea sonnten sich in den
bewundernden Blicken, die sie auf sich
zogen. Franziska suchte unterdessen
nach Raimund und fand ihn schließlich
mitten im Gedränge vorn kurz vor den
Altarstufen.
"Bist du schon lange hier?" fragte sie,
weil ihr nichts Besseres einfiel.
"Nein."
"Deine Schwestern haben getrödelt,
bis es zu spät war."
"Sie haben es ja auch wirklich
schwer, die Ärmsten! So viele Kleider,
Umhänge, Tücher, Spangen, Diademe
und was weiß ich noch alles zur Auswahl!"
Während er das sagte, verzog er keine
Miene. Er neigte von jeher zur Ironie.
Seit einigen Tagen allerdings arteten
seine Bemerkungen zumeist in bissigen
Zynismus aus, so dass niemand recht
wusste, ob er darüber noch lachen sollte. Franziska zog es vor, ihm seine Ruhe
zu lassen, wie er es offenbar wollte,
blieb aber in seiner Nähe stehen und
lenkte sich ab, indem sie sich in der
Kirche umsah.
Ganz vorn wie ein Türhüter stand
überlebensgroß der heilige Martin von
Tours, in der Hand ein eisernes
Schwert, im Begriff, damit seinen Mantel zu zerteilen. Rechts schauten die vier
Evangelisten väterlich-gütig von ihren
Sockeln aus auf die Gemeinde herab.
Nicht weit von ihnen gab es noch ein
paar Nischen, die das Mädchen aber
nicht gut einsehen konnte, so dass sie
die Heiligen darin nicht erkannte. Umso
prächtiger hoben sich die Stadtheiligen
Ursula, Gereon und Gregor Maurus ab.
Deren üppigen Goldschmuck hatten
sich die Niedericher einiges kosten lassen. Nahe am Altar war eine ganze Galerie kleiner Bischofsskulpturen aufgereiht. Franziska vermutete, dass sie die
153
verdienstvollsten Stadtherren Kölns
darstellten.
Auch Katharina interessierte sich
nicht sonderlich für die Gebete, die der
Priester mit melodischer Stimme der
Gemeinde vorsang. Unterdrückt kichernd stieß sie ihrer Schwester in die
Seite und wies sie auf einen jungen
Mann hin, der sich nun schon zum dritten Mal nach ihr umgedreht hatte.
"Kennst du den?"
"Nein, den sehe ich heute auch zum
ersten Mal."
"Entweder er ist Gast in Köln oder er
kommt aus einem anderen Viertel.
Weißt du übrigens schon, dass wir zu
einem Ball der Hirzelins eingeladen
sind? Ich finde das furchtbar aufregend.
Vater hat bestimmte Pläne mit mir, will
aber noch nicht darüber reden."
Dorothea hörte halb bewundernd,
halb neidisch zu und verkündete, nur
um etwas dagegenzuhalten:
"Vaters Geschäftsfreund aus Hamburg hat mir eine Bernsteinkette geschenkt. Die ist viel schöner als alle
deine Ketten."
"Bernstein leuchtet gar nicht richtig
und außerdem ..."
Während die beiden Mädchen wieder
einmal in Streit gerieten, wurden sie
immer lauter, bis ihre Mutter sie zur
Ordnung rief. Katharina schwieg nun
zwar, doch man sah ihr dennoch an,
dass sie voller Unruhe steckte und un-
geduldig auf den Segen wartete. Sie war
immer geschäftig, ganz gleich ob sie
wirklich etwas Sinnvolles zu erledigen
hatte oder nicht.
"Einerseits wirft sie den jungen Männern Blicke zu und andererseits ist sie
noch ein rechtes Kind", flüsterte Sieglinde Cranboim ihrem Mann ins Ohr.
"Ich will sie ja auch so bald noch
nicht verheiraten, sondern vorläufig nur
ein wenig vorfühlen. Es wäre natürlich
sehr schön, wenn wir uns über sie mit
einer alten Geschlechterfamilie wie den
Hirzelins verbinden könnten. Das kann
den Weg in den Rat ebnen."
"Wenn unser Raimund mit der Tochter eines Ritters ..."
"Du bist wirklich hartnäckig!"
"Du glaubst nicht, was Franziska erzählt."
"Wenn ich jedem glauben würde, was
er erzählt, wäre ich ein sehr schlechter
Kaufmann."
"Hast du sie denn noch nie beobachtet?"
"Ich werde das alles nachprüfen lassen. Einverstanden?"
"Aber lass dir nicht gar zu viel Zeit
damit! Raimund bereitet mir Sorgen.
Ich weiß nicht so recht warum, aber ...
Er träumt zuviel und sondert sich ab.
Mit einer tüchtigen Frau an der Seite ..."
"Wenn du dich immer um ihn sorgst,
wird er noch weichlicher, als er ohnehin
schon ist."
III
F
ranziska hatte sich, Kopfweh
vorschützend, in ihr neues Zimmer zurückgezogen. Eigentlich
war sie entschlossen gewesen, das offenbar Unvermeidliche gefasst und
würdevoll über sich ergehen zu lassen.
Sie hatte sogar ein gewisses Maß an
Verständnis dafür aufgebracht. Jetzt
aber konnte sie sich dennoch nicht dazu
überwinden, sich dort unten im kleinen
Saal mit an den Tisch zu setzen. Zu sehr
hätte sie sich der Demütigung wegen
geschämt.
Bisher war ihr nie bewusst geworden,
dass sie wie eine Almosenempfängerin
ohne nennenswerte Gegenleistung Essen, Trinken und nicht zuletzt ein
Nachtlager bekam. Die vornehme Höf-
154
lichkeit, mit der ihr jeder im Hause gegenübertrat, die Dienstleute eingeschlossen, hatte diesen Eindruck bisher
verhindert. Wie selbstverständlich war
für sie ein Lagerraum im zweiten Obergeschoß geräumt und zu einem Gästezimmer umgebaut wurden - wenn auch
ein wenig hastig und behelfsmäßig.
Sieglinde Cranboim kümmerte sich
höchstselbst darum, dass es ihr an nichts
mangelte. Doch spätestens seit diesem
Tag musste sie (die durch ihre Erfahrungen mit vornehmen Familien zwischen formaler Höflichkeit und ehrlichem Wohlwollen durchaus unterscheiden konnte) endlich der Tatsache ins
Auge blicken, dass ein Wolfhard Cranboim sie nur als ebenbürtig anerkennen
würde, wenn er einen Beweis für ihre
Herkunft fände. Von seinem letzten
Urteil hing nicht nur ihr Gastrecht auf
lange Sicht, sondern auch ihr Verhältnis
zu Raimund ab. Als Tochter eines Ritters mit Ansprüchen auf den Grafentitel
(und seien diese auf noch so viel juristischer Spitzfindigkeit aufgebaut) war sie
eine würdige Schwiegertochter, als einfaches Mädchen mit Klugheit und guten
Manieren nur ein bedauernswertes Geschöpf.
Alles würde sich entscheiden durch
die Aussage eines ziemlich unbedeutenden Mannes, eines Kaufmanns von der
Art, wie es hunderte gab, der sich durch
nichts abhob außer durch seine Herkunft aus Bremen. Obwohl sie ahnte,
dass Wolfhard Cranboim zu viel Fingerspitzengefühl besaß, um plump seine
Absichten offen zu legen, dass er seinen
Gast vielmehr in Gespräche über unverfängliche Themen verwickelte, um nebenher zu erfahren, was er wissen wollte, erschien es ihr, als ob man dort unten
ausnahmslos über sie spräche, sie mit
Worten entkleidete, sie wie eine zum
Kauf stehende Leibeigene abschätzte.
Sie blieb bis zum Abend mit sich allein
und hätte sich vielleicht noch länger
vergraben, wenn nicht plötzlich zaghaft
an ihr Tür geklopft worden wäre.
"Ja! Wer ist dort?"
"Katharina. Ich will nur fragen, ob es
Euch immer noch schlecht geht."
Franziska bat das Mädchen herein.
War ihr schon die Höflichkeitsanrede
merkwürdig erschienen, so wunderte sie
sich nun erst recht. Die ältere der Cranboimtöchter bemühte sich ganz offensichtlich um ihre Freundschaft, und
zwar mit einem Respekt, den sie ihr gar
nicht zugetraut hätte. Sie dachte bei
sich: 'Schau an, jetzt kannst du plötzlich
nett sein! Glaube aber nicht, dass ich
darauf hereinfalle!' während sie das Lächeln erwiderte und sich auf eine Plauderei über die Gepflogenheiten an den
norddeutschen Grafenhöfen einließ.
An diesem Abend und auch noch an
den folgenden Tagen träumte sie von
einer völlig neuen Stellung in der Familie. Bei den Cranboims spielte die Standesherkunft eine große Rolle. Auch
Feinheiten wurden genau beachtet, zum
Beispiel, ob jemand, der in militärischen Diensten eines Fürsten stand,
einer Handwerkerfamilie entstammte
und sich hochzuarbeiten versuchte oder
aber der Sohn eines Adligen oder eines
Patriziers war. Im ersten Fall galt er nur
als Ministeriale, was sehr an Diener
erinnerte, im zweiten als Vasall. Bei
Franziskas Vater gab es am Vasallenstand keinen Zweifel, und so fühlte sie
sich Wolfhard Cranboim gegenüber
ziemlich stark.
Schon bald aber wurde sie in die
Wirklichkeit zurückgeholt. Der Verhandlungspartner für einen möglichen
Ehevertrag war nicht das Mädchen sondern der Vater Wilhelm von Westerholt.
Er musste zur Einwilligung in ein von
ihm zweifellos nicht gewolltes Geschäft
gebracht werden. Dafür hatte der Kaufmann mehrere, auf lange Sicht berechnete, der Situation entsprechend austauschbare Pläne entworfen. In ihrem
155
Kern beruhten sie alle auf dem Vorteil,
dass die Ritterstochter praktisch in der
Gewalt der Cranboims war, ohne dass
die Eltern davon wussten.
Allerdings erlebte Franziska eine Gefangenschaft angenehmer Art. Wolfhard
sperrte sie nicht ein, denn er kannte bessere Mittel, sie an sich zu binden. Vor
allem ihren Wissensdurst und ihre
Sehnsucht nach sinnvoller Beschäftigung nutzte er aus. Nachdem er sich
von ihrer Vorbildung überzeugt hatte,
gab er ihr Aufgaben, von denen sie sich
herausgefordert fühlte, und auf die sie
sich dann mit unbändigem Ehrgeiz
stürzte.
Sie arbeitete nun häufig mit Jan zusammen. Mit seinem blonden, seidigen
Haar sah er Raimund auf den ersten
Blick sehr ähnlich, doch besaß er eine
ganz andere Ausstrahlung. Vielleicht
lag das an den Augen, die bei ihm niemals lächelten, sondern fast immer forschend und durchdringend blickten. Zudem fehlten ihm die unterdrückten Leidenschaften seines Bruders. Sein Charakter war berechnend und kühl. Anfangs fiel es Franziska schwer, sich mit
seiner Wesensart abzufinden. Sie
schätzte ihn hochmütig, voreingenommen und mitleidlos ein. Während er sie
dann aber in ihre Arbeit einwies, verdrängte sie ihre Verdächtigungen. Bei
manchen Aufgaben gab ihr sein überlegenes Auftreten Sicherheit.
Durch die ständige Beschäftigung
merkte Franziska kaum, wie die Monate
vergingen und ein neues Frühjahr ins
Land kam. Wenn Jan unterwegs war
(was häufig geschah), saß sie in seinem
kleinen Kontor im zweiten Obergeschoß
und kam sich großartig vor angesichts
des mit Rechnungen und Verträgen bedeckten Tisches. Tauchte er auf, musste
sie den Platz selbstverständlich sofort
wieder räumen. Sie hatte nach wie vor
großen Respekt vor ihm. Wenn er sie
dabei beobachtete, wie sie hastig jedes
Ding an seinen Platz rückte, huschte
manchmal ein kurzes Lächeln über sein
Gesicht, was bei ihm schon als echte
Gefühlsregung gelten konnte. Das war
ein Zeichen guter Laune.
"Wir hatten diesmal viel Glück", verkündete er einmal aufgeräumt.
"Ist das nicht immer so, wenn du mit
deinem Vater unterwegs bist?"
"Da täuschst du dich. Einen guten
Kaufmann reizt es vor allem, aus ungünstigen Bedingungen noch etwas Gutes herauszuholen. Darin sind wir Cranboims seit drei Generationen den meisten anderen überlegen. Wenn alles gelingt wie gestern und heute, dann ist das
erfreulich, angenehm und - langweilig."
Franziska hätte gern noch mehr über
die Reise erfahren, doch eine Frage von
ihm brachte sie auf völlig andere Gedanken.
"Hast du meinen Bruder gesehen?"
"Ist er nicht im Haus?"
"Nein. Es geht mich zwar nichts an,
doch würde ich trotzdem gern wissen,
was er heimlich treibt. Ich dachte, dass
er dir vielleicht mehr verrät als mir."
"Nein, er weicht auch mir aus."
"Was ist er bloß für ein merkwürdiger
Mensch! Jedenfalls kein echter Cranboim."
Er legte seinen Mantel mit geübter
Sorgfalt auf eine Truhe und entledigte
sich seiner Stiefel. Dann trat er ans
Fenster und blickte hinaus, während
seine Gedanken abschweiften zu den
Geschäften, die er am nächsten Tag zu
erledigen hatte. Franziska wollte ihn
nicht stören und widmete sich wieder
ihrer unterbrochenen Arbeit. Wenig
später aber rief er:
"Dort kommt er ja!"
"Wer? Raimund?"
Aufgeregt eilte sie die Treppe hinunter und schaffte es, ihn schon auf dem
Gang vor dem Hauptkontor abzufangen.
An den vergangenen drei Tagen hatten
beide miteinander geschmollt. Franziska
156
war verärgert gewesen, weil er sie niemals im zweiten Obergeschoß besuchte.
Ein Wort hatte das andere ergeben, und
am Ende war sie zu dem Entschluss gelangt, mindestens eine Woche nicht mit
ihm zu reden, damit er nicht denken
könnte, sie liefe ihm nach. Doch schon
jetzt vermochte sie ihren Vorsatz nicht
mehr durchzuhalten. Obwohl ihr der
Verstand sagte, dass sie sich etwas
vergibt, wenn sie nicht zu warten verstünde, tat ihr Körper etwas ganz anderes.
"Schön dass du wieder da bist. Wo
warst du? Hattest du etwas für deinen
Vater zu erledigen?"
Er wurde verlegen, allerdings nur für
einen Moment. Dann umarmte er sie
unvermittelt und sagte an Stelle einer
Antwort:
"Wollen wir am Sonntag wieder spazieren gehen? Wir könnten uns ansehen,
wie weit die Arbeiter mit der Stadtmauer an der Weidengasse vorangekommen sind."
"Oh, ja!"
"Du bist nicht mehr böse mit mir?"
Sie schüttelte den Kopf und vergaß
völlig, dass sie an die Aussöhnung hatte
Bedingungen knüpfen wollen.
157
16.Kapitel
I
R
aimund kam am frühen Nachmittag eines sonnigen Maitages
ins Gauklerlager, das noch immer vor der Kunibertskirche stand, weil
die Canes ruhiger geworden waren und
somit (dem Anschein nach) keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, und weil
der kleine David kränkelte und sich
schlechter als andere Kinder entwickelte. Als Ramira ihn sah, ließ sie alles
stehen und liegen, rannte ihm entgegen
und fiel ihm um den Hals. Sie klammerte sich regelrecht an ihm fest, während
ihre Lippen seinen Mund suchten. Seit
sie sich in ihn verliebt hatte, lebte sie in
der ständigen Angst, dass es ein nächstes Treffen nicht geben würde. Die Romanze zwischen einem Kaufherrensohn
und einem Gauklermädchen musste
eines Tages zu Ende gehen. Noch besuchte er sie allerdings regelmäßig. Sie
kämmte sich ihm zuliebe ihre Haare
nicht mehr nur für die Auftritte und
wusch ihr Alltagskleid regelmäßig. Mario und Melanie witzelten schon darüber.
"Du bist wunderschön und wirst immer hübscher", sagte er, während er ihre
Umarmung erwiderte und seine Hände
in ihren Locken vergrub. "Wenn ich ins
Geschäft meines Vaters einsteige und
eigenes Geld habe, lasse ich dich malen,
vielleicht als heilige Agnes."
Endlich hatte es sich wieder einmal
so ergeben, dass Ramira allein im Lager
war.
"Kommst du mit in meine Wohnung?" lockte sie ihn.
Er nickte, und sie zog ihn an der
Hand hinter sich her. Im Wagen setzten
sich beide auf das Bett. Er nahm ihren
Kopf in beide Hände und gab ihr einen
Kuss auf die Stirn. Seine Finger tasteten
sich durch ihre rotblonde Haarflut,
kraulten ihren Hals, spielten mit ihren
Ohren. Dann umschlang er sie, um sie
an sich zu drücken, zuerst unter den
Armen, wenig später um die Taille. Ihr
biegsamer Körper folgte ohne Widerstand jeder seiner Bewegungen. Er
streichelte ihr behutsam über Wangen
und Kinn, und sie tat nichts weiter, als
mit geschlossenen Augen zu genießen.
Irgendwie fanden sich ihre Lippen.
Ramira öffnete ein wenig den Mund.
Raimund kitzelte mit seiner Zungenspitze spielerisch ihren Gaumen. Das
hatte sie ihm erst vor kurzem beigebracht, und er fühlte sich, wenn er es
tat, noch immer etwas sonderbar. Er
spürte nämlich, dass seine Freundin bei
dieser Liebkosung unruhig wurde, sich
ungestüm an ihn heran drängte, mit heftig schlagendem Herzen. Meistens beruhigte sie sich bald wieder. Diesmal
allerdings löste sie sich mitten in der
größten Erregung plötzlich von ihm.
"Was ist?" fragte er, besorgt, einen
Fehler begangen zu habe.
Statt einer Antwort, zog sie die Bronzefibel am Halsansatz ihres Kleides
heraus und entknotete den Strick, der
ihr den Gürtel ersetzte. Obwohl sie dergleichen schon oft getan hatte (unfreiwillig zumeist, aber auch einige Male
aus Liebe), war sie unsicher dabei.
Einmal hielt sie inne und sah ihn fragend an. Tatsächlich brachten ihn innere
Kämpfe beinahe ganz aus der Fassung.
"Du weiß doch, dass ... dass ich das
nicht tun darf!"
"Weshalb?" flüsterte sie. "Weil deine
Eltern dich mit Franziska verheiraten
wollen?"
Eine Stimme in ihr rief ihr zu, wie
hinterhältig es ist, der Freundin den
Verlobten wegzunehmen. Zu einem
anderen Zeitpunkt hätte sie auf diese
Stimme wohl gehört. Diesmal jedoch
hallte sie nur undeutlich wie aus großer
Ferne herüber.
"Ich meine etwas anderes ..."
Ramira schreckte auf aus ihren Gedanken und begriff. Erleichtert versicherte sie ihm:
"Heute kann nichts passieren. Nicht
wahr: Wenn nichts passieren kann, ist's
keine Sünde."
Einen letzten zaghaften Protest von
ihm erstickte sie mit einem neuen Kuss.
Während ihr das durch nichts mehr zusammengehaltene Kleid von den Schultern glitt, war es sein Herz, das so heftig
schlug, als wolle es zerspringen. Seine
Hände glitten über ihren entblößten
Oberkörper und suchten unwillkürlich
nach den Brüsten. Dabei war er überzeugt, noch nie im Leben Kostbareres
berührt zu haben. Für einen flüchtigen
Moment erinnerte er sich, wie ihm (in
seiner frühen Kindheit) sein Vater einmal zum Spaß einen ziemlich großen
Diamanten in die kleine Hand gelegt
hatte. Weil der Diamant kalt war wie
ein Stück Eis ließ er ihn fallen und lief
davon.
Ramira drückte sanft seinen Kopf gegen ihren Busen und vergrub ihr Gesicht in seinen seidigen, blonden Haaren. In dieser Stellung verharrten beide
eine Zeitlang. Sie war noch immer voller Angst vor einem alles verderbenden
Fehler. Sich Männer zum Halse zu halten, das hatte sie gelernt, sie für sich zu
gewinnen, hingegen nicht. Arnold war
durch Zufall in ihr Leben getreten, ohne
ihr Hinzutun.
Endlich überwand sie sich, stellte sich
vor ihn hin und streifte sich das Kleid
ganz ab. Sie war nun vollkommen
nackt. Eine Lichtbahn zielte vom Seitenfenster her genau auf sie. Nur mit
Mühe widerstand sie dem Drang, sich
mit Händen und Armen vor Raimunds
Blicken zu schützen. Der indes begriff,
in welcher Lage sie sich befand, und
befreite sie rasch daraus, indem er sie
auf den Schoß nahm und wieder an sich
drückte. Dann zog auch er sich aus, und
sie legten sich (nun endgültig beruhigt)
nebeneinander auf das Bett unter dem
Vogelbauer.
"Weißt du, dass ich noch nie im Leben ein Mädchen nackt gesehen habe,
jedenfalls noch nie bewusst?" gestand er
ihr. "Du bist mir doch nicht böse, dass
ich so neugierig bin auf alles an dir?"
"Hoffentlich bist du am Ende nicht
enttäuscht."
"Dass du das hübscheste Mädchen
der Welt bist, weiß ich schon am Anfang."
Er beugte sich über sie und begab
sich auf Entdeckungsreise. Noch die
geringste Kleinigkeit erschien ihm ungemein wichtig. Mit zwei Fingern streichelte er über ihre Schultern und über
die Fältchen am Ansatz der Arme. Ein
paar Locken kräuselten sich neben dem
Grübchen an ihrem Hals. Ihre Brüste
waren rund und schön, so dass seine
Hand und sein Mund immer wieder zu
ihnen zurückkehrten. Als er ihre Hüften
und ihre Beine liebkoste, fiel ihm auf,
wie zart ihre Haut war und wie zerbrechlich ihr Körper.
"Du bist wunderschön", wiederholte
er flüsternd immer wieder.
Tatsächlich wusste er nichts, was er
sich noch hätte wünschen können. Nicht
nur das Mädchen erschien ihm wie ein
Spiegel der Vollkommenheit, der ganze
Wohnwagen wurde zum Garten Eden
für ihn. Die Strohmatte roch muffig. In
einer Schale drohte ein Rest Gemüse zu
verfaulen. Auf dem Fußboden hatte ein
ausgelaufenes Gefäß eine klebrige Spur
hinterlassen. Das alles störte ihn ebenso
wenig wie ihn das (nun wie ein Bündel
Lumpen auf einem Schemel liegende)
schäbige Kleid gestört hatte. Das eine
wie das andere gehörte zu seiner Rami-
159
ra, und er liebte sie nicht nur trotzdem
sondern (auch) gerade deshalb.
Nur einmal stieß er auf seiner Reise
auf etwas, das ihn erschreckte. Wenn er
sie über ihren Rücken streichelte, ertastete er eine lang gestreckte Unebenheiten in der Haut, die er sich nicht erklären konnte, bis er begriff, dass es Spuren von Peitschenhieben waren. Er erinnerte sich an ihre Andeutungen über
ihren Vater. Nicht zum ersten Mal begegneten ihm die Grausamkeiten der
Menschen. Öffentliche Bestrafungen
auf einem der Märkte oder vor der berüchtigten Kunibertstorburg gehörten
zum Alltag. Auch Hinrichtungen kamen
immer wieder vor. Diesmal jedoch betraf das Leid jemanden, den er liebte,
und war somit auch sein eigenes Leid.
Wut und Hilflosigkeit stiegen gleichzeitig in ihm auf und zwar so heftig, dass
sie es merkte.
"Was hast du?"
"Du bist um so viel Liebe betrogen
worden! Ich komme mir vor wie dein
Schuldner."
"Was redest du da?! Du schuldest mir
nichts, und ich mag nicht glücklich sein,
wenn du's nicht auch bist."
"Gibt es das überhaupt, dass zwei
Menschen einander gegenseitig glücklich machen? Ist es nicht so, dass letztlich immer der eine das Vergnügen hat
und der andere nur ausgenutzt wird?"
"Du wirst mir nichts Böses antun und
ich dir auch nicht."
Sie sagte das mit solcher Überzeugung, dass es sinnlos war, ihr zu widersprechen. Dabei hatte er ihr noch gar
nicht erklärt, worauf er eigentlich hinauswollte. Er stellte mit zunehmendem
Erschrecken fest, dass sich seine Empfindungen und Wünsche veränderten, je
länger er sich mit ihrem nackten Körper
beschäftigte. Gegen seinen Willen wurden seine Hände grober. Wo sie nur
hauchzart berühren sollten, packten sie
fest zu. Ein unbezwingbares Verlangen
drängte ihn dazu, ihr mit seinen Knien
die Schenkel auseinander zu drücken.
Weil er diesen Zustand äußerster Erregung noch nicht kannte, verstand er ihn
nicht, und fürchtete, dass gerade ein
Dämon Macht über ihn zu gewinnen
begann.
Wer weiß, was geschehen wäre, wenn
das Mädchen ihn in diesem Moment
nicht so nachdrücklich ermuntert hätte,
dass seine Zweifel zerstoben. Er ahnte
nicht, dass nicht nur in ihm sondern
auch in ihr Veränderungen vorgingen.
Ihr war, als sei seine Hand die Quelle
einer magischen Kraft, die bei jeder
Berührung bis tief in ihren Körper hinein strahlte. Dass ihm bei seinen Liebkosungen das Geschick eines erfahrenen
Mannes fehlte, störte sie nicht. Im Gegensatz zu seinen Vermutungen gefiel
es ihr sogar, wenn er sie in der Erregung
härter als gewollt anpackte. Sie wollte
ihn spüren, auch seine Kraft. Ihr
Schmerzempfinden trat dagegen mehr
und mehr in den Hintergrund.
Raimund hatte es endlich geschafft,
sich von allem zu befreien, was ihn von
seiner Freundin und von dem Augenblick mit ihr ablenkte. Die Erwartungen
seiner Eltern, die Ansichten der Nachbarn, die Forderungen der Priester, seine eigenen Träume und Ängste - das
alles war in weite, weite Ferne gerückt.
Er folgte nur noch seinem Gefühl, darauf vertrauend, dass Ramira genau das
wolle und dass es seine Richtigkeit damit habe.
Nachdem er sie noch einmal von
Kopf bis Fuß liebkost hatte, liebten sie
einander mit solcher Heftigkeit, dass
ihnen beinahe die Sinne schwanden.
Am Ende waren sie beide völlig erschöpft aber dennoch unermesslich
glücklich. Wie nach tiefer Bewusstlosigkeit brauchten sie einige Zeit, um
sich zurechtzufinden. Besonders Ramira
war noch lange wie im Rausch. Sie lächelte versonnen, während Raimund sie
160
behutsam streichelte. Dann krochen sie
gemeinsam unter eine große Felldecke,
kuschelten sich aneinander, so dicht,
dass jeder den Atem des anderen spürte,
und schliefen ein.
Auch als bei Einbruch der Dunkelheit
die anderen ins Lager zurückkehrten,
schliefen sie noch fest. Melanie wunderte sich sehr, als sie die beiden eng umschlungen fand. Zunächst wollte sie
herumzetern, weil sie nun Ramiras Arbeit erledigen musste und weil sie dem
Jungen aus dem vornehmen Viertel
misstraute. Doch bald erinnerte sie sich
ihrer eigenen Leidenschaften. Aus wahrer Liebe begeht man nun einmal die
schlimmsten Sünden. Und gerade weil
sie glaubte, dass Ramira mit ihrem
Freund nicht lange glücklich sein wür-
de, zog sie sich mit Verschwörermiene
leise wieder zurück.
Am nächsten Morgen erschrak
Raimund heftig über sich selbst und
Ramira konnte sich vor Lachen kaum
beruhigen. Dann aber berieten beide
darüber, welche Geschichte er seinen
Eltern erzählen könnte. Dabei half ihnen
der in solchen Dingen erfahrene Alexander. Da Raimunds Gesicht aber das
schlechte Gewissen deutlich genug widerspiegelte, während er zu lügen versuchte, blieb Sieglinde misstrauisch.
Gewiss wäre ihr noch manche unangenehme Frage eingefallen, hätte nicht die
im Hause Cranboim inzwischen über
jeden Zweifel erhabene Franziska, ohne
zu ahnen, wo er die Nacht wirklich verbracht hatte, ein sicheres Alibi erfunden.
II
F
ranziska stand in ihrem Zimmer
im zweiten Obergeschoß am
Fenster und warf vor dem Zubettgehen noch einen Blick auf den
Rhein, auf dem jetzt kein einziges Boot
mehr zu sehen war, als sie von nebenan
aus Jans kleinem Kontor Stimmen hörte. Neugierig, aber auch ein wenig beunruhigt legte sie ihr Ohr an die Wand
und lauschte. Jan und sein Vater sprachen erregt miteinander. Das Mädchen
verstand jedes Wort.
"Hatte er denn keine Leibwächter in
seiner Nähe?"
"Seit einer Woche ging er keinen
Schritt mehr allein. Dies war aber ein
gut vorbereiteter Mord. Fünf Männer
tauchten plötzlich bei ihm auf, stachen
zu und verschwanden wieder unerkannt
wie Geister."
"So wollte Gott ihn also doch nicht
beschützen!"
"Hast du das je erwartet?"
Franziska war überzeugt, dass um
Wolfhard Cranboims Lippen ein spöttisches Lächeln spielte, während er das
sagte. Sie schmiegte sich noch enger an
die Wand, denn sie wollte nun unbedingt erfahren, wen man ermordet hatte.
"Es ist gekommen, wie von Euch erwartet, Vater", sagte Jan und fügte hinzu: "Ich frage mich nur, ob die Dominikaner das einfach so hinnehmen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren."
"In Köln müssen zurzeit viele Leute
Angst um ihr Gesicht haben - aus unterschiedlichen Gründen."
"Ich fürchte, dass uns ein paar heiße
Tage bevorstehen."
"Sicherheitshalber habe ich vor unseren Lagern doppelte Wache aufgestellt.
Eigentlich glaube ich nicht an Plünderungen, aber wenn der Abschaum einmal in Bewegung gerät, weiß man nie,
was passiert."
161
"Wenn Erzbischof und Rat sich einig
sind, könnten sie vielleicht den Aufruhr
im Keim ersticken."
"Sie könnten es, wollen es aber wahrscheinlich nicht. Ich sage dir voraus,
dass die Waffenknechte erst eingreifen,
wenn die Mehrheit der Bürger nach
ihnen schreit, weil die Gewalt überhand
nimmt. Setzt eine der Parteien ihre Leute zu zeitig in Marsch, kostet das dringend benötigte Sympathien."
"Ob man die Mörder findet?"
"Mag sein, dass man eines Tages jemanden dieses Mordes wegen verurteilt.
Die wahren Täter sind sicher längst über
alle Berge. Ich vermute, dass der Erzbischof selbst hinter dem Anschlag steckt.
Er kann sich nicht leisten, dass ein Irrsinniger
seine
Geheimdiplomatie
durchkreuzt."
Franziska dachte sofort an ihre
Freunde und lief am nächsten Morgen
zeitig ins Gauklerlager, um sie zu warnen. Melanie bemühte sich gerade, mit
Stein und Zunder ein Feuer für die morgendliche Suppe zu entzünden und
nickte ihr kurz zu. Neben der jungen
Frau schlummerte, in Decken gehüllt,
der kleine David. Alexander und Mario
schliefen wohl noch. Ramira übte
Kunststücke, und zwar so angespannt,
dass sie die Besucherin überhaupt nicht
bemerkte. Nur Pentia, die sich, gerade
aufgestanden, auf der Treppe des
Wohnwagens reckte und streckte und
dabei in die aufgehende Sonne blinzelte,
kam Franziska entgegen.
"Du bist bestimmt zu irgendwelchen
Geschäften unterwegs."
"Nein, ich bin nur euretwegen hergekommen."
"Jetzt? Es ist doch noch fast Nacht!"
"Gestern spätabends muss etwas passiert sein, was diese Graukittel wieder
munter machen kann. Ich glaube, es ist
besser, wenn ihr so schnell wie möglich
verschwindet."
Inzwischen war auch Ramira aufmerksam geworden und hinzugetreten.
"Der Prediger Maginulfus ist erstochen worden, auf offener Straße, nahe
am Eigelstein."
"Woher weiß du das?"
"Ich hab' den Menschenauflauf gesehen und mich dazugestellt. Komm, setz
dich! Ich erzähl 's dir!"
Melanie hatte endlich Erfolg bei ihrem mühseligen Hantieren mit Stein
und Zunder. Aus dem Holzhaufen unter
dem großen Kessel züngelten erste
Flammen heraus.
"Das war saub're Arbeit gewesen von
den Mördern. Ein paar von ihnen sind
über seine Leibwächter hergefallen, die
anderen haben sich ihn selbst vorgenommen und ihm mit mindestens einem
Dutzend Stichen den Garaus gemacht.
Er sah aus wie ein geschlachtetes
Schwein."
Ihre Augen funkelten hasserfüllt. Sie
gönnte dem fanatischen Dominikaner
den Tod von Herzen.
"Die Leute die 's aus nächster Nähe
miterlebt haben, konnten nicht einmal
die Gesichter dieser Männer erkennen,
so schnell ging das. Vielleicht sind Gottes Racheengel gekommen, um ihn zur
Hölle fahren zu lassen. Es gibt nämlich
viele, die sich als Anhänger von unserm
Herrn Jesus ausgeben und in Wirklichkeit dem Teufel dienen. Nicht die armen
Leute, die man auf dem Scheiterhaufen
verbrennt, sind die wirklichen Sünder
sondern ihre Henker."
"Wo hast du solche Reden gehört?"
fragte Franziska erschrocken.
Von Raimund kannte sie gefährliche
Meinungen dieser Art, und ihm traute
sie mehr und mehr auch zu, dass er sich
heimlich mit unruhigen Gesellen traf.
Wie aber sollte ein Gauklermädchen mit
Verschwörern und Ketzern in Berührung gekommen sein? Ramira indes
holte statt einer Antwort ein eisernes
Kruzifix unter ihrem Kleid hervor.
162
"Sieh mal, was ich gefunden habe!
Der Herr Jesus ist von diesen schlechten
Predigern gefangen gehalten worden
und nun zu mir gekommen."
Franziskas Beunruhigung verwandelte sich in blankes Entsetzen. Sie packte
die Freundin bei den Schultern und rüttelte sie kräftig durch.
"Was ist in dich gefahren? Haben
dich alle guten Geister verlassen? Du
benimmst dich wie eine Selbstmörderin
und redest irrsinniges Zeug. Weiß du
überhaupt, was die Waffenknechte mit
dir machen, wenn sie dieses Kreuz bei
dir finden? Du brauchst doch nun wirklich nichts mehr selbst zu unternehmen,
um gefährlicher zu leben als jeder andere hier in Köln!"
Ramira befreite sich unwillig.
"Ich rede kein irrsinniges Zeug. Es
waren so viele Leute dort auf der Straße, aber keiner von ihnen hat das Kreuz
gefunden. Die Leiche ist fortgeschafft
worden, die Zuschauer sind wieder ihrer
Wege gegangen, und ich bin ganz allein
zurückgeblieben - mit Jesus. Hältst du
das für Zufall?"
"Ich weiß nicht, ob das Zufall ist,
aber ich weiß, dass ihr fliehen müsst",
sagte Franziska verzweifelt.
Ramira ließ sich nicht beirren. So als
begreife sie die drohende Gefahr gar
nicht, betrachtete sie liebevoll das Kruzifix und war mit ihren Gedanken allem
Anschein nach weit fort. Ab und zu
huschte über ihr Gesicht ein verklärtes
Lächeln. Sie träumte mit offenen Augen. Franziska gab es auf, weiter in sie
zu dringen, und wandte sich an Alexander, der in diesem Moment die Tür des
Wohnwagens öffnete.
"Ihr müsst fliehen!" rief sie ihm
schon von weitem zu. "Es wird wieder
Gewalt geben in der Stadt."
"Ja, so wird es wohl kommen", entgegnete der Alte fast ebenso gleichmütig wie Ramira.
"Wollt ihr alle so schnell wie möglich
im Himmel sein? Ich warne euch, und
ihr hört mir gar nicht zu!"
"Ich höre dir ja zu, aber was du erzählst, hat uns schon gestern Abend
dieser Stefanus gesagt, der, bei dem du
mal im Dienst warst. Ich kenne ihn ja
kaum, aber ich vertraue ihm. Durch ihn
wissen wir jetzt sogar, wie wir unbemerkt über den Rhein kommen."
"Stefanus? War es wirklich Stefanus?" fragte Franziska und spürte, wie
ihr Herz schneller zu schlagen begann.
"Ja, ganz bestimmt."
"Oh, wenn er euch gewarnt hat, muss
es wirklich schlimm für euch aussehen.
Flieht noch heute und lasst alles zurück!
Ich werde versuchen, den Wagen für
euch zu retten."
"Es ist ein paar Monate lang nichts
passiert. Alle haben geglaubt, die Leute
sind wieder zur Vernunft gekommen.
Sonst, weiß Gott, wären wir längst über
alle Berge."
In diesem Moment kam Mario nach
draußen. Er hatte die letzten Sätze verstanden und sagte beinahe gereizt:
"Ich kann dieses Gerede nicht mehr
hören. Wir haben ja nun beschlossen,
dass wir weiterziehen. Warum sollen
wir aber unseren Wagen zurücklassen?
Wenn gestern kurz nach dem Mord in
der Stadt alles ruhig geblieben ist, wird
es heute nicht viel anders sein. Es reicht
also völlig, wenn wir heute das Lager
abbauen und morgen früh aufbrechen."
Melanie pflichtete ihm vom Feuer her
bei. Franziska suchte abermals bei Alexander Unterstützung. Der aber zuckte
nur mit den Schultern und sagte dunkel:
"Unser Schicksal liegt in Gottes
Hand. Vielleicht könnten wir noch einen ganzen Monat bleiben, vielleicht ist
es längst zu spät zum Fliehen."
Immerhin begannen die Gaukler,
nachdem sie gemeinsam ihre Suppe
gegessen hatten, das Lager abzubrechen
und ihre Habe auf den Wagen zu verla-
163
den. Franziska blieb bei ihnen, um zu
helfen.
"Wo sind eigentlich eure Freunde, die
Schauspieler?" fragte sie Ramira, als sie
mit ihr gemeinsam den großen Kessel
ausscheuerte.
"Weiter gezogen. Vor einer Woche
schon."
"Die sind wenigstens vernünftig - im
Gegensatz zu dir, wenn du nicht endlich
dieses Kreuz in den Rhein wirfst."
"Kannst du mich beschützen, wenn
jetzt die Canes über uns herfallen? Du
kannst es nicht! Aber Jesus kann es,
wenn nicht in dieser Welt, dann eben in
der anderen."
"Das hört sich an, als ob du dich
schon auf den Tod vorbereitest!"
"Fahrendes Volk lebt nun einmal mit
dem Tod auf vertrautem Fuß."
Ramira war allerdings nicht allein in
so düsterer Stimmung. Besonders am
Nachmittag, als der Wagen einsam im
nun fast vollständig abgebrochenen Lager stand und ziemlich verloren wirkte
auf dem weiten Platz vor der großen
Kunibertskirche, lastete die Wehmut auf
allen. Es ist ein Unterschied, ob man
loszieht, weil man ein Ziel hat, oder ob
man einfach nur flieht. Selbst Mario
war ungewöhnlich still. Er wetterte
nicht mehr gegen den überstürzten Aufbruch und suchte die Nähe Alexanders.
Mehrmals nahm er Anlauf, um mit ihm
zu sprechen, brach aber jedes Mal ab,
weil ihn irgendjemand oder irgendetwas
störte, oder weil er ganz einfach nicht
den Mut fand. Erst als es schon fast
dunkel war, raffte er sich auf, führte ihn
hinter den Wagen und sagte:
"Ich danke dir."
Der Alte hatte sich über Marios sonderbares Gebaren zunächst gewundert
und sich nur widerstrebend in den verschwiegenen Winkel führen lassen.
Diese drei Worte aber verstand er sofort.
"Was hätte ich sonst tun sollen? Ich
war ein verträumter Trottel, bis du mir
die Augen geöffnet hast."
"Du hättest verbittert sein können.
Auf jeden Fall hättest du mich nicht wie
... wie einen Sohn zu behandeln brauchen."
"Wir sind eine Familie. Vielleicht
sterben die Beldinis bald aus. Dann
könnt ihr beide, du und Melanie, unsere
Geschichte fortsetzen, auch wenn ihr
beide kein Blut von uns in euch habt."
III
B
ei Einbruch der Dunkelheit verabschiedete sich Franziska von
den Gauklern und versprach, am
nächsten Morgen wiederzukommen, um
ihnen eine gute Reise zu wünschen und
auch um Pentia mitzunehmen, denn seit
sie Sieglinde Cranboim gegenüber die
Schwester erwähnt hatte, drängte diese
hartnäckig, die arme Kleine aus jener
unwürdigen Umgebung wieder zu befreien. Pentia selbst freilich fühlte sich
mit ihren neuen Freunden inzwischen so
sehr verbunden, dass sie am liebsten mit
ihnen mitgezogen wäre. Die letzte
Nacht mit ihnen gemeinsam im Wohnwagen zu verbringen, wollte sie sich
unter keinen Umständen verwehren
lassen.
In ihrem Zimmer angekommen, legte
Franziska sich angekleidet auf ihr Bett
und fragte sich, warum ihr so beklommen zumute war. Empfand sie nur Mitleid mit ihrer Freundin und deren Gefährten oder trauerte sie vor allem um
das, was sie selbst verlor? Sie entwarf
abenteuerliche Pläne, um Ramira in
ihrer Nähe zu behalten. Doch keiner
davon taugte. Dass sie die Vier bei den
164
Cranboims nicht unterbringen konnte,
auch nicht als Mägde und Knechte, hatte sie herausgefunden. Zu groß waren
die Vorurteile gegen fahrendes Volk.
Es herrschte schon pechschwarze
Nacht, als Franziska plötzlich von Ferne
ein sonderbares Lärmen hörte. Beunruhigt schlich sie nach unten, hinaus auf
die Straße. Die Tür fiel zu hinter ihr,
und sie erkannte kaum noch die Hand
vor den Augen. Rechts glühten zitternd
mehrere Lichtpunkte. Wie weit fort sie
waren, vermochte das Mädchen nicht zu
schätzen, da sich jedoch in eben dieser
Richtung das Gauklerlager befand, und
von dort auch der Lärm stoßweise herüberwehte, sah sie ihre Befürchtungen
bestätigt. Es kostete sie viel Überwindung, nicht einfach blindlings loszulaufen, sondern sich erst eine Öllampe aus
dem Kontor zu holen.
Während sie die Uferstraße entlang
eilte (und dabei viel langsamer vorankam, als sie es gern wollte, weil sie ihre
Lampe nicht verlöschen lassen durfte
und weil sie im schwach rötlichen
Lichtkegel die Löcher und Hindernisse
immer erst im letzten Augenblick erkannte), wurde der Lärm lauter und bösartiger. Plötzlich flammte einer der
Lichtpunkte zu einer Lohe auf. Über
den nun hell erleuchteten Platz vor dem
Kunibertsstift hetzten Menschen hin
und her. Um den brennenden Wohnwagen herum herrschte ein solches Rennen
und Jagen, dass sich nicht erkennen
ließ, was eigentlich vorging. Noch ehe
Franziska das Gesicht eines der Gaukler
erkannt hatte, fand sie sich von vier
Canes umringt. Weindunst schlug ihr
entgegen. Einer lallte:
"Verschwinde! Das hier ist nichts für
kleine Mädchen."
Doch sie ließen bald von ihr ab, weil
jemand nach ihnen rief. Franziska fühlte
sich wie in einem Alptraum - auf dem
tiefsten Grund der Hölle, von Dämonen
umtanzt, für ihre Sünden büßend. Dann
entdeckte sie Alexander. Drei Männer
schlugen mit Knüppeln auf ihn ein. Sie
holten dabei aus, als würden sie
Schmiedehämmer schwingen.
"Warum macht ihr das?" schrie das
Mädchen dem Nächstbesten zu. "Die
Gaukler wollten morgen früh weiterziehen."
"Eben weil sie uns entwischen wollten, machen wir das", erhielt sie zur
Antwort. "Nicht nur Köln sondern die
ganze Welt muss von solchem Gesindel
gereinigt werden."
Die Canes steigerten sich in einen
Blutrausch hinein. Vielleicht war es der
Wein, der sie anstachelte, vielleicht waren es die schaulustigen Niedericher
Bürger, die sich in immer größerer Zahl
einfanden und kaum weniger Beifall
spendeten wie einst bei Ramiras Auftritt. Ein gellender Schrei ließ Franziska
herumfahren. Sie sah, wie Melanie wie
von Sinnen auf einen dicken Kerl einschlug, um zu ihrem wenige Meter entfernt hilflos im Staub liegenden Kind zu
gelangen.
Immerhin kamen nun vom Dom her
zwanzig Waffenknechte mit umgebundenen Schwertern und Spießen in der
Hand heran. Franziska hoffte, dass sie
dem Treiben der betrunkenen Canes
Einhalt gebieten würden. Als sie jedoch
zu ihnen hinlaufen wollte, um sie zu der
bedrängten Melanie zu führen, merkte
sie, dass die Männer des Erzbischofs
einen ganz anderen Auftrag hatten, als
die Gaukler zu schützen. Sie bildeten
einen Ring um das zerstörte Lager und
hinderten die Überfallenen an der
Flucht. Offenbar gab es eine Absprache.
Mario hätte vielleicht entkommen
können. Mit dem Mut der Verzweiflung
wurde er ein geradezu furchtbarer Gegner für jeden, der sich in seine Nähe
wagte. Drei mit Knüppeln bewaffnete
Männer streckte er in kurzer Folge mit
der bloßen Faust nieder. Wie aber konnte er davonlaufen, während seine Frau
165
gefesselt wurde, sein Kind mit schwächer werdendem Stimmchen schrie und
Alexander, den er wie einen Vater zu
lieben gelernt hatte, vor ihm verblutete?! Noch teilte er Hiebe im Dutzend
aus, jedoch schon ohne Hoffnung auf
Rettung, nur noch um sich an möglichst
vielen Canes zu rächen.
Franziska wurde hin- und her gestoßen. Die Waffenknechte zählten sie zu
den Zuschauern, von denen inzwischen
wenigstens hundert den Platz bevölkerten. Einer packte sie am Arm und zerrte
sie aus dem Ring heraus. Sie sah noch,
wie man Mario und Melanie abführte.
Über das Schicksal Ramiras und Pentias
erfuhr sie nichts.
Ganz benommen von dem, was sie
mit angesehen hatte, spürte sie kaum,
wie die Zeit verging. Der Wohnwagen
brannte nieder. Die Canes verschwanden, weil sie keine Opfer mehr fanden.
Kurz nach ihnen zogen sich auch die
Waffenknechte zurück. Am längsten
harrten die Niedericher Bürger aus - besorgt, dass ihnen etwas Erzählenswertes
entginge.
Franziska war nun wieder allein. Bis
auf das Glühen einiger Balken des
Wohnwagens durchbrach nichts mehr
die tiefe Dunkelheit. Die Stille ringsum
war gespenstisch nach allem, was sich
zugetragen hatte. Zum Glück befand
sich in der (vom Wind ausgeblasenen)
Lampe noch etwas Öl, so dass das Mädchen den Docht an einem der glimmenden Balken wieder entzünden konnte.
Von den Brandspuren abgesehen, erinnerte nur noch wenig an den Überfall.
Ein paar Kleidungsstücke lagen herum,
auch ein paar Knüppel. Ein Spieß der
Waffenknechte war zerbrochen, wohl
beim Versuch, die Gaffer abzudrängen.
Gerade dadurch aber erschreckten die
reglosen Körper des weißhaarigen
Mannes und des Säuglings umso mehr.
Wie achtlos weggeworfener Abfall
wirkten sie. Das waren sie wohl auch
für diese reiche, vornehme Stadt, die
fahrendes Volk nicht nur im Kreis ihrer
Mauern vertilgen wollte sondern in der
ganzen Welt. Einen kurzen Moment
lang hoffte sie noch, den beiden helfen
zu können. Als sie sich jedoch über sie
beugte, begriff sie, wie töricht ihre
Hoffnung gewesen war.
Weil sie Ramira und Pentia während
des ganzen Überfalls kein einziges Mal
gesehen hatte, fürchtete sie, dass sie im
Wohnwagen verbrannt seien. Vorsichtig
schob sie die Trümmer auseinander und
leuchtete in jeden Winkel hinein. Dass
sie sich dabei verletzte, beachtete sie in
ihrem Kummer nicht. Sie fand jedoch
keine Spur der beiden. Vermutlich lagen
sie also doch ebenso wie Mario und
Melanie in einem Verließ der Kunibertstorburg, denn andernfalls wären sie
zweifellos in der Nähe und würden sich
ihr zeigen.
Franziska sank auf die Knie, schlug
die Hände vors Gesicht und weinte laut
und hemmungslos in die Nacht hinein.
Unter keinen Umständen wollte sie
noch länger in Köln bleiben. Fort, einfach fort, irgendwohin. Wenig später
aber fiel ihr ein, dass sie nicht fliehen
durfte, solange noch vier Gaukler in
Köln gefangen saßen und ihre Hilfe
brauchten. Die Cranboims hatten Einfluss in der Stadt. In ihrer Verzweiflung
verfiel sie sogar auf Befreiungspläne.
Wozu hatte sie ihr Schwert? Wozu hatte
Stefanus sie den Umgang damit gelehrt?
In dieser Nacht freilich konnte sie nur
noch verhindern, dass man die beiden
Toten am nächsten Morgen bei den hingerichteten Ketzern, Zauberern und
Schwerverbrechern vor dem Südtor
verscharrte. Sie lief zum Haus zurück,
holte sich eine Schaufel und füllte ihre
Lampe mit frischem Öl auf. Dann
schleppte sie Alexander und David zu
einer stillen Stelle nahe am Ufer des
Rheins und begrub sie dort. Das war
eine schwere Arbeit, die sie ablenkte
166
und ihr gut tat. Segnen durfte sie die
beiden nicht, doch sprach sie inbrünstig
ein Gebet und hoffte, dass Gott sie hörte. Am Schluss verwischte sie alle Spuren. Sie war überzeugt, dass sich der
Alte diesen Ort für sein Grab auch
selbst ausgesucht hätte. Er hatte oft an
eben dieser Stelle am Fluss gesessen,
auf die Wellen geblickt und in dem träge und doch rastlos dahin fließenden
Wasser ein Gleichnis auf die Geschichte
der Beldinis gefunden.
167
17.Kapitel
I
D
u siehst aus wie der Tod, und
die Knechte behaupten, dich
heute morgen vor Sonnenaufgang mit einer Lampe auf der Straße
gesehen zu haben."
Franziska schreckte hoch. Sie war
völlig erschöpft, seelisch und auch körperlich, und es fiel ihr schwer, den Gesprächen am Frühstückstisch zu folgen.
"Heute morgen? ... Ja, ich ..."
"Wo warst du gewesen? Es ist gefährlich, nachts aus dem Haus zu gehen."
Sieglinde Cranboim musterte das
Mädchen mit jenem Blick, mit dem sie
auch Raimunds Geheimnisse zu ergründen suchte.
"Ich war am Kunibertsstift."
"Aber warum mitten in der Nacht? So
rede doch! Oder vertraust du mir nicht?"
"Doch! Nur ... mir ist jetzt nicht nach
Reden zumute. Später vielleicht."
Sieglinde sah ein, dass es vorläufig
wenig Sinn hatte, sie zu einer Antwort
zu drängen, und lenkte auf ein anderes
Thema. Franziska war ihr dankbar dafür. Nach dem Essen zog sie sich auf ihr
Zimmer zurück und bat, nicht gestört zu
werden. Dennoch klopfte wenig später
jemand zaghaft an ihre Tür. Sie öffnete
widerstrebend und stand Raimund gegenüber. Er wirkte verstört.
"Entschuldige, dass ich ... Ich möchte
nur wissen, ob du bei den Gauklern
warst, dort wo deine Schwester ist."
Franziska nickte stumm. Sie wunderte sich über seine Anteilnahme, denn
während Pentias Schicksal für die übrigen Familienmitglieder seit Tagen ein
beliebtes Thema war, hatte er darüber
nie ein Wort verloren. Dennoch ließ sie
ihn herein.
"Die Gaukler sind meine Freunde",
stellte sie klar. "Pentia lebt nicht als
Gefangene bei ihnen, wie deine Mutter
behauptet. Ramira, das Mädchen mit
den roten Haaren, kenne ich schon von
meiner Heimat her. Wenn ihr etwas
zustößt, stirbt auch von mir ein Stück. ...
Du erinnerst dich an sie vielleicht von
den Auftritten her."
"Du hast mir von ihr erzählt ..."
"Ja, aber das, was sie wirklich für
mich bedeutet, kann man nicht erzählen.
Sie hat mir das Leben gerettet."
Die letzten Worte würgte sie nur noch
mühsam hervor, dann überwältigte sie
ein Weinkrampf wie in der Nacht, als
sie Alexander und David hatte begraben
müssen. Raimund indes packte sie
plötzlich bei den Schultern, rüttelte sie
und schrie:
"Was ist geschehen? Was weißt du?"
In ihrem Kummer dachte sie sich
nichts bei seinem Ausbruch. Als sie
wieder sprechen konnte, antwortete sie:
"Zwei sind tot, die anderen in der
Kunibertstorburg gefangen, auch meine
Schwester."
"Was ist mit Ramira?"
"Ich nehme an, dass sie noch lebt ..."
"Sie müssen sie freilassen. Sie hat
nichts verbrochen!"
Raimund war aufgesprungen, lief im
Zimmer auf und ab, raufte sich hilflos
seine seidigen, blonden Haare, bis sie
wirr wie bei einem Geisteskranken aussahen.
"Was hast du?" fragte Franziska, als
ihr endlich auffiel, wie sehr ihn das
Schicksal der Gaukler traf.
Er stutzte, besann sich und kehrte,
sich zur Ruhe zwingend, an die Seite
des Mädchens zurück.
"Ich muss dir etwas gestehen. Du
darfst es aber niemandem weitererzäh-
len, auch nicht meinen Eltern. Versprichst es mir!"
"Ja, natürlich!"
"Ich gehöre zur Kölner Katharergemeinde. Unseretwegen sind die Dominikaner vor acht Jahren aus Frankreich
hierher gekommen. Wir sind die Ketzer,
von denen dieser Maginulfus vor Sankt
Maria ad Gradus gesprochen hat. Nur
weil sie uns nicht auf die Spur kommen,
müssen die armen Gaukler und Bettler
jetzt büßen."
Obwohl Franziska mit einem dunklen
Punkt in Raimunds Leben gerechnet
hatte, war sie nun, da sie sich nicht
mehr an der Wahrheit vorbeimogeln
konnte, dennoch erschrocken.
"Warum tust du das? Sie werden euch
finden und verbrennen. Ich aber liebe
dich und möchte nicht, dass du so endest."
"Vielleicht ist das ein besseres Ende
als jenes, was mein Vater für mich bestimmt hat. Es gibt nichts Schlimmeres,
als Tag für Tag heucheln zu müssen.
Jahrelang immer neue Lügen. Wie ich
sie hasse, diese scheinheilige Stadt, diese protzigen Kirchen, vor denen bettelnde Kinder geschlagen werden, diese
goldenen Kruzifixe und Marienfiguren,
diese fett gefressenen Pfaffen, die sich
heimlich mit Dirnen vergnügen, diese
raffgierigen Kaufleute, von denen mein
Vater einer ist und mein Bruder bald
einer sein wird! Und dabei lächeln, immerzu lächeln. Ist dir aufgefallen, dass
bei den Cranboims immer gelächelt
wird? Hier ist nie einer traurig oder enttäuscht oder zornig."
Sie verstand nicht recht, warum diese
Dinge, die zwar nicht schön waren, aber
nun einmal zum Alltag gehörten, ihn
vor Zorn beben ließen, unterbrach ihn
jedoch nicht. Er redete sich frei von all
dem, was er so lange in sich hatte verschließen müssen. Dann aber entspannte
sich sein Gesicht plötzlich, und es trat
sogar eine gewisse Verklärung hinein.
"Die Katharerkommune ist schon
lange meine eigentliche Familie. In mir
lebt nicht das Erbe der Cranboims sondern das meiner Mutter. Ihr Urgroßvater
kam einst als Katharer aus Frankreich
hierher. Er versuchte, auch seine zwei
Söhne und seine Tochter für seinen
Glauben zu begeistern. Der eine Sohn
wollte nichts davon wissen und wurde
später Ministeriale des Erzbischofs, der
andere aber leitete einige Jahre lang die
Kölner Gemeinde. Die Tochter heiratete
einen Glaubensbruder und zog mit ihm
nach Frankfurt."
"Aber deine Mutter ist doch keine ..."
"Nein, nein! Sie nicht. Doch im Blut
ist der Glaube erhalten geblieben. Es
wird immer wieder Katharer geben bei
uns."
"Was ist das für eine Lehre, dieser
Katharerglaube?"
"Wir glauben, dass es zwei verschiedene Welten gibt - die vom Teufel geschaffene irdische, und die zu Gott gehörende himmlische. Die irdische Welt,
das ist der Fluss, der uns bei Hochwasser ertränkt, das sind die wilden Tiere
im Wald, die uns zerreißen, wenn wir
ihnen zu nah kommen, das ist unser
schwacher Körper, der krank wird und
stirbt, das ist die Kirche mit ihrer
Prunksucht und ihrer Heuchelei. Diese
Welt ist bösartig und vergänglich. Bei
der himmlischen Welt musst du an Gott
und seine Engel denken, an deine Seele,
die dich immer wieder auf den richtigen
Weg zurückführt, an die Liebe ... Hattest du noch nie das Gefühl, dass zwei
Menschen zugleich in dir sind? Der eine
will gut sein, der andere böse. Der eine
zerrt dich in diese Richtung, der andere
in jene. So kämpfen Gott und Teufel in
dir selbst gegeneinander."
"Und für diesen Glauben würdest du
auch sterben?"
"Ja, denn das ist die Wahrheit, und
nur wer die Wahrheit auf Erden bezeugt, kann in den Himmel kommen. Im
169
Jahre dreiundsechzig sind hier in Köln
vier Katharer aus Flandern hingerichtet
worden. Zu ihnen gehörte auch eine
Frau, die man aus Mitleid am Leben
ließ. Man bot ihr an, entweder katholisch zu heiraten oder ins Kloster zu
gehen, sie jedoch riss sich los und
sprang freiwillig in die Flammen."
Franziska seufzte.
"Ich will immer zu dir halten, aber ...
ich möchte lieber mit dir leben als mit
dir sterben."
Sie sah so unglücklich aus, als sie das
sagte, dass er sie, von Rührung überwältigt, in den Arm nahm und ihr behutsam
übers Haar strich, wie er es auch mit
Ramira getan hatte.
"Ich habe es ja gar nicht so eilig mit
dem Sterben", tröstete er sie. "Sie suchen uns schon so lange ohne Erfolg.
Und wenn sie eines Tages doch etwas
über uns erfahren, warnt uns der Sohn
eines Ratsmitglieds, so dass wir rechtzeitig fliehen können. Lass uns jetzt
lieber an die armen Gaukler denken!"
"Du hast Recht. Wollen wir zur
Kunibertstorburg gehen? Vielleicht erfahren wir dort etwas über ihr Schicksal."
Raimund nickte, und sie gingen sofort
los.
II
D
ie Kunibertstorburg unterbrach
die Uferstraße dort, wo die neue
Stadtmauer auf den Rhein traf,
und zwar kaum zehn Wegminuten vom
Anwesen Wolfhard Cranboims entfernt.
Was sich über den gesamten nördlichen
Bogen der Mauer sagen ließ, galt auch
für sie - sie harrte noch ihrer Vollendung. Zwei Blöcke mit quadratischem
Grundriss, hatte man etwa bis zur Hälfte
der geplanten Höhe fertig gestellt. Eines
der beiden Gebäude war (zur Erhöhung
der Wehrhaftigkeit) um einen halben
rechten Winkel gedreht und bohrte eine
seiner Ecken in eine Seite des anderen
hinein. In fünf oder zehn Jahren würden
sie zusammen ein fast uneinnehmbares
Bollwerk bilden. Zwei Vorposten vervollständigten die Wehranlage. Der eine
war ein kleines, rundes Türmchen an
der Straße wenige Meter außerhalb der
Stadt und markierte die Stelle, bis zu
der ein Kaufmann mit seinem Schiff
fahren durfte, ohne Zoll entrichten zu
müssen. Der andere hatte die Form eines lang gestreckten Hufs, bildete den
Gegenpfosten des großen Torbogens
und ragte gut zwei Schritt weit ins Was-
ser hinein. Dieser Vorposten diente der
Stadt als Gefängnis.
Im Volk erzählte man sich grauenhafte Geschichten darüber. So war die Rede von einem Verließ mit einem von der
Decke hängenden Stück Brot und einem
Abgrund darunter. Wollte der Gefangene nicht verhungern, musste er an das
Brot gelangen, wobei er unweigerlich in
den Abgrund stürzte, wo ihn scharfe
Messer zerschnitten, bis die einzelnen
Körperteile in den Rhein hineinfielen
und vom Wasser fortgespült wurden.
Aber selbst wenn diese Legenden vielleicht nicht der Wahrheit entsprachen,
so war doch jeder, der hier gefangen
saß, schon so gut wie tot. Er starb an
den grausamen Haftbedingungen im
feuchten Kerker, oder er wurde öffentlich hingerichtet, oder er ging nach der
Freilassung an den Folgen der Verhöre
zu Grunde.
Franziska und Raimund hatten hier
nichts zu befürchten. Die Waffenknechte, die gelangweilt am Tor standen,
grüßten sie ehrerbietig. Dennoch lief
ihnen ein Schauder über den Rücken,
als sie an der dunkelgrauen Fassade mit
170
den winzigen, schmalen Fenstern hinaufblickten. Franziska, die törichterweise ihr Schwert (unter den Kleidern
verborgen) mitgebracht hatte, sah ein,
dass sie die Gaukler aus diesem Turm
ganz bestimmt nicht befreien konnte.
"Ob sich dein Vater für sie einsetzt,
wenn wir ihn bitten?" flüsterte sie.
"Für deine Schwester bestimmt. Er
braucht sie wahrscheinlich in etwa vier
Wochen."
"Was sagst du da?"
"Du hast noch immer falsche Vorstellungen vom Mitgefühl meines Vaters.
Er will nach Bremen fahren und dabei
(ganz zufällig natürlich) der Burg deines Vaters einen Besuch abstatten. Ganz
plötzlich wird er sich erinnern, die
Töchter des Herrn Vasallen in den Händen schlimmer Gesellen gesehen zu
haben. Nicht minder ritterlich als der
Ritter bietet er an, sie zu befreien, für
eine kleine Gegenleistung, versteht sich.
Dann geht das übliche Schachern los.
Eine Tochter bekommt der Vater zurück
(immerhin besser als nichts!), die andere bleibt hier und hilft den Cranboims
beim gesellschaftlichen Aufstieg. Ein
paar Beutel Schmiergeld, und der Ehevertrag ist perfekt, ehe irgendjemand
vom Betrug etwas merkt. Hochzeit ist
ein Geschäft. Wusstest du das noch
nicht? ... Übrigens habe ich gestern ..."
"Da sind wieder ein paar Satansjünger eingelocht worden", erklärte plötzlich jemand unmittelbar hinter ihnen,
und sie fuhren erschrocken herum. Ein
heruntergekommen aussehender Kerl
mit schwammigem Gesicht und schiefem Grinsen hatte sich ihnen von hinten
unbemerkt genähert.
"Was weiß du darüber?"
"Oh, so manches."
Natürlich hatte er seinen Preis.
Raimund kramte hastig aus seiner Tasche einen Vierteldenarius hervor und
steckte ihn ihm zu.
"War ein Mädchen mit rotblonden
Locken bei den Gefangenen?"
"Eine Rothaarige? Nun, es war dunkel, aber ich glaub' bestimmt, dass so
eine dabei war. Es soll nämlich einen
Hexenprozess geben. Eine rothaarige
Hexe! Jawohl, genauso ist's! Wollt Ihr
wissen, was mit der jetzt passiert? Ich
kenn' mich da ein bisschen aus, weil ich
mal Wächter da drin war."
Ohne zu ahnen warum, spürte er, dass
er die beiden mit seinem Gerede beeindrucken konnte, und das nutzte er nun
hemmungslos aus.
"Hexen haben bekanntlich hundert
Zaubermittel, um andere Leute hinters
Licht zu führen. Drum werden sie im
Keller nackt ausgezogen."
Sein schiefes Grinsen wurde noch
widerlicher.
"Wenn eine hübsch ist, gehört sie natürlich erst einmal dem Henker und seinen Knechten. Die Folter beginnt gewöhnlich mit den Daumenschrauben.
Anschließend zerquetscht man die Beine. Schließlich werden die Brüste langsam mit glühenden Zangen zerrissen ..."
Franziska war wie von Sinnen vor
Wut und ging wider jede Vernunft mit
ihrem Schwert auf ihn los. Er sprang
zurück und rief aus sicherer Entfernung:
"Eine Jungfrau mit Waffe! Das ist
merkwürdig! Habt Ihr dafür die Erlaubnis unseres gütigen Stadtherrn?"
Raimund warf ihm eine weitere Münze vor die Füße.
"Nimm das und verschwinde!"
Franziska raunte er zu:
"Steck das Ding schnellstens wieder
weg! Die Wächter haben zum Glück
nichts gesehen, weil sie würfeln. Was
ist in dich gefahren? Wegen diesem
schleimigen Halunken! Und ausgerechnet vor der Kunibertstorburg!"
"Du kennst sie ja kaum! Wenn sie dir
so viel bedeuten würde wie mir, könntest du auch nicht so ruhig bleiben."
171
Einen Augenblick lang überlegte er,
ob er die Wahrheit gestehen sollte, doch
dann war ihm das peinlich, und so sagte
er nur mit einem bitteren Lächeln:
"Vielleicht stehe ich ihr näher als du."
"Weil du ein Katharer bist, und weil
sie dich darum vielleicht als nächstes
holen! Entschuldige bitte! Ich rede
dummes Zeug, weil ich mich so hilflos
fühle."
"Ich fühle mich auch elend. Dieser
Halunke hat nämlich Recht, auch wenn
wir das nicht glauben wollen. Für den
Erzbischof und die anderen Mächtigen
in der Stadt ist es nun einmal die beste
Lösung, den Maginulfusmord dem Teufel und einer seiner Hexen anzuhängen.
Unter der Folter gesteht man alles, was
der Henker hören will. Unglücklicher-
weise war Ramira in der Nähe, als es
geschah."
"Woher weißt du das?"
"Ich ... ich habe sie zufällig dort gesehen an diesem Abend."
"Ja, alles spricht gegen sie. Sogar sein
eisernes Kruzifix hat sie mitgenommen!
Wie kann man so dumm sein!"
"Und du dachtest vorhin, mein Vater
würde sie noch retten! Er könnte es
nicht einmal, wenn er es wollte. Sie ist
hin. Verstehst du? In einer Woche haben ihr die gottesfürchtigen Diener der
Heiligen Inquisition die Knochen zerquetscht und die Haut vom Leib gesengt, und sie wird entehrt und zerbrochen danach winseln, dass man sie endlich auf dem Scheiterhaufen erlöst."
"Sei still! Bitte!" flüsterte Franziska.
III
G
egen Abend richtet es Raimund
so ein, dass er mit Franziska
allein sprechen konnte, und
fragte sie:
"Kommst du heute mit zu meiner
Gemeinde?"
Sie nickte ohne Zögern. Im Grunde
hatte sie damit gerechnet, dass er sie
mitnehmen würde, sogar ein wenig darauf gehofft. Er führte sie zur Weidengasse und zwar zu jenem Haus und in
jenen Keller, wo sie nach den Tumulten
vor Sankt Maria ad Gradus einige Tage
zu Hause gewesen war.
"Jetzt verstehe ich manches", sagte
sie lächelnd und fühlte trotz ihrer Angst
um die Gaukler einen Anflug von Freude in sich aufkommen. Endlich gab es
keine trennenden Geheimnisse mehr
zwischen ihnen, so glaubte sie.
Im Zimmer saßen wenigstens zwanzig Leute im Kreis beieinander. Die
Frauen hatte Franziska schon im Kommunehaus gesehen, wenn auch (von
Ursula abgesehen) noch mit keiner von
ihnen gesprochen. Die Männer kannte
sie noch nicht. Einen von ihnen stellte
Raimund als einen Onkel zweiten Grades mit Namen Viktor vor. Er war Mitte
zwanzig, also nur wenige Jahre älter als
sein Neffe, dabei aber bereits beleibt
und behäbig wie ein alter, selbstzufriedener Mönch. Zudem strahlte er ein
solches Maß an Friedfertigkeit und
Harmlosigkeit von der ersten Begegnung an aus, dass mancher ihn nicht
recht ernst nahm. Neben ihm stand ein
nicht mehr jugendliches, zweifellos
jedoch noch unverheiratetes Mädchen.
Ihr blondes, nackenlanges Haar fiel etwas zu glatt herab, so dass ihr Gesicht
lang und hager erschien.
"Das ist Cordula", sagte Raimund.
Die junge Frau gab Franziska unbeholfen und scheu die Hand und suchte
nach ein paar freundlichen Begrüßungsworten, die sie dann aber doch
nicht fand. Es blieb ihnen indes auch
kaum Zeit zu einem Gespräch, denn
Ursula kam, kaum dass sie die vormali-
172
ge Bewohnerin der Dachstube erblickt
hatte, mit energischen Schritten heran
und stellte klar:
"Wir sind Freunde alter, frommer Gesänge. Nach unseren Bestimmungen
muss ein Neuling Bürger der Stadt Köln
sein."
Sie sagte das so bestimmt und feindselig, dass Franziska nicht zu protestieren wagte, so sehr das Misstrauen sie
auch kränkte. Das Mädchen warf noch
einen fragenden Blick zu Raimund herüber, erkannte aber an dessen verdrossener Miene, dass sie sich nichts auszurechnen brauchte, und ließ sich deshalb
ohne Widerstreben hinausführen.
Wenigstens durfte sie in einem kleinen Nebenraum jenseits des Eingangskorridors warten, um nicht als Mädchen
allein im Dunkeln durch die halbe Stadt
zurück zum Anwesen der Cranboims
gehen zu müssen. Zu ihrer Überraschung war sie nicht als einziger dorthin
verbannt worden. Auf der groben Holzbank saß, als sie eintrat, schon ein junger Mann. Er trug ein Lederwams mit
einem Wappen, das sie nicht kannte,
dazu einen breiten Gürtel um die Taille
und feste Schuhe an den Füßen. Die
Kerze vor ihm auf dem Tisch beleuchtete sein von Sonne und Wetter frühzeitig
gegerbtes Gesicht. Seine wirren Haare
und das stoppelbärtige Kinn vervollständigten das Bild eines verwegenen
Kriegers. Dennoch beunruhigte Franziska seine Nähe nicht. Das lag zum
einen an seinen dunklen, freundlichen
Augen und zum anderen an seinen (dem
sonstigen Eindruck krass widersprechenden) vorbildlichen Umgangsformen. Selbst in den Schlössern der
Oldenburger Grafen hatte man ihr selten
mit solcher Eleganz einen Platz angeboten wie in dieser engen, düsteren Kellerkammer am Stadtrand von Köln.
"Bonjour, mademoiselle. Asseyezvous, s'il vous plaît!"
Sie bedankte sich, bemüht, ihm an
Manieren nicht nachzustehen.
"Je ne parle pas allemand. Je regrette."
Er hob bedauernd die Schultern. Obwohl sie sich fast nur durch Blicke und
Gesten verständigen konnten, langweilten sie sich beide nicht. Sie verstand
nach einiger Zeit, dass er Pierre hieß,
ein Chevalier war (was wohl dem Stand
ihres Vaters entsprach), aus einem Occitanien genannten Gebiet im Süden
Frankreichs stammte und jemanden
begleitete und beschützte.
Jenen (offenbar sehr bedeutenden)
Mann zeigte er ihr, als er am Fenster
vorbei schritt. Sie sah ihn nur kurz, war
aber dennoch beeindruckt. Alles an ihm
schien nicht aus dieser irdischen Welt
zu stammen - nicht das weiße, sehr lange Haar, das wie Schnee auf seinen
Schultern lag, nicht die fast bis zum
Skelett abgemagerte Gestalt, nicht das
tiefernste Gesicht, in welchem zwei
große, dunkle Augen im scharfen Kontrast zur blassen Haut wie Kohlestücke
erschienen, nicht der Gang, der einem
Schweben glich. Er strahlte eine Würde
aus wie ein Kirchenfürst, und war zugleich unheimlich wie ein Geist.
"C'est un perfectus", erklärte Pierre
mit Hochachtung, und Franziska ahnte,
dass sie wohl hauptsächlich seinetwegen nicht an der Zusammenkunft teilnehmen durfte. Wieso der Ritter dieses
Greises unter dieselben Bestimmungen
fiel, verstand sie freilich nicht.
Dem Perfectus folgte noch ein zweiter Mann, der ebenso wie dieser barfuss
ging und das gleiche schwarze,
mönchsähnliche Gewand trug, allerdings weniger Respekt einflößend wirkte. Er erinnerte an einen gelehrigen
Schüler, der schattengleich und voller
Eifer seinen Meister auf Schritt und
Tritt begleitet.
Um besser sehen zu können, war
Franziska auf einen Schemel gestiegen,
173
der sich nun als sehr wackelig erwies.
Als er umkippte, musste sie zufrieden
sein, auf allen Vieren zu landen, wobei
ihr allerdings das Schwert unter dem
Mantel herausrutschte und klirrend zu
Boden fiel. Das war ihr äußerst peinlich,
doch Pierre beruhigte sie, indem er den
rechten Finger an die Lippen führte.
"C'est votre épée? Pouvez-vous faire
des armes?" fragte er, und weil sie ihn
nicht verstand, zog er sein eigenes
Schwert hervor, deutete Fechtbewegungen an und nickte ihr aufmunternd,
wenn auch ein wenig spöttisch zu.
"Ah, du denkst, ich kann damit nicht
umgehen?" rief sie, sprang blitzschnell
auf ihn zu und setzte ihm die Waffe auf
das lederne Wams.
"Ha! Da staunst du, was!"
Er hatte sein Schwert viel zu tief und
viel zu lässig gehalten, um eine Abwehrmöglichkeit zu besitzen. Nun war
er aber gewarnt, und weil er sich einem
Mädchen gegenüber keine Blöße geben
wollte, griff er seinerseits an. Damit
wiederum hatte sie gerechnet und längst
Schwung geholt, so dass sie mit einem
prächtigen Parierschlag ihren Gegner
ein zweites Mal in Erstaunen versetzen
konnte. Erst jetzt wurde ein echter
Kampf aus dem Geplänkel. Pierre hatte
endlich begriffen, dass er sich ein wenig
mehr anstrengen musste, wenn er sich
nicht wirklich noch blamieren wollte,
und bewies nun mit ein paar raffinierten
Finten, dass er sehr wohl sein Handwerk verstand.
Franziska hielt sich tapfer und erinnerte sich nach und nach an alles, was
Stefanus ihr beigebracht hatte. Einarmiger Angriff von rechts oben, Ausweichbewegung mit gleichzeitigem Verwringen des Körpers, beidhändiger Verteidigungsschlag von links unten, erneu-
ter Angriff über Kopf mit einer leichten
Drehung. Sie führte das alles so korrekt
und sicher vor, dass jeder Schwertmeister seine Freude an ihr gehabt hätte. Nur
die Enge des Raumes störte sie. Mehr
als einmal blieb sie mitten im schönsten
Schwung in einem Balken hängen und
kam sich dann sehr lächerlich vor.
Ihr Ärger darüber, dass der französische Ritter sie am Ende doch in die
Ecke drängte, verflog jedoch schnell,
als sie merkte, dass er sie plötzlich mit
anderen Augen sah. Sofort nachdem er
ihr das Schwert aus der Hand geschlagen und somit endgültig besiegt hatte,
packte er sie mit beiden Händen bei den
Schultern, schüttelte sie kräftig und rief
begeistert aus:
"Très bien! Vous êtes un vrai garçon!"
Dabei strahlte er über das ganze Gesicht und war nicht mehr der Charmeur
von zuvor, sondern ein wirklicher Kamerad. Welchen Dienst er ihr damit
erwies, konnte er nicht ahnen. Sie gewann ihre Zuversicht zurück, erinnerte
sich des alten Spruchs, dass nur verloren ist, wer sich selbst aufgibt. Das
Wort Occitanien ließ sie träumen von
einem paradiesischem Land, wo immer
die Sonne scheint. Dorthin wollte sie
mit Raimund und den befreiten Gauklern fliehen. Sie wusste nicht, wie sie
das anstellen sollte, aber sie vertraute
fest auf Gottes Hilfe.
Die Zeit verging Franziska und Pierre
so schnell, dass sie sich wunderten, als
der Perfectus und sein Begleiter verabschiedet wurden. Der Ritter musste die
beiden nun zu ihrem Nachtquartier
bringen, während sich das junge Mädchen endlich zu den anderen Katharern
gesellen durfte.
174
IV
F
ranziska hatte erwartet, Spuren
des gerade zu Ende gegangenen
Rituals zu finden, stellte aber
enttäuscht fest, dass alle noch genauso
im Kreis saßen wie zuvor, und dass
auch kein Gegenstand hinzugekommen
war. Als einzige Veränderung entdeckte
sie ein paar inzwischen angezündete
Kerzen und fragte sich, wie man den
Raum so schnell wieder in den ursprünglichen Zustand hatte versetzen
können. Dass Ketzer sich gut zu tarnen
verstehen, erschien ihr einleuchtend,
und so traute sie ihnen von Geheimtüren
angefangen bis hin zu einer beweglichen Decke fast alles zu.
Durch dieses Rätsel erschien ihr die
Gemeinde ein wenig unheimlich, was
sie aber nicht hinderte, sich zu ihnen in
den Kreis zu setzen. Da woanders kein
Platz frei war, musste sie mit Viktor als
Gesprächspartner vorlieb nehmen, gegen den sie anfangs, ohne es begründen
zu können, eine heimliche Abneigung
empfand. Er spürte ihr Widerstreben,
vermutete, sie habe schlechte Erfahrungen mit aufdringlichen Männern gesammelt und stellte (nach einer peinlichen Zeit des Schweigens) ein für allemal klar:
"Vor mir brauchst du dich nicht in
Acht zu nehmen. Ich werde dich gewiss
nicht in Versuchung bringen."
Dabei wurde er verlegen, als sei ihm
beinahe ein Geständnis entglitten, das er
um jeden Preis hüten wollte. Das tat
Franziska leid, und so zwang sie sich,
ihre Vorurteile zu überwinden.
"Erzähl mir ein bisschen von dir!"
forderte sie ihn auf.
"Erwarte nur nichts Heldenhaftes!"
"Ich denke, dass jeder Mensch auf irgendeine Weise ein Held sein kann."
"Das hast du schön gesagt! Mein Vater ist ein Ministeriale des Erzbischofs
und glaubt, dass es nichts Ehrenvolleres
auf der Welt gibt als eben das. Einmal
begleitete er unseren Stadtherrn nach
Italien. Vor dem Aufbruch erhielt er
zehn Mark Silber für Ausrüstung und
Bekleidung. Zudem gehörte er zu den
Glücklichen, denen das Los ein Streitross samt Sattel und allem Zubehör verschaffte. Für jeden Tag jenseits der Alpen, vierundfünfzig an der Zahl, bekam
er noch einmal eine Mark Silber. Vom
Wert des Pferdes abgesehen, kam er auf
einen Sold von vierundsechzig Mark
Silber. Das sind 9.216 Denare. Diese
Zahl musste ich einmal einen ganzen
Nachmittag lang immer wieder in den
Sand zeichnen, damit ich begreife, wie
einträglich der Beruf eines Waffenknechtes ist." Er hielt kurz inne und
seufzte. "Zum Kummer meines Vaters
hat das wenig geholfen bei mir. Ein Jahr
lang bin ich zwar als Knappe mit einem
Ritter durchs Land gezogen, doch kann
man aus einem Holzlöffel keinen
Hammer machen."
"Warum hat dein Vater dich nicht ein
Handwerk erlernen lassen, wenn du die
Waffen nun einmal nicht magst?"
"Zwischen meinem Großvater und
seinem Bruder (dem Urgroßvater von
Raimund) gab es einmal einen bösartigen Streit. Seither sind die beiden Familien verfeindet und es ist eine Frage der
Ehre, dass die Söhne des einen Zweiges
Kaufleute und die des anderen Ministerialen des Erzbischofs werden. Ich bin
der einzige Sohn meiner Eltern. Welch
eine Schande! Allerdings habe ich,
wenn man's genau nimmt, beiden Familien geschadet. Durch mich nämlich ist
Raimund Katharer geworden."
Er lächelte schelmisch. Franziska sah
ihn an und fand ihn plötzlich durchaus
sympathisch. Bald störte sie sich auch
nicht mehr an seiner weichlichen Art
und seiner helle, fast weibliche Stimme.
175
"Und hier fühlst du dich wohl?" fragte sie ihn, und fügte zweifelnd hinzu:
"Geht es nicht sehr streng zu bei euch?"
"Niemand wird gezwungen, bei der
Gemeinde zu bleiben. Auch die Regeln
befolgt jeder nur so weit, wie er es für
richtig hält. Manche wohnen im Kommunehaus, andere so wie Raimund bei
ihren Familien."
"Und du?"
"Ich bin vor zwei Jahren ins Kommunehaus gezogen, weil ich es bei meinem
Vater nicht mehr ausgehalten habe."
"Das finde ich merkwürdig: Ihr lebt
zusammen wie in einem Orden, aber es
gibt Männer und Frauen bei euch."
"Das ist gar nicht so merkwürdig.
Hast du noch nicht vom Doppelkloster
Fontevrault gehört? Ein heiliger Mann
namens Robert von Arbrissel hat es
mitten im Wald gegründet. Dort gehört
es sogar zur Regel, dass nur eine verheiratete Frau Äbtissin sein darf - Äbtissin
über beide Klöster, auch über das der
Männer."
"Ich kann das kaum glauben!"
"Und doch ist es die Wahrheit! Bei
uns gibt es zwei Kommunehäuser. Das
für unsere Schwestern kennst du, das
für die Brüder befindet sich ein kleines
Stück weiter zur neuen Stadtmauer hin.
Die beiden Konvente bestehen nun
schon seit fast zwanzig Jahren."
"Und die ganzen Jahre über seid ihr
nicht entdeckt worden?"
"Wir konnten uns gut tarnen, weil unsere Lebensweise jener der Beginen und
Begarden ähnelt. Die aber haben ihren
Frieden mit der Kirche geschlossen und
dürfen in der Stadt ihre Höfe gründen."
"Ich habe mich am Anfang auch täuschen lassen."
"Trotz allem hatte es unsere Gemeinde nicht immer leicht. Die Handwerkerinnungen mögen die Kommunen nicht,
weil sie um ihr Geschäft fürchten. Allein die Lederbeutelmacher ließen sich
überreden, weil die Arbeit schwer ist
und schlecht bezahlt wird, so dass die
Lehrlinge und Lehrmädchen davonlaufen. Immerhin darf jetzt von jedem
unserer Häuser ein Vertreter an den
Morgensprachen teilnehmen. Die Frauen vertritt übrigens Ursula. Du kennst
sie doch?"
"Ich kenne sie, aber ich mag sie nicht.
Sie ist so ...engherzig. Was denkst du
denn von ihr?"
Da sich jetzt alle unterhielten, und
deshalb ziemlich viel Lärm im Raum
herrschte, war es ausgeschlossen, dass
die junge Frau sie verstehen konnte.
Dennoch zuckte Viktor unwillkürlich
zusammen. Er wog den Kopf, und ihm
war anzumerken, wie sorgsam er jedes
Wort prüfte, um auf keinen Fall jemandem etwas Schlechtes nachzusagen.
"Ursula ist sehr bescheiden. Sie
nimmt sich immer die schwersten und
niedrigsten Arbeiten, geht sogar betteln
für die Gemeinschaft."
"Ich glaube, dass sie mich nicht
mag."
"Sie möchte nicht, dass Mann und
Frau beieinander liegen, weil dabei ein
Kind gezeugt werden kann."
"Und was ist so schlimm daran?"
"Der Teufel unternimmt mit seinen
Dämonen Raubzüge an die Grenze des
Himmelreiches. Von dort entführt er die
Engel des Herrn und sperrt sie in
menschliche Körper. Verstehst du? Jedes Kind, das geboren wird, dient als
Gefängnis für die Seele eines Engels."
"Selbst wenn es so wäre, wie du sagst
- ich und Raimund, wir haben noch nie
beieinander gelegen. Das ist ein ungerechter Vorwurf." Sie verteidigte sich
ein wenig zu heftig, musste einen Anflug von Verlegenheit überspielen. "Auf
jeden Fall könnte sie mir sagen, was ihr
an mir nicht gefällt."
"Vielleicht liegt es an ihrem früheren
Zuhause, dass sie manchmal hart urteilt.
Ihre Eltern sind Handwerker und arbeiten fast nur für das Domkapitel und für
176
die Kölner Kirchen, vor allem für die
reichen Stifte, die Mutter als Stickerin
und der Vater als Goldschläger. Das hat
wohl im Laufe der Zeit auf ihr ganzes
Leben abgefärbt. Alles bei ihnen geschieht nach den Regeln der Poenitentiales. Dort steht zum Beispiel drin, an
welchen Tagen ein Mann seine eigene
Ehefrau zu sich ins Bett nehmen darf
und an welchen nicht. Das Essen und
Trinken ist geregelt, das Reden, einfach
alles."
"Aber die Poenitentiales sind doch
die Bußbücher der Katholiken, und Ursula ist eine Ketzerin geworden!"
"Sie nimmt die Regeln der Katharer
ebenso genau wie ihre Geschwister die
Regeln der Papstkirche."
"Ihre Geschwister haben sich den Eltern also nicht widersetzt?"
"Der jüngere ihrer beiden Brüder ist
Priester geworden, die Schwester früh
ins Kloster gegangen. Jetzt lebt nur
noch der älteste Sohn im Hause. Der ist
Goldschläger wie sein Vater und erbt
eines Tages die Werkstatt."
"Die beiden sehen einander zum
Verwechseln ähnlich!"
Das war ein Einwurf von Cordula
gewesen, und Franziska drehte sich nun
verblüfft nach ihr um. Sie hatte die junge Frau ganz vergessen, obwohl sie wie
Viktor neben ihr saß. Cordula wurde
durch die plötzliche Aufmerksamkeit
furchtbar verlegen und entschuldigte
sich sofort:
"Verzeiht mir! Ich wollte euch nicht
stören",
was freilich nicht ganz aufrichtig war,
denn in Wahrheit hatte sie genau dafür
lange nach einem passenden Vorwand
gesucht. So schwieg sie nun auch nicht,
sondern beanspruchte Franziska fortan
für sich:
"Ich stamme aus einer Korbmacherfamilie. Leider ist Mutter schon vor
über zehn Jahren gestorben und hat
(Gott sei's geklagt) sieben Kinder zurückgelassen. Wir sind in Not gekommen, und Vater kriegt keine neue Frau.
Seit einem Unfall hinkt er nämlich." Sie
seufzte tief. "Ich war das älteste Kind
und musste plötzlich Hausfrau sein.
Zum Markt gehen, Essen kochen, waschen, auf die Kleinen aufpassen." Sie
seufzte abermals. "Leider hab ich zwei
linke Hände, und keiner hört auf mich,
wenn ich was sage."
Ihr Gesicht wirkte plötzlich vor Gram
und Verbitterung wie versteinert. Um
sie auf andere Gedanken zu bringen,
sagte Franziska:
"Jetzt wohnst du im Kommunehaus,
nicht wahr? Ich habe dich einmal dort
gesehen."
"Ja. Eines Tags bin ich davongelaufen. Die Katharer bestrafen niemanden
wegen seiner Ungeschicklichkeit. Und
weil sie glauben, dass die körperliche
Hülle vom Teufel stammt, sind ihnen
Frauen nicht weniger wert als wie Männer. Wir leben im Kommunehaus so
schön und friedlich miteinander ... Ich
fürchte mich aber vor diesen Canes. Ich
träume oft davon, dass sie unser Haus
stürmen. Darum male ich jeden Tag
magische Zeichen in den Sand vor der
Tür. Das muss ich aber heimlich machen, weil's Aberglauben ist."
Viktor beklagte sich übrigens nicht,
dass er seine Gesprächspartnerin hatte
abtreten müssen. Er lehnte sich zurück
und beobachtete mit einem gutmütigen
Lächeln die anderen, die hin und wieder
freundlich zurückblinzelten. Obwohl er
nicht im Mittelpunkt stand, war er unübersehbar beliebt.
177
V
E
ine Gelegenheit, mit Raimund zu
sprechen, fand Franziska erst
wieder auf dem Heimweg tief in
der Nacht.
"Wie hast du dich mit Cordula und
Viktor verstanden?" wollte er wissen.
"Recht gut, zumindest am Schluss."
"Cordula grämt sich, weil sie ihn liebt
und nicht begreifen will, dass er Frauen
nicht mag."
"Wie meinst du das?"
"Hast du noch nie davon gehört, dass
manche Männer ..."
"Ich verstehe. Doch ... das ist eine
schwere Sünde."
"Bist du enttäuscht?"
"Nein ..."
"Wer den Dominikanern glaubt, muss
uns für blutrünstige Verbrecher halten.
In Wahrheit sind wir fast alle unglückliche Geschöpfe, ausgestoßen und verachtet, zu schwach, um uns in dieser
Stadt allein behaupten zu können. Nur
zusammen sind wir stark genug. Ist dir
aufgefallen, wie freimütig bei uns jeder
seine Mängel zugibt? Bei uns darf man
schwach sein. Niemand findet etwas
Besonderes dabei."
"Wie konnten solche Menschen jahrelang Krieg führen?"
"Frankreich ist nicht Deutschland.
Dort gehören nicht nur Sonderlinge zu
den Katharern sondern auch Burgherren
und Adlige. Dort ist unser Glaube stolz
und gefürchtet."
"Und wie ist das mit den strengen
Regeln, von denen man sich erzählt?
Stimmt es, dass sich manche von euch
zu Tode hungern, nur um den vom Teufel erschaffenen Leib abzuschütteln?"
"Glaube nicht solchen Unsinn! Wir
halten bestimmte Fastenzeiten ein - das
ist das ganze Geheimnis des Endura.
Außerdem musst du wissen, dass sich
nur die Perfecti der Lehre völlig unter-
werfen. Für uns einfachen Anhänger
sind die Bedingungen viel leichter."
"Denkst du, dass die Katharer in
Deutschland eines Tages genauso viel
Macht bekommen wie in Frankreich?"
"Ich denke, dass wir zum versprengten Rest eines geschlagenen Heeres gehören. Die katholische Kirche wird uns
früher oder später vernichten, ohne sich
anzustrengen."
Franziskas wusste nun, dass er sie belogen hatte bei seinen tröstenden Beteuerungen am Vormittag - und in ihr Herz
kehrte die Beklommenheit zurück, die
sie (vor allem durch die Späße des Ritters Pierre) für einige Stunden abgeschüttelt hatte. Wieder sah sie Pentia,
Ramira, Melanie und Mario in ihrem
Unglück vor sich. Wieder sah sie sich
Alexander und den kleinen David begraben. In ihrem Zimmer vergrub sie
den Kopf im Kissen und weinte, bis sie
vor Erschöpfung einschlief - und ihre
Sorgen in den Träumen wiederauferstanden.
Am nächsten Morgen war das Frühstück am großen Familientisch eine
Qual für sie. Hier hatten die Gewalttätigkeiten, die nun schon den dritten Tag
die Stadt in Schrecken versetzten, fast
nichts verändert. Wolfhard und Jan unterhielten sich angeregt über ihren
jüngsten Geschäftserfolg. Katharina, die
sich langweilte, bedrängte die Mutter
mit ihrem Wunsch nach einem neuen
Kleid. Nur bei der zerbrechlich zarten
Dorothea hatten die grausamen Berichte
eine Spur hinterlassen.
"Was haben die Juden diesen Canes
eigentlich getan?" fragte sie unvermittelt.
Der Vater wandte sich ihr zu und belehrte sie:
"Sie rauben kleine Kinder, schlachten
sie und opfern sie bei ihren teuflischen
Ritualen."
178
Das Mädchen riss entsetzt die Augen
auf, war aber dennoch nicht gänzlich
überzeugt.
"Hat man sie schon mal dabei gesehen?"
"Das weiß man eben", versetzte der
Vater und wollte sich wieder Jan zuwenden.
In diesem Moment aber fasste sich
Franziska ein Herz und bat ihn:
"Meine Schwester sitzt unschuldig in
der Kunibertstorburg gefangen. Könnt
Ihr sie befreien?"
"Ich kümmere mich heute darum. So
ganz schuldlos an ihrem Unglück ist sie
aber nicht, deine Schwester. Sie hätte
bei uns wohnen können, anstatt sich mit
diesem Pack herumzutreiben."
"Mein Herr Vater kümmert sich darum! Wie mitfühlend!" Raimund schob
den Teller mit einer heftigen Bewegung
von sich. Seine Augen glühten. "Vier
Menschen sind unschuldig eingesperrt.
Vier! Euch beschäftigt aber nur das
Schicksal der Ritterstochter, für die Ihr
noch Verwendung habt."
"Raimund!" rief Sieglinde Cranboim.
Auch der Kaufherr war überrascht
von der plötzlichen Aufsässigkeit seines
sonst so in sich gekehrten Sohnes.
"Ich bin heute aus gutem Grund ausgezeichnet gelaunt und will mir meine
Stimmung nicht mit derlei Unsinn verderben lassen."
Katharina unterstützte ihn:
"Was geht uns der Spuk auf der Straße an? Können wir nicht über etwas
Lustiges reden?"
Der Vater tat ihr den Gefallen. Seine
Töchter bogen sich vor Lachen. Jan und
die Mutter schlossen sich ihnen an.
Franziska und Raimund indes wurden
vergessen.
Nach dem Frühstück ging jeder seinen Pflichten nach. Franziska saß mit
Jan in seinem kleinen Kontor und half
ihm beim Sortieren von Rechnungen.
"Ob dein Vater etwas erreicht?"
"Bestimmt. Er hat seine Beziehungen."
"Vielleicht könnte er auch für die anderen drei ..."
"Für diese Gaukler? Warum? So etwas ist doch Abschaum."
Sie wollte nicht glauben, dass er
wirklich so dachte, wie er redete, und
sah ihn lange an. Auf seinem Gesicht
spiegelte sich jedoch keine Spur von
Erregung wider. Offenbar mit seinen
Gedanken längst woanders, nahm er ein
Pergament in die Hand und vertiefte
sich darin. Sie hatte sich immer gefragt,
ob sein kühles Gehabe mit dem Geschäft zusammenhing oder seinem Wesen entsprach. Jetzt wusste sie die Antwort, und ihr fröstelte.
179
18.Kapitel
I
F
ranziska und Raimund gingen
jeden Morgen zur
Kunibertstorburg. Wenn sie den Gefangenen schon nicht helfen konnten,
wollten sie wenigstens etwas über ihr
Schicksal erfahren. Nicht einmal das
aber war ihnen vergönnt. Die Wächter
wussten nichts oder durften ihnen nichts
sagen, und den Schwätzern, die sich
ihnen manchmal aufdrängten, schenkten
sie keinen Glauben.
Nach einer Woche wurde das Ergebnis der Verhöre verkündet, wie zum
Hohn ausgerechnet dort, wo die Gaukler
wochenlang gewohnt und große Erfolge
bei den Niedericher Bürgern gefeiert
hatten, auf dem Platz vor Sankt Kunibert. Selbstverständlich waren die Angeklagten geständig gewesen.
"... und so flogen sie durch die Lüfte
zu den Orgien des Satans, und gaben
sich dort den abscheulichsten Ausschweifungen hin, die auszusprechen
sich die Zunge eines rechtgläubigen
Christenmenschen scheut, und schworen der Katholischen Kirche und dem
Heiligen Vater ab und bekannten sich
zu den Mächten der Hölle, und bereiteten Salben zum Schaden der Bürger
unserer Heimatstadt Köln derart, dass
sie nach Belieben Hagel und Sturm
schicken konnten ..."
Franziska zog Raimund fort.
"Ich kann das nicht mehr mit anhören!" flüsterte sie ihm zu. "Das ist doch
alles nicht wahr. Das haben sie nur gestanden, weil sie gefoltert worden sind."
Er ging darauf nicht ein, sondern sagte stattdessen:
"Mein Vater war bei den Inquisitoren."
Sie blickte ihn aus großen Augen an.
"Was hat er erfahren?"
"Dass deine Schwester gar nicht in
der Kunibertstorburg ist."
"Wieso nicht? Sie muss dort sein."
"Eine Ritterstochter gemeinsam mit
fahrendem Volk wegen Schadenzauber
anzuklagen, ist eine bedenkliche Sache.
Ich kann mir vorstellen, dass man sie
vorübergehend im Keller des Hospitals
Sankt Maria Magdalena hat verschwinden lassen. Sobald sich die Aufregung
über den Prozess legt, kann sie sich
mein Vater dort abholen."
"Ja, das wäre möglich. Trotzdem finde ich das alles so schrecklich! Diese
Nacht habe ich von Ramira geträumt.
Sie stand mit zerfetzten Kleidern vor
mir und sah mich mit großen Augen an.
Das werde ich nie vergessen. Lass uns
fortgehen aus Köln! Wenn ich immer
wieder an diesem Turm vorbeigehen
muss, gräme ich mich zu Tode. Der
Ritter, der euren Perfectus begleitet, hat
mir von seiner Heimat erzählt."
"Erzählt?" fragte er ungläubig zurück.
"Nun ja, wir haben uns irgendwie
verständigt."
"Pierre gehört zur Besatzung der
Burg Montségur. Sie steht auf einem
hohen Felsen und ist so gut wie uneinnehmbar. Zwanzig Jahre Krieg überstand sie unbeschadet, und noch immer
leiten die Führer der Katharer von dort
aus den Widerstand. Die Burg ist ein
Symbol für alle, die sich nicht einschüchtern lassen wollen und deshalb
aus Höhlen und Wäldern heraus den
Kampf gegen die Katholiken fortsetzen.
Solange Montségur nicht fällt, werden
die Inquisitoren ihr Ziel nicht erreichen.
Im Herbst hat sich der Papst bei einem
Konzil in Toulouse mit etlichen Bischöfen getroffen, um mit ihnen zu beraten,
wie sie unseren Glauben endlich auslöschen können."
"Woher weißt du das alles?"
Er lächelte.
"Von ihm. Ich kann Französisch."
"Was hat er dir noch gesagt?"
"Dass er sein Occitanien liebt und es
niemals von Paris aus verwaltet sehen
will. Eigentlich werden in Frankreich
zwei Kriege zugleich geführt - zwischen
Katharern und Papstanhängern sowie
zwischen occitanischem Adel und König. Wenn Pierre nicht in seiner Heimatliebe ein wenig übertreibt, war die
Grafschaft von Toulouse unter meinem
Namensvetter Raimund VI ein Paradies
auf Erden. Niemand brauchte sich zu
fürchten, weil er an etwas anderes
glaubte oder aus einem fernen Land
kam. Den Menschen ging es gut. Die
großen Städte waren blühende Handelsplätze."
"Und was ist daraus geworden?"
"Raimund wurde sein Verständnis für
die Katharer zum Verhängnis. Erst hat
ihn der Papst exkommunizieren lassen,
dann verlor er seine Grafschaft. Später
eroberte er sie sich zurück und verlor
sie erneut. Ich glaube, er liebte das
Kriegshandwerk nicht besonders. Bei
seinem Neffen Raimund-Roger Trancavel, dem Vicomte von Bézier, war das
anders. Als das riesige Heer des ersten
Albigenserkreuzzugs heranrückte, verschanzte er sich in der großen Burg von
Carcassonne."
Franziska mochte es, wenn Raimund
ihr etwas erklärte. Er wusste viel und
sprach mit ihr auch von Dingen, die sie
als Mädchen eigentlich nichts angingen.
An diesem Tage war sie ihm dafür besonders dankbar, weil er sie damit ablenkte.
"Aus Rache ließ der König die Stadt
Bézier plündern und niederbrennen, die
Bewohner abschlachten. Anschließend
begann die Belagerung von Carcassonne. Unglücklicherweise war der Som-
mer heiß, und schon nach zwei Wochen
ging das Wasser zur Neige. Der Vicomte musste verhandeln. Als er die Burg
verließ, wurde er heimtückisch gefangen genommen und bald darauf hingerichtet. Sein Sohn Raimund Trancavel
entkam."
"Eure vielen Raimunds kann man
kaum voneinander unterscheiden!"
"Eure vielen Heinrichs doch auch
nicht ... Aber du hast recht - ich rede
dich betrunken."
"Nein, so war das nicht gemeint. Bitte
erzähl weiter! Hat der Sohn seinen Vater gerächt?"
"Er hat es versucht. Vor ein paar Jahren sind viele vertriebene occitanische
Adlige zurückgekehrt. Das königliche
Heer mit ihrem Feldherrn Amaury
musste sich immer weiter nach Norden
zurückziehen. Du kannst dir vorstellen,
welch gute Nachricht das für uns war.
Raimund Trancavel eroberte Carcassonne zurück, wurde Vicomte von
Béziers. Doch der König nutzte seine
guten Beziehungen zum Papst, um einen zweiten Kreuzzug predigen zu lassen. Die Menschen in Occitanien hatten
die Gräuel des ersten noch in denkbar
schlechter Erinnerung und darum wenig
Mut zum Widerstand."
Bekümmert merkte Franziska, dass
Raimunds Geschichte ihre Gedanken
zwar an einen anderen Ort führte, dass
dort aber ebenso Unrecht, Grausamkeit
und Habsucht regierten.
"Hat man ihn hingerichtet wie seinen
Vater?" fragte sie verzagt.
"Pierre sagt, er sei enteignet worden
und wieder ins Ausland geflohen."
"Aber die Burg auf dem Felsen ..."
Sie brach ab, weil sie fürchtete, er
würde
selbst
diesen
Hoffnungsschimmer wieder zurücknehmen.
Das tat er aber nicht, im Gegenteil.
"Im Gebirge gibt es noch viele Burgen, an denen sich die Katholiken und
die Königlichen gemeinsam die Zähne
181
ausbeißen. Foix, Surespine, Quertinheux, Peyrepertuse. Ich habe schon so
oft französische Glaubensbrüder davon
reden hören, dass ich mir manchmal
einbilde, schon dort gewesen zu sein.
Quéribus ist vor vier Jahren vom Heer
eines königlichen Seneschalls wochenlang vergeblich belagert worden. In
Cabaret lebt seit fünf Jahren unbehelligt
der Katharerbischof von Carcassonne.
Und in Montségur liegt der Schatz der
Katharer, ein fürstlicher Schatz, den
Erzählungen nach."
Franziska schöpfte wieder ein wenig
Mut.
"Bitte lass uns dorthin fliehen! Du
selbst hast gesagt, dass euer Glaube in
Frankreich stolz und gefürchtet ist, während ihm in Deutschland nur Sonderlinge anhängen. Deine wahre Heimat liegt
also dort und nicht hier. Pierre wird uns
mitnehmen und uns den Weg zeigen."
Raimund sah sie sonderbar von der
Seite an.
"Was hast du nur für merkwürdige
Einfälle! Was sollen die Leute von
Montségur denn mit uns anfangen? Wir
sind keine Perfecti und erst recht keine
Ritter. Wir können weder die Lehre
bewahren noch diejenigen, die das tun,
beschützen."
"Ich weiß noch, wie du mich vor den
Graukitteln gerettet hast, damals bei
unserer ersten Begegnung. Du kannst
also kämpfen, wenn du willst. Und ich
kann es auch, obwohl ich ein Mädchen
bin. Pierre staunte nicht wenig über
mich."
"Pierre?"
"Ja, Pierre. Ich habe mit ihm gefochten."
Er seufzte und senkte tief in Gedanken den Blick. Was in ihm vorging,
wusste das Mädchen nicht. Nach einiger
Zeit sagte er dunkel:
"Der Mensch ist von seinem Wesen
her träge und feige. Trägheit und Feigheit aber gehören vielleicht zu seinen
schwersten Sünden."
"Du kommst also mit, ja?"
"Wohin?"
"Nach Frankreich. Hast du mir denn
gar nicht zugehört?"
"Entschuldige bitte!"
"Ja oder nein?"
Nach langem Zögern antwortete er:
"Ja."
Dann mussten sie sich trennen.
Raimund hatte etwas für seinen Vater
zu erledigen, Franziska wurde von Jan
im kleinen Kontor erwartet.
Am Nachmittag suchte sie nach dem
Chevalier Pierre, um ihm von ihrem
und Raimunds Entschluss zu berichten
und ihn um seine Hilfe zu bitten. Sie
traf ihn aber weder im Versammlungskeller noch im Kommunehaus an,
und die wie immer unfreundliche Ursula wollte ihr auch nicht sagen, wo sie
mehr Glück hätte. Ihre Enttäuschung
jedoch wurde bald von einer viel
schwerwiegenderen Nachricht überdeckt. Aus dem Gespräch zweier alter
Damen erfuhr sie, dass die Hinrichtung
der Gefangenen aus der Kunibertstorburg schon am nächsten Morgen stattfinden sollte. Eine einzige Nacht also
blieb ihnen noch! Fast blind vor Tränen
und ganz benommen vor Kummer,
schaffte sie kaum den Heimweg. Dort
schloss sie sich in ihr Zimmer ein, ohne
sich um die noch nicht erledigte Arbeit
zu kümmern.
182
II
R
aimund saß im großen Saal.
Niemand vermutete ihn hier. Er
war allein. Um die Junihitze
zurückzuhalten, hatte man die Fensterläden geschlossen. Eine Lichtbahn (beginnend an einem vom Sturm ins Holz
geschlagenen Loch) zerteilte den sonst
dunklen Raum und brachte eine steinerne Madonna zum Leuchten. Dorthin
starrte Raimund, während seine Gedanken zu seiner Freundin ins Verließ wanderten. Er sieht die eiserne Tür des Kerkers vor sich, steckt den Schlüssel, den
er in der Hand hält, hastig ins Schloss
und dreht ihn herum. Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Finsternis in der Zelle. Endlich entdeckt er
das wimmernde Bündel, das in der Ecke
auf einer Strohschütte liegt.
"Ich bin gekommen, dich zu befreien."
Hier kann er ihr nicht helfen, und so
nimmt er sie auf die Arme und trägt sie
hinaus ins Freie. Draußen weht ein kalter, scharfer Wind. Ramira klammert
sich an seinem Hals fest und schmiegt
sich zitternd an ihn.
Seine Eltern erwarten ihn schon. Sie
wollen ihm den Weg zur Tür abschneiden und ihn zur Rede stellen. Er aber
umgeht sie und hört ihnen nicht zu. Im
Gästezimmer neben der Küche richtet er
der Freundin aus weichen Fellen ein
Lager her. Dann schleppt er einen Zuber
mit warmem Wasser heran, streift ihr
behutsam die zerfetzten Kleider vom
Körper und wäscht ihr das Blut und den
Schmutz ab. Mit großen, festen Tüchern
umwickelt er die gebrochenen Beine,
mit schmalen Binden die zerschundenen
Finger.
"Du wirst wieder gesund", versichert
er ihr.
"Nein. Ich werde hinken und meine
Hände nicht richtig gebrauchen können.
Was willst du mit mir anfangen?"
Als Antwort streichelt er ihr zärtlich
über Wangen und Haar, hüllt sie in eine
große Decke und legt sich zu ihr.
"Hast du vergessen, woran ich glaube? Sie haben nur deinen Leib verkrüppelt. Deine Seele ist unverletzt geblieben."
"Und deine Eltern? Für die zählt meine Seele wenig. Die sehen nur die Hexe
und Gauklerin in mir und werden mich
aus dem Hause jagen."
"Ich gehen mit dir, gleichgültig wohin."
Unter seinen streichelnden Händen
hört sie allmählich auf zu zittern. Noch
laufen ihr Tränen über die Wangen,
doch auch die versiegen schließlich. In
seinen Armen sinkt sie in einen Erschöpfungsschlaf. Sobald sie aufwacht,
wird er ihr eine Hühnerbrühe mit viel
Fleisch geben.
Plötzlich aber verschwand die Vision,
und Raimund glaubte eine harte Stimme
rufen zu hören:
"Du Träumer! Sie ist verloren. Du
weißt es, nur kannst du die Wahrheit
nicht ertragen."
Ihn fröstelte, obwohl es (trotz der geschlossenen Fensterläden) stickig warm
war im großen Saal.
"Sie ist verloren! Verloren!" hallte es
in ihm wider.
Da wurde er sich der leuchtenden
Madonna bewusst, die ihn von ihrem
Thron her zu verhöhnen schien - und
fasste einen Entschluss. Sein Körper
spannte sich. Angst und Trauer fielen ab
von ihm. Er stand auf, sah noch einmal
hasserfüllt hinüber zu Maria, die für ihn
jetzt nur noch Symbol der päpstlichen
Kirche war, und trat hinaus auf die
Straße. Dort wandte er sich allerdings
nicht nach links dem Gefängnis zu sondern nach rechts.
Vieles ging ihm durch den Kopf. In
kurzen Episoden zog sein ganzes Leben
183
noch einmal an ihm vorüber. Die glückliche Zeit der frühen Kindheit, als er
seiner Mutter noch blind vertraut hatte,
die Jahre in der Klosterschule mit den
Rutenschlägen des Lehrmeisters, die
ersten Botengänge für den Vater, die
erste Begegnung mit den Katharern.
Manche Bilder sah er deutlich, manche
nur verschwommen. Der Abend, an
dem er das Consolamentum empfangen
hatte, stand ihm so klar vor Augen wie
die Straße, auf der er gerade lief.
Der mit einer blendendweißen Decke
verhüllte Tisch, auf dem ein Neues Testament liegt. Der davor stehende Perfectus, flankiert von seinem französischen
Gehilfen und Viktor. Damit nichts Unreines die Zeremonie überschattet, waschen sich die drei gründlich die Hände
und trocknen sich an weißen Handtüchern ab. Dann folgt ein Teil des Rituals
dem anderen. Vieles ähnelt der Priesterweihe in der katholischen Kirche.
Ganz anders geartet allerdings ist der
Schwur:
"Niemals werde ich ohne Hemd und
Hose schlafen, auf dass ich nicht in
Versuchung komme, dem Teufel ein
neues Gefäß zu schaffen. Niemals werde ich aus Angst vor Wasser oder vor
Feuer oder vor irgendeiner anderen Todesart ablassen von der reinen Lehre.
Niemals werde ich meine Katharerbrüder verraten."
Anschließend legt ihm der Perfectus
das Neue Testament aufs Haupt, und die
Gemeinde sagt:
"Heiliger Vater, nimm deinen Diener
auf in deine Gerechtigkeit und erfülle
ihn mit deiner Gnade und mit deinem
Geist!"
Franziska, deren Geburtstag ausgerechnet auf diesen Tag gefallen war,
wusste nichts von alledem. Franziska!
Wie oft hatte er sie hintergangen und
belogen in den vergangenen Wochen!
Jetzt, da er sein Leben überdachte,
schämte er sich dafür. Hielt sein Körper
wirklich die Seele eines Engels gefangen oder war er nichts als eine leere
Hülse, ein vom Teufel auf Vorrat geschaffenes und dann doch nicht benötigtes Behältnis? Er hatte sich die Geistestaufe nicht spenden lassen, um die Lehre der Katharer zu verbreiten, sondern
um zu sterben. Dann war er zu Franziska gegangen und hatte ihr versprochen,
mit ihr nach Frankreich zu fliehen. Lügen, Lügen, immer wieder Lügen! Er
stellte sich Franziska vor bei der Nachricht von seinem Tod. Warum nur liebte
sie ihn so sehr? Welchen Grund hatte er
ihr dafür gegeben?
Vielleicht bricht sie zusammen, vielleicht aber übersteht sie es auch, denn
sie ist stark. Und vor allem: Sie wird
frei sein für einen Mann, wie sie ihn
braucht. Dieser Gedanke tröstete ihn.
Sie war nicht angewiesen auf ihn. Von
ein paar Andeutungen her wusste er,
dass sich Pierre in sie verliebt hatte. Ein
charmanter, französischer Ritter und
eine hübsche, gesunde, deutsche Burgherrentochter! Warum sollen sie sich
nicht zusammentun? Sie kann mit ihm
nach Occitanien gehen und dort das
Leben führen, von dem sie träumt.
Nun endgültig beruhigt, zogen seine
Gedanken weiter, bis sie im Gauklerwagen ankamen, wo sie verweilten.
Während er noch einmal jede Einzelheit
seiner ersten und zugleich einzigen Liebesnacht genoss, fühlte er sich so glücklich, dass er hätte springen und tanzen
mögen. Plötzlich verlor sogar der Tod
seinen Schrecken für ihn. Wir werden
uns wieder sehen. Morgen werden wir
auf demselben Scheiterhaufen als Märtyrer sterben, und unsere Seelen werden
frei sein und in der Welt des Lichtes, wo
es keine Standesunterschiede mehr gibt,
vor Gottes Thron Hochzeit halten.
Raimund hatte Sankt Kunibert erreicht und zwar von der dem Rhein abgewandten Seite her, wo sich das provisorisch gedeckte, den Niedericher Bür-
184
gern als Pfarrkirche dienende Westwerk
befand. Wie immer zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang war das
Tor in der Umfassungsmauer des Chorherrenstifts nicht abgeschlossen, und
auch in die Kirche selbst konnte man
hineingehen. So hatte jedermann die
Möglichkeit zu einem Gebet an geweihter Stätte, wenn ihm danach zumute
war. Um diese Tageszeit aber arbeiteten
die Leute, so dass dieses Recht niemand
ausnutzte, und Raimund allein war in
dem weiten Raum.
Ohne sich zu beeilen, jedoch auch
ohne zu zögern, trat er an die überlebensgroße Figur des heiligen Martin
von Tours heran und zog ihm das eiserne Schwert, mit dem er seit Jahrzehnten
seinen Mantel zu zerteilen versuchte,
mit einer kräftigen Drehung aus der
Hand.
"Deine Kirche schert sich einen
Dreck um deine großherzige Tat. Einem
einzigen Bettler hast du geholfen und
Tausende andere mussten weiter frieren.
Du brauchst deine Waffe nicht mehr. Es
ist sinnlos, was du damit anstellst."
Das Schwert war schwer. Dennoch
hob Raimund es über den Kopf, feierlich wie bei einem Ritterschlag. Seine
Augen leuchteten.
"Ihr glaubt, dass ich mich an euch
nicht rächen kann, aber ihr irrt euch. Ich
räche mich an euch, indem ich euch
eure Götzen zerschlage."
Dann begann er fast wollüstig sein
Zerstörungswerk. Zuerst kamen die vier
Evangelisten zu seiner Rechten an die
Reihe. Markus, den die Heiden mit einem Strick um den Hals zu Tode
schleiften, schlug er den Kopf ab und
erlöste ihn so von seiner Marter. Lukas
wurde schlecht beschützt von seinem
Stier, ebenso Johannes von seinem Adler. Matthäus, dem ein kurzes, dolchähnliches Schwert im Rücken steckte
und offensichtlich nichts anhaben konnte, bekam zu spüren, was geschieht,
wenn eine solche Waffe mit wirklichem
Grimm geführt wird.
Kolumba, die sich in eine Nische
verkrochen hatte (aus Angst vor dem
Mann, der ihr im Kerker hatte Gewalt
antun wollen), ließ er in Frieden. Sie
erinnerte ihn zu sehr an seine Ramira.
Umso ärger richtete er Ursula zu. Die
stolze Königstochter mit ihrer goldenen
Krone auf dem Kopf und dem kostbaren
Mantel um die Schultern blickte ungeachtet des Hunnenpfeils in ihrer Brust
hochmütig auf ihn herab. Er zertrümmerte sie bis zur Unkenntlichkeit.
Als die ersten Leute, vom Gepolter angelockt, hereinkamen, war er noch immer mit ihr beschäftigt und merkte
nichts. Er glich einem Bauern, der
Brennholz für den Winter hackt. Nach
Ursula widmete er sich Gereon, dem
Stadtheiligen, und Gregor Maurus, dem
thebäischen Hauptmann.
"Wehrt euch, ihr ruhmreichen Krieger!" rief er ihnen zu und ließ das
Schwert des Martin in ihre wurmstichigen Glieder fahren. Schlimm erging es
auch den kleinen Skulpturen der heilig
gesprochenen Kölner Bischöfe. Maternus flog im hohen Bogen gegen einen
Pfeiler und zerbarst daran. Severinus
folgte ihm.
"Wie kommt es nur, dass sich bei
euch die Heiligen nur so tummeln? Ihr
habt doch nicht etwa den Papst bestochen?"
Es war unbeschreiblich befreiend, mit
offenem Mund hinauszuschreien, was er
bisher nur flüsternd im Versammlungskeller hatte sagen dürfen. Inzwischen waren allerdings drei Waffenknechte hereingekommen und näherten
sich ihm. Er bemerkte sie im letzten
Moment und schleuderte ihnen in dichter Folge die Köpfe des Evergislus, des
Bruno und des Heribert entgegen.
Nachdem er sie so in die Flucht gejagt
hatte, wandte er sich dem großen Christusbild hinter dem Altar zu.
185
"Schön siehst du aus!" höhnte er.
"Einen vornehmen Bürger mit Sandalen
an den Füßen haben sie aus dir gemacht,
die Gotteslästerer."
Seine wuchtigen Hiebe rissen die
Leinwand wie altes Tuch in Fetzen.
"Fangt ihn doch endlich!" forderten
die Zuschauer von den Waffenknechten.
"Jawohl! Fangt mich!" rief Raimund
zurück. "Fangt mich, wenn ihr könnt!"
Dann wuchtete er das über einen Meter große, hölzerne Kruzifix vom Altar
und hielt es hoch, so dass jeder es sehen
konnte.
"Passt gut auf, was ich damit gleich
mache!"
Die Frauen kreischten, die Männer
bekreuzigten sich hastig. Eine vornehm
gekleidete Bürgerdame fiel in Ohnmacht. Raimund indes genoss die
Angst, die man plötzlich vor ihm hatte.
"Zittert nur, ihr Jammerlappen!"
brüllte er und zerschmetterte das Kruzifix an den Altarstufen. Die Kraft, die er
dabei aufbrachte, war in der Tat so gewaltig, als stünden ihm die Dämonen
zur Seite. Allerdings versiegte sie ihm
nun sehr schnell, und die Waffenknechte, die das merkten, wagten sich ein
zweites Mal in seine Nähe.
"Ihr könnt mich gar nicht fangen, ihr
elenden Büttel", keuchte er. "Ihr habt
nur Macht über meine Hülle. Zerstört
sie, die Hülle, damit ich frei bin! Nur
zu! Schlagt sie in Stücke! Verbrennt sie!
Nur der Teufel wird darum trauern. Sein
Werk ist es, was ihr zerstört."
Mit diesen voller Verachtung hervorgestoßenen Worten warf er ihnen das
Schwert vor die Füße und gab sich lächelnd gefangen.
186
19.Kapitel
I
F
ranziska zuckte zusammen, als
jemand an die Tür klopfte. Sie
kniete gerade vor einem kleinen
Kruzifix, das sie auf ihre Truhe gestellt
hatte, und betete für die Seelen Ramiras
und deren mit ihr zum Scheiterhaufen
verurteilten Gefährten. Sie sprach die
Gebete vielleicht schon zum hundertsten Mal, war davon bereits ganz wirr im
Kopf, wusste nicht einmal, wie spät es
war. Weil sie sich dunkel an ihre Aufträge für diesen Nachmittag erinnerte,
befürchtete sie, dass Jan sie ermahnen
wollte. Wie sollte sie ihm erklären, dass
sie an diesem Tage beim besten Willen
nicht arbeiten konnte? Zu ihrer Verwunderung aber kam Sieglinde Cranboim
herein.
"Weiß du, wohin Raimund gegangen
ist?"
"Nein. Ich habe ihn seit dem Vormittag nicht mehr gesehen. Aber warum
sorgt Ihr Euch? Es ist doch noch heller
Tag."
"Den hellen Tag nennst du das? Die
Sonne wird bald untergehen."
"Na wennschon! Er ist öfter erst im
Dunkeln mit der Laterne heimgekehrt.
Ihr wisst doch, dass er manchmal eigene
Wege geht."
Sieglinde gab sich seufzend zufrieden. Im Weggehen aber sagte sie noch:
"Ich habe so eine Vorahnung ..."
Franziska zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. In Wahrheit jedoch begann auch sie sich zu sorgen.
Wäre Raimund geschäftlich für seinen
Vater unterwegs gewesen, hätte seine
Mutter es wissen müssen. Wäre er zu
den Katharern gegangen, hätte er es ihr
gesagt, denn sie gehörte ja nun zur Gemeinde. Fast ängstlich eilte sie hinunter
ins Erdgeschoß, wo in einem Wand-
schrank auf dem Korridor die Öllampen, Fackeln und Kerzen aufbewahrt
wurden. Ihre Befürchtungen bestätigten
sich - alles stand und lag an seinem
Platz, nichts fehlte. Die Dunkelheit
senkte sich herab, und Raimund lief
irgendwo durch die Stadt, ohne Laterne.
Am späten Abend trafen sich Jan,
Franziska und die Cranboimeltern im
großen Erdgeschoßkontor beim Schein
eines Öllichts. Die Stimmung war gedrückt, selbst bei Wolfhard, dem erfolgreichen Großkaufmann. Lediglich Jan
wirkte so ruhig wie immer, und niemand vermochte zu sagen, woran er
gerade dachte. Sieglinde sprang bei jedem kleinen Geräusch auf und lief zur
Tür. Jedes Mal freilich kam sie umso
niedergeschlagener zurück.
"Er ist wahrscheinlich überfallen
worden."
"Möglich wäre es", stimmte Wolfhard
ihr zu. "An Gesindel, dem man dergleichen zutrauen muss, mangelt es nicht in
der Stadt. Raimund allerdings brauchte
sich solcher Gefahr nicht auszusetzen.
Warum treibt er sich in üblen Vierteln
herum? Warum lässt er sich in unruhiger Zeit nicht von einem Waffenknecht
begleiten?"
"Hör auf!" flehte Sieglinde. "Das hilft
uns doch jetzt nicht weiter. Kann man
ihn nicht suchen lassen? Vielleicht ist er
verletzt."
"Mitten in der Nacht?"
"Vielleicht ist er entführt worden",
mutmaßte Jan, der bisher geschwiegen
hatte. Alle wandten sich ihm zu. "Das
wäre immer noch besser, als erschlagen
oder erstochen", fügte er hinzu.
Wolfhard stand auf und lief wie ein
gefangenes Tier von Wand zu Wand auf
und ab. Die anderen schwiegen, um ihn
nicht zu stören. Offensichtlich berechnete er, wie sich eine Lösegeldforderung auf das Unternehmen auswirken
würde.
"Dieser Raimund ist ein Unglückssohn", sagte er schließlich ernsthaft verärgert. "Mehr als achtzig Pfund Silber
können wir nicht geben, und selbst diese Summe reicht aus, um uns im ungünstigsten Fall zu ruinieren. Das Geld
der Cranboims liegt doch nicht wie ein
Sandhaufen herum, darauf wartend,
dass ihn einmal jemand braucht. Jeder
erworbene Denar fließt sofort wieder in
ein neues Geschäft ein. Wir haben Verbindlichkeiten."
Einen Augenblick lang fürchtete
Sieglinde, ihr Mann wolle den Sohn für
die Interessen des Unternehmens einfach opfern, dann aber sagte er:
"Selbstverständlich würde ich ihn
freikaufen. Was zählt Geld gegenüber
einem Menschen von unserem Fleisch
und Blut?"
Das beruhigte sie wenigstens in dieser Hinsicht.
Es wurden noch manche Vermutungen ausgesprochen und als unwahrscheinlich wieder verworfen. Noch
manches Mal lief Sieglinde hoffnungsvoll zur Tür und kehrte mit gesenktem
Kopf zurück. Die berittenen Nachtwächter trabten gemächlich vorüber und
unterhielten sich dabei. Ihre tiefen
Stimmen erschienen den Wartenden wie
Gebrüll. Die Kunibertskirche schlug
Mitternacht. Das Ausharren hatte ganz
offensichtlich nicht mehr viel Sinn, und
Jan war es, der das schließlich aussprach:
"Vor Sonnenaufgang können wir
nichts über Raimunds Schicksal in Erfahrung bringen und auch nichts für ihn
unternehmen. Folglich wäre das Beste,
wenn wir uns ins Bett legten und schliefen, damit wir morgen erholt sind."
Der Vater stimmte sofort zu. Die
Mutter zögerte, ließ sich dann aber
überreden. Lediglich Franziska weigerte
sich beharrlich, dem Rat zu folgen. Sie
blieb allein zurück, während die anderen die knarrende Wendeltreppe hinaufstiegen.
Es war ihr durchaus recht, allein zu
sein mit ihrem Kummer. Die ganze
Nacht lang bis zum Anbruch des neuen
Tages kniete sie auf dem harten Steinfußboden und betete. Der stärker werdende Schmerz in ihren Knien verhinderte, dass sie einnickte. Endlos allerdings war diese freiwillige Marter denn
doch nicht zu ertragen. Traum und
Wirklichkeit gingen immer mehr ineinander über und schließlich erzwang der
Leib sein Recht. Sieglinde Cranboim
fand sie später, wie sie auf dem Fußboden schlief und dabei Gebetsfetzen
murmelte, und bat ihren Mann, sie vorsichtig hinauf auf ihr Zimmer zu bringen.
II
A
ls Franziska wieder aufwachte,
war ihr der Kopf schwer und sie
brauchte lange, um sich an die
Ereignisse des Vortags zu erinnern.
Dann aber sprang sie mit einem Satz
aus dem Bett und sah aus dem Fenster.
Auf der Uferstraße liefen Leute geschäftig auf und ab. Die Sonne stand
hoch am Himmel.
"Ramira!" schrie es in ihr.
Ihr war, als könnte sie die Freundin
noch retten, käme sie nur rechtzeitig
zum Hinrichtungsplatz. Sie zog sich so
schnell wie nie die Kleider über, rannte
grußlos an der fassungslosen Sieglinde
Cranboim vorbei und hetzte am Rhein
entlang in Richtung Dom. Das Fluchen
188
der Leute, die sie dabei anstieß, hörte
sie nicht.
Sie hatte einen weiten Weg vor sich.
Der Elendsfriedhof für Fremde, Juden
und Schwerverbrecher, an dessen Rand
man auch die Scheiterhaufen zu errichten pflegte, war am anderen Ende der
Stadt jenseits der Mauer an der Straße
nach Bonn gelegen. Franziska überquerte den Platz vor Sankt Kunibert, bog in
die Trankgasse ein, lief an Sankt Maria
ad Gradus vorbei, erreichte hinter dem
Dom die Verlängerung des Eigelstein.
Im Gewühl der Innenstadt wurde sie
zum Verzweifeln oft aufgehalten.
Endlich tauchten die Türme der großen Marienkirche auf. Doch an der Brücke über den Duffesbach scheute gerade
ein Pferd. Abermals warten! Sankt
Georg erinnerte das Mädchen an die
Raubzüge mit Stefanus. Hinter jenem
Viertel besser gestellter Bürger eine von
armen Handwerkern bewohnte Gegend.
Auf der Straße spielten Kinder zwischen frei herumlaufenden Schweinen.
Ein streunender Hund suchte sich ausgerechnet Franziska als Jagdwild aus, so
dass sie stehen bleiben und auf ihn einreden musste. Zum Stadtrand hin führte
eine Straße aus der Zeit der Römer, eine
schnurgerade Straße, die bis zum Horizont zu reichen schien. Die Häuser
wurden seltener und glichen bald den
Hütten der Bauern. Kleine Felder wechselten mit umfriedeten Weingärten, die
den reichen Stiften und Klöstern des
südlichen Kölns gehörten.
Die Kirchturmspitze von Sankt Severin aber kündete Franziska schließlich, dass es nicht mehr weit war. Nachdem sie die Severinstorburg ohne Kontrolle passiert hatte, sah sie bereits die
Menschenansammlung am Rande des
Friedhofs. Gerade kam Bewegung in die
Menge. Etliche Leute glaubten wohl,
genug gesehen zu haben, und wollten
zurück in die Stadt gehen. Andere riefen
ihnen etwas zu, um sie zurückzuhalten.
Im Gedränge und Geschiebe wurde das
Mädchen vor- und zurückgerissen, ohne
vom eigentlichen Ort des Geschehens
mehr zu erkennen als das Dach der Tribüne, auf der die Inquisitoren und ein
paar Vertreter des Erzbischofs und des
Rates saßen.
"Hat die Hinrichtung schon begonnen?" fragte sie die neben ihr Stehenden.
Sie musste mehrmals fragen, bis ihr
jemand antwortete.
"Wenn du diese Gaukler meinst - die
sind längst zu Asche verbrannt. Der
Haufen qualmt bloß noch ein bisschen.
Du hättest früher aufstehen müssen."
Jemand fiel ihm ins Wort:
"So etwas ist sowieso nichts für kleine Mädchen."
Der erste verteidigte sich:
"Ach was! Das kann den Kindern eine Warnung sein."
Dann wandte er sich wieder Franziska zu:
"Du hast nur die Hälfte verpasst. Die
Inquisitoren sind einem Ketzer aus vornehmer Familie auf die Spur gekommen."
Das Mädchen taumelte, als wäre sie
von einem Faustschlag getroffen worden. Traumwandlerisch kämpfte sie sich
nun mit aller Gewalt durch die dichten
Reihen der Schaulustigen, bis sie ganz
vorn an den rot-weiß gestrichenen Absperrungsbalken stand. Da sah sie ihn.
Kaum zehn Meter von ihr entfernt wartete er ruhig, gelangweilt fast, mit
schweren Ketten an Armen und Beinen
zwischen zwei Waffenknechten, die ihn
um Haupteslänge überragten. Wie von
Sinnen versuchte sie, unter den Balken
hindurch zu kriechen. Sie wusste, dass
sie ihm nicht mehr wirklich helfen
konnte, aber sie wollte bei ihm sein, ihn
noch ein letztes Mal umarmen. Ihr Vorhaben scheiterte jedoch kläglich. Ein
Mann, auf dessen Lederwams das Wappen des Erzbischofs glänzte, packte sie
189
wie eine Katze im Genick und stieß sie
grob zurück.
Durch den Zwischenfall wurde aber
Raimund auf sie aufmerksam. Ihre Blicke fanden einander, und sie sahen sich
lange in die Augen. Dabei entdeckte
Franziska etwas ihr ganz und gar Unbegreifliches. Seine blauen Augen strahlten genau jene Fröhlichkeit aus wie am
Tage, als er mit ihr zum ersten Mal zur
Weidengasse gegangen war. Auch aus
der Entfernung erkannte sie es ganz
deutlich. Er stand unmittelbar vor dem
für ihn allein bestimmten Scheiterhaufen nur wenige Schritte entfernt von
einem anderen, inzwischen zu Asche
zerfallenen, einem auf dem gerade andere Verurteilte ihr Leben ausgehaucht
hatten, und - lächelte. Sie deutete ihm
durch Zeichen an, dass sie für ihn beten
und ihm, wenn Gott es ihr gewährte,
einen Teil seiner Sünden abnehmen
wolle. Er aber schien dessen gar nicht
zu bedürfen. Sie hatte jämmerliche
Angst, nicht er. Sie war am Verzweifeln, während er längst mutig einer neuen Welt entgegen schritt, einer Welt,
deren verschwommene Umrisse er vielleicht schon erkannte.
Die Anklageschrift gegen Raimund
war lang. Ein Dominikaner trug sie mit
ermüdend gleichförmiger Stimme vor,
und Franziska hörte kaum zu. Immerhin
fand sie erstaunlich, was man alles in
einer einzigen Nacht herausgefunden
hatte. Dabei war Raimund allem Anschein nach nicht einmal grob verhört
worden. Wahrscheinlich hatten es die
ehrbaren Geistlichen sehr eilig mit der
Hinrichtung, um Wolfhard Cranboim,
dessen Einfluss bis in die Umgebung
des Erzbischofs hineinreichte, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ein Zeichen sollte gesetzt werden, und diesem
Zeichen diente auch die Anklageschrift.
Franziska dachte in Raimunds Worten.
Sie glaubte geradezu seine Stimme zu
hören - scharf, höhnisch und dennoch
leichthin.
"Dein sündiger Körper wird dem
Scheiterhaufen nicht entgehen", wandte
sich der Dominikaner, als er das Untersuchungsprotokoll zu Ende verlesen
hatte, an den Angeklagten. "Du kannst
aber deine unsterbliche Seele retten,
indem du dich zu deinen Irrtümern bekennst und Reue zeigst. In diesem Falle
würden wir dich zudem gnädig erdrosseln, bevor wir den Stoß entzünden."
"Retten werde ich meine Seele, indem
ich auf eure Gnade verzichte, denn ihr
seid die Gehilfen des Teufels und seid
Gott, unserem Herrn, ein Gräuel", antwortete Raimund laut und voller Stolz.
"Du würdest anders reden, hättest du
vorhin das Winseln der anderen Ketzer
gehört."
"Oh nein! Nichts hätte ich mir mehr
gewünscht, als mit ihnen gemeinsam
auf demselben Scheiterhaufen die elende Hülle meiner Seele abzuwerfen.
Fragt die Knechte aus dem Gefängnis,
wie oft ich sie gebeten, ja angefleht habe, mich endlich hierher zu bringen!
Dank des Verbrechens, das ihr an mir
begehen wollt und durch das ihr durch
Gottes Macht am Ende doch nur Gutes
bewirkt, bin ich schon bald mit ihnen
vereint."
Er warf mit einer fast eleganten Bewegung des Kopfes sein ihm ins Gesicht gefallenes, langes, seidiges Haar in
den Nacken und wandte sich an die
Schaulustigen hinter den Absperrbalken:
"Auf wessen Seite steht ihr? Glaubt
ihr wirklich, dass Gottes Gnade auf jenem grausamen und am Ende dennoch
jämmerlichen Haufen von Kapuzenträgern ruht? Seht mich an! Ich fürchte
mich nicht vor dem Tod, denn ich weiß,
dass er für mich nichts anderes ist, als
das Tor zum Himmel. Diese da aber
umgeben sich mit Scharen von Waffen-
190
knechten, seit der Teufel ihren Spießgesellen Maginulfus geholt hat."
Raimund predigte wie jemand, der
ganz und gar von einer heiligen Mission
erfüllt ist, und dem die Worte in der Erleuchtung ohne eigene Willensanstrengung über die Lippen kommen. Seine
Bewacher ließen ihn gewähren, weil sie
viel zu überrascht waren, um ihn zu
hindern.
"Da sie nun zogen gegen Morgen,
fanden sie ein ebenes Land im Lande
Sinear, und wohnten daselbst. Und sie
sprachen untereinander: 'Wohlauf, lasst
uns Ziegel streichen und brennen!' und
nahmen Ziegel zu Stein und Erdharz zu
Kalk und sprachen: 'Wohlauf, lasst uns
eine Stadt und einen Turm bauen, des
Spitze bis in den Himmel reiche, dass
wir uns einen Namen machen, denn wir
werden sonst zerstreut in alle Länder.'
Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe
die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr
sprach: 'Siehe, es ist einerlei Volk und
einerlei Sprache unter ihnen allen, und
haben das angefangen zu tun. Sie werden nicht ablassen von allem, was sie
sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasset uns hernieder fahren und ihre
Sprache daselbst verwirren, dass keiner
des anderen Sprache verstehe!' Also
zerstreute sie der Herr von dort in alle
Länder, dass sie mussten aufhören, die
Stadt zu bauen. ... So steht es in der
heiligen Schrift, doch ihr wisst nicht,
dass ihr gemeint seid, ihr und eure
Stadt. Ihr lebt im Wohlstand, doch ihr
lebt nur noch für euch allein. Die Angst,
dass jemand euch euren Besitz entreißt,
entzweit euch mit euren Brüdern, mit
Gott und mit euch selbst. Ihr irrt umher
auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit, doch in diesen Mauern werdet
ihr nichts davon finden. Ihr habt Christus zum Tor hinausgejagt, weil er euch
mit seinen Fragen und Ermahnungen
lästig geworden ist. Ohne ihn aber
bricht die Kälte herein, wie wenn die
Sonne nicht mehr scheint. Köln ist dem
Untergang geweiht, doch in anderer
Weise als die Schwärmer es euch prophezeiten. Es wird kein Feuer vom
Himmel fallen, und euren Leibern wird
nichts geschehen. Die Kirchtürme werden stolz zum Himmel ragen wie eh und
je, und ihr werdet zwischen ihnen umherlaufen. Erfroren ist nur eure Seele.
Ihr werdet sprechen, aber nichts sagen.
Ihr werdet euch umarmen, aber nichts
als die Lust eines Tieres dabei spüren.
Ihr werdet immer mehr Reichtum zusammenraffen und dennoch niemals
Befriedigung und Ruhe finden. Ihr werdet Geister in einer Geisterwelt sein und
es nicht einmal mehr bemerken. Euer
Bemühen ist sinnlos, weil es einem falschen, verworfenen Ziele dient."
"Bringt ihn doch endlich zum
Schweigen!" forderte einer der Dominikaner von der Tribüne und erinnerte die
Waffenknechte damit an ihre Pflichten.
Raimund wurde gepackt und hastig zum
Scheiterhaufen geschleppt. Widerstand
leistete er nicht. Offenbar war seine
Predigt das letzte, was er im Leben noch
hatte bewerkstelligen wollen. Nun sehnte er sich nur noch nach dem Tode. Als
der Henker ihn, der Vorschrift entsprechend, ein letztes Mal fragte, ob er
bereuen und in den Schoß der päpstlichen Kirche zurückkehren wolle, antwortete er nicht.
Obwohl an vier Stellen gleichzeitig
entzündet, brannte des aufgeschüttete
Holz zunächst sehr schlecht. Statt lodernder Flammen entwickelten sich nur
tiefschwarze Russschwaden. Der an
einen dicken Pfahl gebundene Raimund
wurde von ihnen völlig eingehüllt. Nur
ab und zu, wenn eine Bö über den Platz
blies, konnte Franziska noch seinen
Kopf erkennen. Dennoch gab es keinen
Zweifel, dass er den Tod noch immer
nicht fürchtete. Gierig atmete er den
giftigen Rauch ein und wurde in kurzer
191
Zeit sichtlich benommen davon. Nach
einem letzten Kampf entspannte sich
sein Gesicht plötzlich, und spiegelte nun
eine an die steinernen Heiligenfiguren
in den Kirchen erinnernde Verklärung
wieder. Dann sank ihm das Kinn auf die
Brust. Als das Feuer endlich zu prasseln
anfing, war er längst tot.
III
D
as Schauspiel ging zu Ende, die
Menge zerstreute sich. Einige
der Leute blickten betroffen zu
Boden - sei es, weil der hübsche, blonde
Jüngling ihnen im Nachhinein leid tat,
sei es, weil sie an die eigene Vergänglichkeit dachten - die meisten jedoch
lachten und unterhielten sich angeregt.
Franziska wurde vom Strom mitgerissen
und ließ sich willenlos treiben. Die Erlebnisse auf dem Hinrichtungsplatz, vor
allem Raimunds letzten Worte nahmen
sie so in Anspruch, dass sie ihre Umgebung völlig vergaß, nicht einmal auf
drohende Gefahren achtete.
"Euer Bemühen ist sinnlos, weil es
einem falschen, verworfenen Ziel
dient."
Wie oft hatte sie sich gegen solche
und ähnliche Reden von ihm aufgebäumt und eine glückliche Zukunft an
seiner Seite heraufbeschworen - in
Köln, in Wardenburg oder in Montségur! Jetzt waren ihre Hoffnungen dahin,
verbrannt mit ihm auf dem Scheiterhaufen.
Sie fühlte sich heimatlos wie nach der
Flucht aus der Burg des Grafen von
Wildeshausen. Zu den Cranboims wollte sie auf keinen Fall zurückkehren. Die
Geschäftigkeit des stets erfolgreichen
Wolfhard und seines ihm kaum noch
nachstehenden Sohnes Jan hätte sie
nicht ertragen, erst recht nicht das oberflächliche Gerede der Mädchen Katharina und Dorothea.
"Ob sie es schon wissen?" fragte sie
sich und versuchte, sich jeden einzelnen
bei der Mitteilung vorzustellen. Wolfhard heuchelt Trauer und ist in Wahr-
heit nur in Sorge um das Ansehen der
Familie und des Unternehmens. Jans
Gesicht bleibt undurchdringlich, und es
kann sein, dass er tatsächlich nichts
fühlt. Die empfindsame Dorothea weint
zunächst jämmerlich, lässt sich dann
aber von den albernen Bemerkungen
ihrer Schwester, der die schlechte
Stimmung im Hause zuwider ist, schnell
beeinflussen. Nur Sieglinde trauert
wirklich, doch sie ist allein, so allein
wie Raimund am Pfahl es war.
Auch Stefanus wollte Franziska nicht
sehen.
"Er hat es so gewollt und ist auf seine
Art glücklich geworden", hörte sie ihn
sagen und wusste ihn im Recht.
Im Grunde hatte der Räuber mit jeder
seiner zynischen Reden Recht behalten,
und seine Weltverachtung unterschied
sich vielleicht gar nicht so sehr von der
ihres Raimunds. Gerade darum aber
konnte sie nicht zur Rheingasse gehen.
Während sie Bilanz zog und dabei
immer mehr von der Sinnlosigkeit des
Lebens überzeugt war, lief sie, ohne es
zu merken, die Römerstraße entlang
zurück zum Dom und von dort aus weiter bis zur Weidengasse, bis sie sich vor
dem Kommunehaus der Katharer wieder fand und von Ursula aus ihrer Lethargie herausgerissen wurde.
"Was willst du?"
"Wisst ihr, dass Raimund heute Morgen verbrannt worden ist?"
"Ja."
"Wo soll ich jetzt hingehen? Was soll
ich jetzt anfangen ohne ihn? Ich ... ich
möchte bei euch bleiben."
192
"Wir müssen dich erst prüfen, bevor
wir dich aufnehmen können."
Obwohl Franziska schon ihre Erfahrungen mit Ursula gesammelt hatte, war
sie fassungslos angesichts der Kälte, die
ihr entgegenschlug. Sie brachte kein
Wort über die Lippen - während sie
einerseits vor Verzweiflung fast wie ein
Kind in Tränen ausgebrochen oder wie
eine Bettlerin auf die Knie gefallen wäre und andererseits (an Raimunds Stolz
selbst angesichts des nahen Todes denkend) davongehen und ihren Kummer
tapfer allein tragen wollte. Noch ehe sie
jedoch Ordnung in ihre Gefühle bringen
konnte, tauchte Viktor auf und trat entschlossen auf Ursula zu.
"Du wirst sie nicht abweisen!"
"Doch, das werde ich, und du kennst
den Grund. Wir achten bei uns nicht auf
die Herkunft, nicht auf besondere Fertigkeiten, schon gar nicht auf das Aussehen, wohl aber auf den Lebenswandel. Hier ist kein Platz für eine
Dirne!"
"So hast du also vergessen, was unser
Herr Jesus Christus sagte, als die Leute
eine Ehebrecherin nach Recht und Gesetz steinigen wollten! Bist du so vermessen, dass du dich für fehlerfrei
hältst?"
Ursula wurde unsicher, und Viktor
brachte sie schließlich ganz aus der Fassung, als er hinzufügte:
"Du weißt, was du versprochen hast.
Vielleicht ist Franziska die Probe, auf
die der Herr dich stellt."
"Ja, ich darf nicht streng richten über
andere, auf dass nicht der Herr streng
richtet über mich", murmelte sie.
Dann gab sie Franziska ein Zeichen,
ihr zu folgen. In der Werkstatt arbeitete
jetzt am Sonntag niemand. Das Karree
der Bänke, die kleinen Ablagetische, die
Stapel der Lederhäute und der fertigen
Beutel und Taschen entlang der Wände,
das alles schien in tiefem Schlaf zu lie-
gen und sich von den Mühen der zurückliegenden Woche auszuruhen.
"Die anderen sind in die Kirche gegangen. Wir dürfen hier in Köln nicht
auffallen. Nutzen wir die Zeit, um einen
Schlafplatz für dich herzurichten!"
"Ich darf also ab jetzt bei den anderen
schlafen?" fragte Franziska (noch etwas
ungläubig) zurück.
"Gewiss! Möchtest du das nicht?"
"Nichts wünsche ich mir mehr als
das. Ich bin dir so dankbar!"
"Dazu hast du keinen Grund."
"Du bist die Meisterin. Nur mit deiner
Erlaubnis kann ich hier bleiben."
"Nein, ich bin keine Meisterin. Ich
verteile und leite die Arbeit, habe deshalb aber nicht mehr Rechte als die anderen. Bei uns sind alle dem Rang nach
gleich, auch die Perfecti, die sich von
uns Credentes nur dadurch unterscheiden, dass sie die reine Lehre bewahren
und weitergeben, und dass sie sich darum zu einem besonders vorbildlichen
Lebenswandel verpflichtet haben."
Nachdem der Platz für die Nacht im
Schlafsaal des Kommunehauses hergerichtet war, kehrte Franziska zu Viktor
zurück. Der hatte die ganze Zeit über
geduldig vor der Tür gewartet.
"Ursula ist wirklich nicht so bösartig,
wie du glaubst", versicherte er ihr. "Für
viele ihrer Eigenschaften bewundere ich
sie sogar, für ihren Mut zum Beispiel."
"Ach, wenn ich euch jetzt nicht hätte!"
"Hoffentlich bereust du deinen Entschluss nicht schon bald! Die Inquisitoren sind so rührig wie lange nicht mehr,
und es kann sein, dass wir bald fliehen
müssen."
"Du glaubst doch nicht, dass
Raimund euch verraten hat?"
"Nein, bestimmt nicht. Diese Stadt
aber ist voller Augen und Ohren. Heute
Abend wissen wir mehr."
"Heute Abend?"
193
"Du weißt noch nichts von unserer
Versammlung? Der Perfectus aus
Frankreich wird ein letztes Mal für uns
predigen. Bei dieser Gelegenheit können wir dich in unsere Gemeinde aufnehmen. Übrigens wird auch Pierre da
sein. Du erinnerst dich an den Ritter aus
Montségur?"
Franziska nickte.
"Du musst ihn sehr beeindruckt haben."
"Ich weiß."
IV
B
is zum Abend half Franziska bei
der Arbeit, dann folgte sie den
anderen in den Versammlungskeller. Wenig später traf auch der Perfectus in Begleitung Pierres dort ein.
Der Ritter ließ sich nicht nehmen, dem
Mädchen zuzuzwinkern. Um sie anzureden, blieb ihm aber keine Zeit, denn
der Gottesdienst begann sofort.
Franziska erwartete eine heidnische
Feier mit geheimnisvollen Riten sowie
allerlei Zauberei und war erstaunt, dass
die Katharer den Christus so einfach
und unmittelbar anbeteten wie Jesu erste Anhänger zur Zeit der Apostel. Die
Gemeinde kniete nieder, verneigte sich
dreimal bis zur Erde und sagte gemeinsam, zum Perfectus und seinem Begleiter gewandt:
"Gute Christen, gebt uns den Segen
Gottes und Euren Segen und betet für
uns!"
Der weißhaarige Mann antwortete mit
tiefer Stimme:
"Nehmet ihn von Gott und von uns!
Gott möge euch zu einem guten Ende
führen und Gute Christen aus euch machen!"
Indem sie sich selbst die Guten Christen nannten, grenzten sich die Katharer
ab gegen die Kirche des Papstes, in der
das Evangelium im Sumpf aus Heuchelei, Besitzstreben und Grausamkeit
versank. Nachdem alle zusammen das
Vaterunser gebetet hatten, segneten der
Perfectus und sein Begleiter ein in ein
weißes Tuch gehülltes Brot. Der Segen
durch nur einen einzelnen Perfectus
wäre ungültig gewesen, weshalb die
Priester der Katharer niemals allein reisten. Von dem Brot bekam schließlich
jeder, der zur Gemeinde gehörte, ein
kleines Stück, das er aß, um dadurch
Anteil an der Gnade Gottes zu haben auch Franziska, die von nun an als Anhängerin galt. Eine besondere Zeremonie für die Aufnahme der Credentes gab
es nicht.
Nach der Mahlzeit stand der Perfectus auf und ergriff noch einmal das
Wort. Das gehörte nicht mehr zum
Abendmahl, doch war dem Alten nicht
entgangen, dass sich die Blicke fast
aller Versammelten immer wieder erwartungsvoll auf ihn richteten.
"Ihr fürchtet euch und erwartet, dass
ich euch Trost spende", sagte er und
blickte mit seinen großen, dunklen Augen einen nach dem anderen in der
Runde an. "Ihr sollt den ersehnten Trost
erhalten. Zuvor aber muss ich euch sagen, dass euch die Dominikaner auf die
Spur gekommen sind."
Niemanden konnte das überraschen,
und dennoch breitete sich Bestürzung
aus. Es wurde so still im Keller, dass
man das Atmen des Nachbarn hörte.
Selbst Franziska, die wenige Stunden
zuvor keinerlei Sinn mehr in ihrem Leben gesehen hatte, packte jäh die Angst.
Sie versuchte, sich abzulenken, indem
sie den Perfectus beobachtete. Diesmal
wirkte er auf sie nicht mehr unheimlich.
Das lange, schneeweiße Haar erschreckte sie ebenso wenig wie die ungewöhnlich magere Gestalt. Warum sah
194
sie ihn an diesem Abend mit anderen
Augen? Warum vertraute sie ihm plötzlich? Verdiente er dieses Vertrauen?
Übrigens sprach er fast wie ein echter
Kölner. Gewiss hatte er einige Jahre
seines langen Lebens in der Stadt verbracht, vielleicht sogar seine Kindheit.
Nach einer Pause, die allen geradezu
unendlich erschien, fuhr er fort:
"Der Herr sprach zu seinen Jüngern:
'Siehe, ich sende euch wie Schafe unter
die Wölfe. Darum seid klug wie die
Schlangen und ohne Falsch wie die
Tauben. Hütet euch aber vor den Menschen, denn sie werden euch den Gerichten überantworten und werden euch
geißeln in ihren Tempeln. Und man
wird euch vor Statthalter und Könige
führen um meinetwillen, ihnen und den
Heiden zum Zeugnis. Wenn sie euch
nun überantworten werden, so sorgt
nicht, wie oder was ihr reden sollt, denn
es soll euch zu der Stunde gegeben
werden, was ihr reden sollt.' Ich verstehe eure Angst sehr gut aus eigenem
Erleben. Wir wissen, dass unser Leib
nur ein Gefängnis unserer Seele ist, und
hängen dennoch so sehr an ihm. Glaubt
mir aber: So steinig der Weg, der vor
euch liegt, auch immer sein mag, ihr
werdet ihn nicht vergebens gehen, denn
es steht geschrieben: 'Fürchtet euch
nicht vor denen, die den Leib töten,
doch die Seele nicht töten können,
fürchtet euch aber viel mehr vor dem,
der Leib und Seele verderben kann in
der Hölle!'"
Dann bedankte er sich für die Gastfreundschaft und schickte sich zum Gehen an. Plötzlich aber blieb er noch
einmal stehen und zwar vor Franziska.
"Du hast beim vorigen Abendmahl
gefehlt. Warum?"
"Ich bin heute erst der Kommune
beigetreten."
Der Perfectus sah die Ritterstochter
aufmerksam an und sagte dann bedächtig:
"Dir ist ein Unglück zugestoßen?
Hast du einen geliebten Mensch verloren?"
"Ja ... woher wisst Ihr ... ?"
"Es steht dir im Gesicht geschrieben.
Du solltest nichts nur aus Verzweiflung
tun, mein Kind."
"Sie ist nicht nur aus Verzweiflung
bei uns. Sie hat schon früher einmal im
Kommunehaus gewohnt", versuchte
Viktor, sie zu verteidigen.
Der Perfectus indes, keineswegs
überzeugt, antwortete ausweichend:
"Gottes Ratschlüsse sind unerforschlich, selbst für mich."
Dann brach er endgültig auf.
"Er muss sich beeilen, denn er darf
auf keinen Fall der Inquisition in die
Hände fallen", flüsterte Viktor. "Wenn
die Mönche ihn fangen, werden sie
nichts unversucht lassen, um ihn zum
Abschwören zu bringen. Dann nämlich
würden alle jemals durch ihn erteilten
Segnungen nichtig sein, auch Raimunds
Consolamentum."
Draußen wartete Pierre. Als die Tür
geöffnet wurde, stürzte er auf Franziska
zu und zog sie am Arm in einen Winkel,
wo er aufgeregt auf sie einredete. Dass
sie ihn nicht verstand, brachte ihn fast
zur Verzweiflung. Am Ende wiederholte er mehrmals in beschwörendem Tonfall die Worte danger und Montségur.
Ihr wurde klar, dass er mehr wusste, als
der Perfectus der Gemeinde gesagt hatte. Er wollte ihr das Leben retten, und
sie brauchte dabei nicht mehr zu tun, als
sich mit einem Nicken einverstanden zu
erklären und ihm zu folgen. Das aber
empfand sie als Verrat an Viktor, der sie
(wenn auch auf seine Weise) so sehr
mochte, an Raimund, an Ramira ... Sie
wollte nicht sterben, und ihre Augen
füllten sich mit Tränen. Dennoch brachte sie es nicht über sich, mit dem Ritter
zu fliehen. Jemand rief immer ungeduldiger nach ihm.
195
"Suivez-moi! Suivez-moi!" beschwor
er sie.
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
"Pierre!"
Sie presste die Hände noch fester gegen die Augen, wollte nichts sehen,
wollte nicht in Versuchung gebracht
werden. Nun rief niemand mehr. Sie
ließ die Hände sinken. Er war fort.
196
20.Kapitel
I
H
ilfst du mir, hier noch ein wenig
aufzuräumen?" fragte Viktor,
und Franziska ließ sich nicht
lange bitten, während die anderen bereits hinüber zu den Kommunehäusern
oder nach Hause gingen. Als beide allein waren, sagte das Mädchen:
"Viktor, heute Nachmittag hast du
mir erzählt, dass ihr ... dass wir vielleicht bald fliehen müssen. Gibt es einen Plan dafür?"
"Einen Plan?" Er sah sie erstaunt an.
"Wenn es für uns in Köln zu gefährlich
wird, gehen wir zum Tor hinaus und suchen uns anderswo eine neue Heimat."
"Aber Viktor! Wenn die Inquisition
erfährt, dass wir Ketzer sind, lassen uns
die Torwächter nicht mehr aus der Stadt
heraus. Wir werden auch so leicht keine
neue Heimat finden, weil der Erzbischof
über ein großes Gebiet herrscht und
viele mächtige Freunde hat."
Viktor, der gerade zwei Krüge in den
Schrank zurückstellen wollte, hielt inne,
setzte sich an den Tisch und legte, in
Gedanken versunken, das Kinn auf seine Fäuste.
"Wir haben nie darüber gesprochen,
weil wir nicht an eine wirkliche Gefahr
glauben wollten."
"Bei euren Zusammenkünften war
doch immer der Tod mitten unter euch!"
Er warf ihr einen fast flehentlichen
Blick zu. Sie setzte sich ihm gegenüber
und seufzte.
"Jetzt jedenfalls sind wir ganz gewiss
in Gefahr."
"Ist das nicht eigenartig: Leute, die
uns überhaupt nicht kennen, wollen uns
umbringen, nur weil wir Gott auf eine
etwas andere Art verehren als sie. Was
treibt diese Canes zu so viel Grausam-
keit? Warum freuen sich die Leute,
wenn ein Mensch verbrannt wird?"
"Raimund meinte, dass den Menschen die Seele erfriert, und dass sie
deshalb nur noch auf ihren vom Teufel
erschaffenen Leib hören."
"Ich war immer ein Schwächling. Als
Kind bekam ich von jüngeren Spielkameraden Prügel. Mein Vater wollte mir
beibringen, mich zu wehren, aber leider ..."
Das Geräusch schneller Schritte kam
von der Straße her. Wenig später erschien Cordula, kreideweiß im Gesicht.
"Was ist geschehen?" fragten Franziska und Viktor zugleich.
"Sie sind in unserem Haus!" würgte
die junge Frau hervor.
"Wer ist in unserem Haus?"
"Vor der Tür stehen zwei Bewaffnete
mit Laternen. Und in der Werkstatt ist
Licht."
Franziska erfasste die Bedeutung der
Nachricht zunächst nicht, denn sie achtete nur auf Cordula, die vor Angst nicht
aus noch ein wusste, und die sie zu trösten versuchte. Währenddessen kehrten
nach und nach auch die anderen zurück.
Es gab keinen Zweifel, dass die Inquisition spätestens am nächsten Morgen
zuschlagen würde.
"Lasst uns Laternen, Fackeln und
Kerzen suchen und von hier verschwinden, ehe sie uns entdecken!" rief jemand.
"Wir klettern über die Mauer", ergänzte ein anderer. "Ich kenne rechts
neben dem Eigelsteintor eine Stelle ..."
"Man würde uns sehen und den Weg
abschneiden."
Ursula hatte das gesagt, und alle Blicke richteten sich auf sie. Am Anfang
waren es wütende Blicke, denn der Satz
tötete die letzte Hoffnung, noch zu entkommen. Später änderte sich das, denn
obwohl die junge Frau dem Unvermeidlichen wie niemand sonst aus der Gemeinde ins Auge sah, fürchtete sie offensichtlich nichts. Ihr Gesicht verlor
sogar die Strenge, die es oft zu einer
Maske hatte erstarren lassen. Ruhig und
beherzt war sie entschlossen, die Führung zu übernehmen, und gab den anderen damit wieder Halt. Selbst Franziska
verzieh ihr jetzt in Gedanken. Vielleicht
hatte Gott sie für eben diese Rolle von
Anfang an vorgesehen.
"Was sollen wir sonst tun?" fragte
Viktor nach einiger Zeit zaghaft.
"Habt ihr die Worte des Perfectus nur
mit den Ohren gehört und nicht mit dem
Herzen? Er wusste, was uns bevorsteht,
und wollte unseren Mut stärken. Erinnert ihr euch nicht mehr an das, was
unser Herr Jesus Christus zu dem Übeltäter am Kreuz sprach? 'Wahrlich, ich
sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.' Auch wir sind Übeltäter,
aber wir werden Gottes Gnade erlangen,
weil wir ohne Hunger nach Macht und
Ansehen und ohne Gier nach Reichtum
an ihn glauben. Ihr werdet den Tod nur
als einen kurzen, schmerzlichen Moment erleben und dann glücklich sein
für alle Ewigkeit. Ihr werdet durch einen langen, schwarzen Gang fliegen
und dann eintauchen in ein Licht, wie
ihr es nie zuvor gesehen habt, mild und
dennoch alles überstrahlend."
Sie sprach so überzeugend, dass nach
und nach jeder in der Runde seine
Angst verlor. Franziska, die sich an
Raimunds glücklichen Tod erinnerte,
war einer der ersten, der ihr glaubte. Sie
saß ein wenig abseits. Cordula hatte
sich zu Viktor geflüchtet und der nahm
sie (ungeachtet seiner anders gearteten
Neigungen) in dieser Nacht zärtlich in
den Arm.
Franziska fragte sich, ob es vielleicht
immer die Schwächlinge sind, die in
wirklicher Gefahr den meisten Mut beweisen. Dann glitten ihre Gedanken ab.
Sie besann sich ihrer Kindheit in
Wardenburg und ihrer Erziehung am
Hof zu Wildeshausen. Wie bei einem
Schauspiel sah sie ihr Leben noch einmal vor sich, und begriff nicht, warum
sie so oft selbstsüchtig gewesen war, so
oft gelogen, geheuchelt, gestohlen hatte!
Da stimmte Ursula ein Lied an. Das
Singen befreite nicht nur Franziska sondern auch die anderen. Während sie
sangen, fühlten sie Gottes Nähe, und so
sangen sie die ganze Nacht hindurch auch noch, als Waffenknechte das Haus
umstellten.
Wäre es nicht um Leben und Tod gegangen, hätte man dem nun Folgenden
eine gewisse Lächerlichkeit nicht absprechen können. Da des Erzbischofs
Leute auf einen gefährlichen Feind eingestimmt waren, stürmten sie den Keller
wie eine Burg. Die nur angelehnte Tür
zersplitterte unter mächtigen Axthieben.
Sinnlos zischten Pfeile durch den Raum.
Ein Speer bohrte sich, lange nachzitternd, in die große Truhe. Die Luft vibrierte vom Gebrüll der Kommandos.
Die Katharer unterbrachen jäh ihren
Gesang. Vor Angst gelähmt, blieben sie,
während um sie herum Getümmel wie
bei einem Scharmützel herrschte, wie
Unbeteiligte auf ihren Stühlen sitzen.
Allmählich aber erinnerten sie sich, dass
sie angesichts der nahen Märtyrerkrone
eigentlich Grund zur Freude hatten.
Zugleich wurde ihnen bewusst, wie sehr
man sie letztlich ehrte mit diesem Aufgebot an Häschern. Ursula brachte den
Mut auf, dem Hauptmann mit einem
Lächeln entgegenzutreten und zu sagen:
"Ich ergebe mich Euren Waffen, tapferer Rittersmann."
Diese Ironie überraschte den Offizier
des Kirchenfürsten so sehr, dass er keine passende Antwort fand und den Spott
der eigenen Leute einstecken musste.
198
"Packt sie und bringt sie raus auf die
Straße!" brüllte er, außer sich vor Zorn.
Um jeden der Gefangenen kümmerten sich zwei oder drei Bewaffnete, und
es war für alle nicht leicht, wenigstens
den Anschein persönlicher Unentbehrlichkeit zu wahren.
Franziska hatte einen Moment lang
daran gedacht, sich mit ihrem Schwert
zu verteidigen, um wie ein Mann im
Kampf zu sterben. Sie tastete schon mit
der Hand nach dem Griff unter ihrem
Mantel, da fielen ihr Viktors Worte über
die Gleichheit aller in der Gemeinde
ein. Sie wollte sich nicht von den anderen abheben, und so ließ sie sich widerstandslos wie sie gefangen nehmen. Die
Männer, denen sie sich ergab, bemerkten die Waffe nicht einmal.
Draußen warteten einige Dominikaner, unter ihnen Theobaldus, auf den
Ausgang des Unternehmens. In ihren
strahlend weißen Kutten fielen sie am
meisten auf in der Menge, die sich inzwischen eingefunden hatte. Etwas abseits standen zwei Leiterwagen, auf
denen man die Ketzer zur Kunibertstorburg fahren wollte. Franziska
kletterte freiwillig auf den ersten der
beiden zu Viktor und Cordula hinauf.
Einer der Waffenknechte jedoch zerrte
sie am Arm wieder herunter.
"Ist es nicht gleich, ob ich auf diesem
Wagen fahre oder auf dem anderen?"
wehrte sie sich. "Ihr könnt noch genug
Willkür mit uns treiben."
"Komm mit!" befahl der Mann ungerührt.
"Ist sie das?" fragte er dann einen Benediktiner, zu dem er sie brachte.
Der Mönch nickte und führte sie nun
seinerseits ab. Sein Gesicht konnte sie
nicht erkennen, weil er die Kapuze seiner Kutte tief nach unten gezogen hatte.
"Warum lasst Ihr mich nicht bei meinen Freunden? Was habt Ihr mit mir
vor?"
Sie fand keine andere Erklärung für
die Sonderbehandlung als die, dass die
Inquisition (woher auch immer) bereits
wusste, wer sie war. Musste sie nun als
Ritterstochter mit einer härteren oder
milderen Strafe rechnen? Hatte sich
Wolfhard Cranboim für sie eingesetzt?
Während der Benediktiner sie durch die
verwunderte Menge hindurch zum Eigelstein und von dort weiter in Richtung
Dom führte, hielt sie so gut wie alles für
möglich. Vor allem sein beharrliches
Schweigen verunsicherte sie. Seine große, kräftige Hand umspannte ihren rechten Arm wie ein Eisenring und verbot
ihr von vornherein jeden Gedanken an
eine Flucht.
Von einem Gefängnis in der Nähe des
Doms hatte sie noch nie etwas gehört.
Sie wusste zwar, dass man adlige Gefangene oft statt im Kerker in einem
beliebigen, gut verschließbaren Raum
verwahrte, trotzdem beschlich sie zunehmend das Gefühl, dass etwas nicht
Vorgesehenes geschah. Wenig später
ging ihr die Wahrheit wie ein Licht auf.
"Nein! Ich will Eure Hilfe nicht!"
schrie sie, und wollte auf der von Menschen überfüllten Straße für jedermann
hörbar hinzufügen, dass sie eine überführte Ketzerin sei. Dazu fand sie aber
keine Gelegenheit mehr, denn ein
Fausthieb traf sie so hart am Kinn, dass
sie sofort in Ohnmacht fiel. Stefanus
hatte derart schnell und unauffällig zugeschlagen, dass die Leute ringsum sie
für krank hielten. Einige boten ihm sogar ihre Hilfe an. Er lehnte höflich ab
und trug das Mädchen auf seinen Armen fort.
199
II
F
ranziska erwachte im vorderen
der drei eingerichteten unterirdischen Räume. Auf welchem Wege Stefanus sie hierher gebracht hatte, wusste sie nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er in Verkleidung mit ihr auf den Armen einfach
über die Rheingasse in sein Haus hineingegangen war. Letztlich war ihr das
in diesem Moment aber auch gleichgültig, denn sie dachte an ihre neuen
Freunde aus der Katharergemeinde.
"Warum habt Ihr das getan?" schrie
sie. "Warum bestimmt Ihr über mein
Leben? Ihr seid nicht mein Vater und
schon gar nicht der Herrgott."
Ohne auf ihr Aufbegehren einzugehen, nahm der Räuber einen Schluck
Wasser aus einem irdenen Krug und
trocknete sich bedächtig seinen Bart ab.
Dann erst antwortete er:
"Wenn jemand einen anderen vor
dem Ertrinkenden rettet, bestimmt er
damit urechter Weise über sein Leben?"
"Ihr habt nur mich gerettet. Warum
nicht auch die anderen?"
"Weil nur du wirklich gerettet werden
wolltest."
"Das ist nicht wahr!"
Ganz blass vor Wut stürzte sie auf ihn
zu und hätte ihn wohl geschlagen, wäre
sie sich dabei nicht plötzlich lächerlich
vorgekommen.
"Ich bin keine Verräterin. Ihr habt
mich gezwungen, Euch hierher zu folgen."
"Und dein Schwert? Warum wolltest
du dich davon nicht trennen? Du hättest
damit auch gekämpft wie damals an der
Weidengasse, wusstest aber, dass das
dein sicherer Tod gewesen wäre. Natürlich hast du dir hehre Absichten eingeredet. Aber tief in dir ..."
Ruhiger, aber dafür umso verbitterter
entgegnete sie:
"Für Euch gibt es nichts Heiliges. In
Eurer Gegenwart wird alles schmutzig
und widerwärtig. Und doch habt Ihr
Unrecht. Ich wollte wirklich als Märtyrerin sterben, und dass ich mich vor
dem Tode fürchte, bedeutet nicht, dass
ich gern weiterleben mag."
"Du denkst an Raimund. Richtig?"
lenkte er ein und beobachtete sie aufmerksam.
Sie nickte.
"Mit ihm wäre alles gut geworden.
Ich bin so wild und vorlaut, dass ich
mich nicht leicht einem Manne unterordnen kann, wie Apostel Paulus das
von den Frauen in Jesu Namen fordert.
Bei Raimund hätte ich es gekonnt, denn
er wollte mich nicht einsperren."
"Du träumst! Glaubst du, dass dein
Raimund nach der Hochzeit plötzlich
im Hause Cranboim zu bestimmen gehabt hätte? Wolfhard gilt als gütiger
Ehemann und Vater, bleibt immer
freundlich, wird niemals grob. Aber das
sind nur Äußerlichkeiten. In Wahrheit
duldet er bei wichtigen Entscheidungen
keinen Widerspruch und verlangt Wahrung des Familienansehens. Der Drang
nach Freiheit wäre dir bald ausgetrieben
worden. Da sogar ich das weiß, musst
du es erst recht wissen, denn du hast
lange genug dort gewohnt."
Franziska spielte verstört mit einem
Zipfel ihres Kleides.
"Dann war vielleicht der elegante,
französische Ritter für mich bestimmt.
Der hätte mich mit Rosen überschüttet."
"Woher soll ich wissen, was über
dich im Buch der Schicksale geschrieben steht? Vielleicht wirst du allein
bleiben so wie ich. Nur eines kann ich
dir mit Gewissheit sagen: Ob Raimund
am Leben geblieben wäre oder nicht du hättest ihn nie und nimmer bekommen."
200
Nach einer längeren Pause fügte er
nachdenklich hinzu:
"Du darfst dein Leben nicht vergeuden. Lass dir von den Menschen nicht
wegnehmen, was Gott dir geschenkt
hat! Aus mir ist nur ein gewöhnlicher
Räuber geworden ..."
Dann lenkte er unvermittelt auf ein
anderes Thema:
"Es sieht danach aus, als ob das Leben in Köln wieder in die gewohnten
Bahnen zurückkehrt wie die Fluten des
Rheins nach einem Hochwasser. Der
Erzbischof, der Rat und die Dominikaner sind sich so einig wie nie zuvor,
die Organisation der Canes wurde still
und heimlich aufgelöst, und als die Alleinschuldigen an den Unruhen hat man,
wie jetzt jeder auf den Straßen und Plätzen hören kann, die Ketzer ermittelt. Es
ist beschlossene Sache, die leidigen
Geschichten zu vergessen, und so wird
wohl auch in den Chroniken nicht viel
davon die Rede sein."
"Ja, die braven Bürger werden alles
vergessen. Trotzdem sind unschuldige
Menschen vor ihren Augen erschlagen
worden. Manche Menschen werden von
niemandem beschützt, nicht einmal von
Gott."
"Du versündigst dich!"
"Ich meine das ernst."
"Ich auch. Gott, dem du gerade Vorhaltungen machst, hat ein Wunder geschehen lassen. Geh nach nebenan!"
Klopfenden Herzens folgte Franziska
der Aufforderung - zaghaft, weil sie
nicht glauben konnte, was sie sich
wünschte, und sich vor der Enttäuschung fürchtete, zugleich aber magisch
angezogen von dem Lichtschein hinter
der Tür, der ihr jetzt erst auffiel. Als sie
Ramiras roten Haarschopf entdeckte
und zudem feststellte, dass es der
Freundin gut ging, kannte ihr Freude
keine Grenzen mehr. Sie umarmte sie
ungestüm und küsste sie immer wieder,
bis ihre Schwester sie am Arm zupfte
und vorwurfsvoll sagte:
"Darüber, dass ich noch lebe, freust
du dich wohl nicht?"
Franziska schämte sich, wandte sich
ihr sofort zu und umarmte auch sie.
"Verzeih mir! Um dich hatte ich nicht
so sehr viel Angst. Für dich wollte sich
Wolfhard Cranboim einsetzen, und der
kennt viele einflussreiche Leute in der
Stadt."
"Er konnte doch nicht einmal seinen
eigenen Sohn beschützen!" rief Ramira
dazwischen und brach sofort in Tränen
aus.
Die Verstörtheit der Freundin verwirrte Franziska. Sie beugte sich zu ihr
herab, legte den Arm um ihre Schultern
und fragte, noch völlig ahnungslos:
"Was hast du?"
Ramira fiel auf die Knie und weinte
noch heftiger als zuvor.
"Ich verdiene nicht, dass du mich
tröstest. Wenn du alles weißt, wirst du
mich hassen. Ich bin schuld an seinem
Tod. Ich hab ihn umgebracht."
Sie war hilflos wie ein kleines Kind.
Franziska empfand Mitleid mit ihr,
wusste aber nichts anzufangen mit dem,
was sie sagte, und fürchtete für einen
Moment, sie hätte den Verstand verloren.
"Was ist geschehen?"
Ramira ließ sich durch nichts dazu
bewegen, wieder aufzustehen, griff aber
nach den Händen der Freundin und
drückte sie an ihre tränennassen Wangen.
"Ich wollt einfach nur ein wenig
glücklich sein, für einen kleinen Moment nur. Verstehst du? Es war wie
damals mit deinem Bruder. Warum
werden immer die anderen für meine
Sünden bestraft?"
Allmählich kam Franziska eine Ahnung.
"Hast du Raimund ... geliebt?"
Ramira nickte.
201
"Und er? Hat er dich auch geliebt? ... Ich meine: Wollte er dich
als ... Frau?"
Ramira nickte abermals. Wenige Tage zuvor wäre Franziska von einer solchen Eröffnung tief gekränkt gewesen,
nun aber empfand sie sonderbarer Weise wie ein Außenstehender, der aus reiner Wissbegier einen Zusammenhang
ergründen will.
"Also hat er bei mir seinen Katharerglauben nur als Ausrede gebraucht. Jetzt
verstehe ich, was Stefanus mir vorhin
sagen wollte. Raimund war wirklich
nicht für mich bestimmt."
"Du verzeihst mir, dass ich deinen
Verlobten verführt hab?"
"Er war nicht mein Verlobter und er
hat sich aus freiem Willen für dich entschieden."
Ramira weigerte sich trotzdem aufzustehen.
"Du weißt noch immer nicht alles.
Raimund hat sich der Inquisition selbst
ausgeliefert."
"Er wäre ihr doch in jedem Fall ins
Netz gegangen. Sie wusste längst alles
über die Gemeinde."
"Er wäre ihr nicht ins Netz gegangen,
sondern gemeinsam mit mir geflohen.
Wir hatten uns verabredet."
"Er wollte Gaukler werde? Raimund
Cranboim?"
"Ja. Ich konnte es ihm nicht ausreden.
Keiner konnte das."
Franziska starrte betroffen die gegenüberliegende Wand an.
"Er war so glücklich auf dem Hinrichtungsplatz, und dabei hatte er sich
geirrt! Aber vielleicht findet er es jetzt
sogar besser so. Er kann im Himmel ein
gutes Wort für dich einlegen, und du
bist noch am Leben."
"Glaubst du denn, dass er im Himmel
ist?"
"Ganz bestimmt ist er dort."
Ramira wurde etwas ruhiger. Franziska zog sie zu sich herauf und drückte
sie an sich. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, lenkte sie auf ein anderes Thema:
"Warum meint Stefanus, dass Gott an
dir und Pentia ein Wunder bewirkt habe?"
Das Gauklermädchen setzte sich auf
eine Bank und wischte sich mit dem
Ärmel ihres Kleides das Gesicht trocken.
"Wir waren nicht im Wohnwagen, als
die Graukittel gekommen sind. Ich
konnte nicht schlafen und Pentia auch
nicht. Drum haben wir uns an den Rhein
gesetzt. Als ich den Lärm hörte, wusste
ich sofort, was passiert ist, und wollte
zu den andern. In der Gefahr gehört die
Sippe zusammen."
"Doch das habe ich ihr ausgeredet",
fügte Pentia hinzu. "Es wäre doch ein
sinnloses Opfer gewesen."
"Also sind wir im Versteck geblieben, bis alles vorbei war, und dann die
Uferstraße entlang bis zum Leystapel
gelaufen."
"Wir konnten so gut wie nichts sehen", ergänzte wiederum Pentia. "Ich
begreife bis heute nicht, warum wir
nicht in ein Loch oder gar in den Fluss
gefallen sind. Wir hatten keine Fackel
bei uns, keine Kerze, nichts."
"Jesus war bei uns." Ramira holte das
Kruzifix des Maginulfus unter ihrem
Kleid hervor und betrachtete es versonnen. "Du wolltest, dass ich es wegwerfe,
aber Jesus liebt die Armen und die Sünder und beschützt sie. Das hat mir dein
Bruder Arnold aus der Bibel vorgelesen."
"Darauf würde ich mich an eurer Stelle nicht verlassen."
Die drei Mädchen wandten sich erschrocken um und gewahrten Stefanus,
der hinter ihnen stand und ihnen wohl
schon seit einiger Zeit zugehört hatte.
"Die Inquisition gibt ihre Beute nicht
gern preis. Ihr müsst verschwinden von
hier und zwar möglichst bald."
202
III
N
och in derselben Nacht brachte
Stefanus die drei über den
Rhein. Wegen der milden Witterung, konnten sie jenen Ausgang benutzen, bei dem sie unter der Kaimauer
hindurchtauchen mussten. Auf diese
Weise gelangten sie gefahrlos zum Versteck eines Floßes. Franziska wunderte
sich inzwischen nicht mehr über die
Sicherheit, mit welcher sich Stefanus
trotz tiefer Dunkelheit im Gewirr der
Schieferstapel, Kisten und Lagerhütten
zurechtfand. Er lief voraus und die
Mädchen folgten ihm, wobei sich jeder
am Gürtel des Vorausgehenden festhielt. Auf dem Wasser konnte man sich
überhaupt nicht mehr orientieren, denn
die wenigen, winzigen Lichtpunkte von
Köln und (am anderen Ufer) von Deutz
verwirrten mehr, als sie halfen. Wenigstens gab die Stärke der Strömung einen
Hinweis darauf, wie weit die Flussmitte
entfernt war. Stefanus hatte allerdings
auch mit diesen Umständen seine Erfahrungen und lenkte das Floß sicher zu
einer zum Anlegen geeigneten Stelle
außerhalb der Stadt.
Eine Verabschiedung duldete er
nicht. Von Franziska nahm er weder
einen Dank noch eine Entschuldigung
entgegen. Nur ein paar Ratschläge gab
er noch.
"Versucht, schon in der Nacht so weit
wie möglich zu kommen! Morgen dürft
ihr euch keine Pause gönnen, auch
wenn ihr müde werdet. Umgeht die
Dörfer. Zumeist könnt ihr in der Nähe
des Rheins bleiben. Und jetzt verschwindet!"
Schon von der Nacht verschlungen,
rief er den Mädchen noch nach:
"Und lasst euch von den Kaufleuten
auf dem Fluss nicht sehen! Es kann
sein, dass man sie nach euch fragt."
Dann gab es ihn für sie nicht mehr.
Die Dunkelheit schuf nach wenigen
Schritten eine dem Anschein nach unüberwindliche Wand zwischen ihm und
ihnen.
Von der Angst getrieben, liefen sie,
wie ihnen geraten, immer geradeaus,
ohne zu wissen wohin. Einen vagen
Anhalt gab ihnen das Plätschern des
Rheins zu ihrer Linken. Allerdings durften sie dem Fluss nicht zu nahe kommen, um nicht in den ihn als breites
Band begleitenden, sumpfigen Schilfstreifen zu geraten. Mehrmals bemerkten sie tückische Morastlöcher erst im
letzten Moment. Als ihnen ein Wasserlauf unbekannter Breite und Beschaffenheit den Weg versperrte, beschlossen
sie, den Anbruch des neuen Tages abzuwarten.
Im Licht der ersten Sonnenstrahlen
bemerkten sie, dass sie sich von einem
kaum einen Meter breiten Bächlein hatten narren lassen, sprangen darüber
hinweg und setzten ihre Flucht fort. Um
sie herum erstand die Welt in all ihrer
Vielfalt neu auf. Zuerst traten (als Umrisse nur) die Bäume hervor und die
Sträucher in nächster Nähe. Dann waren
einzelne Äste und Zweige zu erkennen.
Schließlich löste sich das Schilf in ein
Meer unendlich vieler Halme auf. Die
Wiesen bildeten einen tiefen, flauschigen Teppich von gelblich-grüner Farbe.
Eine Kolonie Krähen hob sich schwarz
ab. Ein Hase flüchtete erschrocken ins
Dickicht, als er die Menschen bemerkte.
Die Mädchen verloren derweil mehr
und mehr ihre Angst und begannen (jedes für sich), über die Zukunft nachzudenken. Franziska wollte nach Wardenburg gehen. Graf Burchard hatte inzwischen für sie seinen Schrecken verloren.
Warum sollte ihr Vater nicht in der La-
ge sein, sie vor ihm zu beschützen?
Vielleicht war der Mörder ihres Bruders
sogar inzwischen vor ein Gericht gestellt und verurteilt worden. Pentia
dachte ähnlich. Allein Ramira fand zu
keinen glaubwürdigen Hoffnungen. Sie
fühlte sich wie ein im Herbst vom Ast
gerissenes und nun umher treibendes
Blatt. Zwar konnte sie auf Franziskas
Freundschaft vertrauen, doch graute ihr
vor den Spuren der Zeit mit Arnold, auf
die sie im Oldenburger Land zwangsläufig stoßen würde.
Am Abend konnten die drei vor Erschöpfung kaum noch laufen, waren
aber ein beruhigendes Stück vorangekommen. Verfolger hatten sie nirgendwo bemerkt. An einer Stelle, wo sie
durch dichten Wald und eine scharfe
Biegung des Rheins vor Beobachtung
geschützt waren, richteten sie sich für
die Nacht ein. Sie entzündeten ein Lagerfeuer und leisteten sich ein ausgiebiges Abendbrot. Wenigstens den
Hunger brauchten sie vorläufig nicht zu
fürchten, denn sie trugen ausreichend
Proviant bei sich.
Die Sonne war längst hinter die Bäume am jenseitigen Ufer gesunken,
tauchte aber noch den Horizont in ein so
intensives Rot, dass es einem verheerenden Brand in der Ferne glich. Ringsum herrschte gespenstische Stille, die
nur das Knistern der Holzscheite im
Lagerfeuer unterbrach. Der Widerschein
der Flammen überhauchte den Fluss mit
einem Schleier irrlichternder Funken.
Die Mädchen rückten unwillkürlich
dichter aneinander heran, ohne recht zu
wissen, warum ihnen der Friede trügerisch erschien.
"Wie vor einem Gewitter", sagte
Franziska.
"Daran hab ich auch gedacht", bestätigte Ramira und stellte dann eine Frage, die ihr schon lange auf der Seele
lag: "Du bist viel klüger als ich, kannst
sogar lesen. Was glaubst du: Ist die
Welt vom Teufel oder von Gott geschaffen worden?"
"Du kommst nicht los von Raimund."
"Das hat nicht nur mit Raimund zu
tun. Ich selber will es wissen. Sag mir
ehrlich, was du denkst!"
"Du versprichst dir zuviel von den dicken Büchern. Da steht so vieles drin
und gleichzeitig gar nichts. Wie oft habe ich als Kind meinen Bruder Arnold
mit solchen Fragen bedrängt! Wir Menschen sind viel zu winzig für die Wahrheit."
"Wir alle tragen ein Stück vom Heiligen Geist in uns, und deshalb können
wir mit unserem Herzen urteilen", sagte
Pentia voller Überzeugung. "Gott hat
die Welt geschaffen, und sie ist dafür
bestimmt, dass wir glücklich darin leben. Jeder Nacht folgt ein neuer Morgen. Wenn ich nach Wardenburg zurückkehre, verheiratet Vater mich sicherlich bald. Ich werde eine gehorsame
Ehefrau sein, aber (wenn es sein muss)
mit meinen Mitteln auch meinen eigenen Willen durchsetzen. Warum wollen
die Leute alles mit Gewalt erreichen,
obwohl doch Nachgiebigkeit und
Freundlichkeit oft viel schneller zum
Ziel führen?"
Franziska blickte ihre Schwester verblüfft an. So vernünftig hatte sie die
Jüngere noch nie reden hören.
"Was soll ich darauf sagen? Ich glaube fast, dass du mich nicht mehr
brauchst."
"Natürlich brauche ich dich, nur nicht
mehr als ... als Mutter."
"Du träumst von einem schönen Grafensohn. Habe ich recht?" sagte Ramira
leise. "Ich habe gelernt, mich vor schönen Träumen zu fürchten. Meistens
bringen sie Unglück."
Pentia rückte an die Freundin heran
und umarmte sie.
"Nicht alle Träume enden mit einem
Unglück. Auch du wirst einen Mann
bekommen. Vielleicht wartet der, den
204
Gott für dich bestimmt hat, schon ganz
in der Nähe auf dich."
"Gott hat schon zwei solche Männer
zu mir geschickt und beide sind durch
mich zu Tode gekommen. Glaubst du
nicht, dass das für die Hölle ausreicht?"
"Dem nächsten wirst du Glück bringen."
Franziska legte ein paar neue Scheite
ins Feuer.
"Wir sind abgekommen von der Frage, von wem die Welt erschaffen ist. Ich
glaube wie Pentia, dass es Gott war. Ich
glaube aber auch, dass sich der Teufel
damit nicht abfindet. Ob er sie nun erschaffen hat oder nicht - wenn wir uns
nicht wehren, wird sie ihm bald gehören. Ich will nicht einfach zusehen,
wenn um mich herum so viel Böses
geschieht. Vielleicht hat Stefanus das
gemeint, als er sagte, dass ich mir von
den Menschen nicht wegnehmen lassen
darf, was Gott mir geschenkt hat. Doch
der Preis dafür wird wohl die Einsamkeit sein. Wer will sich abgeben mit
jemandem, der gegen das Althergebrachte aufbegehrt?"
IV
D
er alte Perfectus kehrte wohlbehalten nach Montségur zurück,
wo er drei Jahre später eines
natürlichen Todes starb. Pierre, der occitanische Ritter, fiel im Sommer 1238
bei einem Ausfall in die von den Truppen des französischen Königs kontrollierte Ebene unterhalb der Burg. Erst am
16. März 1244 jedoch gelang es einem
6000 Mann starken Heer unter Führung
Hugues de Arcis, des Seneschalls von
Carcassonne, diese letzte Bastion der
Katharer zu erobern. Der Schatz der
einst mächtigen Gegenkirche wurde
rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Seine
Spur verliert sich im wild zerklüfteten
Ariège-Tal zwischen den Städten Ax
und Tarascon, wo sich Anhänger der
Reinen Lehre noch jahrzehntelang verborgen hielten.
Die Stadt Köln war in den folgenden
fünfzig Jahren Schauplatz vieler blutiger Kämpfe - sowohl zwischen den Patriziern und dem Stadtherrn, als auch
zwischen den Patriziern und den Handwerkerinnungen und sogar zwischen
den verschiedenen Parteien innerhalb
der Patrizierkaste. Am Ende setze sich
eine von der Familie Overstolz dominierte Gruppe reicher Kaufleute durch.
In der Schlacht bei Worringen am 5.
Juni 1288 kämpfte ein Aufgebot der
Bürgerschaft in einer Koalition unter
Führung des Herzogs Johann von Brabant gegen Erzbischof Siegfried von
Westerburg. Der mächtige Kirchenfürst
erlitt dabei überraschend eine vernichtende Niederlage, die ihn an den Rand
des politischen Unterganges trieb. Er
war gezwungen, sich nach Bonn zurückzuziehen und den Kölnern für alle
Zeit die volle Unabhängigkeit zu gewähren.
Den Einfluss der Dominikaner in der
Stadt beeinträchtigte das nicht. Wie fast
nirgendwo sonst trat hier die ganze Widersprüchlichkeit des Predigerordens
ans Tageslicht. So bedeutende Gelehrte
wie Albertus Magnus und sein Schüler
Thomas von Aquino, der Begründer der
Scholastik, wirkten in Köln, aber auch
grausame Fanatiker wie Jacob Sprenger,
der Hexenjäger. Sprenger war gegen
Ende des 15.Jahrhunderts Prior des
Klosters über dem ehemaligen Hospital
Sankt Maria Magdalena und verfasste
gemeinsam mit Heinrich Institoris im
Auftrage des Papstes den Malleus Maleficarum, die im ganzen Spätmittelalter
verbindliche Anleitung zur Verfolgung,
205
Folterung und Verurteilung der "mit
dem Teufel im Bunde stehenden Frau-
en".
206
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