Essen mit den Augen In wohl keinem Land der Erde identifizieren sich seine Einwohner dermaßen über das Essen. Unzählige Fernsehprogramme beschäftigen sich am Tag mit der Zubereitung und schließlich dem Verspeisen japanischer Gerichte. Reisekataloge erscheinen eher wie der Ausflug in Fotokataloge zu kunstvoll hergerichteten Speisen. Was das Hotel und das japanische Landgasthaus „Ryokan“ neben einer hervorragenden Küche zu bieten hat, rückt auf in den Hintergrund. Gleichzeitig ist für Besucher Japans der Ausflug in seine Essenskultur oft ein wahrhaft neue Erfahrung. Kein Essen der Welt scheint weiter vom europäischen Geschmack entfernt zu sein als das japanische. Natürlich finden sich auch in der europäischen, afrikanischen, süd- und nordamerikansichen und asiatischen Küche einige exotische (Lecker-)Bissen, aber die japanische Küche ist in ihrer ganzen Richtung anders. Es gilt: erst der Koch, der am geschmackvollsten sein Essen drapiert, ist der beste. Japan, das nie Anschluß an eine der großen Handelsstraßen des Kontinents hatte, mußte sich als das ursprünglich arme Volk mit dem zufrieden geben, was Meer und Boden hergaben – Reis, Sojabohnen und Verschiedenes aus Meer und Fluß. Damit wurde die Sojasauce zum Allround Gewürz, Tofu, der Sojabohnenquark, als Hauptproteinlieferant ein besserer Fleischersatz und das Meer das Feld für viele Produkte – von Fischen, Muscheln über Quallen, Seegurken, Fischeier, Rogen bis Seetang. Fleisch war lange unbekannt – auch weil Buddhisten in der Regel keine vierbeinigen Tiere essen (mit Ausnahme der Hasen, den sie seiner großen flügelähnlichen Ohren wegen zum Vogel machten). Ausgehend von dieser Grundstruktur unterscheiden sich die drei Hauptmahlzeiten eines Tages weniger in den verwendeten Produkten als in ihrer Zubereitung und Darreichung. Ein klassisch japanisches Frühstück kann somit in etwa so aussehen: auf einem rechteckigen Platte mit nach oben gebogenen Rändern ein gebratener Fisch. In einem winzigen Schüsselchen grünes und gelbes Salzgemüse wie Rettichscheiben. In einem etwas größeren, tiefen Schüsselchen süße Bohnen oder eingelegte Farnspitzen. Eine dunkle Lackschale mit Deckel enthält die helle, mit Bohnenpaste gesäuerte Suppe samt einiger Stücke Tofu mit großblättrigem Seetang angerichtet. Auf einem Ständer ein rohes Ei, das man in das Schälchen mit Reis mischt. Dazu grüner Tee. Dabei wird insgesamt wenig Wert auf die Temperatur der Speisen gelegt – während der kunstvollen Arrangements insbesondere für das Abendbrot kühlt sich sowieso das meiste wieder mehr als ab. Hauptsache Reise und Suppe sind heiß! Von Kaffee also zum Frühstück klassischer Weise keine Spur. Aber seit Beginn der Epoche der Rastlosigkeit drängt westliches Essen zunehmend auf japanische Tische. Als einen Kompromiß zwischen beiden Kulturen läßt sich das wachsende Angebot von frischen Komplettgerichten mit Reis, die schnell in der Mikrowelle erwärmt werden bezeichnen. Die Nachahmung einer kunstvollen Lackschale ist nicht der einzige Tribut an die kunstvollen Arrangements für das Auge. Die verschiedenen Fächer der Schale enthalten wieder Gemüse, Fisch oder Fleisch, Reis, Holzstäbchen und das unverzichtbare Kunststofffläschen mit mehreren Spritzern Sojasauce – dem japanischen Ketchup, da er unverzichtbar auf fast jedem Restauranttisch seinen Platz hat. Gleichzeitig prägen schon seit Jahren „Burgertempel“ westlichen Stils mehr und mehr das Straßenbild der Subzentren von Japans Metropolen. Neuste Schlagworte sind „healthy, ecological...“. An vielen Ecken sprießen Bäcker- und Konditoreien nord- und mitteleuropäischer Prägung. Am Morgen zu den Schokocroissants der kalte Milchkaffee „Cafe latte“, gesüßt oder ungesüßt, aus dem Plastikbecher mit Deckel und Plastikhalm. Oder die Dose heißer oder kalter Kaffee aus den allerorts zu findenden Automaten. Tankstellen für Durstige. Diese Errungenschaften machen scheinbar das Frühstück japanischen Art vergessen. Aber nicht gänzlich, denn die Ausflüge in die Ryokans sind stehen auch für die jüngeren Japaner immer wieder auf dem Jahresplan. Alles also zu seiner Zeit – auch das Essen mit den Augen!