HANS-GÜNTER DOSCH UND BERTHOLD STECH Johannes Daniel Jensen 1907-1973 1 Sein Leben Johannes Daniel Jensen wurde am 25.6. 1907 in Hamburg geboren. Er war das dritte Kind der Eheleute Karl Friedrich Jensen und Helene Auguste Adolphine, geborene Ohm. Beide Eltern stammten aus der Umgebung Hamburgs, aber die Trauung hatte 1898 in Konstantinopel stattgefunden. Die Eltern Jensens waren in die Türkei gereist, um als Betreuer eines armenischen Waisenhauses bei Amasya mitzuhelfen, die Not der christlichen Armenier zu lindern. Allerdings mußten sie die Türkei schon nach wenigen Jahren wieder verlassen. Der Vater wurde zunächst Sakristan bei der baptistischen Gemeinde Hamburgs und dann Gärtner am botanischen Garten in Harnburg, wo er durch seine hervorragenden fachlichen Kenntnisse eine sehr geachtete Stellung erreichte. Jensens Eltern starben früh -seine Mutter 1922, sein Vater 1923 -; er wurde dann von seiner älteren Schwester Lisbeth versorgt. Er besuchte die Grundschule von 1913 bis 1922, also bis zum Volksschulabschluß, wurde aber dann auf Grund seiner außerordentlichen Begabung in die Aufbauschule in Hamburg aufgenommen. Dort legte er dann, trotz der späten Einschulung in die höhere Schule, mit 18 Jahren sein Abitur ab. Schon als Schüler interessierte er sich für Naturwissenschaften*, und so immatrikulierte er sich 1926 für die Fächer Physik, Mathematik, physikalische Chemie, Chemie und Philosophie an der Universität Hamburg. Er wurde durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert. Neben der Universität Hamburg besuchte er auch die Universität Freiburg i. B. 1931 legte er in Hamburg das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab; 1932 wurde er dort bei Wilhelm Lenz zum Dr. rer. nat. promoviert. Er bekam sofort eine Assistentenstelle am Institut für Theoretische Physik der Universität Hamburg und nach seiner Habilitation 1936 eine Dozentur ebenfalls in Hamburg. Von 1939 bis 1940 war er Wehrmachtsbeamter beim Wetterdienst. 1941 folgte er einem Ruf als außerordentli- cher Professor an die Technische Hochschule Hannover. 1946 wurde er dort zum ordentlichen Professor ernannt. Jensen lebte als junger Assistent, Dozent und Professor in einer politisch schwierigen Zeit. Selbst viele intelligente und integre Menschen waren damals vom Nationalsozialismus beeindruckt. Dies war nicht so bei Jensen. Durch seine Weltoffenheit, seinen Respekt vor den jüdischen Kollegen und nicht zuletzt durch seinen Abscheu vor bombastischem Pathos war er vollkommen immun. Er wurde aber in große Gewissenskonflikte gestürzt, als 1937 in Hamburg fast die gesamte Beamtenschaft der NSDAP beitrat. Jensen erwog eine Emigration oder Tätigkeit in der Industrie und beriet sich ausführlich mit den beiden einzigen Hamburger Kollegen, die sich diesem kollektiven Eintritt verweigerten. Diese rieten ihm, sich dem Beitritt nicht zu widersetzen und bei der Universität zu bleiben, damit nach dem vorauszusehenden Zusammenbruch auch jüngere qualifizierte Kollegen beim Aufbau einer neuen Universität mitwirken könnten. Eine Rolle für die Entscheidung Jensens spielte auch, daß seine Frau wegen der öffentlichen Unterstützung einer linken ASTA-Liste im Falle einer Verweigerung ihr Medizinstudium nicht hätte fortsetzen können. In Hamburg und Hannover * * In diesem Zusammenhang ist eine Anekdote, die Jensen gern selbst erzählte, für sein Wesen aufschlußreich: Als für die Feier zur Verleihung der Preise des Wettbewerbs >Jugend forscht< ein repräsentativer Festredner gesucht wurde, rief der Sachbearbeiter bei dem Nobelpreisträger Jensen an, um ihn zu fragen, ob er bereit sei, die Festrede zu übernehmen. Jensen ging sofort darauf ein, erzählte, daß auch er in seiner Jugend begeistert chemische Experimente ausgeführt habe um zu sehen, ob das, was in den Lehrbüchern stehe, auch stimme. Als Forschung allerdings sei ihm dieses nicht erschienen, denn so niedrig solle man den Begriff Forschung nicht ansetzen. Jensen schilderte dann amüsiert die gequälte Reaktion des Anrufers, der hörbar aufatmete, als Jensen schließlich zu dem Schluß kam, er sei wohl doch nicht der geeignete Festredner. suchten dann Jensen und seine Frau, so weit es ging Unrecht zu verhindern und Not zu lindern. Holländische Zwangsverschleppte berichteten nach dem Kriege, daß sie nur durch den Einsatz und die Betreuung der Ärztin Elisabeth Jensen die Deportation überlebten. Er konnte mitwirken, bei den heranwachsenden Studenten die Kritik am Nationalsozialismus wachzuhalten und manchem Bedrängten zu helfen. So verhinderte er mit gleichgesinnten Kollegen die Deportation eines jüdischen Physikers. Eine gefährliche Denunziation durch einen Nazi-Kollegen hatte für Jensen nur deswegen keine Folgen, weil sie von Walther Gerlach niedergeschlagen werden konnte. Schon in den 30er Jahren pflegte Jensen engen wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt zu Niels Bohr und seinen Mitarbeitern in Kopenhagen. Persönlichkeit und Begriffswelt von Niels Bohr beeinflußten Jensen nachhaltig. Auch in den Kriegsjahren und der Zeit der deutschen Besetzung gelang es Jensen, seine Verbindung mit Kopenhagen und seine Freundschaften mit in der Widerstandsbewegung tätigen Kollegen aufrechtzuerhalten. Diese und norwegische Freunde schätzten seine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und unterstützten ihn später. Nach dem Krieg konnte dann Jensen die Erwartungen seiner Hamburger Kollegen, die ihm geraten hatten, bei der Universität zu bleiben, voll erfüllen: Er gehörte zu den wenigen jüngeren theoretischen Physikern, die nach Kriegsende in der Lage waren, Spitzenforschung zu treiben und Studenten und Mitarbeitern eine hochqualifizierte Ausbildung zu geben. Er setzte sofort alle seine Kräfte ein, denn in der Misere der Nachkriegszeit, bei großen Studentenzahlen und minimalen Geldmitteln, waren ganz erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden. 1947 versuchte Walther Bothe, der nach dem 2. Weltkrieg in Heidelberg alleiniger Lehrstuhlinhaber für Physik war und außerdem der kernphysikalischen Abteilung des dortigen Kaiser- Wilhelm- Instituts für medizinische Forschung vorstand, Jensen für Heidelberg zu gewinnen. Im Wintersemester 1948/49 folgte Jensen diesem Ruf. Abgesehen von einer vertretungsweisen Lehrveranstaltung durch Walter Wessel, der jedoch bald in die Vereinigten Staaten ging, hatte es nach Kriegsende in Heidelberg keine Vorlesung über theoretische Physik gegeben. Das erste theoretisch-physikalische Seminar wurde vom Assistenten Jensens, Helmut Steinwedel, der schon einige Monate vor Jensen nach Heidelberg gekommen war, durchgeführt. Dazu kamen Michael Danos, den Jensen ebenfalls von Hannover her kannte, und etwas später Heinz Koppe und Arnold Schoch. Der Aufbau des Instituts für Theoretische Physik hatte begonnen. Kaum war Hans Jensen in Heidelberg, so wurde er zum Motor der Entwicklung der gesamten Heidelberger Physik. Neben seinen Forschungsarbeiten hielt Jensen vielstündige Vorlesungen und Seminare, kümmerte sich um Bibliothek und Verwaltung des neugeschaffenen Instituts und machte zielstrebig innerhalb der Universität und auf Landesebene auf die schwierige Situation von Forschung und Lehre aufmerksam. In zähem, aber stets fairem Ringen mit den zuständigen Ministerien erreichte er die Errichtung neuer Lehrstühle für die naturwissenschaftliche Fakultät und die Bereitstellung von Geldmitteln. Es gelang ihm, die Experimentalphysiker Otto Haxel und Hans Kopfermann von Göttingen zu berufen und damit Heidelberg eine führende Rolle in der Kernphysik zu geben. Großes nationales und internationales Interesse an den Heidelberger Forschungsarbeiten stellte sich ein. Wolfgang Pauli, der Deutschland nach dem Kriege zunächst fernblieb, konnte von Jensen bewogen werden, nach Heidelberg zu kommen. Eine Gelegenheit dazu bot sich beim 60. Geburtstag von Walther Bothe. Auch Bethe, Gamow, Maria Meyer, Nordheim, Rabi, Weisskopf, Wigner und viele andere hervorragende Persönlichkeiten kamen bald zu Besuchen nach Heidelberg. Jensen und seine Heidelberger Kollegen hatten einen entscheidenden Anteil daran, daß die Isolation der deutschen Wissenschaftler frühzeitig endete. Das Institut für theoretische Physik, der „theoretisch-physikalische Apparat“, verfügte zunächst nur über zwei Zimmer im Physikalischen Institut. Jensen erreichte anläßlich der Berufung Kopfermanns den Kauf des Anwesens Philosophenweg 16 durch das Land. Der Ankauf war ein Glücksfall: Die Nachbarschaft zum Physikalischen Institut, die herrliche Lage am Philosophenweg und die Möglichkeit, hier die Zentralbibliothek der Physik-Institute zu errichten, machten es zu einem idealen Institutsgebäude. Hinzu kam, daß Jensen selbst in diesem Haus zwei Zimmer bewohnte und in eigener körperlicher Arbeit den Garten in ein vielfach bewundertes Stück Erde verwandelte, worauf er mit Recht stolz war. Oft arbeitete er schon ab 6 Uhr morgens im Garten, bis um 9 Uhr der stets zuverlässige Sekretär Eduard Sach zum Dienst kam. Dann wurden Briefe diktiert und schließlich die täglich eintreffende große Wetterkarte studiert. Es war eine Vorliebe Jensens, die Wetterprognose anhand der Karte und der Daten fachmännisch zu kritisieren, bevor er mit den Mitarbeitern diskutierte oder seine Vorlesung vorbereitete. Nachdem der Grundstock für eine erfolgreiche experimentelle und theoretische Physik gelegt war, wurde auch der weitere Ausbau der Heidelberger Physik von Jensen wesentlich mitbestimmt. Die Gründung der Institute für Angewandte Physik mit der Berufung von Christoph Schmelzer und Konrad Tamm und die Gründung des Max-Planck-lnstituts für Kernphysik am Saupferch unter Wolfgang Gentner kamen mit entscheidender Hilfe von Jensen zustande. Jensen war einer der ersten, die ihren hohen wissenschaftlichen Ruf dazu benutzten, nicht nur neue Assistentenstellen zu schaffen, sondern auch neue gleichberechtigte Lehrstühle einzurichten. Damit baute er lange bevor es modern wurde ein „Department“ auf. Auf den ersten dieser Lehrstühle konnte 1956 Walter WesseI aus Amerika zurückberufen werden. Von großer Bedeutung war auch der Einfluß Jensens bei der Schaffung des deutschisraelischen Austausch-Programms für Wissenschaftler, das lange vor Aufnahme anderer offizieller Kontakte zur Aussöhnung beider Länder beitrug. Es steht uns nicht an, Jensens Zugang zur Physik einer tiefgründigen Analyse zu unterziehen, zumal er selbst eine solche Interpretation als reine Besserwisserei abgetan hätte. Einmal wurde Jensen nach einer Mechanikvorlesung von einem Studenten gefragt, wie denn Kepler auf seine Gesetze gekommen sei. Jensen meinte, soviel man wisse sei Kepler ein gläubiger Calvinist gewesen, und sicher habe der Glaube, er sei vorbestimmt, die Wunder der Schöpfung aufzudecken, für ihn eine große Rolle gespielt; viel besser Bescheid wüßten da natürlich gewisse Psychologen und Pädagogen. Diese erinnerten ihn stets an einen Apotheker seiner Kindheit (den ich natürlich dafür erfunden habe), der eine gewaltige Glatze hatte und ein Gesicht voller Sommersprossen, aber mit Überzeugung Mittel gegen Haarausfall und Sommersprossen vertrieb. Diese Anekdote beleuchtet manche Seite von Jensen. Sicher waren ihm, dem skeptischen Empiriker, Fragen nach dem Wieso keineswegs fremd und sinnlos, doch jedem direkten Patentrezept mißtraute er zutiefst (und das keineswegs nur in der Wissenschaft). Vorurteilsfreies Herantasten an das empirische Material mit allen zur Verfügung stehenden Modellvorstellungen war seine Arbeitsweise und seine Stärke. Das macht sich bereits in seinen ersten Arbeiten bemerkbar. Er scheute sich nicht, das statistische Thomas-FermiModell durch Elemente der Einteilchentheorie zu modifizieren. Damit konnte er die theoretische Beschreibung ganz wesentlich verbessern. Hans jensens wissenschaftliches Lebenswerk läßt sich im Spannungsfeld des Kollektiven und des Individuellen sehen: Seinen vielen Arbeiten über statistische oder hydrodynamische Modelle stehen die über das Einteilchen-Schalenmodell gegenüber, wie es im 2. Teil ausführlicher beschrieben wird. Hier ergibt sich eine interessante Parallele zum Begriff der Komplementarität, den Bohr in die Quantenmechanik eingeführt hatte. Vereinfacht ausgedrückt besagt es, daß ein einzelnes klassisches Konzept nicht ausreicht, um Vorgänge auf atomarem Niveau zu beschreiben; erinnert sei hier nur an den Dualismus Welle-Teilchen. Jensen war Anhänger der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, die auf diesem Komplementaritätsbegriff basiert. Aber offenbar hat er diesen Begriff weiter gefaßt als nur zur Interpretation der Quantenmechanik; wie Bohr hielt er ihn für grundlegend für die menschliche Erkenntnis. So spricht er in seiner Nobelpreisrede [Jensen 1963] von sich wechselseitig ergänzenden und begrenzenden Bildern und fährt fort: „Wenn man die Fragen der Kernstruktur, die Fragen nach den Kernkräften und die Probleme der Elementarteilchenphysik als Einheit nimmt, so trifft deshalb, trotz aller Erfolge, vielleicht immer noch ein Vers Rilkes zu, auf den mich mein verstorbener Lehrer Wilhelm Lenz in den frühen Tagen der Quantenmechanik aufmerksam machte. Rilke spricht darin von seinen Empfindungen um die Jahrhundertwende im Bilde eines großen Buches, in welchem ein Blatt umgeschlagen wird, und schließt: /Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite, / auf der noch alles werden kann. / Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite / und sehn einander dunkel an.“ Nach dem oben gesagten ist es einleuchtend, daß Jensen in der Wahl seiner Methoden flexibel war. Er war weder mathematischer Formalist noch vertraute er ganz auf eine „physikalische Intuition“. Die Mathematik war für ihn eine Sprache, die weitgehend von Physikern entwickelt wurde (in diesem Sinne sah er auch in L. Euler einen der größten Physiker), und die Mathematiker waren für ihn die Grammatiker dieser Sprache, die darüber wachten, daß sie nicht ganz verschludere. Als Beispiel führte er dafür oft die Funktion an, die von Technikern und Physikern erfunden und lange Zeit auch erfolgreich angewandt wurde, bis die Mathematiker sie formal einführten und sauber definierten. Diesen tastenden und behutsamen Zugang zur Wissenschaft legte Jensen auch seinen Vorlesungen zugrunde. Er war abgestoßen durch die in den späten 60er und frühen 70er Jahren modischen Modelle der Wissensvermittlung. Für ihn konnte eine Vorlesung nur Anregung sein, das Wissen mußte sich der Student durch eigenes Arbeiten aneignen. So legte er naturgemäß großen Wert auf die Bearbeitung der Übungen- Einmal kam er in die Mechanik-Vorlesung mit der Bibel und zitierte: „Ihr sollt aber nicht nur Hörer des Wortes, sondern auch Täter desselben sein.“ Damit wollte er die Studenten zur verstärkten Teilnahme an den Übungen ermuntern. Er formulierte übrigens die Übungsaufgaben selten voll aus, da für ihn das Erkennen des Problems ein wesentlicher Teil der Aufgabe war. Jensen verwendete niemals ein Manuskript für eine Vorlesung zum zweiten Mal, sondern arbeitete für jede Vorlesung ein neues Konzept aus. Jensen prägte auch die menschlich erfreuliche Atmosphäre unter den Heidelberger Physikern. Dies ist allen, die Jensen noch kannten, sehr wohl bewußt und bestimmt noch heute ihr Handeln. Auf eine kritische, aber stets ermutigende Weise beriet und förderte er Mitarbeiter und Schüler. Obwohl nach außen hin manchmal spöttisch und sogar sarkastisch, gab es wohl kaum jemanden, der hilfsbereiter war. Als Jensen am Morgen nach der Bekanntgabe der Nobelpreisverleihung vom Ministerpräsidenten des Landes gefragt wurde, ob er einen besonderen Wunsch habe, sagte er sofort: ja, Sie können einem staatenlosen Studenten, der aus dem Irak vertrieben wurde, die deutsche Staatsbürgerschaft erteilen. Der Student erhielt sie. Für die Mitarbeiter von Jensen wurde das Institut für Theoretische Physik von Anfang an zu einem wissenschaftlich und menschlich anregenden zweiten Zuhause. Jensen liebte es, auch noch um Mitternacht, nachdem er von einem Konzert oder einer Gesellschaft zurückgekehrt war, mit seinen Mitarbeitern zu diskutieren. Durch seinen Rat hat er viele theoretische und experimentelle Arbeiten beeinflußt. Viele Erfolge seiner Mitarbeiter waren nur auf der Grundlage der Freizügigkeit und der Entfaltungsmöglichkeit, die Hans Jensen schuf, zu erzielen. Hans Jensen war gesellig und hatte Freunde in der ganzen Welt. Er lud oft zum gemeinsamen Anhören eines Musikstückes ein und war für alle Fragen offen. Mit seiner umfassenden Allgemeinbildung vermittelte er seinen Mitarbeitern und Freunden auch einen geschichtlichen und philosophischen Weitblick. Jensen war für seine Schüler der „große Meister“, eine spaßhafte Bezeichnung, die jedoch treffend die Bewunderung für die Persönlichkeit Jensens zum Ausdruck bringt. Zu diesem Bild passen auch die literarischen Vorlieben Jensens. Am meisten schätzte er wohl Heinrich Heine, dessen Zitate er oft in ironischer oder auch selbstironischer Absicht einsetzte, danach folgten C. M. Wieland und Thomas Mann. Von seiner Jugend und, wie er sagte, durch den Griff in die Nachttischschublade amerikanischer Motels kannte er viele Stellen der Bibel auswendig. Wenn ein Mitarbeiter vor einer schwierigen persönlichen Entscheidung stand, konnte es sein, daß er am nächsten Morgen ein passendes und hilfreiches Zitat auf seinem Schreibtisch vorfand. In der Musik lag ihm die Kammerbesetzung mehr als die große Symphonie. Seine große Liebe galt der Barockmusik, wo er Telemann mindestens ebenso hoch einschätzte wie Bach. Jensen war zurückhaltend in seiner Art und drängte sich niemals vor. Allerdings hielt er es, wie er sagte, mit der Devise: „Lieber einen guten Freund verlieren als eine gute Bemerkung unterdrücken.“ Er kannte die kleinen Schwächen und Eitelkeiten seiner Kollegen, und als er gefragt wurde, ob man über die Wiedereinführung der Talare im Senat öffentlich oder geheim abstimmen solle, meinte er trocken: „Wenn Sie wollen, daß Talare wieder eingeführt werden, lassen Sie geheim abstimmen, wenn nicht, dann offen.“ Hatte er für das alte Universitätssystem auch manche Kritik und liebevollen Spott übrig, so grauste ihm vor der Universität nach der Reform der frühen 70er Jahre. Neben manchen Ausschreitungen, die ihn an die Zeit der Machtübernahme durch die Nazis erinnerten, war es wohl vor allem der Glaube der Reformer an Patentrezepte und der Versuch einer rücksichtslosen Durchsetzung, was ihn abstieß. So zog er sich ganz aus dem „Universitätsbetrieb“ zurück und bezog sich amüsiert auf einen Artikel der Grundordnung, der Professoren im Alter von 62 Jahren und darüber von der Mitarbeit an der Selbstverwaltung befreite. Hans Jensen blieb der Ruperto Carola trotz vieler ehrenvoller Rufe aus dem In- und Ausland treu. Er starb unerwartet am 11. Februar 1973 in seinem 66. Lebensjahr in Heidelberg. 2 Sein Werk Die besondere Begabung Jensens als theoretischer Physiker zeigt sich schon im Publikationsdatum seiner ersten Arbeiten: Bereits im 2. Studienjahr ( d. h. nach heutiger Studienordnung noch vor dem Vordiplom) veröffentlichte er in der angesehenen Physikalischen Zeitschrift eine Arbeit [Jensen 1927], in der er die wenigen Fälle, für die das magnetische Feld räumlicher Strömungen bekannt ist, durch die Berechnung des Feldes einer linearen Stromquelle ergänzte. Diese Arbeit führte er auf Anregung des Freiburger Professors J. Königsberger am dortigen Mathematisch-Physikalischen Institut durch. Seine nächste Veröffentlichung [Jensen 1932] ist seine Dissertation. Sie leitet eine Periode seines Schaffens ein, in der er sich mit einem statistischen Modell für Atome, Ionen und Moleküle auseinandersetzte, dem Thomas-Fermi-Modell. Jensen stand hier noch stark unter dem Einfluß seines Lehrers Wilhelm Lenz: Immer wieder finden sich in den Arbeiten Hinweise auf die enge Zusammenarbeit mit ihm. Bevor wir auf die Beiträge Jensens eingehen, müssen wir kurz das Thomas-Fermi-Modell [Fermi 1927,1928; Thomas 1926; Lieb 1981] darstellen. Jensen selbst gibt in einer Fußnote zu seiner Dissertation [Jensen 1932] eine sehr konzise Darstellung: „Der Vorschlag von E. Fermi ist bekanntlich der, die Elektronenwolke eines Atoms als entartetes, dem Pauliprinzip genügendes Gas zu be- handeln, das sich in dem durch seinen Kern und seine eigene Ladung erzeugten elektrischen Feld befindet.“ Entscheidend ist hier das Paulische Ausschließungsprinzip, das verbietet, daß sich zwei Elektronen in dem gleichen Quantenzustand befinden. Eine statistische Behandlung der Elektronenwolke eines Atoms mag zunächst verwundern, war es doch nach Schrödinger und Heisenberg gerade erst gelungen, im Rahmen der Quantenmechanik eine exakte Differentialgleichung für beliebig komplexe Atome und Moleküle aufzustellen. Allerdings ist eine exakte Lösung dieser Gleichungen nur für das einfachste Atom, das Wasserstoffatom, möglich; für sehr komplexe Atome ist eine zuverlässige numerische Behandlung nicht einmal durch moderne Großrechenanlagen zu erreichen. Daher machten Thomas und Fermi den Vorschlag, auf einen großen Teil der Information, die die explizite quantenmechanische Behandlung des Problems liefern kann, zu verzichten und stattdessen die Gleichungen statistisch zu behandeln und damit so zu vereinfachen, daß sie auch für komplexe Systeme einer Lösung zugänglich sind. Jensens Lehrer Wilhelm Lenz hatte eine sehr einfache und anschauliche Herleitung des Thomas-Fermi-Modells gegeben, die nicht nur die Anwendbarkeit des Modells stark erweiterte, sondern es auch erlaubte, gewisse inhärente Schwächen des Modells zu umgehen ( das sog. no-binding- Theorem, s. u.). Die Grundidee von Lenz ist in einer späteren Arbeit Jensens [Jensen 1933 c] sehr klar dargestellt: „Wir unterteilen das -als elektronenreich vorausgesetzte - Atom in eine Anzahl von Teilvolumina durch Einführung eines idealen Systems von Scheidewänden in solcher Weise , daß in jeder räumlichen Zelle sich noch eine größere Zahl von Elektronen befinden, andererseits aber das Potential in jeder Zelle praktisch als konstant angesehen werden kann. Eine einzelne solche Zelle, die das Volumen , haben möge, kann man daher als homogenes Elektronengas am absoluten Nullpunkt der Temperatur ansehen, in dem alle tiefsten Eigenschwingungen doppelt besetzt sind.“ Daraus ließ sich nun, unter Verwendung der bekannten statistischen Gesetze eines freien Fermigases, ein Ausdruck für die Gesamtenergie herleiten. Die Lösung der ThomasFermischen Differentialgleichung ist diejenige Ladungsverteilung, die den Ausdruck für die Energie zum Minimum macht. Jensen benutzte nun, einem Vorschlag von W. Lenz folgend, diese Form des Thomas-Fermischen Modells, um Aussagen über die Bindungsenergie eines Ionenkristalls zu machen und damit die Anwendung des Modells weit über den ursprünglichen Bereich auszudehnen. Bereits im obigen Zitat hatte Jensen hervorgehoben, daß sich in jeder räumlichen Zelle noch eine große Anzahl von Elektronen befinden müssen, damit die statistischen Methoden sinnvoll sind. Nun folgt aber nach den allgemeinen Gesetzen der Quantenmechanik, daß für große Abstände von den Ladungszentren die Dichteverteilung sehr rasch abfällt und daß deshalb die statistischen Annahmen für große Abstände nicht mehr gerechtfertigt sind. Deshalb schlug Jensen vor, bei der Suche nach den die Energie minimierenden Ladungsverteilungen nur solche zu berücksichtigen, die sich weit entfernt von den Ladungszentren nach den Gesetzen der Quantenmechanik verhalten, also exponentiell abfallen. Auf diese Weise gelang es ihm, ein Modell zu formulieren, das für große Elektronendichten statistisch ist, für kleine Elektronendichten aber spezifische Ergebnisse der Quantenmechanik berücksichtigt. Diese Arbeit erklärt die Existenz negativer Ionen, d. h. von Atomen, in denen die Ladung der Hülle die des Kerns übersteigt, und die Bindung des Rubidium-Bromid-Kristalls. Rubidium-Bromid wurde gewählt, weil beide Kerne, Rubidium und Brom, sehr elektronenreich sind und deshalb die statistischen Annahmen besonders gut gerechtfertigt sind. Er konnte auch den mittleren Abstand der Ionen im Kristall berechnen und fand dafür 3,8 A (das Angström A ist eine für Atome relevante Längenskala, 1 A ist ein hundertmillionstel Zentimeter). Dieser Wert kam dem experimentellen Ergebnis von 3,42 A sehr nahe. Vor allem konnte Jensen zeigen, daß die nächsten Korrekturen den theoretischen Wert verkleinern werden. Durch seinen gemischten Ansatz überkam Jensen einen ernsten Fehler des Thomas-Fermi-Modells, Teller fand nämlich 1962 (!) [Teller 1962], daß das Thomas-Fermi-Modell keine Bindung zweier Atome zu einem Molekül erlaubt (no binding- Theorem). Die Dissertation Jensens wurde offenbar schon vorher aus ähnlichen Gründen kritisiert. Er nahm daher in seiner Habilitationsschrift [Jensen 1936 a, b] das gleiche Thema noch einmal in einer breit angelegten Untersuchung auf. Er fand, daß auch die konsistente Einführung einer sogenannten Austauschkorrektur -die die Ununterscheidbarkeit der Elektronen im Atom berücksichtigt [Dirac 1930; Jensen 1934a, b] den Sachverhalt nicht grundlegend ändert. Ähnlich wie die ursprüngliche Thomas-FermiGleichung erlaubt auch die Thomas-Fermi-Dirac-Gleichung nicht die Existenz negativer Ionen. Jensen erkannte als Grund wieder die ungenügend erfüllten Voraussetzungen für die statistische Behandlung im Bereich kleiner Elektronendichten und fand, daß in diesen Gebieten eine von Amaldi und Fermi [Amaldi 1934] vorgeschlagene Korrektur derjenigen von Dirac vorzuziehen ist. Er schlug daher in konsequenter Entwicklung seiner vorausgegangenen Überlegungen ein Modell vor, bei dem im Inneren des Atoms die Diracsche Korrektur, bei großen Abständen aber die Amaldi-Fermische Korrektur gilt. Mit diesem Modell erhielt er befriedigende Werte für die Radien von Atomen und Ionen. Im zweiten Teil der Habilitationsschrift untersucht er dann wieder Gitter von Ionenkristallen und bestätigt dabei mit besserer Begründung die Ergebnisse seiner Dissertation. In einer späteren Arbeit (mit G. Meyer-Gossler und H. Rohde) [Jensen 1938] wird dann der von den Mineralogen eingeführte Brauch, die Gitterkonstanten formal in Beiträge der einzelnen Ionen zu zerlegen, physikalisch begründet. Aus der Zeit von 1932 bis 1938 liegen noch eine Reihe weiterer Arbeiten vor, die sich fast ausschließlich mit Spezialproblemen im Rahmen des Thomas-Fermi-Modells beschäftigen: Über die Gültigkeit des Virialsatzes in der Thomas- Fermischen Theorie [Jensen 1933 a], Zur relativistischen Behandlung des Fermi-Atoms [Jensen 1933 b], Eigenschwingungen eines Fermi-Gases und die Anwendung auf die Blochsche Bremsformel für schnelle Teilchen [Jensen 1937 a], Die Druck-Dichte-Beziehung der Elemente bei höheren Drucken am Temperatur- Nullpunkt [Jensen 1938 d]. Er hat das Thomas-Fermi-Modell dann noch einmal aufgegriffen: Einige Jahre nach seinen bahnbrechenden Arbeiten über die Schalenstruktur der Atomkerne untersuchte er zusammen mit J. M. Luttinger [Jensen 1952c] die Verteilung des Drehimpulses der Elektronen im Atom und der Neutronen und Protonen im Atomkern. Dabei kritisierte er Versuche, die Schalenstruktur des Atomkerns aus dem Thomas-Fermi-Modell herzuleiten. Gleichzeitig konnte er aber zeigen, daß eine geeignete Größe, nämlich der Mittelwert des Quadrats des Drehimpulses, für Systeme mit vielen Teilchen ( d. h. schwere Atome resp. Atomkerne) durch das Thomas-Fermi-Modell sehr gut beschrieben wird. Beim Vergleich des Thomas-Fermi-Modells mit dem Schalenmodell konnte dabei noch eine Information über die Dichte der Materie im Kern gewonnen werden: Gute Übereinstimmung der beiden Modelle war nur zu erreichen, wenn man annahm, daß der Atomkern keinen scharfen, sondern einen diffusen Rand hat. Hans Jensen begann Ende der 30er Jahre, sich mit der Systematik der Atomkerne zu befassen. 1938, in einer ersten Veröffentlichung zu diesem Thema, untersuchte er die Frage nach der möglichen Existenz der fehlenden Elemente mit der Kernladungszahl 43 und 61 [Jensen 1938a]. Aus dem Verlauf und der Analyse der Bindungsenergien konnte er schließen, daß keine stabilen Kerne mit dieser Ordnungszahl erwartet werden können. Eine größere Arbeit Jensens über den damaligen Stand der Kernsystematik erschien 1939 in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften [Jensen 1939 a]. Sie zeichnete sich durch eine ungewöhnlich sorgfältige phänomenologische Analyse der Kerndaten aus. Bewußt verzichtete Jensen hier noch auf theoretische Modellvorstellungen und benutzte, um empirische Regeln zu rechtfertigen, nur allgemeingültige Stabilitätskriterien. Auch in der daran anschließenden Arbeit zur Systematik der Isotope [Jensen 1939b] werden zunächst nur die Bindungsenergien (aus empirisch bestimmten Atomgewichten) berechnet und besprochen. Dann wird auf die interessante Parallelität zwischen Bindungsenergie und der Häufigkeit des Vorkommens der Elemente in der Natur hingewiesen. Warum seltene Erden selten sind und Sauerstoff in der Häufigkeitsverteilung herausragt, wird verständlich, sofern bei der Elemententstehung hohe Temperaturen vorlagen. Eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Mineralogie, Geochemie, Kosmochemie und Kernphysik hatte ihren Anfang genommen. Im letzten Teil dieser Arbeit geht Jensen dann erstmals - ohne Formeln zu benutzen - auf Modellvorstellungen für den Kernaufbau ein. Er sieht die Einführung dieser Modelle als Vorstufen an, ähnlich der Verwendung einiger chemischer Begriffe und Symbole, die sehr hilfreich sind, aber noch keine strenge Behandlung ermöglichen. Zum ersten Mal in Jensens Arbeiten wird hier das Schalenmodell der Kerne angesprochen. In diesem Modell wird die Bewegung eines herausgegriffenen Neutrons oder Protons zunächst als unabhängig von der augenblicklichen Lage der übrigen Nukleonen angesehen, nur abhängig von deren mittlerer Verteilung. Es ergeben sich Schalenstrukturen ähnlich den Elektronenschalen im Atom. Eine unabhängige Teilchenbewegung (Fermi-See aus Protonen und Neutronen) war schon frühzeitig von Heisenberg diskutiert worden. Weitere Autoren, insbesondere Elsasser, Hund und Wigner, hatten mit dem Schalenmodell bei der Berechnung leichter Kerne gute Resultate erzielt. Doch es gab mehr und mehr Bedenken, die schließlich überwogen: Aus Streuversuchen war bekannt, daß die Wechselwirkung zwischen Nukleonen sehr stark und von kurzer Reichweite ist. Die Weglänge, die ein Nukleon frei im Kern zurücklegen kann, sollte daher klein gegenüber dem Kerndurchmesser sein. Hierauf basierte die Bohrsche Compound-KernVorsteIlung [Bohr 1936], die bedeutende Erfolge bei der Beschreibung von Kernreaktionen hatte. Man konnte verstehen, daß sich die Energie des einfallenden Nukleons meist sofort auf die übrigen Teilchen verteilt. Man sprach von Kernmaterie und nicht mehr von unabhängigen Bahnen. Allerdings hatte Theodor Schmidt [Schmidt 1937] darauf hingewiesen, daß die magnetischen Momente von Kernen mit ungerader Nukleonenzahl in Abhängigkeit vom Kern-Drehimpuls etwa den gleichen Gang zeigen, wie man es von einem einzelnen Nukleon, das im Kern kreist, erwartet. Dies alles ergab ein verwirrendes Bild. Jensen waren diese Probleme vertraut. Zum Modell unabhängiger Teilchenbahnen vertrat er in der zitierten Arbeit [Jensen 1939b] noch die Auffassung, daß das Schalenmodell sicher mit zunehmender Teilchenzahl immer schlechter wird. Als aussichtsreicher erschien ihm in der damaligen Situation ein von Wefemeier eingeschlagener Weg, bei dem der Atomkern als eine Art Kristall aus -Teilchen angesehen wird. Die Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre bedeuteten eine vollständige Isolation von den im Ausland arbeitenden Wissenschaftlern. Jensen arbeitete über die Theorie des Clusiusschen Trennrohres [Jensen 1941 b, c; 1942], konnte jedoch mit Otto Haxel in Berlin und Göttingen und mit Hans Suess in Hamburg. wiederholt über die magischen Zahlen diskutieren. Kerne mit einer bestimmten (magischen) Anzahl von Protonen oder Neutronen (2, 8, 20, 28, 50, 82, 126) zeichnen sich in mehrfacher Hinsicht aus, insbesondere durch die besondere Stabilität der Grundzustände. Die Bezeichnung „magic numbers“ wurde von Wigner geprägt. Einige dieser Zahlen waren schon früh erwähnt worden. Haxel war über kernphysikalische Messungen neu darauf aufmerksam geworden. Suess fand in seinen kosmo-chemischen Arbeiten neben schon bekannten Zahlen auch deutliche Hinweise für die Auszeichnung der Zahlen 50 und 82 für Protonen und Neutro- nen. Auch der Geochemiker V. M. Goldschmidt war auf diese beiden ausgezeichneten Zahlen gestoßen. Jensen und Suess konnten sich noch 1942 in Oslo kurz vor Goldschmidts Flucht nach Schweden mit diesem über die Häufigkeitsverteilung der Elemente eingehend beraten. Die kernphysikalischen Erfahrungen von Haxel und sein beharrliches Bestehen auf der Bedeutung der -zum Teil nur schwach ausgezeichneten Nukleonenzahlen, die physikalisch-chemischen Erkenntnisse von Suess und die enorme Versiertheit in der Theorie und die Detailkenntnis von Jensen waren ausschlaggebend für den späteren großen Erfolg. In den ersten Nachkriegsjahren hatte Jensen in Hannover den jungen Helmut Steinwedel, der im Krieg Geheimkodes entziffert hatte, als Mitarbeiter. Zunächst war es nur schwer möglich, an kernphysikalische Literatur heranzukommen. Die ersten Physical Reviews, die auf Umwegen beschafft werden konnten, wurden dann auch Seite für Seite studiert. Aus den allmählich bekannt werdenden Daten, vor allem über ß-Übergänge (Aussendung von Elektronen aus dem Kern) konnte Jensen mehr und mehr Kerneigenschaften erschließen. Jensen und Steinwedel wurde es möglich, Schwierigkeiten des früher favorisierten (Teilchenmodells aufzuzeigen [Jensen 1946b]. Mit Suess und Steinwedel wurde weiter über die Häufigkeitsverteilung der Elemente gearbeitet [Jensen 1947 c]. Inzwischen war man hier auf sichererem Boden, nachdem Unsöld zeigen konnte, daß die Elementhäufigkeit in Sternatmosphären mit den Ergebnissen der Mineralogie und Geochemie übereinstimmten. Die empirische Evidenz für die magischen Zahlen wurden in der Nachkriegszeit von Haxel besonders eindringlich an den zuvor eher skeptischen Jensen herangetragen. Diese Zahlen zeichnen sich in den Anregungsenergien, in den Einfangquerschnitten bei Kernreaktionen und anderen Kernprozessen ab. Nach vielen lebhaften Diskussionen mit Haxel und Suess kam Jensen schließlich zu der Überzeugung, daß es sich bei Kernen mit magischen Nukleonenzahlen tatsächlich um Schalenabschlüsse handeln muß. Bei einem Vortrag in Kopenhagen wurde er von Niels Bohr ermutigt, obwohl Bohrs eigene Vorstellungen ungestörte Bahnbewegungen auszuschließen schienen. Schließlich fand Jensen in Zusammenarbeit mit Haxel und Suess ein Ordnungsschema für die Drehimpulse von Kernen, das die magischen Zahlen wiedergab. Ein erster letter wurde nicht zur Veröffentlichung angenommen mit der Begründung: „It is not physics but only playing with numbers.“ Es war in der Tat ein Spiel, ein sehr intelligentes, an der Empirie orientiertes Spiel mit Drehimpulsen, das zwei wesentliche Annahmen enthielt: Die Annahme einer weitgehend ungestörten Bahnbewegung der Nukleonen, wie sie bereits im alten Schalenmodell benutzt wurde, und die entscheidende zusätzliche Annahme einer besonders starken Kopplung zwischen Spin und Bahnbewegung. Für beide Annahmen gab es keine theoretisch fundierte Begründung. Im Winter 1948/49 wurden 3 Mitteilungen an die Zeitschrift Die Naturwissenschaften gesandt und dort veröffentlicht [Jensen 1948 c, 1949b]. Ein kurzer zusammenfassender letter erschien in Physical Review [Jensen 1949c]. Anhaltspunkt, daß einzelne Nukleonen die Kerneigenschaften bestimmen könnten, war für die Autoren Haxel, Jensen und Suess die Gleichheit der magischen Zahlen für Protonen und Neutronen. In der ersten Mitteilung heißt es dann noch sehr vorsichtig im Konjunktiv: „Wollte man versuchen, die Zustände der einzelnen Nukleonen durch Eigenfunktionen in einem Zentralfeld zu beschreiben, so würde die Klassennummer r mit der Hauptquantenzahl n zusammenfallen, wenn man voraussetzte, daß die Kernkräfte ein Parallelstehen von Spin- und Bahndrall der einzelnen Nukleonen fordern ...“. In den kurz darauf folgenden nächsten Mitteilungen werden diese Annahmen schon sehr viel zuversichtlicher benutzt und einige Differenzen mit dem experimentellen Material bereits als möglicherweise irrige Messungen bezeichnet. Etwa zur gleichen Zeit wie Haxel, Jensen und Suess hatte auch Maria Goeppert-Mayer in den USA an einer Erklärung der magic numbers gearbeitet [Mayer 1949]. Sie folgte einer Anregung von Enrico Fermi, der ihr vorschlug, bei Kernen nach einer Spin-Bahn-Wechselwirkung zu suchen und gelangte dabei zu einer fast identischen Erklärung der magischen Zahlen. Ein fruchtbarer wissenschaftlicher Austausch zwischen Frau Mayer und Jensen setzte nun ein. Mit Hilfe des schalenmodells mit Spin- Bahn- Kopplung konnte plötzlich eine große Menge bis dahin brachliegenden empirischen Materials geordnet und wenigstens qualitativ verstanden werden. Schnell stellten sich überzeugende Erfolge ein. Sie ließen das Mißtrauen gegenüber einem zunächst unglaubwürdigen Modell, das trotz des Vorliegens starker, auf kurze Distanzen wirkender Kräfte von unabhängigen Teilchenbahnen ausging, schnell schwinden. Man erkannte, daß das Paulische Ausschließungsprinzip hier eine ausschlaggebende Rolle spielt: Stoßen Nukleonen innerhalb des Kerns zusammen, so müssen sie dennoch in ihren Zuständen bleiben, da benachbarte Zustände von anderen Nukleonen besetzt sind. Bald war klar, daß das Schalenmodell jedenfalls keine inneren Widersprüche enthält, auch wenn eine strenge theoretische Rechtfertigung nicht gegeben werden konnte. Ähnlich verhielt es sich mit der von Mayer und Jensen postulierten starken Spin- Bahn-Kopplung. Es fehlte die strenge Begründung, dafür häuften sich die empirischen Bestätigungen. Ein besonders wichtiges Experiment hierzu war die Streuung von Protonen und Neutronen an Heliumkernen. Es handelte sich um ein diffiziles Doppelstreuexperiment, wobei in der ersten Streuung die gestreuten Nukleonen polarisiert (ausgerichtet) werden und diese Polarisierung dann über die zweite Streuung nachgewiesen wird. Mit diesem Experiment konnten in der Tat die starke Kopplung zwischen Spin- und Bahnbewegung und deren Vorzeichen in glänzender Weise bestätigt werden. Die Kopplung ist etwa 30 mal stärker als man vor den Arbeiten zum Schalenmodell erwartet hätte. Die Vorhersagen des Schalenmodells ermöglichten die Erklärung und Bestimmung einer Vielzahl von Kerneigenschaften wie z. B. der Drehmomente und Spiegelsymmetrien vieler stabiler und radioaktiver Kerne. Die Emissionswahrscheinlichkeiten von Elektronen und Positronen konnten klassifiziert werden, und die Gesetzmäßigkeiten für die Lebensdauer langlebiger angeregter Kemzustände (isomere Kerne) wurden erkennbar. Endlich war es auch möglich geworden, detaillierte Rechnungen mit wohldefinierten Näherungsmethoden durchzuführen. Eine große Zahl von Autoren konnte in der nun folgenden Zeit interessante dynamische Probleme im Detail studieren und zur weiteren Aufklärung des Kernbaus beitragen. Insbesondere ermöglichte das Schalenmodell auch die Korrelationen mehrerer Nukleonen, die in der niedrigsten Näherung -der unabhängigen Teilchenbewegung unberücksichtigt bleiben, über die Restwechselwirkungen der Teilchen systematisch zu berücksichtigen. Mitte der 50er Jahre waren die Struktur und Eigenschaften der Kerne bei niederen Anregungsenergien praktisch verstanden - zumindest qualitativ. Von Mayer und Jensen erschien 1955 das Buch Elementary Theory of Nuclear Shell Structure, in dem die gewonnenen Ergebnisse klar und überzeugend dargestellt werden [Jensen 1955 c]. Die erzielten großartigen Erfolge wurden 1963 durch die Verleihung des Nobelpreises für Physik an Goeppert-Mayer, Jensen und Wigner gewürdigt, zur besonderen Freude der Heidelberger Physiker und insbesondere der Mitarbeiter des Instituts für Theoretische Physik. Während noch die ersten Reaktionen auf das Schalenmodell eintrafen, befaßte sich Jensen mit P.Jensen, Steinwedel und Danos mit den Kerndipolanregungen von Kernen durch Photonen. Er schreibt in seinem Vortrag anläßlich der Verleihung des Nobel-Preises: „Mit einer gewissen Genugtuung habe ich. ..bei einem ...Besuch in Kopenhagen, über Neuigkeiten zum Schalenmodell befragt, stattdessen Überlegungen vortragen können, die meinen Namensvetter Peter Jensen und mich sowie Steinwedel und Danos beschäftigt hatten.“ Hiermit spielte Jensen auf einige Arbeiten an [Jensen 1950b, c, d], deren Grundannahmen denen des Einteilchenschalenmodells gerade entgegengesetzt sind. In ihnen wird der Kern als eine Protonen- und Neutronenflüssigkeit angenommen, deren Gesamtdichte konstant ist (d.h. Neutronen und Protonen bilden zusammen eine inkompressible Flüssigkeit) ; aber die Einzeldichten von Protonen und Neutronen können variieren. Ein Modell von Goldhaber und Teller [Goldhaber 1948] ausbauend, konnten H. Jensen, P.Jensen und H.Steinwedel die hydrodynamischen Gleichungen für dieses Modell ableiten und die darin auftretenden Parameter aus der halbempirischen Formel für die Bindungsenergie stabiler Kerne bestimmen. Die Resultate ihrer Berechnungen stimmten qualitativ mit den Messungen überein (Resonanzfrequenzen bei Kernen, bei denen ein -Quant (Photon) ein oder mehrere Nukleonen aus dem Kern auslöst), und die Übereinstimmung konnte durch verfeinerte Rechnungen verbessert werden. Wie auch für das Schalen-Modell, interessierte sich Niels Bohr intensiv für diese Arbeiten Jensens. In der Folgezeit spielte das Studium solcher Kollektivbewegungen eine große Rolle. „ Es galt fest- zustellen, bei welchen Anregungsenergien sich die von den Kernkräften erzwungenen Korrelationen der Nukleonen durchsetzen.“ Dem Studium solcher Korrelationen waren viele Arbeiten der Folgezeit gewidmet. Vor allem durch die Arbeiten von Kurath und der ehemaligen Harwell-Gruppe (Flowers, Elliot u. a.) einerseits und die genialen Arbeiten der jungen Kopenhagener Schule (Aage Bohr, Mottelson, Nilson u. a.) andererseits kam einer der merkwürdigsten Züge der gegenwärtigen Kerntheorie zutage, nämlich, daß in ihren Ausgangspunkten sich wechselseitig ergänzende und begrenzende Bilder einander in den. quantitativen Resultaten bald begegnen und zu überdecken scheinen [Jensen 1963]. Die anregende Atmosphäre am Institut unter Jensens souveräner Leitung strahlte auf Mitarbeiter und Studenten aus. Jensen hatte höchst interessante und faszinierende Aufgaben zu verteilen. Im Zusammenhang mit dem Schalenmodell interessierte er sich für die Emission zwischen Kernzuständen mit hohem Drehimpulsunterschied, der Kernmultipolstrahlung. Berthold Stech erhielt diese Aufgabe und konnte Formeln für die Lebensdauer isomerer Kerne und deren Abhängigkeit vom Drehimpulsunterschied und der Frequenz des emittierten - Quants angeben [Stech 1952]. 1953 veröffentlichte Jensen zusammen mit C. M. de Witt eine Arbeit über den Zusammenhang von klassischem und quantenmechanischem Drehimpuls der Multipolstrahlung [Jensen 1953]. Gustav Kramer erzielte Erfolge in der Theorie der Konversion der Kernanregungsenergie in die Anregungsenergie der Elektronenhülle [Kramer 1956]. Hans-Jörg Mang und Dieter Zeh studierten die -Emission von Kernen. Hier stellte sich die Frage, ob - Teilchen im Kern vorgebildet sind oder erst an der Kernoberfläche entstehen. Mang und Zeh konnten zeigen, daß die Teilchen vornehmlich am Kernrand gebildet werden [Mang 1957, 1962]. Hans Weidenmüller arbeitete an Kernreaktionen, bei denen ein Nukleon aus dem Geschoßteilchen in spezielle Kernzustände eingefangen wird und formulierte eine Theorie solcher Prozesse [Weidenmüller 1958]. Wolfgang Wild berechnete Teilchenkorrelationen im Kern [Wild 1960]. Nur indirekt mit der Kernphysik im Zusammenhang stehend waren die Arbeiten von Jensen zur Struktur der schwachen Wechselwirkung. Zunächst waren die ß-Zerfälle der Kerne natürlich ein besonders wichtiges Hilfsmittel zur Bestimmung der Kerneigenschaften. Da beim ß-Zerfall ein Kern in seinen Nachbarkern mit einer um eine Einheit geänderten Kernladungszahl übergeht, konnten die Bindungsenergien, Drehimpulse und Spiegelsymmetrien benachbarter Kerne miteinander verglichen werden. Für diese Analysen konnten die bekannten Auswahlregeln bei ß- Übergängen benutzt werden. In den 50er Jahren wurden jedoch umgekehrt auch viele Anstrengungen unternommen, aus dem empirischen Material der Kern-ß-Zerfälle die genaue Struktur der schwachen Wechselwirkung zu entschlüsseln. Das theoretische Gerüst hierzu war schon 1933 von Fermi gefunden worden [Fermi 1934]. In Fermis Theorie wird die direkte Erzeugung eines Elektron-Neutrino-Paares während der Kernumwandlung angenommen. Es wurde nicht mehr, wie früher, von der Existenz dieser Teilchen im radioaktiven Kern vor dem Zerfall ausgegangen. Die Fermische Theorie wurde die Basis für alle weiteren Überlegungen. Man stellte fest, daß die schwache Wechselwirkung anderen Auswahlregeln folgt als die starke und elektromagnetische Wechselwirkung und sehr viel schwächer als diese ist. Es galt nun die genaue Form dieser fundamentalen Wechselwirkung aufzuklären und den Zusammenhang mit dem ebenfalls schwachen Prozess des -Zerfalls herzustellen. Jensen und Stech befaßten sich im Winter 54/55 mit diesem Thema. Sie versuchten eine für die schwache Wechselwirkung charakteristische Symmetrieeigenschaft zu finden, die die Form der Wechselwirkung weitgehend festlegt, um alle schwachen Prozesse auf möglichst wenige Parameter zurückführen zu können. Insbesondere sollte die charakteristische Symmetrie die empirisch festgestellte Abwesenheit von gewissen Interferenztermen im Elektronenspektrum verbürgen. Die von Jensen und. Stech vorgeschlagene Symmetrie, die 5-Invarianz, hat diese Eigenschaft [Jensen 1955a, b.]. Sie wird heute chirale Symmetrie genannt. Sie schränkte den möglichen Wechselwirkungsansatz auf eine Vektor-Axialvektorform der Kopplung (V,A- Kopplung) oder alternativ auf eine Kopplung, die skalare, tensorielle und pseudoskalare Beiträge hat (S, T ,P), ein. Ein weiteres Symmetrieargument legt auch die relativen Kopplungsstärken fest, so daß nur eine V-A oder eine S -T + P Wechselwirkung verblieb, mit einer einzigen Kopplungskonstante. Die vorgeschlagene 5-Symmetrieoperation lieferte sofort Konsequenzen für die Helizitäten (Verknüpfung von Spin und Impulsrichtung) der am Prozeß beteiligten Teilchen, [Jensen 1955 a, b] die heute sehr geläufig sind. Das Postulat dieser Symmetrie stellte ein Wagnis dar, da sie keine Symmetrie im damals üblichen Sinne war, sondern nur als Symmetrie der Wechselwirkung formuliert werden konnte. Die Teilchenmassen brechen die chirale Symmetrie. Die Arbeit enthält demgemäß das Postulat: „Der Wechselwirkungsoperator soll die gleiche allgemeine Form haben, wie wenn die Ruhmasse des Elektrons Null wäre“. Sogar chirale Transformationen für die Felder der schweren Nukleonen wurden hinzugenommen. Diese damals ungewöhnlichen Vorstellungen stießen 1955 und 1956 auf starke Kritik. So kritisierte Murray Gell-Mann noch im Herbst 1956 diese Symmetrieforderung gegenüber den Autoren wegen der starken Störung durch die Massenterme. Gell-Mann war es jedoch auch, der einige Jahre später über gleichzeitige Vertauschungsregeln der Symmetrieoperatoren eine fundierte theoretische Rechtfertigung für die Benutzung von Symmetrien, die durch Massenterme gebrochen sind, geben konnte [Gell-Mann 1964]. Heute gehört die Behandlung von gebrochenen und sogar extrem stark gebrochenen Symmetrien zur beinahe täglichen Beschäftigung des Elementarteilchenphysikers. Jensen und Stech formulierten die 5lnvarianz noch als Symmetrieoperation an Paaren von Teilchenfeldern; dies, um nicht in Konflikt mit der für richtig gehaltenen Spiegelungsinvarianz (Paritätsinvarianz) zu geraten! Es blieb Yang und Lee vorbehalten, letztere in Zweifel zu ziehen und paritätsverletzende Terme zu postulieren. Die Anwendung der chiralen Symmetrieoperation auf einzelne Teilchenfelder war nun (1956-57) möglich. Sie selektiert eindeutig aus den beiden oben erwähnten Alternativen die V-A Theorie mit maximaler Paritätsverletzung wie wir sie heute als effektive schwache Wechselwirkung kennen. Der unmittelbaren Veröffentlichung dieser Erkenntnis standen in dieser Epoche allerdings einige Experimente entgegen, die diese V-A Wechselwirkung auszuschließen schienen (und sich später als zu ungenau oder falsch erwiesen). Es bedurfte des Mutes von Sudershan und Marshak [Sudershan 1957] und von Feynman und Gell-Mann [Feynman 1958], die vollständige chirale Symmetrie ernster zu nehmen als einige der damals vorliegenden experimentellen Befunde. Für Wolfgang Pauli, der als erster die Existenz eines sehr leichten neutralen Teilchens, des Neutrinos, postulierte, waren die Aussagen zur schwachen Wechselwirkung von besonderem Interesse. Nach einer bei Pauli üblichen freundschaftlich-spöttischen Bemerkung zu Jensen wurde er besonders aufmerksam und nachdenklich, als ihm die Argumente für eine 5-lnvarianz vorgetragen wurden. Nach der Entdeckung der Paritätsverletzung stellte für Pauli die Stech-JensenTransformation den eigentlichen Zugang zur V-A-Kopplung dar, wie insbesondere aus einem Artikel „Zur älteren und neueren Geschichte des Neutrinos“ hervorgeht [Pauli 1958]. Die V-A-Kopplung der Fermionenfelder an die Vektorbosonen bildet heute die Basis für die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung. Spektakuläre Erfolge wurden erzielt. Die quantitative Berechnung einer Vielzahl von elementaren Prozessen wurde möglich und vielfach bestätigt. Der eigentliche Ursprung der chiralen Symmetrie liegt jedoch immer noch im dunkeln wie zu der Zeit, als diese in einer vorläufigen Form von Jensen und Stech publiziert wurde. Interessant ist die Arbeit mit H. Steinwedel „Über die Anregung von Molekül- und Gitterschwingungen durch den Rückstoß bei Kernprozessen an chemisch gebundenen Atomen“ [Jensen 1947 a]. Sie ist tröstlich, da sie zeigt, daß auch große Physiker in der Nähe einer Goldmine schürfen und durch einen kleinen Trugschluß diese verfehlen können. Sendet ein Atomkern ein Teilchen oder ein -Quant aus, so erfordert die Impulserhaltung, daß nicht die gesamte Energie dem emittierten Teilchen mitgeteilt wird, sondern ein Teil für den Rückstoß des emittierenden Kerns verbraucht wird. Wenn nun der emittierende Kern nicht frei ist, sondern in einem Molekül oder Kristall gebunden, so kann der ganze Kristall den Impuls aufnehmen, und wegen der großen Masse des Kristalls kann praktisch die gesamte Energie dem ausgesandten Teilchen mitgeteilt werden. Dies ist die berühmte rückstoßfreie Emission (Mößbauer-Effekt), die 1957 von Mößbauer [Mößbauer 1958] in Heidelberg entdeckt wurde und eine große Bedeutung, besonders für Präzisionsmessungen hat. Jensen und Steinwedel erörterten diese Möglichkeit 1947: „Es wurde die Ansicht geäußert, daß bei Abkühlung des Gitters unter die Debye- Temperatur (bei dieser Temperatur werden Quanteneffekte relevant) die Absorptionslinie (und damit natürlich auch Emissionslinien) bis auf die natürliche Breite schmal werden würde, da dann der Rückstoß nicht ausreicht, um die Git- terschwingungen anzuregen. Dies wäre auch der Fall, wenn die Gitterschwingungen nach dem Einsteinschen Modell mit nur einer Frequenz vorhanden wären : Da jedoch die Gitterfrequenzen praktisch ein Kontinuum ausmachen, das auch beliebig kleine Frequenzen enthält, so ergibt sich immer noch ein verbreitertes Spektrum. ..“. Dabei machten Jensen und Steinwedel die ungerechtfertigte Annahme, daß man den Punkt ohne Rückstoß stetig erreichen könne. Tatsächlich zeigten die Experimente Mößbauers, daß dies nicht der Fall ist. Über diese Problematik diskutierte Jensen später sehr ausführlich mit Joachim Petzold [Petzold 1961]. In seinen späteren Lebensjahren setzte sich Jensen hauptsächlich mit klassischen, kontroversen Problemen der Physik auseinander. Er untersuchte mit Heinz Koppe den Einfluß von Zwangsbedingungen in der Quantenmechanik [Jensen 1971 a], mit Günter Dosch und Volkhard Müller den Einfluß starker Felder auf Fermionen [Jensen 1971 b] und formulierte mit seinem Studenten H. Hepp [Jensen 1971 d] eine klassische Feldtheorie für Fermionen. Zeit seines Lebens war Jensen von der statistischen Mechanik fasziniert. Er ahnte dabei den engen Zusammenhang zwischen statistischer Mechanik und Quantenfeldtheorie, der gerade in den letzten Jahren so eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde und sowohl der statistischen Mechanik als auch der Quantenfeldtheorie neue Impulse gab. Obwohl sich Jensen, wie es in allen grundsätzlichen Fragen der Fall war, nur behutsam und vorsichtig äußerte, kann man wohl sagen, daß er die Prinzipien der Statistik für mindestens ebenso fundamental hielt wie die Prinzipien der Mechanik oder Quantenmechanik. So hatte er das Projekt, die Geschichte der Mechanik neu zu schreiben, in dem dann eher L. Euler als I. Newton der Protagonist gewesen wäre. (Wir danken Herrn Gadamer für den Hinweis auf dieses Vorhaben, seine Kollegen von der Physik wollte er wohl erst mit der Ausführung überraschen.) Immer wieder liebte er es, über die Prinzipien der statistischen Mechanik zu diskutieren und dabei in sokratischer Manier die Unzulänglichkeit des Schulwissens seiner Gesprächspartner aufzuweisen. Es muß daher für ihn eine große Freude gewesen sein, als er mit Heinz Koppe [Jensen 1971 e] entdeckte, daß selbst für ein klassisches Prinzip der Mechanik, das sogenannte D' Alembert-sche Prinzip, die eigentliche Wurzel für die Gültigkeit nicht in der Newtonschen Mechanik konservativer Systeme ( die invariant gegen Spiegelung der Zeitrichtung ist), sondern in irreversiblen Dämpfungsprozessen zu suchen ist. Wir danken Frau Dr. Anne Jensen und unseren Heidelberger Kollegen für sehr wertvolle Hinweise. Lebensdaten Geboren am 25.6.1907 in Hamburg Abitur Hamburg 1926 Studium in Hamburg und Freiburg i. Br. von 1926-1931 Staatsexamen für das höhere Lehramt Hamburg 1931 Promotion Hamburg 1932 Wissenschaftlicher Assistent in Hamburg 1932-1937 Habilitation Hamburg 1936 Dozent Hamburg 1937-1939 Regierungsrat im Wetterdienst 1939-1940 Professor für theoretische Physik an der Technischen Hochschule Hannover 1941 -1948 Professor für theoretische Physik an der Universität Heidelberg von 1948 bis zu seinem Tod 1973 Nobelpreis für Physik 1963 Verstorben 1973 Schriftenverzeichnis J. Hans D. Jensen 1927 Das magnetische Feld räumlicher Strömungen bei linearen Quellen. Phys. Z. 28 1932 Die Ladungsverteilung in Ionen und die Gitterkonstante des RbBr nach der statistischen Methode. Z. Phys. 77 1933 (a) Über einige für die Theorie der Druckverbreiterung von Spektrallinien wichtige Integrale. Z. Phys. 80 1933 (b )Über die Gültigkeit des Virialsatzes in der Thomas- Fermischen Theorie. Z. Phys. 81 1933 (c) Zur relativistischen Behandlung des Fermiatoms. Z. 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