Zusammenfassung der Aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre (Met. I 3, 983a26-32; Phys. II 3, 194b23-195a3, 195a15-26) [Sitzung vom 7. 11. 08] Terminologie und Kontext Der unmittelbare Kontext der Vier-Ursachen-Lehre ist sowohl in Metaphysik als auch in der Physik epistemologisch: Der Mensch verlangt nach Wissen und vor allem nach Ursachenwissen, dem Wissen des Warum, letztlich aber nach dem Wissen erster Ursachen und Prinzipien. Denn zu Beginn von Phys. II 3 heißt es im Rahmen einer Untersuchung von Entstehen (genesis) und Vergehen (phthorá) und natürlichem Wandel (metabolè physiké), die eine Rückführung auf Prinzipien (archaí) beabsichtigt: „Ein jedes zu wissen (hekaston eidenai) glauben wir nicht früher, als bis wir das Warum (dia ti) im Hinblick auf ein jedes erfasst haben, d.h. seine erste Ursache (prote aitia).“ (Phys. II 3, 194b18-20) Der Begriff Ursache (aitia/aition) bzw. ursächlich (aitios) wurde zunächst in der juristisch-politischen Alltagssprache verwendet im Sinne von „schuldig“, „verantwortlich“ (z.B. „Der Gott ist schuldlos“ (theòn anaition einai, Politeia X, 617e). Hingegen bedeutete Prinzip (arché) ursprünglich „Herrschaft“, die lateinische Entsprechung principium ist abgeleitet von princeps (der erste, nämlich im Staat, etwa der römische Kaiser). Der Terminus für Stoff, hyle, besagte ursprünglich „Wald“, „Gehölz“, dann Bauholz und schließlich Material. Ursache wird nun, so Aristoteles zu Beginn von Met. I 3, auf vierfache Weise verwendet (tetrachôs legetai), d.h. es gibt vier Weisen einer Antwort auf die WarumFrage (vgl. An. post. I 4, 94a20-23), in Physik und Metaphysik allerdings in unterschiedlicher Ordnung aufgelistet: Met. I 3 beginnt mit der Formursache, Phys. II 3 mit der Materialursache. Dazu ergab sich eine Diskussion über den systematischen Ort der Vier-Ursachen-Lehre bei Aristoteles: Gehört sie in die Physik als „Zweite Philosophie“ oder in die Ontologie/Theologie als Erste Philosophie (zur Einteilung der Wissenschaften vgl. Met. VI 1)? Die vier Ursachen werden in Phys. II 3 vornehmlich am menschlichen Kunstschaffen (Marmor, Bildhauer, Hermesstatue), also anhand von Artefakten erläutert, weil sie dort klarer unterscheidbar sind als bei Naturdingen, bei denen Form-, Bewegungsund Zielursache zusammenfallen (II 7, 198a24f.). Generell kann es nach Aristoteles nicht unendlich viele Ursachen geben, weil eine unbegrenzte Anzahl von Prinzipien ein Wissen unmöglich machen würde (I 4, 187b10f.). 2 1) Form-Ursache (eidos, paradeigma, ousia, to ti en einai) causa formalis Damit ist die Form (eidos) oder Urbild (paradeigma) oder auch die dem Denken sich erschließende Gestalt (morphe) von etwas gemeint, die für dessen wesentliche Bestimmtheit verantwortlich ist.1 Die Form macht die Wesenheit (ousia) des jeweiligen Einzelnen (ousia hekastou) aus, das „Wesenswas“ oder „Was-es-heißt-dies-zu-sein“ (to ti en einai), die Essenz (essentia, essence), also das wesentliche Wassein, dasjenige, wodurch etwas ist, was es ist, und was in einer Aussage (logos), und zwar in einer Wesensbestimmung (horismos, logos tes ousias), in einer Definition, zum Ausdruck kommt.2 Die Frage nach dem ersten Warum (proton dia ti) wird auf die letzte Bestimmung zurückgeführt (eis ton logon eschaton anágetai) und durch die Ursache (aition) oder das Prinzip (arche) angegeben, das sich auf die Form oder das Wesen von etwas bezieht. Mit jener Bestimmung ist die Definition gemeint, deren spezifische oder: „letzte“ Differenz (teleutaia diaphora, Met. VII 12) das Verfahren der Begriffseinteilung (dihairesis) zur Bildung der Definitionen abschließt. In Phys. II 3 werden explizit unter die Form-Ursache die Teile (ta mere) des Logos, d.h. die konstitutiven Teile einer Definition im eigentlichen Sinne 3, subsumiert. Das sind bekanntlich die nächsthöhere Gattung (genus proximum) und der artbildende Unterschied (diaphora eidopoios bzw. differentia specifica, vgl. Met. V 25, 1023b23-25, bzw. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, 3, 5). Die Form, z.B. von Häusern (Phys. II 3, 194b26-29), gibt an, dass die betreffende Materie auf bestimmte Weise geordnet, strukturiert, geprägt ist.4 2) Stoff-Ursache (hyle, ex hou, materia), causa materialis Eine andere Ursache (hetera aitia) ist der Stoff (hyle), und zwar das Zugrundeliegende (hypokeimenon), d.h. dasjenige, woraus (ex hou) etwas ist, das einer Formung oder Prägung zugrunde liegende Material, das demjenigen, das aus ihm entsteht, innewohnt (enhyparchon, Phys. II 3, 194b24). Als Beispiele dafür führt Aristoteles an: den Stoff handwerklicher Erzeugnisse, etwa das Silber als materielle Ursache der Schale oder das Erz als diejenige des Standbilds, außerdem die Prämissen (hypotheseis) bei den Schlüssen (Met. V 2, 1013b20f.) und die Buchstaben bei den Silben, ferner grundsätzlich die Teile (ta mere) eines Ganzen (holon), oder das Feuer und die übrigen Körper, d.h. die Elemente.5 Durch die Spezifizierung der Materie als „das Zugrundeliegende“ wird die Verwendung des Materie-Begriffs begrenzt. Denn anstelle einer denkbaren Materie (hyle noete, bei Mathematika, nach Thomas von Aquins Deutung auch die Gattung als das Bestimmbare in einer Definition) oder örtlichen Materie (hyle topike, bei Gestirnen in der Kosmologie), geht es hier um das sinnlich-wahrnehmbare Substrat, möglicherweise sogar im Sinne eines ersten Zugrundeliegenden, der ersten Materie (prote hyle, vgl. Phys. I 7, 190a) als etwas schlechthin Unbestimmtes (haplos aoriston), reine Möglichkeit/Bestimmbarkeit (vgl. Seidl-Vortrag). 1 Vgl. H. Wagner, Aristoteles’ Physikvorlesung, S. 460. Spricht Aristoteles hier von Wesenheit (ousia), so steht hier nicht die frühe Lehre der Kategorienschrift (Kap. 5) im Hintergrund, wonach das bestimmte Einzelwesen (tode ti) die eigentliche und primäre Wesenheit oder Substanz (prote ousia) ist, sondern die reifere Lehre von Met. VII. 3 Wagner übersetzt: „Bestimmungsstücke in der Erklärung (logos)“. 4 Von der Form-Ursache sagt Aristoteles später in Met. I 7, 988a35ff., dass keine der vorsokratischen Ursachenlehren sie angegeben hat, am ehesten noch die Platoniker mit ihrer – wenn auch von ihm heftig kritisierten – Eidoslehre (vgl. Met. I 9, Nik. Eth. I 4). 5 Vgl. Empedokles’ Lehre der vier Elemente. 2 3 3) Bewegursache (arche tes kineseos) causa efficiens Eine weitere Bedeutung von Ursache ist dasjenige, wovon die Bewegung (kinesis) ausgeht, wörtlich: „woher der Ursprung der Bewegung <ist>“ (hóthen archè tes kineseos, Met. I 3, 983a30) bzw. in Phys. II 3: „der erste Ursprung des Wandels (prote arche tes metaboles) oder der Beharrung (erémesis). Gemeint ist dasjenige, was als Erstes bewegt, d.h. den ursprünglichen Anstoß zur Bewegung gibt (Met. VII 17, 1041a30, Phys. II 3, 194b29f.). Während die Form-Ursache zugleich besteht mit dem durch sie Verursachten, z.B. die Gestalt (schema) der ehernen Kugel mit der ehernen Kugel selbst (Met. XII 3, 1070a21-24), liegt die Bewegursache außerhalb (ektos) des von ihr Begründeten, ist nicht in ihm enthalten (ouk enhyparchei, Met. V 1, 1013a7, a18f., XII 4, 1070b22f.). Als Beispiele aus der praktischen Philosophie seien genannt: der Arzt, oder generell: ein Ratgeber (bouleúsas), als Verursachender (aitios), da dessen Denken, Überlegen und Entscheiden zu einem Tun bzw. Prozess führt (vgl. Wagner, Physikvorlesung, 461). In solchen Disziplinen liegt jeweils der „Ursprung der Bewegung der werkzeughaften Teile“ (bei poietischen Wissenschaften) oder der Handlungen (bei rein praktischen Wissenschaften) „im Handelnden selbst“ (Nik. Eth. III 1, 1110a15ff.), und zwar genauer: in dessen Entscheidung (prohairesis), die als Prinzip (arche) der Handlung gilt (III 5, 1112b31-1113a15), wobei die Entscheidung selbst wieder auf ein Überlegen des seelischen Vernunftvermögens (logistikon) zurückgeht, das somit seinerseits Ursache der Entscheidung ist6. Aus dem von Aristoteles für die Ursachenlehre bevorzugten Bereich der Artefakte ist der Baumeister im Hinblick auf das Gebautwerden eines Hauses Ursache dafür, dass sich Steine und andere Materialien zu einem Haus fügen (vgl. Met. V 2, 1014a9), aus dem Bereich der Naturdinge (physei onta) ist der Vater Ursache des von ihm gezeugten Kindes (Phys. II 3, 194b30f.), denn: „Der Mensch zeugt einen Menschen“ (anthropos anthropon genna). Gemäß Aristoteles’ biologischen Schriften trägt der männliche Samen das „Prinzip der Bewegung und Entstehung“, der weibliche Katamenienstoff hingegen das „Prinzip der Materie“ in sich als den beiden Prinzipien der Zeugung (De gen. an. I 2, 716a4-7). Und schließlich, bezogen auf die ganze Natur als Kosmos und als All des Seienden gilt der erste unbewegte Beweger (vgl. Phys. VIII 8 und Met. XII 6-10) als die erste Bewegursache und Ursprung jeglicher Naturprozessualität (Phys. II 7, 198a35ff.). In Phys. II 3, 194b31ff., generalisiert Aristoteles im Hinblick auf die Bewegursache wie folgt: „überhaupt das Bewirkende (poioûn) des Bewirkten (poioumenon, das Verändernde (metaballon) des Veränderten (metaballómenon). All das ist dasjenige, woher der Ursprung des Wandels (arche tes metaboles) oder der Ruhe (stasis) ist.7 6 Vgl. ähnlich Epikur, Brief an Menoikeus, DL X, 132. Eine Umdeutung dieser Aristotelischen Bewegursache zu einer schöpferisch tätigen, Sein verleihenden Wirkursache (causa efficiens) findet sich über die Vermittlung der islamischen Philosophie (Avicenna, Averroes) erst im 13. Jh., noch nicht bei Aristoteles. 7 4 4) Zielursache (telos – to hou heneka) causa finalis Im Gegensatz zu dieser (taute), also zur Bewegursache, dem Anfangspunkt eines Prozesses, steht das Weswegen (to hou heneka) und das Gute (to agathon), denn dies bezeichnet den Endpunkt, das Ziel (telos), als dasjenige, dessentwegen etwas geschieht, das Um-willen oder das Gute. Man erinnere sich an den Beginn der Nik. Ethik (I 1): „Jede Kunst (techne), jede Untersuchung (methodos), ebenso jedes Handeln (praxis) und jeder Entschluss (prohairesis) scheint nach einem Gut (agathon) zu streben, denn das Gute ist das, wonach alles strebt.“ Unter dem Guten ist somit nicht notwendig ein moralisch Gutes zu verstehen (das wird erst in NE V in der Abhandlung über die Gerechtigkeit thematisiert), denn auch Resultate von Naturprozessen haben den Charakter von etwas Gutem (Phys. II 8, 198 b34-199a8) im Gegensatz zum blinden Zufall (tyche), der die Ursache von Geschehnissen ist, die keiner Regel folgen (Phys. II 4-6). Die Zielursache aber oder das Weswegen ist immer verbunden mit etwas Erstrebtem, einer Absicht, und will, so heißt es in Phys. II 3, ein Bestes (beltiston) und Ziel der anderen (telos tôn allon, 195a25, vgl. 194a32f.) sein, sei es nun das Gute selbst (auto agathon) oder das phänomenale Gute (agathon phainomenon), Bezug nehmend auf Platons Unterscheidung von Ideen bzw. an sich Gutem und Sinnendingen bzw. sinnenfälligem Guten (zur Kritik vgl. NE I 4). Die Ziel-Ursache geht auf einen Abschluss, einen am Ende stehenden, letztlich zu erreichenden Zustand als Grund für den ganzen Prozess, wie z.B. ein neues reifes Individuum als Abschluss des mit der Zeugung beginnenden Prozesses oder der Erfolg an einer Arbeit – etwa das fertige Werk oder Kunstwerk als Abschluss eines Herstellungsprozesses 8 – oder aber, wie in der Ethik, die Erlangung der als Selbstzweck letztlich erstrebten Glückseligkeit. Als Beispiele für die Zielursache werden in Phys. II 3 angeführt: Körperliche Bewegung verschafft man sich, um etwas für seine Gesundheit zu tun. Ursache des Spazierengehens (peripatein) ist also die Gesundheit (hygíeia) als Antwort auf die Warum-Frage (194b32). Bei den Zielursachen integriert Aristoteles auch Zwischenziele oder mittlere Ziele (metaxu), wie Abmagerungskur, Reinigung (katharsis), Heilmittel (pharmaka) und ärztliche Werkzeuge (organa). All diese sind, ob als Werke oder Werkzeuge, nur um eines höheren Zieles willen, d.h. Mittel, die zwischen Quelle und Abschluss eines Prozesses stehen, entweder als zielorientierte Maßnahmen, die den Zweck schrittweise realisieren, oder als zielorientierte Werkzeuge und Hilfsmittel, die zur Realisierung jenes Zwecks gebraucht werden. Im Bereich der Ersten Philosophie als Universalontologie versucht alles übrige untergeordnete Seiende eine möglichst große Annäherung an das vollkommen Seiende im Sinne des Strebens nach Gottähnlichkeit (homoiosis theô, vgl. Platon, Theaitetos 176b). Daher ist auf die göttliche Substanz als zugleich letzte teleologische Ursache (Phys. II 7, 198a35-b3, Met. XII 7, 1072a19-b14) alles andere Seiende hingeordnet (pros-hen-Relation, Met. XII 10, 1075a18). 8 Vgl. dazu H. Wagner, S. 462f.