Zur Überlieferungslage des Corpus Aristotelicum und zur Einteilung der Schriften des Aristoteles Diogenes Laertios‘ Verzeichnis der Aristotelischen Schriften (V 22-27) führt in seiner Lebensbeschreibung 146 Titel auf, wobei aber noch zwei der wichtigsten Schriften, Metaphysik und Nikomachische Ethik fehlen. Da das Aristotelische Werk offenbar nicht so sorgfältig wie dasjenige Platons gehütet wurde, scheint vom Gesamtumfang weniger als ein Viertel erhalten zu sein, manches nur fragmentarisch und einiges in der Echtheit umstritten. Vergleicht man es mit den in antiken Biographien angegebenen 200 Titeln, so ist es stark geschrumpft und hat in ungeordnetem Zustand die Geschichte überdauert. Sein Schrifttum zerfällt in 3 Gattungen: 1. Einige stilistisch ausgefeilte Texte wenden sich an ein breites Publikum gebildeter Laien und waren zur Veröffentlichung bestimmt. Da die Adressaten sich außerhalb (exo) der Schule befinden, heißen sie exoterische Schriften. Hierzu gehören die Werbeschrift für die Philosophie, der Protreptikos, ferner 19 an Platon orientierte Dialoge wie Über die Philosophie, Über die Gerechtigkeit, Politikos oder Über Dichter. Diese populären, allgemein verständlichen Schriften von besonderem literarischen Rang gingen – anders als die überlieferten Schriften Platons – bis auf wenige Fragmente bereits in der Spätantike verloren. Unsere Kenntnis beschränkt sich auf Hinweise, Referate und Berichte. Bei Platon hingegen kennen wir gerade die Sprachkunstwerke, die Dialoge. Aristoteles hat also Platons künstlerische Dialogform zunächst übernommen. Jene Überlieferungslage lässt sich evtl. dadurch erklären, dass Aristoteles‘ Dialoge dem überragenden Vorbild nicht standhielten. 2. Daneben gibt es „wissenschaftliche Abhandlungen“ (pragmateiai) oder „Betrachtungen (skepseis), eine von Aristoteles entwickelte neue philosophische Textgattung. Dabei handelt es sich um esoterische Schriften, weil sie sich an Schüler und Kollegen innerhalb (eso) der Schule richten. Erstaunlicherweise behandeln diese einige zentrale Themen nur sehr kurz. Offenbar hat dazu Aristoteles in den exoterischen Schriften ausführlich Stellung genommen und setzt deren Kenntnis voraus. 3. Die dritte Gattung bilden Sammlungen von Forschungsmaterial zu Lehrmeinungen früherer Philosophen, zu Naturforschung und Politik. Von der berühmtesten Sammlung, den 158 griechischen Verfassungen, ist nur die Verfassung Athens bekannt. Wir besitzen heute nur noch die zweite Gruppe. Das Werk des Aristoteles, wie es uns heute vorliegt (das Corpus Aristotelicum), enthält 106 Bücher, im Wesentlichen Lehrschriften, die Forschungs- und Unterrichtszwecken dienten, nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren und in höchst unterschiedlichem Zustand der literarischen Vollendung. Sie stellen also keine Ausgabe letzter Hand dar, sondern sind Vorlesungsmanuskripte, die großenteils nicht von Aristoteles selbst herausgegeben, sondern später von Schülern zusammengestellt und überarbeitet worden. Sie stammen aus verschiedenen Epochen, bei welchen immer wieder Zusätze, Nachträge und Korrekturen vorgenommen wurden. Aristoteles scheint an bestimmten Problemen langfristig gearbeitet, verschiedenartige Ansätze verfolgt und unterschiedliche Lösungen betrachtet zu haben. Das überlieferte Werk des Aristoteles ist also ein Konglomerat heterogener Texte von unterschiedlichem Zustand der Überarbeitung. Eine auch nur annähernde Chronologie der Abfassung lässt sich kaum erstellen. Da sein wissenschaftlicher Nachlass verschollen blieb, tauchten seine Schriften erst 250 Jahre nach dem Tod wieder auf. Das Material wurde von Andronikos von Rhodos um 30 v.Chr. neu geordnet. Man geht davon aus, dass er auch ursprünglich selbständige Abhandlungen zu Komplexen vereinigt und neu gruppiert hat. 2 Die Abhandlungen des Corpus Aristotelicum gliedern sich in 3 Gruppen: (I) (II) logische Schriften, zusammengefasst als „Organon“ („Werkzeug“, nämlich für das wissenschaftliche Arbeiten): Dazu gehören De interpretatione, die Kategorienschrift, die beiden Analytiken, die Topik und die Sophistischen Widerlegungen. naturphilosophische Schriften über Biologie, Zoologie und Astronomie sowie die Physik, die Meteorologie, Über den Himmel (De Caelo), Über die Seele (De anima) und die Metaphysik. Metaphysik (Metaphysica I-XIV): Aristoteles hat keine Schrift mit dem Titel „Metaphysik“ publiziert und auch die Zusammenstellung der Texte, die wir unter diesem Titel kennen, nicht selbst vorgenommen. Der Titel geht, so die heute übliche Auffassung, auf Andronikos von Rhodos zurück, der mit „meta“ (nach) vielleicht nur die äußerliche Tatsache anzeigen wollte, das die Schrift in seiner Aristoteles-Ausgabe hinter den Schriften zur Naturphilosophie steht. Andronikos wusste offenbar mit dem Inhalt dieser aus 14 Einzelschriften (=Büchern) bestehenden Sammlung nichts Rechtes anzufangen. Er ließ sie auf die Physik folgen und nannte sie daher „ta meta ta physika“. Erst in der Spätantike hat man diese Überschrift neu gedeutet im Sinne von „was über die Natur hinausgeht“, „was ihr zugrunde liegt“. Damit war man der Absicht des Verfassers schon bedeutend näher gekommen.1 (IIIa) ethisch-politische Schriften: die Nikomachische Ethik und die Politik (IIIb) - praktisch-poietische Schriften: Poetik, Rhetorik Daraus ergibt sich die für die Geschichte der Philosophie wirkungsmächtige Einteilung der Philosophie in zwei Grundbereiche: in theoretische und praktische Wissenschaften (vgl. Met. I 1-2 und VI 1)2 1 Inhaltlich geht es um die alte Frage nach dem eigentlich Seienden. Aristoteles’ Kernthese lautet: „Das Seiende wird in vielfachen Bedeutungen ausgesagt“ (pollachos legetai). Dabei erweist sich die Untersuchung zugleich als Suche nach einer Wissenschaft erster Prinzipien (Met. I 1-2, Met. V 1-2, Met. XII), wobei er vier Ursachen unterscheidet (Met. I 3), hierbei von der vorgefundenen philosophischen Tradition ausgeht und sich mit dieser kritisch auseinandersetzt (so mit Platons Ideenlehre in Met. I 9 und XIII 4-5). In Buch V listet er die verschiedenen Bedeutungen von 30 zentralen Begriffen auf, erörtert ausführlich in Buch VII und VIII den Begriff der Substanz, Materie und Form sowie in Buch IX Möglichkeit und Wirklichkeit. Statt von Metaphysik spricht Aristoteles lediglich von einer „ersten Philosophie“ prote philosophia, Met. VI 1). Diese untersucht im Unterschied zu den anderen Wissenschaften „das Seiende, insofern es seiend ist, und was ihm als solchem zukommt“ (Met. IV 1), ist damit Grundlagenwissenschaft aller Einzelwissenschaften, weil jene die ersten Ursachen überhaupt analysiert (Met. I 1-2), sie wird aber ebenso „theologische Wissenschaft“ (theologike episteme) genannt (Met. VI 1). Weiterhin gehören zu ihrem Untersuchungsgebiet die ersten Prinzipien des Denkens. Hier stellt Aristoteles dem sophistischen Relativismus (Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, der sog. „homo-mensura-Satz“, seinen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch als sicherstes, voraussetzungsloses Prinzip (anhypotheton) entgegen, bei welchem eine Täuschung unmöglich ist (vgl. Met. IV 3-8). 2 Die theoretische Philosophie beschäftigt sich mit den Prinzipien des Daseins und untergliedert sich in Physik (auch Biologie und Psychologie), Mathematik und „Theologie“ oder „Erste Philosophie“. Diese Wissenschaften befassen sich mit dem, was sich nicht anders verhalten kann, also notwendig gilt (zur Entstehung dieser Wissenschaften vgl. Met. I 1-2). Obgleich die Theorie der Praxis vorgeordnet ist aufgrund ihres ausgezeichneten Gegenstandes, lassen sich aus ihr keine normativen Folgerungen für die Praxis ziehen (siehe Nik. Eth. I 4 gegen Platons Lehre von der Idee des Guten). Daher gibt es weitere Disziplinen: Die praktische Philosophie befasst sich mit demjenigen, das sich auch anders verhalten kann, sie untersucht das Handeln des Menschen. Ihr Gegenstandsbereich sind die menschlichen Belange, ihre Zielsetzung das Gutwerden bzw. als letztes Ziel das menschliche Glück, die eudaimonia (Nik. Eth. I). Auf die Frage nach dem besten Leben gibt Aristoteles in Nik. Eth. X 7-9 zwei verschiedene Richtungen: 1) das kontemplative Leben des Geistes, sofern der Mensch über etwas Göttliches (einen ihm eigentümlichen Geist [nous]) verfügt und damit über seine Möglichkeiten hinausgeht, 2) das Leben gemäß ethischer, ‚menschlicher’ Tugenden wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit. Im Rahmen der praktischen Philosophie fragt Aristoteles, ob es ein Handeln ist, das seinen Zweck in sich hat oder ob dieser außerhalb des Handelns liegt. So unterteilt sich dieser Gegenstandsbezirk nochmals in die (eigentliche) Praktische Philosophie mit den Disziplinen Ethik, Ökonomik und Politik (siehe unter IIIa), die den Zweck ihres Tuns in sich selbst haben, und in die „poietische“, d.h. „hervorbringende“ Philosophie (IIIb), die sich mit dem Herstellen von Dingen und Kunstwerken beschäftigt (ein Haus z.B. wird für seine Bewohner gebaut), deren Zweck außerhalb ihres Handelns liegt.