Dr. Klaus Neumann Kinderschutz im Alltag der Familien in Deutschland Vortrag, gehalten im Rahmen des Psychologentags Rheinland-Pfalz „KinderWelten – ein Spiegelbild der Gesellschaft“ am 1.10.2005 in Mainz Anrede! Als das Präsidium des BDP mich mit der Betreuung des Themenbereiches „Kindeswohl und Kinderrechte“ beauftragte, bekam ich mit auf den Weg: “Sie müssen den BDP auf jeden Fall auch in der Koordinierungsgruppe der National Coalition vertreten“. Trotz erfolgreicher Wahl im Dezember letzten Jahres blieb ich skeptisch, schienen mir doch diese NC aus meiner früheren Arbeit im BDPPräsidiumsausschuß „Kindeswohl und Kinderrechte“ fern und abgehoben von praktischer Beratungstätigkeit, ein politisch wohl gewollter aber trotzdem doch papierner Tiger in Hochglanzausführung. Inzwischen habe mich inzwischen eines Besseren belehren lassen, die Gespräche, Sitzungen und anderen Aktivitäten haben mich überzeugt vom Wert dieser Institution. Ich möchte Ihnen deshalb als erstes die unbekannten Wesen NC und KoG nahe bringen. Zum Zweiten liegt mir daran, Ihnen die Kinderrechte als Wertesystem zu verdeutlichen. In einem Dritten Schritt müssen wir dann auf einen schon erfolgten Paradigmenwechsel zu sprechen kommen – womit auch zusammenhängt, dass ich Viertens versuche Ihnen aus meinen Erfahrungen über den Tellerrand der Beratungstätigkeit hinaus zu berichten. Ich möchte dann fünftens die Verantwortungsgemeinschft Eltern – Gesellschaft ansprechen - und Sechstens muß ich einfach ein paar Worte über Prävention, im allgemeinen und im besonderen verlieren – um Sie dann Siebtens einzuladen, gemeinsam dem Lebenslauf eines Kindes über die Monate und Jahre zu folgen. Von der Wiege bis zur eigenen Elternschaft – eingebettet in den gesellschaftlichen Raum. Erstens: NC und KoG – unbekannte Wesen Die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland(NC) ist ein Zusammenschluss von bundesweit tätigen Verbänden, Organisationen und Initiativen, die sich aktiv an der Umsetzung der UNKinderrechtskonvention (KRK) beteiligen. Die UN-Konvention beinhaltet in erster Linie Staatenverpflichtungen. Nach Artikel 45 der KRK haben jedoch nicht-staatliche Organisationen das Mandat, die diesbezüglichen Aktivitäten auf Regierungsebene kritisch zu begleiten. Die National Coalition wurde im Mai 1995 in Bonn offiziell von ca. 40 Organisationen gegründet. Sie setzt sich für die Interessen und Bedürfnisse aller jungen Menschen bis 18 Jahre ein, bezogen auf die für Deutschland umzusetzenden Vorgaben aus der UN-Kinderrechtskonvention. Die Rechtsträgerschaft liegt bei der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ). Als Anwalt des Kindes setzt sich die National Coalition für die Verwirklichung der Kinderrechte ein, deren Erfüllung die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindlich übernommen hat. Das Übereinkommen sichert Kindern grundlegende Rechte des Schutzes, der Förderung und der Beteiligung zu; es begründet vor allem einen einklagbaren Anspruch jedes Kindes, dass das Kindeswohl in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten mit Vorrang vor allen sonstigen Interessen berücksichtigt wird. Die Finanzierung einer Koordinierungsstelle hat den Aufbau einer Infrastruktur zur Begleitung und Überwachung (Monitoring) der Umsetzung der UNKinderrechtskonvention in Deutschland erst möglich gemacht. Von 1998 bis zum Mitte 2001 wurde die NC aus Mitteln des Kinder- und Jugendplanes des Bundes mit 2 Personalstellen gefördert. Danach wurde die Förderung reduziert und zur Zeit ist eine Stelle finanziert, die mit zwei Referentinnen (0,5-Stellen) besetzt ist. Neben verschiedenen Serviceleistungen für die Mitgliedsorganisationen besteht der Arbeitsschwerpunkt der Koordinierungsstelle der NC in der Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit zu Kinderrechten, der Koordination der Aktivitäten zur Umsetzung der Konvention in Deutschland sowie der Koordination der regelmäßig stattfindenden Gremiensitzungen der Koordinierungsgruppe (KoG) und der Arbeitsgruppen der NC. Wie kann nun eine Koalition auf Bundesebene mit inzwischen fast hundert Mitgliedern trotz eines komplizierten Namens und eines Bündels intern geläufiger Anglizismen – zehn Jahre bestehen und noch weiter wachsen? Das Geheimnis liegt wohl in der Kraft der dahinter stehenden Idee – dem Wertekanon der Kinderrechte. Zweitens: Kinderrechte sind auch Menschenrechte – ein Wertesystem „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte bildet die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“, heißt es in der Präambel zur UN-Kinderrechtskonvention. Die Kindern innewohnende Würde achten und ihre gleichen und unveräußerlichen Rechte respektieren, diese Idee und das sich daraus ergebende Programm motiviert, beflügelt und es rührt an: Das Kind in uns allen und unser aller Verhältnis zu den Kindern um uns herum. „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer“, formulierte Janusz Korczak eine Haltung, welche das Konzept der Kinderrechte zu dem weltweit am meisten ratifizierte Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen macht. Auch mit Blick auf Deutschland gibt es gute Gründe, die Entwicklung der Kinderrechte als Erfolgsgeschichte zu verstehen. Wer weiß heute noch, dass es 1968 eines Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses bedurfte um festzustellen, dass Kinder uneingeschränkt Träger von Grundrechten sind? Wer erinnert sich heute noch, dass bis 1980 die „elterliche Gewalt“ im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben war? Wer kann sich heute vorstellen, dass noch 1998 der Bundesgerichtshof in einem Urteil feststellte, dass das Schlagen mit einem massiven Gartenschlauch vom gewohnheitsmäßigen elterlichen Züchtigungsrecht gedeckt werde? All das ist Vergangenheit. Auf die Erfolgsliste gehören wichtige Teile des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und des Kindschaftsrechtsreformgesetzes ebenso wie die Einführung des Rechts von Kindern auf gewaltfreie Erziehung und die Feststellung der Bundesregierung im kürzlich verabschiedeten Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“, dass die UN-Kinderrechtskonvention inzwischen die entscheidende Richtschnur für kinderpolitisches Handeln darstellt. Allerdings - die Vorbehaltserklärung der Bundesregierung, die einer uneingeschränkten Anerkennung der Kinderrechtskonvention im Wege steht, wurde noch immer nicht zurückgenommen, der Vorrang des Kindeswohls ist im Alltag noch lange nicht real, wir beobachten zahllose Verletzungen von Kinderrechten, die zentralen Aussagen der Konvention sind den meisten Kindern weiterhin unbekannt. Drittens: Trotzdem: es gibt einen Paradigmenwechsel – die Vorzeichen ändern sich In Beratungsstellen wie den Kinderschutzzentren hat sich der moderne Kinderschutz etabliert mit einem bekannten Paradigmenwechsel weg vom Focus allein rechtlicher Intervention bei familialer Gewalt hin zu dem Grundsatz: „Hilfe statt Strafe“. Jetzt deutet sich ein zweiter Paradigmenwechsel an –„ Prävention statt Reaktion“. Je früher desto besser. Beginnen bevor es beginnt. Überall, bedrängt von Kämmerern mit leeren Kassen, denken politisch Verantwortliche über eine neue Struktur Sozialer Dienste nach. Sie diskutieren Modelle effektiver und kostengünstiger Hilfsangebote. Sozialraumorientierung, Nachhaltigkeit und früher Beginn von Hilfen sind die Stichworte. Nichts davon ist wirklich neu, manches wird nur neu formuliert oder das erste Mal so von manchem gedacht, aber es ist durchaus ernsthaft gemeint. Wer immer von uns in Beratung und Therapie tätig ist, wird sich damit auseinandersetzen müssen. Wenn auch der Anstoß zum neuen Denken aus der Finanznot kam, so ist doch die Richtung bemerkenswert. Abgeordneten, Bürgermeister, Landräte und Minister bis hin zum Kanzler haben seit einiger Zeit Kinder und Familie neu entdeckt. Familie übrigens – um es knapp zu definieren und niemanden auszuschließen - ist immer da wo Kinder sind! Familie und Kinder werden wieder „in“. Sollte es davon Aktien zu kaufen geben, rate ich sich damit einzudecken - Sie können nur zu den Gewinnern zählen. Ich selbst habe einen jetzt 14 Jahre alten „Anteilsschein“ und kann Ihnen versichern, dass ich jeden Tag meine Dividende erhalte. Denn für wen, wenn nicht für die Kinder, die nächste Generation - missraten, aufsässig und hedonistisch wie wir selbst in den Augen unserer Eltern manchmal waren - betreiben wir unsere Alltagsgeschäfte? Wer Kinder hat – und dies ist nicht im „besitzanzeigenden Sinne“ gemeint, sondern als „Verantwortungshinweis“ – wird mir sicher zustimmen: Sie sind eine wundervolle Plage, eine Klippe, an der wir jeden Tag mindestens einmal scheitern, in Würde untergehen, um am nächsten Tag wieder voller Elan auf der Matte des Erziehungsgeschäfts zu stehen - bereit es aufs Neue zu versuchen. Unabhängig von eigener Elternschaft aber sind Kinder und Kindheit immer unser gemeinsamer Nenner: Wir alle – so wie wir hier sitzen waren ja einmal selbst Kinder und sind es irgendwo immer noch - lediglich etwas größer, erwachsener, reifer geworden. Ein wenig verkleidet entsprechend den Konventionen unserer Rollen, der Alters- und Berufsgruppe – und doch auch im Kern die Kinder, die uns aus den alten Familienphotos anblicken, mitsamt den positiven und unerfreulichen Erinnerungen und Erlebnissen, den Blessuren und Heilungen, geprägt von Förderung und Unterdrückung, wie wir sie in Elternhaus und Schule erfahren haben. Wir sitzen so gesehen alle noch im Sandkasten und spielen unsere Spiele, raufen um die Förmchen, feiern unsere kleinen Triumphe und betrauern unsere großen Niederlagen. Ein großer Sandkasten steht Zeit übrigens zur Zeit in Berlin (vor dem Kanzleramt). Kinder sind uns also überhaupt nicht fremd, wenn wir nur zulassen, uns selbst nahe zu kommen. Die so viel beklagte Kinderfeindlichkeit ist deshalb auch nur eine Kinderentwöhnung, viele Erwachsene „fremdeln“, wenn sie den Wünschen und Bedürfnissen von Kindern begegnen, weil sie sich von ihren eigenen Kindheitserinnerungen so abgetrennt haben. Deshalb ist es wichtig, einmal klar zu stellen: Der Themenbereich „Kinder und Familie“ ist so aktuell und betrifft uns so hautnah – wie schon immer. Wir hatten es nur bei allen den anderen wichtigen Themen ein wenig vergessen. Wir sollten uns deshalb unabhängig von erlebter Elternschaft ganz konkret und alltäglich besonders in unserer beruflichen Tätigkeit wieder mehr erinnern an „Die Soziale Elternschaft aller - für alle Kinder“. Wenn wir nicht gleich und wohl etwas überfordernd alle Kinder dieser Welt, auf allen Kontinenten, meinen wollen, dann können wir den Umfang unseres Anliegens ruhig etwas kleiner wählen, je nach dem, was wir vermögen, an welchen Schreibtischen wir sitzen, wie weit wir aus dem Fenster schauen können. Immer aber sollten wir uns die Frage stellen: Dient das, was hier gerade geschieht dem Wohl der Kinder oder schadet es? Kinder- und Familienkompatibilität kommunalen Handelns heißt das Zauberwort: Passt das, was wir tun zu dem was, Kinder brauchen? Und nicht: Passen Kinder zu dem was wir tun oder glauben zu brauchen? Kinder sind kein Störfaktor in der Landschaft. Kinderfreundlichkeit steht einer Kommune, einer Stadt, einem ganzen Land gut zu Gesicht – kann zum entscheidenden Standortvorteil werden. Ein aktuelles Argument nebenbei. Soziale Elternschaft ist eine Haltung der Gesellschaft gegenüber ihren Kindern, darauf zu achten, was wir ihnen vorleben und als Zukunftsperspektive präsentieren. Kinder lernen viel von ihren Eltern, schauen ihnen früh auf die Finger und zeigen in ihrem Verhalten, welche Konsequenzen sie aus ihren Beobachtungen ziehen. Übrigens können wir bei dieser Gelegenheit – der Wiederentdeckung Sozialer Elternschaft – auch gleich dem neuen Anspruch auf Sozialraumorientierung von Hilfen begegnen. Wirksame, am Sozialraum orientierte Hilfen sind also nichts anderes als die Wiedergeburt Sozialer Einheiten, in denen der Mensch das Maß der Dinge darstellt und sich aufgehoben fühlen kann. Wäre es deshalb nicht sinnvoll, werdenden Eltern oder einem Paar, das Eltern werden will, ein Bündel an Informationen über Unterstützungs- und Entlastungsangebote zur Verfügung zu stellen, sei es nun per Broschüre an geeigneter Stelle in die Hand gedrückt oder per Maus-Click aus dem Internet abrufbar. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Kinder-Familien-Info-Center „mitten auf dem Marktplatz“. „Mitten auf dem Markt“ heißt für die Informationsempfänger: Wir sind wichtig, wir werden nicht in eine soziale Ecke verschoben, etwas verschämt und halbherzig. Mitten auf dem Markt heißt auch für alle Touristen und Gäste einer Stadt – und derer gibt es ja in Mainz und Umgebung viele – diese Kommune steht zu ihren Kindern, hier haben erkennbar Familien ein Zuhause. Wie schon erwähnt: Potentielle Investoren und Neubürger werden dies aufmerksam vermerken! Wissen, was es alles gibt, ist nämlich an sich schon beruhigend. Werdende Familien fühlen sich bei diesem größten aller Abenteuer, nämlich ein Kind in die Welt zu setzen, dann nicht mehr so allein gelassen. Sie spüren – die Gesellschaft steht hinter ihnen, sie sind willkommen. Nach dieser mentalen Einstimmung und Auflockerung nun zur Umsetzung dieser Haltung in Therapie und Beratung. , Viertens: Blick aus der Arbeit über den Tellerrand hinaus Ich möchte Ihnen dazu etwas aus meiner Arbeit im Kinderschutzzentrum München berichten. Inzwischen bin ich 19 Jahre in dieser Einrichtung und da lohnt es sich immer, etwas zurück- und dann nach vorn zu blicken. Viele Menschen kommen früh genug zu uns, trauen sich, sind trotz Problemlagen mutig und wissen wo Hilfe zu holen ist. Manche kommen reichlich spät und es ist ein mühsames Geschäft, ein Prozess mit Höhen und Tiefen, Rückschlägen und Fortschritten, bis Eltern und Kinder wieder gemeinsam festen Boden unter den Füssen haben. Für manche ist es zu spät, man kann nur Bruchstücke ordnen und unzufrieden zurückbleiben. Immer aber musste erst etwas passiert sein, immer eine Notlage entstehen, sich Schwierigkeiten aufhäufen, Hilflosigkeit überhand nehmen. Das machte mich und andere wirklich unzufrieden. Warum sollten wir eigentlich warten, bis jemand, Kinder oder Eltern, den Weg zu uns findet, um ein Problem zu präsentieren? Warum könnten wir nicht auf SIE zugehen, nicht als Hausbesuch im Rahmen einer Beratung – nein, noch früher. War es nicht sogar etwas zynisch von uns Helfern, abzuwarten bis etwas passiert war? Reaktion statt Prävention? Die gute alte Vorbeugung ist bekanntlich aufgeteilt in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. – vielleicht damit auch jeder etwas von diesem heiligen Begriff reklamieren könne? Im Grunde und semantisch sauber kann niemand einem abgelaufenen Geschehen mehr vorbeugen. Passiert ist passiert. Schadensbegrenzung und daraus abgeleitet die Verhinderung erneuter Schäden sind wertvolle Tätigkeiten – aber immer aus der r Defensive, auf der Jagd nach neuen Schadstellen, mit immer besseren Instrumenten und Techniken! Wir können aber mehr als immer wieder nur hoch qualifiziert Schäden zu reparieren. Um es ins Bild zu setzen: Die Mechaniker (natürlich auch die Mechanikerinnen) einer Autowerkstatt nehmen sich einen Tag in der Woche Zeit, um unter dem Wagen, an dem sie gerade werkeln, aus der Grube herauszuklettern. Sie gehen in die Büros der Konstrukteure und Konzernetagen, um rückzumelden, wo die hoch gelobten Gefährte in der Alltagspraxis fast zwangsläufig ihre Schwachstellen zeigen. Sie kontakten Verkehrsplaner und Straßenbaufirmen, machen deutlich, an welchen Stellen es immer wieder zu Kollisionen kommen muss, wo die neuralgischen Punkte sitzen. Ein etwas mechanistisches Bild, aber da behauptet wird, das Auto sei des Deutschen liebstes Kind, habe ich es einmal hergenommen. Sie können auch eine andere Abbildung wählen, die deutlich macht, gar nicht erst entstehen zu lassen, was später passieren kann. Wir brauchen, um effektiv präventiv, primär präventiv, Kinder und Eltern Hilfen zu bieten, nicht unbedingt spezielle Beratungsangebote wie ein Kinderschutz-Zentrum. Beratungsstellen, die sich offen den Ursachen z.B. familialer Gewalt zuwenden, können ähnlich angemessene Angebote machen. Denn in jedem von uns steckt ja nicht nur fachliche Kompetenz. In jedem Team ist ein Schatz an Lebenserfahrung versammelt, gibt es Mütter und Väter von Kindern jeglichen Alters, sie haben Ressourcen, die aus der Tiefe schöpfen, Sie haben zum größten Teil selbst erlebt, wo die Stressfaktoren im Familienleben sitzen, Sie steckten oft genug als Mechaniker (und Mechanikerinnen) in der Grube und schraubten ganz verbissen an irgendetwas herum. Wenn nichts mehr ging, haben Sie vielleicht Axel Hackes „Kleinen Erziehungsberater“ gelesen und sich im Stillen gewünscht, auch erfolgreicher Schriftsteller am Starnberger See zu sein. Aber die meistern von uns sind dies nicht und das ist auch gut so, denn dann hätte Axel Hacke kaum noch Leser! Sie selbst wissen - so vielfältig wie das Leben einer Familie sind die Möglichkeiten in Schwierigkeiten zu geraten und aus ihnen wieder herauszukommen. Kaum ein Problem, das nicht schon in seinen Entstehungsbedingungen die Ansätze zur Lösung in sich trägt. Wenn man versucht, die Möglichkeiten primärer Prävention zu ordnen - unter soziologischen, psychologischen, städteplanerischen, medizinischen oder gar juristischen Gesichtspunkten – stets wird Ihnen ein Aspekt fehlen bei der Betrachtung oder es gibt verwirrend vielfältige Überschneidungen. Kein Wunder, wirkt doch das Leben mit Kindern als Querschnittaufgabe in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein. Ordnung in der Reflexion und damit Handlungsspielraum verschafft mir vor allem die Chronologie, der Zeitablauf als Leitlinie. Der Lebenslauf eines Kindes – schon beginnend vor seiner Geburt – kann lückenlos zeigen, ob und was wir als Gesellschaft, als Nachbarn den Eltern und dem dann geborenen Kind zur Seite, zur Verfügung stellen. Was an Hilfsangeboten existiert und was fehlt, lässt sich durch die Lebensmonate und Jahre auflisten, quasi wie auf einer Checkliste abhaken. Sie können Plus- und Minuspunkte sammeln und mit einiger Sicherheit voraussagen, wann für eine Familie die Belastung zu groß werden, das Fass zum Überlaufen kommen kann. Fünftens:Neue Partner: Eltern und Gesellschaft in gemeinsamer Verantwortung Eltern sind zwar nach wie vor die wichtigsten Bezugspersonen von Kindern. Sie bleiben – allen modernen Zeiten zum Trotz - in einem fast archaischen Beziehungsverhältnis zu ihren Kindern, das in vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingebettet ist. Eltern haben somit grundsätzlich und unabwendbar die Verantwortung für ihre Kinder. Deshalb können, dürfen und müssen sie sich bei dieser schwierigen Aufgabe Unterstützung von anderer Seite, von Nachbarn, Verwandten, Institutionen holen. Die überaus schwierige Elternrolle muss gestärkt und neben die Verantwortung zum Wohle der Kinder ein ausgleichendes und unterstützendes Ausmaß an Elternrechten gestellt werden. Wer intensive und frühe Vorbereitung werdender Eltern auf ihre Rolle (zum Beispiel über ein Pflichtfach "Lebenskunde" schon in Grundschulen, durch Elternkurse in der Erwachsenenbildung ) fordert und damit aus gesellschaftlichem Anspruch in den "Frei- und Schonraum" Familie interveniert, der muss Eltern auch zugestehen, dass sie zu "konstruktiven Störfaktoren" in Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen werden können. In Kindergärten, Schulen und Kommunalverwaltung – im Prinzip im gesamten politischen Raum - sollten dann Eltern Mitsprache- und Gestaltungsrechte in größerem Ausmaß als bisher einräumen werden. Andererseits gehört hierher auch eine intensive Diskussion über die in der Verfassung niedergelegten Rechte von Eltern, ihre Grenzen und die Modalitäten gesellschaftlicher Interventionen. Wir müssen uns trotz schlimmer geschichtlicher Erfahrungen trauen, hierzu einen offenen, notfalls politisch unkorrekten Diskurs zu eröffnen, um im Interesse der Kinder eine Neue Partnerschaft zwischen Eltern und Gemeinschaft auf die Beine zu stellen! Sechstens: Prävention allerorten – wovon reden wir? Der weitgefächerte Begriff der Prävention wird in der Erziehungsberatung schon seit langem diskutiert und sowohl als erfolgversprechendes Ziel wie auch als illusionäre Aufgabe verstanden. Karl Gerlicher hat in Anlehnung an CAPLAN (1964) zu der geläufigstenen Definition gefunden: Primäre Prävention umfaßt die Förderung psychischer Gesundheit der Bevölkerung durch Bildung, Aufklärung und Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen. Sekundäre Prävention beschreibt die Früherkennung von Störungen bzw. Erkrankungen und die sofortige Einleitung entsprechender Maßnahmen. Tertiäre Prävention wäre somit die Behandlung und Rehabilitation von ernsthaften und chronischen Erkrankungen. Diese Definitionen sind eher medizinisch, kunstvoll und geschliffen – ich möchte es ins Bild setzen: Wenn ein Autofahrer eines Wintermorgens auf seinem Weg an einer Brücke bei Glatteis ins Schleudern gerät, aufs Feld und gegen einen Baum rast, von einem zufällig vorbeikommenden Mitmenschen gefunden, per Handy der gut ausgerüstete Rettungswagen alarmiert, der Verunglückte ins Hospital gebracht, operiert, gepflegt und anschließend in einer Reha-Klinik wieder zum Laufen gebracht wird – dann ist das tertiäre Prävention. Wenn derselbe Autofahrer an der gleichen Stelle über Verkehrsschilder gewarnt, durch Leitplanken gestoppt und von Airbags und Sicherheitsgurten beschirmt mit ein paar blauen Flecken und einem Totalschaden am Wagen davonkommt – dann ist das sekundäre Prävention. Wenn aber unser Autofahrer morgens vom Verkehrsfunk informiert, die Straße besonders vorsichtig und geübt durch etliche Schleudertrainingskurse befährt, eventuell eine alternative, ungefährlichere Strecke wählt oder gar an diesem Tag sein Auto in der Garage lässt und ein anderes Verkehrsmittel wählt – dann ist das primäre Prävention. An dieser Analogie wird deutlich, dass Vorbeugung im Wortsinn vorrangig die Vermeidung eines Schadenfalls, nicht so sehr sein glimpflicher Ausgang und schon gar nicht seine hochkomplexe Reparatur sein kann. Der Präventionsbegriff darf nicht beliebig benutzt werden sonst wird auch im Denken unscharf, was wirkliche Vorbeugung bedeutet. Mit etwas Sinn für Humor lassen sich dann Formulierungen wie ”Schulprävention” oder ”Sexualprävention” ertragen, die sicher etwas Gutes meinen, was aber manche lustlose Schüler für sich oder manche Lust fürchtenden Eltern für ihre halbwüchsigen Kinder nur gar zu gern missverstehen würden. Prävention als zunehmend wichtiger werdende Aufgabe im Kinderschutz bedeutet Primäre Prävention mit Elementen sekundärer Prävention. Das bedeutet nicht, dass in der alltäglichen Arbeit einer Beratungsstelle auch und gleichzeitig Arbeitsfelder der sekundären und tertiären Prävention bedeutsam sind. Hilfesysteme oder Angebote aber, die erst dann aktiv werden, wenn zumindest ein Erstschaden eingetreten ist, sind prinzipiell absurd. Deshalb forderte schon vor Jahren der 8. Jugendbericht der Bundesregierung von der modernen Jugendhilfe mehr Prävention, stärkere Dezentralisierung, größere Alltagsorientierung und intensivere Integration und Partizipation von Kindern und Familien in die Hilfesysteme bzw. bei deren Gestaltung. Siebtens: Ein Ansatz - Alltagsbiographie als Richtschnur primärer Prävention Wie schon erwähnt, es gilt, die vielfältigen Aspekte präventiver Arbeit für Kinder und Familien zu bewerten und in einen geordneten Zusammenhang zu bringen. Wenn wir die in Sozialarbeit, Erwachsenenbildung, Beratung und Therapie existierende Ansätze und Arbeitsfelder in einen natürlichen Kontext bringen, lassen sich auch Strukturdefizite, Überlappungen im Hilfsangebot wie auch erfolgreiche Praxisbeispiele besser erkennen und beschreiben. Ich erlebe Modelle präventiver Arbeit, die mit soziologischen Begriffen, mit Flussdiagrammen oder Verlaufsschemata arbeiten, als wenig hilfreich - der Bezug zur Alltagswelt von Kindern und Familien geht verloren, wenn man ”von oben auf sie herab formuliert". Das "Lebenslaufmodell" beschreibr konkret und nachvollzubar, welche präventiven Angebote im Leben eines Kindes quasi "am Wegesrand" auftauchen können. Fehlen sie im Alltag einer Familie, dann besteht zunehmend die Wahrscheinlichkeit, dass bedrängende Lebensumstände sich zu einer Gewalt erzeugenden Struktur verdichten, die abhängig auch von individuellen Faktoren der Eltern und Kinder den Ausbruch familialer Gewalt begünstigen. Die Zeit vor einer Geburt, die ersten Säuglingsmonate, Kindergarten- und Schulzeit, Adoleszenz und junge Erwachsenenwelt bilden dabei einen Lebenslauf, der sich zum Kreis schließt, wenn aus Erwachsenen wieder Eltern werden, die weiterreichen, was sie erfahren und gelernt haben, ob sie Hilfen erhielten oder mit Defiziten leben mussten. Das ”Lebenslaufmodell” beschreibt Einstiege in Arbeitsfelder der primären Prävention, die Jugendämter, Soziale Dienste und freie Träger nutzen könnten. Beginnen wir bei: Werdende Eltern/ Schwangerschaft/ vor einer Geburt Es beginnt damit, Kinder schon sehr früh – im Kindergarten und in der Schule – Eltern-Sein einüben zu lassen. So wie sie es von zuhause kennen oder erahnen, so wie sie es sich für die eigene Zukunft wünschen. Mädchen und Buben können dabei auch mal die althergebrachten Rollen tauschen, er sich ums Baby kümmern, sie zur Arbeit gehen – eben Familie sein. Kinder lernen so ganz spielerisch, dass die Dinge manchmal nicht so einfach sind und Elternleben schon eine mühsame Plackerei sein kann. Sie werden mit Wonne Krisen produzieren und Dramen inszenieren – so wie sie es von zuhause eben kennen oder vermuten. Spätestens in der Schule – im Fach „Lebenskunde“ etwa – wenn sich zum Spiel Fakten und Wissen, Trainingseinheiten und Kurse zu allgemeinen und speziellen Erziehungsfragen sowie den grundsätzlichen Rechten und Pflichten von Eltern und Kindern hinzugesellen und eigene Kinder zu haben zunehmend in den Bereich des Möglichen rückt, werden Jugendliche aus dem eigenen Erleben als „Probeeltern“ einen anderen Blick auf ihre eigenen Eltern entwickeln. Sie können langsam begreifen, warum die Alten manchmal so unausstehlich sind. Eine kleine und schmale Brücke des Verständnisses zwischen den Generationen wäre so entstanden. Die Kurse vermitteln auch Basisinformationen über Hilfsangebote des regionalen Sozialen Netzes und praktische Übungen darin, sich dieses Netzes auch angemessen zu bedienen. Ziel ist, die "Hemmschwelle" potentieller Ratsuchender zu senken und sie zu befähigen, Hilfen selbstverständlicher und früher anzunehmen. Das eben schon erwähnte reguläre Wahl- oder Pflichtfach „Lebenskunde“ der Schulen soll Schülerinnen und Schüler auch in die Lage versetzen, sich im Alltag konfliktfreier bewegen zu können. So lernen sie z.B. Verträge zu schließen, sich eventuell und rechtzeitig Rechtsberatung zu holen und auf die Tücken und Details alltäglicher Lebensführung zu achten. Wie oft wachsen später in Familien hieraus die Krisen. Volkshochschulen, Familienbildungsstätten und andere Einrichtungen der Erwachsenenbildung bieten gemeinsame Kurse für mehrere Generationen einer Familie an, um die oft sehr reduzierte Kommunikation zwischen Großeltern, Eltern und Kindern zu erweitern und einen Informationsaustausch (zum Beispiel über tradiertes, sog. ”alte” Wissen von Krankheiten und ihrer Heilung) wieder in Gang zu bringen. Über Information und pädagogische Anleitung üben die Generationen Kooperation und gegenseitige Abgrenzung (zum Beispiel am altbekannten ”EinmischungsKonflikt” zwischen neuen und alten Eltern) Die mögliche Abwesenheit eigener Eltern kann dabei problemlos durch Stellvertreter in einer größeren Gruppe ausgeglichen werden. Bei allen Übungen geht es um eine realistische Darstellung und mentale Einübung von kommendem AlltagsEltern(er)leben. Die Bewältigung oft banal erscheinender, immer aber Stress erzeugender Situationen steht dabei im Vordergrund. Solche Kurse sollten Spaß bringen, um weiter empfohlen zu werden. Der moralische Zeigefinger schadet nur. Die Motivation zur freiwilligen Teilnahme wie auch die Finanzierung kann unterstützt werden durch ein von Krankenversicherungen und anderen Trägern gesponsertes Bonus-System, das viel Raum für Kreativität offen lässt. Dieser Ansatz setzt bei Kommunen wie Kassen natürlich die Einsicht voraus, dass sich die Investitionen menschlich wie materiell amortisieren (wenn, zum Beispiel, Klinikaufenthalte für Erwachsene und Kinder oder psychosoziale Traumatisierungen mit langwierigen Folgebehandlungen vermieden werden können). Schwangerenberatungsstellen, die Praxen niedergelassener Hebammen und Frauenärzte sowie entsprechenden Kliniken sind weitere Orte, an denen neben medizinischen auch die psychologischen und sozialen Aspekte von Elternschaft angesprochen und real ins Bewusstsein gehoben werden. Die hier entstehenden Elterngruppen können, da sie ähnliche Zukunftserwartungen haben, mit hoher Motivation in die Zeit nach der Geburt weitergeführt werden und Kerne von Selbsthilfegruppen und Initiativen für den neuen Lebensabschnitt bilden. Eltern werden so angeregt, Schwierigkeiten des Alltags gemeinsam mit anderen zu bewältigen – sie lernen ihren eigenen Ressourcen zu vertrauen. Die Medien bevorzugen die Darstellung realistischer Familienszenarien und pflegen eine offene Diskussion über Hindernisse und Klippen beim Erziehungs- und Elternjob. Mama und Papa Meier statt Super-Nanny. Die Medien trage hohe Verantwortung. Sie können dazu beitragen, ob Eltern unter Druck geraten oder nicht. Nicht das Feuilleton, der humorige ”kleine Erziehungsberater” sondern die ehrlichoffene Darstellung von Erziehungsproblemen sind dann der Informationshorizont von Eltern. Denn eine immer wiederkehrende Erfahrung aus der Familienberatung ist, dass Eltern erleichtert und dankbar reagieren, wenn ihre heimlich-destruktiven Gedanken stellvertretend ausgesprochen und subtile Normen hinterfragt werden (”... haben Sie nicht auch manchmal den Wunsch gehabt, den kleinen Tom mal für ein paar Tage los zu sein und an einen umherziehenden Sklavenhändler zu verkaufen?”) Nirgendwo wird so viel schön geredet wie auf Kinderspielplätzen: Meiner ist schon sauber, meiner kann schon dies, meine beginnt schon zu lesen. In der Kinderarztpraxis sind Vorsorgeuntersuchungen gleichzeitig Gesprächsforen für Eltern und Arzt, um früh familiäre Konflikte erkennen und Interventionen starten zu können. Dazu brauchen Mediziner spezielle fachliche Kompetenz und Weiterbildung, Vernetzungs-Informationen und finanzielle Rückenstärkung dieser Maßnahmen durch entsprechende Verrechnung seitens der Kassen. Im Verbund mit anderen Berufsgruppen und Institutionen erhalten hier junge Familien spezielle Informationen. Weiter geht’s: In den ersten Lebensmonaten und später Selbstverständlich ist dafür zu sorgen, dass den Kindern ausreichende und von den Eltern einfach erreichbare Krippenplätze zur Verfügung stehen. Anzustreben ist die Betreuung durch qualifiziertes und dann auch besser bezahltes Personal beiderlei Geschlechts, um der ”Monokultur weiblicher Bezugspersonen” möglichst früh entgegen zu wirken. Schon vor der Geburt ist eine Kontaktaufnahme zwischen Eltern und Krippe denkbar, eventuell auch, um schon existierenden Elterngruppen bei ihren Bemühungen nach Initiativenbildung o. ä. zu unterstützten und Isolationen gar nicht erst entstehen zu lassen. Von hoher Bedeutung ist der sofortige ( nicht erst nach Wochen oder auf Anfrage erfolgende) Kontakt von kommunalen Säuglingskrankenschwestern über Hausbesuche. Diese Unterstützung für die ersten Wochen wird flächendeckend und obligatorisch (wie in England) angeboten, um Betreuungslücken wie auch Stigmatisierung durch ”Brennpunkt”bezogenheit zu vermeiden. Mütterberatung findet für die Eltern in einer akzeptablen Form statt, nicht im Hinterhof oder im Büromuff früher Jahre, sondern im Stadtteil, eventuell in Verbindung mit Krippen oder Horten. So könnte in einer Art "Baby-Streetwork" über verschiedene Anlaufstellen, wie zum Beispiel einen ”Treffpunkt Elterncafe”, ein lebensnaher und persönlicher Beratungskontakt entstehen. Informationen mit Entlastungs- und Unterstützungsprogrammen für Eltern (zum Beispiel über eine zentral organisierte, qualitätsgesicherte und dezentral angebotene Tagespflege- oder Babysitter-Börse mit zusätzlichen Therapieangeboten) werden dort platziert wo sich die "Zielpersonen" befinden. Denkbar wäre eine zentrale Kinderlitfaßsäule in Büchereien, um die frustrierende Unübersichtlichkeit der Angebote zu ordnen und finanzielle wie personelle Ressourcen auf beiden Seiten optimal zu nutzen. Als wichtige Träger multipler Informationen haben sich ”Elternbriefe” erwiesen, besonders wenn sie - zur besseren mentalen Einstellung der Eltern - schon einige Monate vor dem entsprechenden Altersabschnitt des Kindes zur Verfügung stehen. In einer zunehmend ethnisch gemischten Gesellschaft sind diese Elternbriefe in den wichtigsten ”Fremdsprachen” aufzulegen. Ein Sammelordner mit wohnortnahen Elterninformationen, der die Vernetzung sozialer Dienste abbildet und schon vor der Geburt unaufgefordert als Dienstleistung der Kommune abgegeben wird - eventuell bei einem "Antrittsbesuch" der Säuglingskrankenschwester – kann Eltern ein ständig wachsender Informationspool und Entlastungsquelle sein. Auf Dorf- oder Stadtteilfesten werden diese Angebote über Informationsstände im persönlichem Gespräch präsentiert. MitarbeiterInnen der unterschiedlichsten Institutionen können bei dieser Gelegenheit sowohl sich als auch ihre Einrichtungen vorstellen. Erziehungsberatungsstellen verknüpfen ihre Angebote mit denen anderer Einrichtungen und gehen damit offensiv in den öffentlichen Raum (Vorträge, Sprechstunden, zum Beispiel in Mütterberatungsstellen). Darüber hinaus können Beratungsstellen speziell für junge Familien Angebote entwickeln, um eine positive Eltern-Kind-Beziehung zu stärken bzw. entstehen zu lassen (zum Beispiel unter dem Motto "Babys Sprache sprechen - sein Kind verstehen lernen”). Dabei beginnt diese konstruktive Unterstützung von Eltern schon früh (zum Beispiel im Zusammenhang mit Angeboten zur Geburtsvorbereitung ), um sich dann dezentral am Wohnort, im Stadtteil fortzusetzen. Die Jahre vor der Schule In diese Zeit gehören ausreichende und akzeptable Kindergartenplätze, die von Ausstattung und Angebot her Defiziten der Alltagsumgebung entgegenwirken bzw. sie auszugleichen versuchen. Zum Beispiel sind ”Waldkindergärten” ein hervorragendes Angebot, um dem kindlichen Bewegungsstreben zu entsprechen, Aggressionen abzubauen, die Kinder in ihre wachsende Körperlichkeit einzuüben und soziale Kompetenz zu stärken. Auch hier dürfen männliche Bezugspersonen nicht fehlen. Generell sind auch die kurzfristigen Möglichkeiten zum "Babyparken" (zum Beispiel um Einkäufe o. ä. zu erledigen) auszubauen, weil sie sich als ausgesprochen entlastend erwiesen haben. Mütter-(besser: Eltern)-Zentren, Kleiderläden und Initiativen oder Angeboten in freier Trägerschaft kommt besondere Bedeutung zu. Ihr komplexes Angebot gilt es transparent zu halten über regionale Informationsbörsen und BürgerInnen-Treffs. Hier wirkt ermutigende und unterstützenswerte Selbsthilfe von Eltern - anderen und ihnen selbst zum Nutzen. Für Eltern wie Kinder sollten Möglichkeiten geschaffen werden, angebotene Dienstleistungen auch in Gutschein-Werte zu tauschen, so könnten die erbrachten Leistungen den Selbstwert steigern, erlebte Abhängigkeiten von Sozialleistungen mildern und Anspruchshaltungen verringern. Die Kombination verschiedener Angebote zum Beispiel in einem Kinderhaus (Krippe, Kindergarten, Elterntreff) kann die Lücke vor dem Jugendtreff schließen helfen. Spielplatzpatenschaften durch Stadtteilvereine oder Bürgergruppen - unterstützt durch spezielle "Know-How"-Träger (zum Beispiel "Spiellandschaft Stadt"/ Urbanes Wohnen e.V. in München ) - verstärken das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Bezug der Erwachsenen zum Umfeld. Im Erwerbsleben sind die Möglichkeiten zu Teilzeitarbeit bzw. zu mehrfach wechselndem Erziehungszeit (auch in kleinen Zeitabschnitten) zu fördern, um die von Kindern positiv erlebte Anwesenheit möglichst beider Elternteile im Familienalltag zu erreichen. Dieser Ansatz ist durch eine Imagekampagne zu unterstützen, die gesellschaftliche Normen dahingehend modifiziert, dass männliche Häuslichkeit und der hohe Kompetenzgehalt von Erziehungsarbeit betont werden. Nach dem Motto: "... ein Manager, der nicht mindestens drei Monate zuhause sein Kind betreut und sich dabei bewährt hat, kann unmöglich im Betrieb Führungspositionen übernehmen ..." Betriebskinderkrippen oder -kindergärten als Teil eines praktizierten Sozialpaktes zwischen den Tarifparteien ergänzen die bestehenden kommunalen Einrichtungen. Arbeitsplatzgarantie und Lohndifferenzausgleich zwischen den Eltern gehören als flankierende Maßnahmen zum realistischen Gelingen dieses Modells. Nur so können Eltern motiviert werden, sich die ”doppelte Elternschaft” zu leisten. Selbstverständlich bedarf die finanzielle Mehrbelastung gesellschaftlicher Unterstützung – die hier einfließenden Mittel werden sich mehrfach amortisieren. Der Ernst des Lebens beginnt mit der Schule Jetzt werden planbare Unterrichtszeiten (Stichwort: 13-Uhr-Schule) wichtig, die Eltern die Möglichkeit zu Erziehung mit Beruf geben. Hierzu gehören Mittagstischangebote und eine Hausaufgabenbetreuung, die in den Alltag einer zum Stadtteil hin offenen Schule integriert sind. In Europa existieren funktionierende Ganztagsschulen (zum Beispiel in Frankreich), deren teilweise Adaptation lohnenswert wäre. Warum nicht immer erst mal schauen: Wie machen es die anderen in Europa? Spätestens seit PISA sind wir sowieso einem ständigen Vergleich ausgesetzt. Hinter allem aber stehen: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Losgelöst von der Altersentwicklung eines Kindes sollten Stadt- und Sozialplanung sich an den Interessen von Kindern und Familien ausrichten. Dabei gilt die Maxime: ”Was Kindern und Familien gut tut, kann Alten oder anderen gesellschaftlichen Gruppen nicht schaden.” Statt Interessenkollisionen zu befürchten, sollten Interessenkombinationen die Sicht von Planung und Politik bestimmen. Maßnahmen und Regelungen, Anordnungen und kommunale Gesetze sollten zur besseren Realitätsüberprüfung und Veränderbarkeit mit einem "Verfallsdatum" versehen werden. Wichtige Planungselemente sind die familiengerechte Wohnumfeldgestaltung und verbesserte Angebotsstrukturen des täglichen Bedarfs. Gedacht ist dabei nicht nur an gute Einkaufsmöglichkeiten sondern auch an Orte der Kommunikation und des Rückzuges. So entstehen Straßen und Plätze als leicht erreichbare Nischen und Winkel, als Lebens- und Erlebnisräume kindlicher Entwicklung. Wohnungen mit kinder- und familienfreundlichen Grundrissen sind noch mehr als bisher zu fördern und zu entwickeln. Hierher gehören als architektonische Stichworte das große, helle Kinderzimmer, die Wohn-Küche, der Spiel-Flur in der Wohnung und das Treppenhaus als von allen Bewohnern akzeptiertes Vorfeld für Kinder. Hier wie auch bei der Wohnumfeldgestaltung ist eine frühe Bürgerbeteiligung wichtig, die bei Altbaugebieten fast leichter zu realisieren ist als bei Neubaugebieten aus einem Stück. Auf diese Weise werden ”Identifikationsanker” geworfen, die Initiative und Verantwortlichkeit für den eigenen Wohnort fördern. Wünschenswert ist auch die stadtteilbezogene und regional gegliederte Möglichkeit, Neigungen und Talente der Kinder zu fördern (zum Beispiel in einem Stadtteil-Bürgerhaus). So entfiele für viele Eltern und Kinder der tagtägliche ”Beförderungsstress” zum Verein, zum Chor usw. Es geht auch um die Wiedergewinnung öffentlicher Räume als Spiel- und Nutzflächen für Kinder und ihre Eltern. Stadtteilpläne für Kinder sollten daher nicht nur Radwege-Netze, sondern auch Kinderwege-Netze beinhalten, um den unausweichlichen Erkundungsdrang der Kinder angesichts der Verkehrsgefahren zu entschärfen. "Sozialbrachen" - also bewusst schon während der Planung aus der Planung herausgehaltene Flächen, die sich im Laufe der Jahre während der Stadtentwicklung auch verändern können, sind ein weiteres offenes und kreativitätsförderndes Angebot. Innenhöfe, Vorgärten und öffentliche Grünflächen müssen zu Teilen eines vernetzten Spielbereichs für Kinder werden. Eltern wie Kinder brauchen eine in dieser Hinsicht sichere Umgebung. Es muss möglich werden, dass Eltern zu ihren Kindern sagen können: ”Lass mich jetzt mal in Ruhe – geh` nach draußen und spiel`” und dass Kinder abends heimkommen und sich als Ausdruck einer entspannten Spielsituation ein Dialog frei nach Mark Twain zwischen Eltern und Kind entwickelt: ”Wo warst du?” ”Draußen”. ”Was hast du gemacht?” ”Nichts”. Schutz vor Abgasen und Autoverkehr durch Verkehrsberuhigung als Standard von Wohnquartieren gehört dazu und lässt sich - wenn wirklich gewollt, wie Beispiele zeigen – auch sehr kostengünstig, effektiv und ansehnlich gestalten. Dabei ist es unbedingt notwendig, mit Automobilclubs zu kooperieren, die Einfluss und Akzeptanz zur Durchsetzung besitzen. Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zählen auch die kommerziellen Lebensbereiche (Läden und Supermärkte, Wohnungsgesellschaften und Vermieter usf.). Nischen privatisierter Eigeninteressen, die sich gegen Kinder richten, sind mit dem Ansatz sozialer Elternschaft nicht vereinbar. Wettbewerb und Konkurrenz als viel beschworene Regularien des Marktes können in diesem Bereich zu erhöhter Mitarbeit für ”Kinderverträglichkeit” motivieren. Mit Testsiegeln und Güteprädikaten werden die kinder- und familienfreundlichste Läden und Einkaufsketten ausgezeichnet. Ein Auswahlkriterium kann zum Beispiel sein, ob man zur Beseitigung der so genannten ”Quengelware” an den Kassen bereit ist oder zu einer räumlichen Trennung der Angebote in ”Lebens”mittel und ”Süßware”. Wenn Kinder und Jugendliche früh Aufgaben und Verantwortung in einem angemessenen Bezugsrahmen übernehmen (von der Familie bis hin zum Stadtteil) und an einem fair praktizierten Interessenausgleich (runde Tische) teilnehmen können, üben sie sich (und die Erwachsenen) in demokratischen Grundtugenden wie Kompromissfähigkeit und Toleranz. Hier liegt ein weites Betätigungsfeld für Kinderund Jugendforen, die in ihren Auswirkungen wieder in die Familien hinein reichen und sie beeinflussen. In Politik und Verwaltung sollte die Einrichtung von Kinderbeauftragten und Kinderbüros als Maßnahme der Familien- und Sozialpolitik begriffen werden. Kinderbeauftragte können darüber hinaus auch als ”Kulturbeauftragte” verstanden werden, wenn wir als einen Ausdruck von Kultur in einer Gesellschaft die gute Form des Miteinanderlebens aller Gruppen definieren. Fazit Im Lebenslauf-Modell bilden sich konkret die Umstände und Einflüsse, Hilfestellungen und Angebote ab, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verringerung von Stress Überforderung und Hilflosigkeit von Eltern führen. Jeder dieser "Meilensteine am Lebensweg" ist ein Punkt auf der nach oben offenen "Unterstützungs-Skala für Eltern". Immer dann, wenn diese Meilensteine als flankierende Maßnahmen oder "Leitplanken" fehlen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern auf dem schwierigen Weg der Erziehung ihrer Kinder ins "Schleudern" geraten. Es ist deshalb unerlässlich, Schwierigkeiten von Familien mit einem Netz früher Hilfen und Entlastungsangeboten zu begegnen. Denn wer Kindern und ihren Eltern hilfreich zur Seite stehen will, darf nicht warten, bis das Problem entstanden ist, sondern muss ganz früh anfangen. darf nicht um seine Besitzstände fürchten, sondern muss sich freudig in die Kooperation begeben können. und darf nicht darauf vertrauen, dass ihm die politischen Instanzen schon ausreichend Mittel und Gelegenheiten zur Verfügung stellen werden, sondern muss sich mit dieser Forderung auch konkret-persönlich engagieren, die Auseinandersetzung nicht scheuen und hartnäckig unbequeme Fragen stellen. Sie werden aus Ihren beruflichen und privaten Feldern den vorgestellten Projektideen weitere hinzufügen können - allen möglichen Projekten aber wäre eines gemeinsam: Das Zutrauen in Eltern, dass ihnen aus eigener Kraft schon vieles gelingen wird im Umgang mit ihren Kindern, wenn wir ihnen nur Gelegenheit geben sich gut zu informieren, sich vorzubereiten - in Elternkursen oder anderen persönlichen Gesprächen - wenn sie die Chance haben, sich ehrlich und ohne Fassadenmalerei auszutauschen über Erfolge und Misserfolge im Erziehungsgeschäft, wenn sie dabei nicht Bilanzen fälschen müssen, um irgendwelchen Idealen zu entsprechen, die unrealistisch sind. Wenn derart unterstützt von außen die ersten 6 Jahre im Zusammenleben von Eltern und Kindern gelingen, dann haben wir schon viel erreicht. Stress und Ärger bei Eltern, Gewalt und Vernachlässigung gegenüber den Kindern ist damit weitgehend der Nährboden entzogen. Gut Eingespieltes bricht nicht mehr so schnell. Bleibt nur noch zu hoffen, dass dann die Schule als zweite große formende Instanz diese ersten 6 Jahre positiv weiterführen kann. Als Fingerübung möchte ich Ihnen noch eine Idee mitgeben: Starten Sie doch das Projekt „EINMAL AM TAG…“ Einmal am Tag – nehmen wir uns ab heute vor – einmal am Tag schenken wir einem Kind, das uns irgendwo begegnet, unsere Aufmerksamkeit, ein Lächeln, ein freundliches Wort. Einmal am Tag gehen wir einer gestressten Mutter, einem genervten Vater zur Hand, packen kurz mit an, heben den Kinderwagen mit hoch, halten die Tür vom Supermarkt auf, winken sie als Autofahrer über die Straße. Einmal am Tag sagen wir diesen Eltern in etwa:“ Ich kenne das, man könnte aus der Haut fahren und dann liebt man sie doch…“ Einmal am Tag eine kleine, verständnisvolle Investition in die Zukunft unserer Kinder. Zum Autor: Dr. Klaus Neumann, Dipl.-Psych., Klinischer Psychologe und Supervisor, Gesprächspsychotherapeut GwG, Paar- und Familientherapeut. Seit 1986 am Kinderschutz-Zentrum (Bundesarbeitsgemeinschaft der München Kinderschutz-Zentren) tätig; von im 1998 Vorstand - 2000. Seit der 2000 BAG im Landesvorstand DKSB Bayern. Seit 2004 Präsidiumsbeauftragter des BDP für „Kindeswohl und Kinderrechte“ und Mitglied der Koordinierungsgruppe der National Coalition zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland Verheiratet, eine 14-jährige Tochter. Anschrift: Dr. Klaus Neumann, Deisenhofener Str.44, 81539 München, Tel: 089-696306, email: [email protected]