Irgendwo in Nirgendwo Irgendwo in Nirgendwo Asphaltwort Ich hoffe es beflügelt Ihren Geist und läßt Sie in die Bläue gehen ich bin tief wie ein Rabe gereist und habe das Neue wieder sterben sehen Oliver Droste 1 Irgendwo in Nirgendwo und schrieb es nieder bevor es verschwand wie ein Geist von Sternenhand gestrichen ist es mir entwichen vor meinem Auge verblichen nun halten sie es in Ihrer Hand und ich verliere den Verstand denn das Grauen hat sich ausgeflügelt Oliver Droste 2 Irgendwo in Nirgendwo Inhalt Asphaltwort...............................................................1 Inhalt .........................................................................3 Vorwort .....................................................................5 Intro...........................................................................6 Von Augenduft und Marcels Verwandlung ..............7 Vom Erwachen, einer Zahnbürste und Sonnenschein ................................................................................11 Vom cholerischen Polizisten und dem Motorrad, oder wie eine Situation eskalieren kann .................19 Vom Schläfer im Baum ..........................................32 Vom „desolaten“ Wesen unserer Jugend ................36 Von einer grünen Ampel und roten Ballettänzern ..43 Von telepatischer Kommunikation oder wie die Nornen spinnen .......................................................49 Eskalation im Café ..................................................57 Der Faden schließt sich ...........................................72 Von Flucht, Tabletten und einem Bodybuilder ......81 In der Wohnung von Emira und Bea ......................89 Von Rechnungen, der Kunst zu Streiten und einer Wendung des Schicksals.......................................107 Vom Wolfsgesicht und Seelenuntiefen ................117 Die Irrenanstalt und zwei Hände ..........................131 Von Mondstaub und schwebendem Tanz .............138 Eine Fahrt zur Burgruine ......................................156 Die Burgruine und der Waldalp ............................161 Wie Emira Engelsflügel erhält ..............................176 Wie Marcel eine Scheibe einschlägt und nach Berlin kommt ...................................................................189 Vom Drachen und verfliegendem Lichtlachen .....196 Die Flucht nach Nirgendwo, oder wie das Netz Oliver Droste 3 Irgendwo in Nirgendwo gesponnen ist ........................................................207 Der Nebelgesang ...................................................225 Oliver Droste 4 Irgendwo in Nirgendwo Vorwort Dieses ist die Geschichte von Marcel und Emira, die aus anderen Welten kamen, von einer Burg, von Kriegspsychosen, Gewalt und was sie Menschen angetan haben, von atmender Leichtigkeit des Seins und der sich spiegelnden Ausweglosigkeit einer „generation X“, von Trinkgelagen und Dichterlesungen, von Eskalation der Mißverständnisse, den Drang danach, Spaß zu haben, von Poesie, Seelenverwandtschaft und verlorener Hoffnung, irgendwo in nirgendwo. Diese Geschichte soll lyrisch und expressiv in poetischen Bildern durch eine brutale und makabere Wirklichkeit, zu mehr Verständnis für Menschen, die anders sind, führen. Oliver Droste 5 Irgendwo in Nirgendwo Intro Irgendwo in Nirgendwo in irgendeine Stadt, an namenloser Straßenecke gibt Marcel auf irgendetwas acht. Irgendwas aus Nirgendwas, hat ihn dort vergessen; er steht nun dort und erwartet etwas, Jahr für Jahr am selben Ort. Seine Jeans ist in Witterung zerrissen, flatternd weht der Stoff wie eine Elfenschar. Grün schimmert sein Ostgesicht; es ist schon Moos, ein Jahr verstrich. Und er wartet noch, als würde die Zeit nicht existieren. Im Haar nisten sich Vögel ein, die herbstzeitlos erfrieren. Und irgendwann in Nirgendwo, da zerbricht das Gesicht, so daß ein Lächeln ihm entweicht. Wie Efeu ranken seine Arme empor; im Sommer rauschen sie im Wind an namenloser Straßenecke, umwuchern eine Menschenhülle und geben auf irgendetwas acht. Und hundert Jahre weiter sieht man das Gesicht der Stadt. Sie wird grüner sein als irgendwas, irgendwo in nirgendeiner Stadt. Oliver Droste 6 Irgendwo in Nirgendwo I Von Augenduft und Marcels Verwandlung Hallo! Ich entführe Dich in meine Welt. Sieh aus dem Fenster, dort stehe ich irgendwo. Laß mich Dich auf diese Reise mitnehmen, Du brauchst nur etwas Phantasie einpacken und mir folgen. Wir fliegen zusammen über den Dächern der Häuser wellenförmig und schwerelos, dann steigen wir hinauf in die Wolkenschlösser, erhöhen die Geschwindigkeit und sausen in die Schwere des Seins hinab. Laß uns unseren Sturz verlangsamen, dort unten ist meine Stadt. Wir gleiten hinunter, die Fußgängerzone zu besuchen, denn dort sitzt Marcel und spielt auf der Gitarre. Hörst du das Lied: "All the lovely people where do they all come from ... " (Elenor rigby: Beatles). Seine Augen träumen zum Himmel, als würde er uns kommen sehen; er hört nichts weiter, als nur sein Lied. Ein Geruch zieht ihn zurück, etwas Fremdes, vielleicht orientalisches. Nein, kein Knoblauch, auch nichts süßliches, kein Blumenduft sondern etwas wie Flügelschlag und Sonnenkitzeln nach warmem Sommerregen - ein Parfüm. Er sieht sich um und hört auf zu singen. Viele Augen warten auf das nächste Lied. Fordernde Augen einer geklonten unterhaltungssüchtigen Masse. Kinder werden unruhig und ziehen an den großen, bestimmenden Händen ihrer Eltern. Oliver Droste 7 Irgendwo in Nirgendwo Ein kurzer Blick, ein vorbeistreichender Lidschlag eines Augenpaares erschlägt ihn wie der Blick einer Sphinx. Lähmung beschleicht seinen Körper, als die Augen sich von ihm abwenden und in der breiten Masse untertauchen. Marcel sitzt da und sieht mit diesem empfangenen Augenpaar in das ozeanische Blau seiner Phantasie. Um seine Beine rankt sich Efeu und schlängelt sich langsam um seinen Körper. Wolken fliegen gejagdt von Monden über den Himmel, werden von fliegenden Sonnen ausgedunstet, ein paar Rabenkrähen fliegen auf, der Mond verdrängt den Tag und es fängt an zu regnen. Marcel steht auf und geht. Durch die starke Beengtheit der Straßen einer bürgerlichen Stadt, zwängt er sich, geleitet vom Nebelstern einer Vision. „Vielleicht sollte ich einen Freund aufsuchen, der gute Musik zuhause hat, um ihr zu lauschen und das Traumbild zu jagen“, denkt er. Nie brannten sich Augen so in seiner Erinnerung fest. Was war an ihnen so besonders? War es mit dem vorangegangenen Duft zu verbinden? Nein, sie hoben sich einfach vom Massenauge ab, sie forderten nicht, sie bewegten eher zum freiwilligen Geben. War eine solche Leere in ihnen, die man einfach ausfüllen möchte? Es war keine stumpfe Weite der Übersättigung, sondern eine tiefe, mystische Unendlichkeit, in die er so gerne getaucht wäre, ihre Geheimnisse zu lüften, wie die Entdeckung eines neuen Kontinents mit fremden Oliver Droste 8 Irgendwo in Nirgendwo Völkern; nicht um ihnen den Wohlstand unserer Zivilisation zu bringen, sondern um zu entfliehen und von der neuen Welt zu lernen, was ursprünglich ist und eindrucksvoller wäre. Welches Wesen verbergen sie, welches Schicksal, welchen Geist? Um ihn herum entsteht ein Treiben der Kneipengänger, wie das Treiben vor einem Bienenstock, wenn die Arbeiterinnen mit ihrem Tanz die Richtung zum nächsten ergiebigen Blumenblütenmeer weisen. Glasige Augen, lautes alkoholisiertes Rufen und folgendes Gelächter bringen Marcel zurück in seine Realität. Türkische Proletenaugen unter verkehrtherum getragenen Kappies gieren zwei vorbeistolzierenden Frauen hinterher auf das hormonkatalysierende Sitzfleisch mit der Würde von Jungsteinzeitlern, die ihre Braut mit einem Keulenschlag freien wollen. Ihm fährt ein Wort ins Hirn. Ein schreckliches Sirenengeheul ertönt, durchdringt alles, was Ohren hat, läßt den Boden beben, ein schwarzuniformierter Polizist springt irre schreiend umher, „Gedankenpolizei, Gedankenpolizei, ‚Karmapolice‘, was sie da denken ist faschistoiden Ursprungs, sie sind jetzt vorbelastet“, schreit heiser, „Gedankenpolizei, Gedankenpolizei, ‚Karmapolice‘, Faschistoid, Tod den Worten, Gedankenpolizei, aaarrr“. Die Straße hinunter kommen konfirmationsanzugtragende, herabblickende Augen Oliver Droste 9 Irgendwo in Nirgendwo fünf Burschenschaftler, die bestrebt sind jedem Blick standzuhalten. Die Häupter uniformiert bedeckt mit akkurat gerade, forsch schief oder fast im Nacken getragenen Mützen, die ihre Farben zur Schau tragen. Würde nur jeder so einfach seiner Gesinnung Farbe bekennen, wie gläsern wäre der Mensch, denkt Marcel im Vorbeigehen, oder wie langweilig wäre das Leben. Das wäre nichts für ihn. Interessant ist doch der Mensch, der ein Geheimnis zu haben scheint, der aus der Konformität herausfällt, der komplizierter gestrickt ist, als diese, denen die Gesinnung ins Gesicht geschrieben steht. Jedenfalls gibt das Geheimnisvolle Gesprächsstoff für den nachbarlichen Klatsch. Das ist auch nicht immer schön, billanziert er. So in Gedanken gehüllt, kommt Marcel endlich in einer schlecht beleuchteten Nebenstraße morschen Beins an seine Haustür. Die Häuserblöcke treten dicht an den Bürgersteig mit gebeugtem Haupt der Nacht beschirmt, an Straßenbäume gelehnt. Der Schweiß regnet ihnen von den Dächern und Rinnen, unfreundlich, heimisch. Oliver Droste 10 Irgendwo in Nirgendwo II Vom Erwachen, Sonnenschein einer Zahnbürste und Marcel öffnet die abgeblätterte Tür und geht durch den schluckenden Hausflur, tastet nach dem Lichtschalter und knipst die Beleuchtung im Treppenhaus an. Er geht die gewellten, vom vielen Getreten-werden ächzend, verhöhnend, nach weichem Schuhwerk oder blanken Kinderfüßen lechzenden Stufen dieses Altbaus aus der Jugendstilzeit, als Phantasie noch nicht zu teuer war, hinauf, bemüht, leise zu sein. An der Haustür kramt er in seinen Hosentaschen nach dem Schlüssel. ‚Verdammt, wo habe ich‘n denn nur hingesteckt?‘ Nun macht er sich an den Jackentaschen zu schaffen. Er stellt den Gitarrenkoffer ab und geht nochmal alle Taschen durch. Sichtlich ratlos steht er vor der Tür und hebt den Finger zur Klingel. ‚Roland wird mich umbringen, wenn ich ihn wieder wecke.‘ Ein Geistesblitz erleuchtet ihn, das Licht geht jedoch aus und Marcel steht im Dunkeln. Diese so kurz gestellte Zeitschaltuhr in der Hausflurbeleuchtung begeistert ihn so viel wie Fußpilz. Ärgerlich tastet er nun wieder nach dem Lichtschalter, bis das Licht wieder das tut, zu dem es da ist und brennt. Marcel dreht sich um und hört im Treppenhaus Schritte. Zwei Frauen und ein Mann kommen die Treppe laut lachend hinauf. Als sie Marcel dort stehen sehen, fragt die blonde Frau Marcel, „hast’e wieder mal Oliver Droste 11 Irgendwo in Nirgendwo deinen Haustürschlüssel vergessen?“ „Ne, der muß wohl in meinem Koffer sein, glaub‘ ich.“ Die drei gehen weiter und wünschem ihm noch viel Glück und daß er nicht wieder im Flur nächtigen müsse, sondern hochkommen könne. Marcel bedankt sich etwas schmunzelnd ärgernd, beugt sich zum Koffer und öffnet ihn. Unter seiner lackzerkratzten Gitarre findet er neben den Noten den Schlüsselbund und öffnet die Haustür. Marcel geht in die Küche, um sich Kaffee zu machen und stellt das Radio leise an. Er kramt in einem alten massiven Küchenschrank, dem eine logische, den häuslichen Zwecken angepasste Ordnung fehlt, greift eine Tüte Kaffe, geht zur Kaffeemaschine, die auf der selbstgebauten Arbeitsplatte hinter einem Berg von Geschirr steht. Aus dem Wandregal nimmt er einen Filter und steckt diesen in den dazu benötigten Trichter, dem ein modriger Moccaduft entweicht. Er bemerkt etwas gelangweilt, daß die Kaffeekanne fehlt. In der Spüle wird er fündig und wäscht diese mit schwarzen Kafferändern, die den unterschiedlichen Flüssigkeitsstand bekunden, kurz aus, füllt sie mit Wasser und dieses wiederum in die Maschine. Er nimmt nun die Packung Kaffee, öffnet sie schüttet den rasselnden Inhalt in den Filter. „Verdammt, Roland und sein Nostalgiesplin!“ Ärgerlich geht er zum Schrank und sucht nach der Kaffeemühle aus Omas Zeiten, nimmt den Kaffeefilter heraus und schüttet die ungemahlenen Kaffeebohnen in die Mühle. Fünf Minuten ist er mit stumpfen Oliver Droste 12 Irgendwo in Nirgendwo Gesichtsausdruck, an die Arbeitsplatte gelehnt, mit dem Mahlen beschäftigt. Die Rolling Stones singen ihr „Hey you, get off of my Cloud“. Einige Male klemmt diese Erungenschaft, so daß Marcel mit etwas Schwung und einem Rucken wieder in den verlorenen Rhythmus findet und anfängt, in der Küche mit der Kaffeemühle zu twisten und zu beaten. Draußen ist es bereits hell geworden und Sonnenstrahlen bepinseln die grauen Häuser mit warmer Farbe, um ihnen ein Gesicht zu geben. Marcel wäscht in der Spüle einer Kaffeetasse den Pegelstand heraus, nimmt den Kaffee und geht damit in sein Zimmer. Dort setzt er sich in ein altes Ostfriesensofa, legt die Füße auf einen Ratantisch, macht mit der Fernbediehnung seine Anlage an und trinkt genüsslich rauchend das schwarze Lebenselexier. Im Nebenzimmer hört Marcel den Wecker seines Mitbewohners Roland piepen. Sie wohnen ca. zwei Jahre zusammen in dieser kleinen Wohngemeinschaft, versuchen sich zusammen durchzuschlagen und sind immer auf der Suche nach Gelegenheitsjobs. Nach einigen Minuten hört man Poltern im Nebenzimmer und die Träume der Nacht mit dem werdenden Tag ringen, um dann auf die andere Seite des Morgens zu verschwinden. Türen knarren und fallen wieder zu, Roland geht ins Bad, die Zähne zu putzen. Auf dem Sofa streicht sich Marcel den ersten Sonnenstrahl ins Gesicht, um seine Lebensgeister zu Oliver Droste 13 Irgendwo in Nirgendwo mobilisieren. Leben ist Wärme, Energie und Bewegung, die ihn hochjagd und fröhlich ins Bad stürmen läßt, Roland rufend. Dieser reißt, erschrocken von Halbschlaf geplagt, den Kopf zur Seite, wobei die Zahnbürste am Hals abbricht. Roland nuschelt schäumend "Scheiße" und sieht im Spiegel Marcel reinstürmen, der ihm freudig auf den Rücken schlägt, wodurch sich Roland verschluckt und den Zahnpasterschaum an die Wand hustet. Er spuckt mit Tränen in den Augen, die der Reflex auslöste, ein „bist Du verückt?“ in das Waschbecken. Mit einem Würgen versucht er vergeblich, den Zahnbürstenkopf wieder herauszubekommen, spült den Mund aus und trinkt mit verzerrtem Gesicht Wasser hinterher. So früh am Morgen hat er noch nicht den nötigen Humor, der für solche überfallartigen Begrüßungen nötig wäre. Marcel klopft ihm nun freundschaftlich auf den Rücken, um ihn von seinem Hustenreiz zu befreien. „Ich habe mich verliebt; ich habe die schönste Frau gesehen.“ Roland hält die abgebrochene Zahnbürste in der Hand, um genervt zu fragen, „na und, wie heißt sie, wo kommt sie her, was macht sie, wie alt ist sie, hast du mit ihr geschlafen, wann heiratet ihr, soll ich euer Trauzeuge sein?“ und wischt sich das Gesicht trocken, überlegend, ob der Zahnbürstenkopf beim verlassen des Körpers wohl kratzen wird. „Oh, ich hab' sie nur gesehen, nicht gesprochen, wo sie wohnt weiß ich nicht. Aber ich muß sie wiedersehen.“ Roland schiebt Marcel zur Seite. „Na, Oliver Droste 14 Irgendwo in Nirgendwo dann hast Du ja super Chancen, gratuliere dir“ und geht sichtlich desinteressiert in die Küche. Marcels Träumereien kennt er zur Genüge, um nicht allzuviel darauf zu geben. Er könnte sie zu den anderen an die Wand hängen, so daß die kleine Wohnung bunter würde; er weiß aber genau, daß er diesen Traum erstmal mit Marcel Sterbehilfe leisten muß als Freundschaftsdienst. Das hat er schon oft getan, hat also etwas Übung darin. Nur früh morgens geht ihm das noch etwas zu weit. Bevor er seinen Kaffee nicht hat, ist er das was man einen Morgenmuffel nennt. Marcel holt die Kaffeekanne aus seinem Zimmer und folgt ihm in die Küche. „Du hättest sie sehen müssen, sie hatte Augen, ein Gesicht, oh wow. Ich muß sie wiederfinden.“ Roland spült sich einen Becher aus und schenkt sich mit schläferigen Blick Kaffee ein. Konversation zur scheidenden Nacht, wirft Schwärze auf Rolands Gemüt und läßt ihn dann schnell aggressiv werden. „Sag mal, du Träumer, was ist denn aus den letzten beiden geworden, die hast du doch bis heute nicht wiedergesehen.“ Er kramt aus dem Schrank ein Brettchen heraus und wäscht sich ein Messer ab. „Ja, das stimmt, aber diesmal, diesmal ist es Schicksal, das habe ich gefühlt.“ Marcels Gletscheraugen sehen zwischen seinen strohigen Haarsträhnen freudig und unternehmungslustig in die Sonnenstrahlen, die zwischen den Häuserblöcken kleine Wege, geometrisch umgehend, suchen. Oliver Droste 15 Irgendwo in Nirgendwo Roland kratzt sich am Kopf, so daß das ungekämmte Haar im Raum steht, als wäre es ebenfalls erwacht. „Ja, ja, das kenne ich schon, kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Dann erinnert er sich an den Grund für Marcels abendlichen Ausgang und fragt, „wieviel hast Du eigendlich in der Fußgängerzone eingenommen?“ Marcel lächelt etwas Sonnenregen, so daß die Küche heller aufleuchtet. „Oh, weiß nicht. Da saß so'n armer Penner, dem hab' ich es gegeben.“ Roland sieht ihn ärgerlich an. „Sag mal, schnappst Du jetzt ganz über. Unsere Haushaltskasse hat totale Ebbe. Wir können bald unsere Schuhe fressen - wie Charly Chaplin.“ „Etwas Spaghettifertigsoße habe ich noch“ entgegnet Marcel sichtlich erfreut über den langsam aufkommenden Sarkassmus, „ich nehme die Schnürsenkel“. „Und 'ne Mahnung von der Krankenkasse ist auch noch gekommen. - Für dich übrigens“, versucht er Marcels Humor auszukontern, um dann resignierend festzustellen, „meine kam letzte Woche. Übrigens haben sie den Beitrag wieder erhöht.“ „Verdammt, von nichts und niemand noch mehr zu nehmen, als gar nicht da ist, ist nicht nett.“ Sie setzen sich an den Küchentisch, der noch mit dem Geschirr des letzten Tages belegt ist. Beide schieben sich ihren Platz frei und sehen sich genervt an. Roland streckt die Arme fragend aus, „vielleicht sollten wir mal einen Plan für den Abwasch machen“. „Ich dachte, jeder räumt seinen Kram selber weg und wäscht ihn ab.“ Doch Oliver Droste 16 Irgendwo in Nirgendwo das Chaos schüttelt verneinend den Kopf und pilzt sich wieder stinkig nieder. Roland hat ihren Charakter schon lange durchschaut und weiß, daß das nicht funktioniert hat. Die nötige Disziplin haben sie beide nicht erlernt, da sie ja nicht gedieht haben, sondern bedient wurden und befinden sich noch in einer Phase, in der sie ihre Freiheit vollends auskosten wollen. Jedoch ist Roland bereits am Ende dieser Phase und liebäugelt mit der noch fehlenden Ordnung. „Daß das nicht funktioniert siehst du doch.“ In eine Schutzbehauptung fliehend entgegnet Marcel, „dein Scheiß steht hier aber auch rum und letztes Mal hab‘ ich den Abwasch gemacht. Außerdem war ich Geld verdienen“. „Was nützt dein Geldverdienen, wenn du es gleich wieder weggibst? Du solltest dir mal wieder einen vernünftigen Job suchen.“ „Jeder Job ist vernünftig, wenn man Geld verdient.“ „Ein Job ist nur vernünftig, wenn der Stundenlohn stimmt.“ „Ach, hör doch auf; hauptsache es macht spaß. Was hast de denn vor?“ Roland sieht ihn an und schüttelt den Kopf, um sein unverständnis loszuwerden. „Las uns einen Abwaschplan machen, eine Woche bin ich dran, eine Woche du.“ „Oder wer kocht braucht nicht abwaschen.“ „Na, das hättest du wohl gerne. Ich bin doch der Einzige, der was vernünftiges kocht. Du und deine Pizza. Wenn’s hochkommt sind mal Spaghetti drin.“ „Und dein Eintopf ist aufwendiger, was?“ „Der ist jedenfalls gesund und man kann’n Oliver Droste 17 Irgendwo in Nirgendwo paar Tage davon essen.“ „Und ich soll dann abwaschen. Das mach mal alleine.“ Beide sitzen schweigend und kaffeetrinkend voreinander. Es wird wieder auf Resignation vor dem Chaos hinauslaufen, nachdem sich der Putzfimmel in einer Sauberkeitsorgie gelegt hat. Der Sonnenschein mit seiner Reinheit hat das Bedürfnis noch verstärkt. Roland disponiert kurzerhand seinen Tagesplan um, da seine Prioritätenliste das häusliche Wohlbefinden nun an die erste Stelle gesetzt hat. Marcel macht notgedrungen, aber mit den Gedanken bei seinen Träumen, mit. Die Musik wird bis zur nachbarlichen Tolleranzgrenze aufgedreht, der Geschirrspültuchtwist und der Wischmopptanz aufgeführt, um der lästigen Arbeit die nötige Freude abzugewinnen. So vergeht der Tag, lehnt sich aus dem Fenster, fällt hinunter auf die Straße, so daß die Schatten von ihm immer länger werden und in die Dämmerung fließen. Oliver Droste 18 Irgendwo in Nirgendwo III Vom cholerischen Polizisten und dem Motorrad, oder wie eine Situation eskallieren kann Marcel, Roland, Nachbar, zwei Polizisten, Leitstelle Mit dem Abend kommen auch die Sehnsüchte der letzten Nacht zurück, die der Realität und der Ordnung weichen mußten. Marcel sitzt in seinem Zimmer auf dem Sofa und hört Musik. Seine Augen sehen durch die Decke in eine andere Welt, die seiner Phantasie entspricht. Es ist seine Traumrealität, in die seine Gedanken schweifen können. Aus ihrem Schweif fällt Sternenstaub in Marcels Augen und läßt sie leuchten. Er sieht die Augen aus der Fußgängerzone wieder vor sich, versucht den Rest der Gestalt zu erkennen, kann sie jedoch nicht verkörperlichen. Es entsteht eine Fehngestalt, die mehrere Metamorphosen durchläuft, bis einfach nur noch die Augen bleiben, die einzige Realität die geblieben ist, die ihn wieder zurück bringt, auf sein Sofa. Die Augen verschwinden und Marcel durchzuckt es, als habe ihn der Geist der Sehnsucht verlassen. Er springt auf, um nach diesem zu greifen und greift seine Motorradjacke, nimmt den Helm und geht in den Flur, um an Rolands Tür zu klopfen. „Ich muß in die Stadt, vielleicht sehe ich sie nochmal wieder.“ Roland öffnet, sieht Marcel verständnislos an. „Sag mal, was meinst du, wie groß die Chance ist, sie in Oliver Droste 19 Irgendwo in Nirgendwo dieser Stadt wiederzufinden?“ Marcel überlegt, sieht Roland an. Mit dieser Frage hat er sich gar nicht auseinandergesetzt; es war nicht einmal Gegenstand seiner spontanen Planung. „Keine Ahnung, vielleicht 1:1.000?“ Roland schüttelt den Kopf. „Na, vielleicht 1:10.000?“ „Wohl eher 1:130.000.“ „Ja siehst’e, ich wußte es, da ist noch eine Chance“, lächelt und geht zur Tür. Roland begreift den Unverstand seines Mitbewohners und Freundes nicht. Besonders regt ihn seine Sorglosigkeit auf, seine Blauäugigkeit, mit der er durch das Leben schlendert. Irgendwie haben sie sich immer durchschlagen können, aber zu mehr Verständnis hat es bei Roland nicht geführt, so daß er ihn auf den Boden der Realität zurückrufen möchte. „Eh, Mann, woher nimmst du denn das Geld zum tanken, wir sind pleite?“ „Letzte Nacht habe ich beim Nachbarn an seiner Harley Benzin abgesaugt, der fährt doch eh nur bei schönem Wetter.“ Marcel geht fröhlich zur Haustür hinaus, froh darüber, über seine Chancen aufgeklärt worden zu sein und die Probleme umgangen zu sein. Roland geht in die Küche, um sich eine Pizza zu machen. ‚Und gegessen hat der Idiot auch noch nicht.‘ An der Tür klingelt es und Roland geht hin, öffnet sie. Ohne überrascht zu sein, sieht er Marcel dort stehen. „Hast'e Deinen Schlüssel wieder vergessen,“ bemerkt er mehr feststellend, als fragend. „Ich hatte ihn doch in der Jacke gelassen.“ Marcel geht in sein Zimmer, Roland sieht ihm hinterher und bleibt an der Tür stehen, es poltert. „Verdammt, wo ist der Oliver Droste 20 Irgendwo in Nirgendwo blöde Schlüssel nur.“ „Wahrscheinlich wieder in deiner Hosentasche.“ Marcel kommt aus seinem Zimmer und geht wieder. „Da hätte ich auch von selbst drauf kommen können.“ Unten auf der Straße angekommen steht sein Nachbar am Motorrad und versucht es anzutreten. Er ist der typische Schönwetterfahrer, Mitte vierzig, Wohlstandsbauch, ein dichter Schnäuzer, Markenlederkluft mit Protektoren, Halstuch und einem teueren, sicheren Vollschalenhelm, erlebt er gerade seine zweite Jugend. Marcel grinst innerlich. „Na, will se nicht so richtig?“ „Ja ich weiß auch nicht, muß wohl wieder was an der Elektrik haben.“ „Aber dafür ist es 'ne Harley.“ Mit Stolz erfüllt, jedoch vom Defekt seines Motorrads etwas gedämpft antwortet er, „das ist richtig. Willst Du noch eine kleine Spritztour machen?“ „Jou, 'ne Runde durch die Stadt. Na denn noch viel Erfolg.“ „Ja, danke. Vielleicht sehe ich mir den Vergaser mal an.“ „Mach das, bis die Tage.“ Marcel steigt auf sein Motorrad, tritt es an und fährt ab. Der Nachbar sieht ihm nach und überlegt, daß Marcels Motorrad wohl nicht der Straßenverkehrsordnung entspricht. Der Auspuff ist aufgrund fehlender Schalldämpfer zu laut. Seine Harley darf das, da der Rahmen aus den fünfziger Jahren stammt. Das ist die schöne Lücke in der Gesetzgebung, die die Lärmbelästigung seines Motorrads in den Bereich der Legalität führt. Dann fährt dieser Marcel auch noch so rasant, daß es ein Oliver Droste 21 Irgendwo in Nirgendwo schlechtes Bild auf alle ordentlich fahrenden Biker wirft. Der Ärger über den Defekt seines Zweirades fällt in einen Ärger über diese Verkehrsrowdies, wie Marcel einer ist, ohne zu wissen, daß er da gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. Marcel fährt durch die leuchtende Stadt, seiner Freiheit fröhnend. Die Geschwindigkeitsbegrenzung ist dabei die Spaßbremse, die diese eingrenzen will. Eingegrenzte Freiheit ist aber keine und so läßt Marcel ihr den freien Raum, den sie braucht, um sich voll zu entfalten. Nur wird diese Freiheit wiederum von der Gefahr durch Unfalltod auf der anderen Seite begrenzt. Eigendlich gibt es keine Freiheit, höchstens für einen Augenblick. Der Augenblick ist im Jetzt. Vergißt man die Vergangenheit und die Zukunft und lebt einfach in den Tag, kann man vielleicht etwas davon kosten. Das ist Marcels Lebensphillosophie. Lichter fliegen an ihm vorbei. An einer Ampel steht ein Wagen neben ihm. Marcel gibt ein paarmal Gas, daß es laut knallt und sieht grinsend zum Wagen hinüber. Ein schnauzbärtiger und ein junger Mann sehen ihn an. ‚Na, da sitzten ja zwei Spießer drin‘, denkt er, ‚die sollen mal jemanden sehen, der nicht in ihre spießige Welt paßt‘. Als es gelb wird läßt Marcel den Reifen durchdrehen und fährt los. Der Wagen hat etwas weniger Beschleunigung, doch holt bald auf. ‚OK, ihr wollt ein Rennen, könnt ihr haben.‘ Marcel beschleunigt und überholt ein Auto rechts, fährt dann zwischen zwei nebeneinander fahrenden Autos Oliver Droste 22 Irgendwo in Nirgendwo hindurch, die den Weg auf der zweispurigen Straße nicht freigeben wollen. Ein Mann regt sich in seinem Fahrzeug vor sich hinschimpfend auf, da er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung exakt gehalten hat und meint, er müsse alle anderen Verkehrsteilnehmer zu selbigem anhalten. So blendet er auf und hupt. Das verfolgende Auto holt jedoch wieder auf. Marcel muß abbremsen, da die nächste Ampel rot ist. Der Wagen kommt angerast, die Ampel schaltet um, doch da ist er schon an Marcel vorbei, da er wieder beschleunigt hat. Das Fenster wird heruntergekurbelt und eine rote Kelle erscheint. Marcel flucht, fährt rechts rann und stellt den Motor ab. Die beiden Polizisten steigen aus „Ihre Papiere bitte.“ Marcel gibt sie ihm und der ältere geht damit zum Wagen. Der zuvor hupende Autofahrer verlangsamt sein Tempo und fährt selbstzufrieden, wieder an den Rechtsstaat glaubend an Marcel vorbei und grinst ihn an. Dieser kratzt sich, ihn grüßend, mit dem Mittelfinger an der Stirn, was jenem seinen Triumpf in erneuten Ärger über diese Werteverachtende Jugend wandelt. Der jüngere Polizist klärt Marcel auf. „Sie sind etwas zu schnell gewesen, wissen sie das?“ Dieser versucht es mit der naiven, über sein Vergehen erstaunten Strategie, das Wohlwollen des Ordnungshüter zu erreichen. „Ach, wirklich? Ich habe gerade nicht auf die Geschwindigkeit geachtet.“ Das scheint den Polizisten wenig zu beeindrucken. „Machen sie mal das Licht an! Jetzt Oliver Droste 23 Irgendwo in Nirgendwo blinken, links, rechts. Gut. TÜV ist bald fällig. Machen sie doch mal das Motorrad an.“ Marcel wird es etwas unwohl und warm, was sich auch an seiner Gesichtsfarbe bemerkbar machen würde, wenn es nicht zu dunkel wäre. Er tritt den Kickstarter und der Motor gibt eine laute Fehlzündung, worauf der ältere Polizist, an einen Schuß erinnert und die letzte Reportage über einen, bei einer Verkehrskontrolle erschossenen Polizisten vor Augen, sich am Auto duckt und mit der Hand nach seiner Waffe greift. Der junge Beamte sieht zu seinem älteren Kollegen herüber. Marcel versucht es nocheinmal und das Motorrad läuft. „Ganz schön laut ihre Maschine.“ Marcel überlegt, wie er der um seinen Hals sich legenden Schlinge, die ihm langsam die Luft abschnürt, entrinnen kann. Er versucht, hoffend, der Polizeibeamte kenne sich nicht so gut mit den verschiedenen Motoradmarken aus, zu erläutern, „das ist eine Kawa Vulcan, 1500 Kubik, die sind so laut eingetragen, können sie in den Papieren nachsehen.“ Wenig beeindruckt versucht der Polizist von fehlender Fachkompetenz abzulenken und besinnt sich auf ein Prüfzeichen, „hat ihr Helm die nötige CE-Zulassung?“ „Das will ich meinen, hat 'ne Menge Geld gekostet.“ „Es muß am Helm stehen, zeigen sie doch mal her.“ Nun besieht sich dieser den Helm, findet jedoch nicht das Gewünschte. Der ältere Polizist kommt etwas entäuscht vom Wagen zurück. „Die Papiere sind in Ordnung.“ Oliver Droste 24 Irgendwo in Nirgendwo Der jüngere Beamte gibt Marcel seinen Helm zurück. „Na gut, nächstes Mal fahren sie etwas langsamer, hier ist sechzig.“ „Natürlich, ich hab nicht aufgepasst.“„Einen schönen Abend noch.“ „Werd' ich haben.“Beide Polizisten gehen zu ihrem Wagen und steigen ein. Marcel fällt ein Stein von seinem wieder begrenzten Herzen. Er setzt sich, mit noch etwas vor Nervousität zitternden Händen, den Helm auf, macht den Verschluß zu und zieht die Handschuhe wieder an. Grinsend steigt er auf seine immernoch laufende Maschine und gibt mehrmals Gas. Eine Fehlzündung erhebt Marcel wieder in Traumwelten. Er hält die Vorderradbremse fest, läßt die Kupplung kommen, so daß der Hinterreifen durchdreht und es qualmt; dann läßt er die Bremse los, so daß das Motorrad vorne hochsteigt und er losfährt. „Wuhhu!“ Die Polizisten sitzen mit großen Augen im Wagen und starren hinterher. Der ältere sagt: „Das hast du nun von deiner Gutmütigkeit. Ich hätte dem das Motorrad auseinandergenommen, bis ich was gefunden hätte.“ „Du hättest ihn doch fast erschossen, als die Fehlzündung kam.“ „Ach sei doch ruhig, Du kennst doch die Geschichte, wo ein Kollege bei der Verkehrskontrolle erschossen wurde“, sagt der Ältere sich rechtfertigend und etwas cholerisch, „ist doch gar nicht so lange her. Hast Du diesen Verkehrsrowdi wenigstens ermahnt?“ Der jüngere Kollege, der den Clint Eastwood-Stil des älteren nicht ausstehen kann, versucht ihn auf seine Oliver Droste 25 Irgendwo in Nirgendwo Polizistenvorstellung zu korrigieren. „Und was ist mit dem Spruch, Polizei, Dein Freund und Helfer?“ Der Alte, sichtlich nach Fassung ringend, erwidert: „Was soll denn der Spruch, beim nächsten Verbrecher, der eine Waffe zieht, steckst Du ihm noch ein Blümchen in den Lauf“ und macht eine Etepetetebewegung beim imaginären Blume-in-denLauf-stecken. „Nun übertreib es aber nicht.“ „Willst du hier noch lange rumstehen, fahr schon los, nächste Ampel links, da gibt es eine Abkürzung, den Kerl kriegen wir noch.“ So fahren sie los, das heißt, der junge Kollege fährt nach den angespannten, wenn nicht sogar überspannten, Anweisungen seines älteren, jedoch ranggleichen Kollegen. Als sie ein paar Straßen weiter an einer Kreuzung bei rot stehen, kommt Marcel auf einem Reifen über die Kreuzung gefahren. Dem älteren bleibt der Mund offen stehen. „Ich glaub es nicht.“ Sein Kollege reagiert mit etwas mehr, kaum zu unterdrückendem Erstaunen, fast schon Begeisterung, für das akrobatische Talent des Motorradfahrers. „Wow, der kann aber fahren.“ Der alte Polizist sieht seine so krass verachtete Autorität angefahren im Straßengraben liegen und schreit, „jetzt reicht es! Setz das Blaulicht auf's Dach!“ und sie nehmen die Verfolgung auf. „Hast du denn wenigstens die Nummer aufgeschrieben, Bruno?“ Dem jungen Polizisten wird etwas unwohl, da er eine Nachlässigkeit begangen hat und dies von der cholerischen Laune seines Kollegen sicherlich in höchster Erregung enden wird. „Mist, tut mir leid, Oliver Droste 26 Irgendwo in Nirgendwo hab' ich vergessen.“ „Arschloch!“ entfährt es diesem, auf die Verfolgung und Ratschläge zum besseren und schnelleren fahren gebend, was einen „guten Beifahrer“ ausmacht, konzentriert. Marcel hat das Blaulicht weit hinter sich gesehen und ahnt schon, daß ihm diese Aufmerksamkeit zuteil wird, biegt zweimal ab, beschleunigt und fährt eine Hauseinfahrt hinauf. Fast im Reflex schaltet er das Licht aus. Herzklopfend wartet er. ‚Verdammt die sind heute aber ganz schön scharf. Na gut, etwas übertrieben hab‘ ich es wohl auch.‘ Als der Polizeiwagen vorbeifährt grinst Marcel „hä, hä“, biegt zur anderen Seite ab und fährt nach hause, da ihm das Klima in der Stadt nicht mehr zusagt. Dort angekommen steht er vor der Tür und kramt in den Taschen. Eine Prozedur, die Marcels Wesen aufschlüsselt. „Ach nö, ich hab‘ doch nicht nur meinen Motorradschlüssel mitgenommen und den Haustürschlüssel wieder liegen gelassen.“ Er muß sich seinen desulaten Gedächtniszustand eingestehen und klingelt resigniert. „Hoffentlich ist Roland noch da“ und klingelt wieder. „Mist, Mist, so'n Dreck.“ Marcel geht einige Schritte zurück und sieht oben im zweiten Stock ein Fenster auf kipp stehen, direkt neben der Regenrinne. Die Kombination von Möglichkeiten des ohne Schlüssel in die Wohnung zu gelagen, läßt nur eine Varriante zu. Er legt den Helm und die Lederjacke vor die Tür und klettert langsam das Rohr hinauf. Auf halber Höhe kracht das Rohr kurz. Marcel hält den Atem an, nichts passiert. Er klettert vorsichtig weiter bis Oliver Droste 27 Irgendwo in Nirgendwo zum Fenster. Das Rohr knackt wieder. Marcel tastet sich vorsichtig mit einer Hand zum Fenster. In diesem Augenblick kommt der Polizeiwagen mit Blaulicht vorbeigefahren. Marcel dreht seinen Kopf erschrocken und schaut zum vorbeifahrenden Polizeiwagen. Der Polizist sieht in diesem Augenblick aus dem Fenster und Marcel an der Häuserfront haften. Beiden entfährt gleichzeitig der Ausdruck, der die Szenerie am besten beschreibt: „ Scheiße!“ Das Rohr bricht oben ab, Marcel faßt die Ecke des halb offenen Fensters, das dabei zuklappt. Er schreit kurz auf. Mit einer eingeklemmten Hand hängt er dort und tastet mit der anderen nervös nach einem Halt. Der älterer Polizist fragt seinen Kollegen, was denn sei. „Da hing gerade jemand an einem Abflußrohr am Haus.“ „Was? Heute ist ja was los“ und greift das Funkgerät. „Leitstelle von Florian 21/41, kommen.“ „Hier die Leitstelle, kommen.“ „Haben verdächtige Person bei Hauseinbruch gesehen, brechen Suche ab und sehen mal, was da los ist.“ „Leitstelle verstanden, kommt gleich mal mit Lage.“ „Machen wir, Ende.“ Sie wenden mit dem Streifenwagen und halten vor dem Haus. Marcel schwitzt und kann seine Hand nicht befreien. Die Polizisten steigen aus und laufen zum Eingang. Der ältere, der als erster im Dienstübereifer dort ankommt ruft „kommen sie sofort da runter, aber langsam!“ zu Marcel hinauf. „Ich schätzte, wenn ich runterkomme wird es mit Oliver Droste 28 Irgendwo in Nirgendwo dem langsam wohl nichts.“ „Reden sie nicht herum und kommen sie runter!“ „Das geht nicht, ich habe meine Hand eingeklemmt.“ Der junge Kollege fragt, „was machen sie eigendlich da oben?“ Marcel dreht sein Gesicht zur Wand, da er den Polizist erkannt hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Polizisten erkennen, so fügt sich Marcel widerwillig seinem nicht abzuwendendem Schicksal, in der Hoffnung, bald aus dieser miseren Lage befreit zu werden. „Ich wohne hier und habe meinen Schlüssel vergessen.“ Der Alte, von geringer Gedult beseelt, wird nun etwas bestimmender. „Nun kommen sie endlich runter!“ Marcel, nun ebenfalls von der Konversation etwas aufgebracht ruft, „es geht nicht, ich sitze fest, Mann, ruft die Feuerwehr, ich quetsche mir gleich die Finger ab.“ Der jüngere Polizist bemerkt die etwas eingefahrene Situation und fragt seine Kollegen, „so was, was machen wir nun?“ Den alten überkommt der Sarkasmus und antwortet auf diese für ihn überflüssige Frage: „Na, vielleicht den Schlachter rufen? Sag in der Leitstelle bescheid, die sollen die Feuerwehr schicken!“ „Ist ja schon gut“ und kann sich im weggehen den „Choleriker!“ nicht verkneifen. Der Alte sieht den Helm und die Jacke vor der Haustür liegen und hebt sie auf, um den Ausweis zu suchen. Im Portemonaie wird er fündig, „mit wem haben wir es denn zu tun?“ - „Aha, Marcel, da sitzt Oliver Droste 29 Irgendwo in Nirgendwo Du aber in der Patsche. Warte mal,“ sieht noch mal in die Papiere, „Oh, unser Motorradrowdi.“ Marcel bekommt mit den Füßen nun endlich Halt auf der Fensterbank und klettert darauf, halb hockend und mit der freien Hand nach einem sicheren Griff suchend. Die letzte Äußerung des Polizisten, die sehr triumphierend klang veranlaßt Marcel zum Fluchen. „Verdammt. Ok, ihr habt gewonnen; ich hab es übertrieben.“ „Die Einsicht kommt zu spät, Junge. Jetzt hast Du ein Problem. Dich loch‘ ich ein. Du kommst die nächsten 48 Stunden nicht raus, das versprech ich dir.“ Der jüngere Beamte entgegnet beschwichtigend dem älteren, „besser eine Einsicht zu spät, als gar keine“. „Deine Softiesprüche kannst du dir an den Hut stecken,“ wobei er dem jüngeren „Schnösel!“ auf den Dienstmützenlosen Kopf schaut und seinen schüttelt. Die ersten Nachbarn kommen, von Voyeurismus getrieben, auf die Straße gelaufen. Eine kurze Zeit später trifft die Feuerwehr mit Blaulicht und Martinshorn ein. Marcel wird nun sichtlich nervöuser und schwitzt auch deutlich mehr. „So eine Scheiße, heute ist nicht mein Tag, verdammt ich kann mich nicht mehr lange halten.“ Im Haus wird eine Tür geöffnet, so daß das Fenster an welchem Marcel hängt, aufbebt. Marcel sieht fragend durch das Milchglas ins Bad und versucht jemanden zu erkennen. Im dritten Stock geht das Licht an und ein Fenster wird geöffnet. Eine junge Frau sieht hinunter, sieht den Polizeiwagen dort Oliver Droste 30 Irgendwo in Nirgendwo stehen und die Feuerwehrmänner bei emsiger Arbeit, eine Leiter auszufahren. Die Frau sieht nach unten und Marcel dort hocken, „Marcel, sag bloß, du hast deinen Schlüssel wieder vergessen“ und lacht. Er sieht zu ihr hoch, antwortet mit einem aggressiven „ha, ha, lach nur, ist gar nicht mehr komisch“. Er sieht jetzt einen Schatten an sein Fenster kommen, „Roland? Du bist ja doch da." Dieser wundert sich nicht unerheblich über die außergewöhnliche Einstiegsvarriante seines Mitbewohners. „Marcel, bist Du das? Was machst Du denn da? Warte ich laß Dich rein.“ „Nein, faß das Fenster nicht an“, entfährt es diesem, als ihn die Höhenangst bespringt. Roland zieht am Fenster und öffnet es einen Spalt, worauf Marcels Hand sich lößt und dieser hektisch beim Gleichgewicht verlieren nach einem Halt grabscht. Er greift im Fallen nach einem Ast eines nahe stehenden Baumes, der sich immer weiter biegt. Alle schauen nach oben. Marcel versucht, mit der anderen Hand nach den Ast zu fassen, worauf dieser bricht. Er fällt in die stinkend aufplatzenden Müllsäcke, mit dem faulendem Inhalt der letzten zwei Wochen, die Marcel noch selbst an die Straße gestellt hat und nun nach dem Geruch zu urteilen, eher etwas für die Biotonne sind. Das abgebrochene Ende hält er dabei in der Hand, wobei das dickere dem aufschreienden, alten Polizisten auf den Fuß schlägt. 48 Stunden später kommt Marcel von der Polizeiwache nach hause, der Polizist hat sein Versprechen gehalten. Oliver Droste 31 Irgendwo in Nirgendwo IV Vom Schläfer im Baum Die Nacht brach herein, Marcel sich kein Bein; er hatte Glück gehabt, daß er in die Müllsäcke fiel. Reichlich ernüchtert kommt er aus der Polizeistation, nachdem er von dem älteren sich in Genugtuung badenden Polizeibeamten seine persönlichen Sachen aushändigen ließ, der akribisch genau seiner ihn so begeisternden Bürokratie fröhnte. Im Laternenschein geht er durch die Stadt, eine Straße hinauf, soweit, bis es nach einer Stunde grüner und verwachsener wird. Dort bleibt er stehen und hört in die Stille. Ein entferntes Singen, nein keine Nachtigall, schwebt zu ihm herüber und zieht ihn durch die Gebüsche und an Bäumen vorbei. Der Gesang wird immer deutlicher, das Licht immer spärlicher und eine alte, mit Efeu verwachsene Mauer eines großbäuerlichen Gehöfts aus den guten, alten Zeiten, als es einigen Landwirten noch sehr gut ging, verschließt dem Wald den Eintritt. Vor einem Baum bleibt er stehen, eine alte Lärche mit Säbelwuchs in der Krone. Marcel klettert ihn hinauf bis zu der gebogenen Krone, die sich so gabelt, daß er sich dort hineinlegen kann. Die Nadeln sind weich; er liegt dort in den Armen des Baumes und läßt sich vom Wind wiegen, vom Mond das Gesicht bleichen. Oliver Droste 32 Irgendwo in Nirgendwo Ein Traum fällt von der Sternenrebe und ruht sich auf seiner Stirn aus. Ein Traum von einem Schläfer im Wald. Schlafend liegt er im Wald auf laubigen Boden gebettet, der ihn versteinert, so kalt ist er; ein warmer Wind hat ihn gerettet. Eine Waldschnepfe trinkt aus seinem Mund; das Regenwasser bringt Leben in trockenen Waldgrund. Der Sommer hat die Farben ausgebleicht. Der Herbst schwebt leicht zu ihm zu Boden, duftend modriger Odem. Ein Hauch stimmt die Saiten der mächtigen Waldharve, Faulgase durchschreiten ihn, wo er liegt im Schlafe. Um seinen Kopf trägt er einen Kranz aus roten Rosen. Das Mondlicht bricht sich in den Gletscherseen toter Augen. Das Singen schwebt wie ein weißer Nebelschleier zu seinen Ohren und verfängt sich dort, so daß er wieder in die Gegenwart zurückkehrt. Der Wind weht eine Sommernacht dahin. Marcel blickt zur Seite in das beleuchtete Fenster eines Hauses und sieht ein Mädchen auf der Gitarre spielen und hört sie singen. Ihm fallen die etwas längeren Haare ins Gesicht, so daß er sie sich herausstreichen muß. Er versucht sie zu erkennen, doch ihre dunklken Haare verdecken ihr Gesicht ebenfalls, da sie den Kopf gesenkt hält. ‚Wie sieht sie wohl aus‘, denkt Marcel, ‚ihrer Stimme nach muß sie wunderschön sein‘, ihre Worte zerbrechen die Nacht. „Sometimes, I need the quiet night, sometimes I need noise. Sometimes, I need to cry like a bird and sometimes to laugh (love) like a dog.“ Die traurige Oliver Droste 33 Irgendwo in Nirgendwo Stimme hebt an zum Refrain. „But who needs a crying bird, who a laughing dog, I don’t know, I don’t know. – Sometimes, I need to fly like a bird, out of the prison of myself, sometimes I need to run like a dog, dreaming like a blind man. But who needs a flying jailbird, who a running blind dog, I don’t know, I don’t know.“ Der Gesang hört auf, die Gitarre spielt eine traurige Melodie und schweigt. Das Mädchen steht auf , löscht das Licht im Zimmer und schließt das Fenster. Marcel dreht sich wieder auf den Rücken und sieht zur Mondfrau hinauf. Er versucht das Bild dieser Frau einzuordnen. Irgendetwas kommt ihm vertraut vor, er weiß nur nicht, was es ist. Ein Traumbild, ein Wunschdenken, oder eine Traumzeit, die vorbeischleicht. Er hört sie schon trapsen. Nach einiger Zeit vernimmt er ein anderes Geräusch, das ihn wieder ins Jetzt versetzt; er sieht zum dunklen Fenster herüber. Dort öffnet es das Mädchen, setzt sich auf die Fensterbank und schaut zum Mond. Marcel sieht ihre Augen; sie werden immer deutlicher. Der Mond kommt aus seinem Schleier hervor und strahlt noch heller. Ihre Augen werden seine Augen und seine Augen werden zu ihren, Marcel verschmilzt mit ihnen, er taucht in ihre Tiefe. Wir wollen uns nun nicht zu tief in diese Seele hinablassen, zu verworren ist sie, zu viele dunkle Gänge schlengeln sich durch ungepflegte, englische Gärten, verwachsen und verkrautet, jedoch in wilder Schönheit. Nur einige Trampelpfade schleichen sternlinks in sonnenbewachsene Blumenwiesen. Wer Oliver Droste 34 Irgendwo in Nirgendwo hat die schönste gepflückt, sie in der Hand mannshoch welken lassen? Wo ist unser Schattenjäger, der Fährtensucher? Wir wollen Handreihen bilden und den Pfad ins Meinlose hineinschleichen, in den farblosen Nachtgarten wilder Orchideen unter dem wölfischen Tierschrei, der aus vergangenen Äonen hallt. Diese Nacht hat viele Gesichter, Traumgewalten. Hier nebeln dunkle Gewitterwolken tief durch’s Geäst, versuchen den ungewollten Besucher zu erdrücken, mit Blitzen zu jagen, vielleicht zu erschlagen. Ein reiner Geist leitet die Elektrizität weiter. Ein Schmetterlingslächeln läßt am Horizont Morgenfarbe stehen, wir sind auf dem richtigen Weg und werden Emira bald sehen, kehren aber nun zurück. Nun erkennt Marcel das Gesicht wieder, ‚das ist ja das Mädchen aus der Fußgängerzone‘, denkt er, ‚das Schicksal ist Fügung‘. So verharren sie. Das Mädchen schaut zum Mond und Marcel zu ihr. Fledermäuse jagen in der Dunkelheit Insekten und führen Kunststücke vor. Der werdende Tag beißt die Nacht, daß der Himmel blutet. Die Schatten springen unter die Büsche und Bäume, um sich vor den Lichtstrahlen zu retten, bis sie unsichtbar irgendwo in den Löchern verschwinden. So verbrachte Marcel die Sonnennächte in seinem Baum. Oliver Droste 35 Irgendwo in Nirgendwo V Vom „desolaten“ Wesen unserer Jugend Marcel, Roland, Sabine, vier Betrunkene. Die Nacht schleicht irgendwo über die Erde, dämmert schon, Flugzeit flattert trübe dunstend in die Frühe, schräg schlagend, grelle, Schock; es wird wieder helle. Der Wecker weckt den Schlafefest. Marcel dreht sich im Bett, tastet die Bettkanten ab, um sich zu orientieren, tastet am Bücherregal nach dem Wecker und knipst ihn aus, dreht sich auf den Rücken und macht die Augen auf. Trolle zippen an der Wimper, will nicht recht – Elfenkuß, Synapsenlichttransmitter. Kraftstrom strömt in Butterweich, vertikal will horizontal nicht richtig aufrichten und bleibt liegen, Schlafefest hält ihn im Würgegriff. Er kann das Traumland noch nicht hinter sich lassen. Was ist Realität, was ist Traum? Was hat er erlebt, was gefühlt, was geschaut. Die Traumfee schleicht durch das Zimmer, schwebt an die Decke. Marcel wälzt sich im Bett, kämpft mit der Nachthexe, die ihn nicht in den Tag gehen lassen will. ‚Augen auflassen, sonst pennst du wieder ein.‘ Seine Augen fallen langsam zu. Marcel reißt sie wieder auf. „Los Augen auf, Du mußt aufstehen. Aber es ist so schön warm und mollig im Bett“, sagt er zu sich, grinst Oliver Droste 36 Irgendwo in Nirgendwo und umarmt sein Kopfkissen. Die Augen schließen sich wieder langsam, so daß er wegdöst. Marcel jagt einen schwarzen Engel von seiner Traumwolke und ruft, ‚hau ab, sie gehört mir!‘ Dort der Nebelgeist auf seinem Regenbogen. ‚Scher dich raus aus meinem Paradies! Ich räume auf.‘ Ein böser Blick verstreicht ein schönes Wesen. ‚Hau ab, mein Nirgendwo ist friedlich! Peace and love and all the other bullshit.‘ Dort im Tal steht eine krumme Gestalt. Marcel richtet sie auf mit seiner Königsgewalt. Sie soll die Gipfel bewohnen, über alle Geraden thronen. Er schwärzt den weißen Vorhang, hängt ihn in die Nacht, daß seine Konturen verschwimmen. Übermäßiges Leben schank er mit Unbedacht, entgegen warnender Stimmen in das irdene Traumwesen, so daß es erwacht. Er jagt die bösen Tiere aus diesem Land hinaus, bläßt den Staub des Argwohns heraus. Die Traumfee ruft er an. ‚Las die Erkenntnissterne aufleuchten, laß mich den Himmel mit meinem Bruch anfeuchten, daß es Tränen regnet, die Kruste des Steinseins aufweicht, die Schwinge das Gesicht zart streicht, bis ein Lächeln entweicht.‘ Die Traumfee flüstert ihm im Verschwinden zu, ‚Hier irgendwo ist Nirgendwo vorbeigeträumt, einen Schlaf hast du versäumt, er war zu leicht‘ und verschwindet. Plötzlich schreckt er hoch und sieht zum Wecker. „Mann nur nicht einschlafen! Jetzt reicht es, ich stehe einfach auf, obwohl ich nicht will. Mmhh.“ Jammer überkommt ihn. Schlaftrunken zieht er sich Oliver Droste 37 Irgendwo in Nirgendwo seine Jeans an und geht mit halb geöffneten Augen ins Bad, kommt mit Zahnbürste im Mund wieder heraus, stellt die Kaffeemaschine an und verschwindet wieder im Bad. Nach einiger Zeit kommt er erneut heraus, geht in die Küche und stellt die Anlage an. (Tocotronic: Der schönste Tag in meinem Leben war ein Donnerstag... .) Ein Krachen im Flur läßt Marcel von seinem Kaffee aufschauen. Es klirrt etwas, es lacht etwas. Dann hört man Schritte, Reden und Lachen, das Stochern mit dem Schlüssel nach dem Schlüsselloch, dann Klopfen und Hämmern. Marcel geht zur Tür mit Schlafwandlergang, macht sie im Vorbeigehen auf. Roland und ein Mädchen fallen in den Flur und lachen. Marcel geht wieder in die Küche und setzt sich vor den Kaffee, als sei dies ein ganz normaler Vorgang. Roland und seine Begleiterin kommen zu ihm herein. Beide haben glasige, alkoholisierte Augen, schwanken stark. Roland zieht einen Küchenstuhl vor und läßt sich nieder, wobei er sichtlich Probleme mit der Schwerkraft und der Motorik hat, die etwas unkoordiniert und in ungewollte Bewegungen endend, erscheinen. Er sieht Marcel mit kreisendem Kopf an und fragt, „Eh, biste auch gerade wiedergekommen. Wir wollen uns’n paar Spiegeleier braten. Was machste son'n Gesicht, siehst ja aus, als würtste gerade aus'n Bett kommen.“ Marcel ärgert sich ein wenig über Rolands Zustand und seine Disziplinlosigkeit, besonders, da es am Oliver Droste 38 Irgendwo in Nirgendwo frühen Morgen ist. „Mann, machst Du heute wieder blau, oder haste keinen Vorlesung?“ „Äh, Vorlesung? Ich denke das is‘ nur in der Woche, oder was'n Tag is'n heute? Is doch Samstagmorgen jetzt, oder Bine?“ Sie sieht ihn mit glasigen Augen an und sagt mit einer Betonung als hätte sie Schluckauf „Joh“, torkelt etwas und lacht. Marcel sieht ihn an, „Quatsch, es ist Freitag!“ „Is, eh, mir doch egal, hehe, komm gib mir mal'n Schluck Kaffee, Marcel.“ Marcel ist nun etwas verunsichert und stellt die Anlage aus, sieht auf die Uhr, „warte, es kommen Nachrichten, dann hören wir was heute für'n Tag ist.“ Aus dem Radio hört er die Zeitansage, „sechs Uhr, Nachrichten, zuerst die Schlagzeilen...“. Marcel wird ungeduldig, „scheiße, wie spät es ist weiß ich doch, was für'n Tag is'n heute?“ „Na, sieh doch raus, in der Stadt ist tote Hose.“ „Mach keinen Scheiß, Mann! Sag nicht ich hätte schlafen können.“ Roland stellt den Kaffee auf den Tisch und schwankt zum Kühlschrank, sieht seine Begleiterin an, „Bine setzt Dich doch, weißte was'n Tag heute is?“ Sabine schwankt zum Tisch, setzt sich und versucht langsam, wie in Zeitlupe, aber in höchster Konzentration die Tasse Kaffee in die Hand zu nehmen. „Ich glaub, ich vertrag nie nichts mmmehr. Ich glaub auch Freitach is.“ Marcel sieht zu Roland hinüber, „na siehste, glaub ich auch, ich steh' doch nicht umsonst auf“. Oliver Droste 39 Irgendwo in Nirgendwo Darauf entgegnet Roland mit einem bestechenden Argument, „Freitags is‘ immer gute Musik im Milljöh,“ womit er eine Diskothek mit diesem Namen meint. „Wart ihr im Milljöh?“ Roland und Sabine antworten beide zufrieden mit einem kurzen „Jap“. „Eh, war voll krass heute, hehe, ey schroff Alter,“ und macht eine Handbewegung, die einen steilen Abhang darstellen soll, womit Roland seinen positiven Eindruck des Abends ausdrücken will. Sabine schwankt auf dem Stuhl und sieht Marcel an. Dieser geht in sein Zimmer, „mist, ich mach mal den Fernseher an und vergleiche das Programm mit der Fernsehzeitung“. In der Küche hören sie den Fernseher angehen. Roland und Sabine schmieren sich zwischenzeitlich Brote. Roland sieht seine Tischnachbarin an und meint, „der Idiot“, er lacht kurz auf, „steht Samstag, hick, morgen auf und will zum Dienst, ha ha“. Sabine lallt, „hat vielleicht auch Samstag Dienst“. „Klar, Stupo is‘ das.“ „Was?“ „Na, Studentenpower.“ Sie hören Marcel von nebenan fluchen „Scheiße! So'n Dreck verdammt.“ Sabine und Roland sehen sich grinsend an und sagen gleichzeitig, „Samstag“ und lachen wieder. Marcel kommt in die Küche und setzt sich mit finsterer Mine hin. „Mist, jetzt hab' ich schon Kaffee getrunken. Dann kann ich nicht mehr schlafen.“ Oliver Droste 40 Irgendwo in Nirgendwo „Tja, das ist Pech“ und sieht zu Sabine, „das macht er öfters“. Sabine entgegnet, „also ich verpenn' eher, als daß ich aufstehe, wo nich' is'“. Marcel bemerkt Rolands ausgebeulte Jackentasche und zeigt darauf. „Was habt ihr denn da?“ „Oh, ja, Johnny Walker.“ Sabine schüttelt den Kopf und lallt, „bäh, laß das Zeug bloß in 'ner Tasche, mir is' schschon schlecht“. Roland interessiert es nicht, „komm, hol'n Glas eh - zwei, bevor de nich' mehr schlafen kannst, Marcel“. „Mann, wär’ ich nur mitgekommen, Freitagabend, Mist! Ich wollt mich noch mit'n paar Leuten treffen.“ „Komm Marcel, wir machen' Whiskyfrühstück, hab' ich noch nich' gemacht.“ Marcel schweigt, hebt dann den Kopf, „OK, jetzt hol'n wir Freitagnacht nach“. Die Musik wird aufgedreht, Whisky eingeschenkt, verdünnt oder pur getrunken und als Whisky im Kaffee. An der Tür klingelt es. Marcel und Roland sind schon fröhlich, oder noch. Sabine torkelt mit schwerer Schlagseite zur Tür und öffnet sie. Drei Männer und eine Frau stehen vor der Tür und grinsen glasig. „N‘morgen, Bine (jemand summt in belustigender Anspielung das Bine-Maja-Lied an und lacht dann), seid ja noch auf.“ „Eh, kommt rein.“ Darauf stolpern sie herein. „Na, seid ihr schon am Eier braten?“ Eine Zeremonie, die sie aufgenommen haben, um ihren Alkoholhunger zu stillen. Dabei bevorzugen sie sehr gerne einige Speckwürfel, wonach sich dann ein Durst einstellt, der am besten mit einem nichtalkoholischem Oliver Droste 41 Irgendwo in Nirgendwo Getränk, oder einer elektrolytischen Limonade gestillt werden sollte, da sehr schnell der rechte Weg der Nahrungsaufnahme umzukehren droht. Roland ruft etwas laut, „Nö, Eier ham wir nich‘, sind am Frühstücken, wollt ihr auch noch'n Schluck?“ Ein Pärchen tanzt zur Musik. „Was habt ihr denn da feines?“ Marcel steht auf und antwortet, „muß’te im Flur mal gucken, neben'm Klo, die Tür, da steht noch Bier, hier is‘ noch Whisky“. Und so nimmt der Morgen am Samstag seinen Lauf. Es bleibt unerheblich die immer seichter werdende Konversation weiter zu verfolgen, so daß wir einige Stunden überspringen. Oliver Droste 42 Irgendwo in Nirgendwo V Von einer grünen Ampel und roten Ballettänzern Emira, Bea, Prolet, zwei Farbigen, zwei weitere Frauen und einem Kellner Es ist nun Zeit, Emira näher kennenzulernen; sie hat ein Geheimnis, daß sich erst im Laufe der Geschichte mit den Schicksalsfäden verwickelt, verhäddert und mit Marcels zusammenführt. Sie kommt aus Kroatien und lebt seit Beginn des Krieges in Deutschland, wo sie sich mit Bea angefreundet hat. Sie ist die Einzige, die ihre Vergangenheit kennt, was geschah, was sie verändert hat und immer wieder verändert. Bea fährt an diesem Morgen mit einem alten mattschwarzen, etwas rostigen Ford Capri durch diese Stadt. Emira sitzt neben ihr und raucht. Sie hören laute Musik aus guten alten Seatlezeiten und singen oder schreien mit. Ihre Haare fliegen headbangermäßig, Bea lenkt das Auto im Rhythmus leicht hin und her, so daß sie noch mehr lachen müssen. Neben ihnen taucht ein tiefergelegter Golf auf. Ein Wagen der einem alten Götterkult gewichen ist und den dafür entsprechenden Ersatz verspricht. Er hat hinten verdunkelte Scheiben und ist am einfachsten mit dem ‚tiefer, breiter, lauter‘ zu beschreiben, einem Ausdruck von höchster erotischer Erregung bei der Beziehung zu einem Gebrauchsgegenstand. Oliver Droste 43 Irgendwo in Nirgendwo Ein Mann mit Schnäuzer und gelgeglätteten zurückgekämmten Haaren schaut zu den beiden Frauen im Ford Capri herüber und grinst seine Dummheit an die Scheibe. Er zwinkert den Frauen zu, die sich vor Lachen kaum halten können. Bea fragt Emira, „was denkt der wohl von uns?“ „So kriegt der die Frauen rum, also mich spricht das total an“, antwortet Emira und lacht über ihren Humor. „Los Bea, den hängst du gleich ab, warte mal.“ Sie kommen an eine Ampel und bleiben nebeneinander stehen. Emira singnalisiert dem Golffahrer, das Fenster herunterzukurbeln. Er geht natürlich sofort darauf ein, in Freude darüber, daß seinem unausweichlichem Scharm die Frauen erlegen sind, in der Vorfreude auf sexuellen Kontakt. ‚Hauptsache die Frauen sind lustig und gut im Bett.‘ Natürlich läßt er das Fenster elektrisch herunter. Emira winkt ihm, das er etwas mit dem Kopf aus seinem Fenster kommt, damit er sie besser versteht. Gespannt tut er dieses und horcht auf die nun kommende Verabredung oder Telefonnummer und grinst hinüber, „hey, Mädels, ganz allein unterwegs, was geht?“. Emira lehnt sich aus dem Ford und zeigt zur Ampel, „ey, is‘ grün“ und Bea gibt gas, überholt den Golf, um vor ihm in eine einspurige Baustelle einzufahren. Der Prolet kommt so schnell nicht hinterher, da er sich auf einen Rennstart nicht eingerichtet hat. Schnell holt er mit großer Beschleunigung auf, blendet auf, hupt und tobt in seinem Wagen. Diese eindeutige Verarschung und Oliver Droste 44 Irgendwo in Nirgendwo die Anspielung auf sein Reaktionsvermögen sind ihm nicht entgangen, zumindestens merkt er in seinem Unterbewußtsein, daß sein Auto und seine Fahrkunst beleidigt worden sind, daß seine Ehre nun den schwarzen Flecken des Versagens trägt und er ist doch kein Versager, was er sich jeden Tag auf’s Neue beweist. Er fährt dicht auf, worauf Bea bremst und langsamer weiterfährt, was die Wutausbrüche des Hintermannes nicht gerade lindert. Bea und Emira amüsieren sich vorzüglich und biegen an der nächsten Kreuzung ab. Ein tiefer, breiter, lauter Golf rauscht mit dröhnendem Bass an ihnen vorbei. Einige Straßen weiter parken sie vor ihrem Lieblingscafé um einen Becher des selbigen zu trinken. Bea lacht noch über das dumme Gesicht des Schnauzbärtigen, wie sich seine Physiognomie bei Emiras Hinweis verlängerte und sie merkte, daß es in seinem Kopf noch arbeitete, als sie losfuhren. Dagegen wird Emira immer ruhiger, was nun Bea auch auffällt. Schwarze Windungen verschlingen das Dunkel, in das Emira dämmert. „Was ist los mit dir Emira?“ „Ich glaub‘ es geht wieder los.“ „Komm, laß uns erst mal einen Kaffee trinken, laß dich nicht hängen.“ Beide Frauen steigen aus dem Wagen aus und gehen ins Café. Eine Treppe führt dort hinauf. Es sieht etwas ungastlich und dunkel aus, ändert sich aber beim Eintritt in die Gastronomie. Es ist alles etwas alternativ und nostalgisch gehalten. Am Tresen stehen zwei Schwarze mit zwei Frauen. Die eine trägt Rasterlocken. Sie scheinen sich sehr gut zu Oliver Droste 45 Irgendwo in Nirgendwo amüsieren. Ein Afrikaner scheint einen guten Humor zu haben. Im Raum stehen einige Rundtische, in einer Ecke steht ein Sofa, was auf dem Spermüll gefunden zu sein scheint, jedoch hier den Zweck in nostalgischer Weise erfüllt und äußerste Gemütlichkeit ausstrahlt. Bea und Emira setzten sich dort hin. Bea muß nocheinmal über das Erlebte lachen und bestellt zwei Kaffee, schwarz. Bea reicht Emira eine Zigarette, Marke schwarzer Tabak, die diese mit zitternden Händen nimmt. Emira verarbeitet das eben Geschehene etwas anders. „Wie kannst du über diesen schmierigen Typen denn nur so lachen, Bea, das war doch’n großes Arschloch.“ „Was ist los, sei doch nicht immer so finster drauf, den haben wir doch tierisch geil verarscht.“ „Das war so’n Typ, für den wir Frauen doch nur Fickvieh sind. Ein potenzieller Vergewaltiger.“ „Ach, quatsch, das ist doch nur’n armes Schwein, der so’n Auto braucht, um’ne Frau rumzukriegen. Und wenn er eine damit rumkriegt hat sie es nicht besser verdient. Die sind auch nicht besser.“ „Klar, der denkt sich dann, die Frauen stehen auf solche billigen Anmachen.“ Emira sieht Bea mit Ringen unter ihren grünen Augen an, „ich kenne diese Typen, das sind Verbrecher, Monster“ und ballt ihre Hand zu einer Faust, wobei die halb aufgerauchte Zigarette abgeknickt wird und Glut auf die Tischdecke fällt und ein schwarzes Loch entsteht glutumrandet, in das sie fällt. Der mit den zwei Bechern Kaffee hinzukommende Kellner stellt diese Oliver Droste 46 Irgendwo in Nirgendwo auf den Tisch und ermahnt Emira zur Vorsicht. „Brandlöcher lassen sich nicht so einfach abwischen.“ Er drückt die Glut mit seinem großen Portemonai aus und bittet um Zahlung der Getränke. Nach dem Kassieren geht er wieder zurück hinter seine Theke. „Mensch Emira, versuch die Vergangenheit ruhen zu lassen.“ Bea nimmt ihre Hand, da sie ihre plötzlichen Stimmungsschwankungen kennt und sieht ihr in die Augen. „Das Leben geht doch weiter.“ „Ja, aber so wie es läuft ist es mir echt egal, ob es weitergeht oder nicht.“ „Emira, du mußt dich irgendwann mal fangen.“ Emira reißt ihre Hand weg und kämpft mit ihren immer wieder hochkommenden Erinnerungen und Gefühlen. Die Vergangenheit will sich nicht so recht von der Gegenwart trennen lassen und wirft ein dunkles Licht in die Zukunft, so daß ihre Schatten immer länger und roter werden, die dann im Hintergrund als feuerrote Ballettänzer durch den Raum fliegen; sie drehen sich in eleganten Kreisen um ihre eigene Achse, um dann in Luftsprüngen spagatisch davonzuschweben. „Laß mich doch einfach in Ruhe, verdammt. Du sollst doch nicht immer davon anfangen.“ Ihre Augen werden feucht und sie läßt die Haare ins Gesicht fallen, damit man es nicht sieht. Dazu sind ihre langen, etwas filzigen Haare sehr recht, dazu hat sie sie wachsen lassen. „War doch nicht so gemeint. Sag mal, hast du deine Tabletten heute schon genommen?“ Emira sieht Bea böse an. Ihr Gesicht Oliver Droste 47 Irgendwo in Nirgendwo hat nicht mehr den schönen Ausdruck des Abendlandes, sondern eher der Nacht. „Ist doch wohl meine Sache. Die helfen doch auch nichts, die machen nur träge und platt. Dann kann man nicht mehr nachdenken; das will ich nicht.“ „Wenn du so denkst, dann solltest du auch das Kiffen sein lassen.“ „Das tut aber gut und entspannt.“ „Du hast schon Probleme mit deiner Psyche, dann ist das doch wohl eher gefährlich.“ Emira ärgert sich über die Vernunft, nimmt einen Schluck Kaffee zu sich und zündet eine weitere Zigarette an. „Du bist 'ne echte Nervensäge, Bea. Themawechsel!“ Bea ist ein Charakter der nicht so schnell aufgibt. Das hatte ihre Freundschaft damals, als sie sich kennenlernten ausgemacht, konnte aber auch zu schweren Konflikten zwischen ihnen führen, die sich dann relativ schnell durch ihre große Freundschaft zueinander wieder legten. Bea versucht es noch einmal. „Aber wir können doch über die Dinge reden, die dir so schwer zu schaffen machen.“ „Halt einfach deine Schnauze, hier red' ich nicht, du gehst mir auf'n Kecks.“ „Deine scheiß Laune geht mir auch auf'n Kecks, Emira.“ „Dann hau doch ab und laß mich in Ruhe.“ „Ist ja wieder typisch, immer weglaufen.“ „Ja, jetzt kann ich es wenigstens, damals konnte ich es (schreit) nicht. Ich dreh' gleich ab.“ Oliver Droste 48 Irgendwo in Nirgendwo VI Von telepatischer Kommunikation oder wie die Nornen spinnen Fortführung von IV Als alle lustig zusammensitzten wird die Stimmung etwas ruhiger. Jemand fragt Marcel, was die Kunst mache. Gemeint ist damit ein monatlich, unregelmäßig stattfindendes lyrisches Treffen von Freunden der Dichtkunst. Diese Leute zieht es dann an mystische Orte, wo sie im Lagerfeuer- oder Kerzenschein ihre Poesie zum Besten geben und feiern. Roland ruft, „der will der neue Goethe werden.“ Marcel erinnert sich an eine Deutschstunde, in der sein Lehrer über den Dichterfürsten sprach und fragt, „wißt ihr, daß Goethe faule Äpfel in seinem Schreibtisch hatte, um sich besser konzentrieren zu können.“ Roland erwidert, „faule Äpfel in Gärung verbreiten Alkoholduft, durch die -äh Gärung, die alkoholische“ und hebt in diesem Sinne sein Glas, was ihm die Anwesenden gleichtun, zu einem Tost. Sabine ruft etwas unkontrolliert schwankend dazu „klar, Marcel, laß dich inspirieren von Lady Maria Kron und Sir Johnny Walker“, schenkt ihm ein Glas Whisky ein und gibt es ihm. Roland siniert über die Äpfel und meint „Goethe muß Faust wohl auf einer Obstplantage geschrieben Oliver Droste 49 Irgendwo in Nirgendwo haben“, was zu allgemeiner Erheiterung führt. „So jetzt laß uns deine Inspiration hören, Marcel.“ „Ha, ha, ihr seid ja alles Kulturbanausen, na gut. Ihr habt es so gewollt. Ich muß nun wohl etwas pädagogisch mit euch umgehen. Etwas schwarzen Humor fällig.“ Er springt auf, zerzaust sich das Haar, sieht mit weit aufgerissenen Augen irre in die Runde, worauf ein Raunen durch die kleine Gesellschaft geht und gibt ein sonderbares Stück von sich, das im Folgenden zitiert werden soll. „Jack the ripper: Er hat den Frosch von der Straße geholt Und ihn im Ofen gekohlt Anschließend mit Rattenschwänzen serviert Und mit Krötenschleim beschmiert Er fraß es auf mit Hochgenuß Und gab der Kröte einen Kuß Bevor er ihr den Kopf abgebissen hat Aber er war doch noch nicht satt Nein, er geht jetzt in die Städte Und sucht lebendes Fleisch auf jeder Fete Er tanzt mit den Mädchen liebevoll im Arm Und erzählt verzückt: "Du bist mein einziger Schwarm" Dabei schaut er ihnen tief in die Augen Und denkt daran sie des Lebens zu berauben "Mann, wie schön es doch wär' Mache ihnen die Angst die Blase leer." Oliver Droste 50 Irgendwo in Nirgendwo (Marcel springt auf einen Tisch) Ich würde abends von der lustigen Fete gehen Und ihnen ein wenig das Genick verdrehen So würde der Urin die Beine runterflutschen Und ich würde sie zärtlich sauberlutschen. Ich beugte mich über den Leichnam (er faßt in eine Schüssel Chips und stopft sie in den Mund) Und riß ihr die Brust auf voller Gram Ich steckte meinen Kopf bis zur Schulter rein Und schmuste im Trog der Innerein. Das Fleisch hatte im Gegrunze gebebt Doch nun liegt er da, die Haare vom Blut verklebt Seine Augen quellen groß und blutig hervor Da er seinen Atem im Rausche verlor Ein Stück des Herzens saß ihm im Rachen fest Das sei euch eine Lehre, daß ihr nicht so gierig eßt!“ Alle lachen und klatschen Beifall, erfreut über das dramaturgische Talent ihres Gastgebers, das zur Erheiterung dieser Gesellschaft beitrug, als die Stimmung an einem Tiefpunkt angelangt zu seien schien. Nur Sabine, die dadurch in ihrem Wohlbefinden erheblich gestört wurde, steht blaß auf und geht schweigend zur Toilette. Jemand fragt, was sich alle fragten, „was ist denn mit Bine los?“ Sie hören die Toilettentür zuschlagen und ein Schweigen tritt ein. Da hört man ein Geräusch, als Oliver Droste 51 Irgendwo in Nirgendwo rufe jemand „Jörg“, das dann zu einem gequälten, ausgedehnten „Jööörrrg“ wird, so daß alle über Sabines Unterhaltung mit der Kloschüssel lachen müssen. Nach einigen Minuten erscheint sie dann wieder in der Küche und meint, „das war fies. Du kannst doch viel schönere Gedichte von dir geben.“ Roland ruft dazwischen, „los Marcel, jetzt mal 'n Liebesgedicht für Bine“. Marcel überlegt, „OK, hab' ich doch auch, das ist aber dann das letzte“, was durch unmütiges Raunen bedauert wird. „An meine ferne Liebe Salzige Unterseestadt Sende Rabenvögel aus Kommen schwarzer Schwinge matt Zu dir geflogen ins Haus Lasse Seegras schwimmen als Gruß Frankiert mit bleichem Meeresschaum Gehe durch Korallengarten bloßen Fuß Schwebend schwer meiner Liebe Traum“ Schauplatzwechsel: Oliver Droste 52 Irgendwo in Nirgendwo Emira schaut zum Fenster hinaus und sieht schwarze Vögel vorbeiflattern. Bea fragt sie, als sie bemerkt, daß sich ihr Gesichtsausdruck verändert, „was ist los“. Draußen im Hofgarten kommt ein Wind auf und ein blauer Tänzer springt in hundert Windungen in flatterndem Tuch durch das Grün und Bunt der Beete. Emira sieht Bea ganz ruhig an, ein Windhauch nimmt ihr die Haare aus dem Gesicht und sagt dann: „Weht der Seewind deine müden Glieder Vom blutigroten Himmelsband In mein Meeresheim hernieder Schweren Glutes Blut wie Wein Legen wir uns feucht nieder Und schlafen sanft umwogt ein.“ Bea versteht nicht ganz, was sich hier in diesem Kaffee gerade ereignet hat. „Bitte, was?“ „Nix“ und sieht wieder aus dem Fenster, doch der Tänzer ist verschwunden. und wieder zurück: Marcel hat das Gedicht beendet, seine Augen sehen zum Küchenfenster hinaus. Die Stimmung ist sehr ruhig. Paul ist am Tisch eingeschlafen. Sabine, jetzt etwas erholt, ist sehr angetan von seinem Vortrag und findet es „sehr schön, für wen ist es?“ Marcel sieht sie an; Sehnsucht hat mit ruhelosen Oliver Droste 53 Irgendwo in Nirgendwo Dunkelheiten der Einsamkeit die Bläue seines Herzens verengt. ‚Auferstandene Nächte suchen ihre weinenden Tage‘ und werden zu dieser verworrenen Frage, die er Sabine nun preisgibt, als ihn wieder die Muse küßt, „für die verdammte Seelenverwandte, unbekannte Landzerteilerin, verkannte, verwandte Traumlandimmigrante, gleiteflug federleichte, weit Verstreichte, die so verdammt lang auf sich warten läßt.“ Sabine ist von seiner Verzweifelung berührt, da sie Marcel schon länger kennt und sein feines Wesen zu schätzen gelernt hat. Sie haben schon viele Abende durchgequatscht und diskutiert. Jeder hat vom anderen lernen können, Dinge anders zu sehen und auch die eigene, manchmal eingefahrene Meinung, revidieren müssen. Für den erweiterten Horizont sind sie sich gegenseitig dankbar. Eine Dankbarkeit, die nur Menschen empfinden können, die ihre Meinung nicht auf Vorurteile bauen und einen offenen Geist haben, etwas Fremdes zu akzeptieren. Sie gründen ihre Einstellung nicht auf Äußerlichkeiten, sondern haben die Fähigkeit, die Dinge auf ihren inneren Wert hin zu betrachten. Marcel setzt sich zu Sabine und schaut in sein Glas, „hab‘ ich dir von den Augen erzählt, die ich in der Fußgängerzone sah und der Nacht im Baum?“ „Roland hat was erzählt, aber ich denke man sollte immer zwei Seiten sehen; er nimmt das doch mit mehr Humor. Du hast dir bestimmt mehr Gedanken gemacht.“ Oliver Droste 54 Irgendwo in Nirgendwo Mittlerweile haben sich die Leute auf die beiden Zimmer verteilt, um entweder zu schlafen, oder Musik zu hören und zu reden. Es liegt nur noch Paul am Tisch und dämmert in seinen Rausch weiter, in die Tiefe eines Alokoholstrudels, der mit der Besinnungslosigkeit des Schlafes endet. Marcel erklärt Sabine, was er erlebt hat und fragt Sabine mit einer Traurigkeit, die nur Alkohol hervorrufen kann, „ob ich noch normal bin? Roland hat es mir oft genug gesgt, daß ich es nicht sei.“ „Du mußt das von Roland nicht so ernst nehmen; er meint das bestimmt nicht so.“ Marcel sieht sie traurig an und hat seine Stimme nicht mehr so ganz in der Gewalt, als er sagt, „Das will ich – hoffen, er ist nämlich mein bester Freund.“ „Wer weiß Marcel, vielleicht gibt es ja wirklich sowas wie Schicksal, oder soetwas wie Seelenverwandtschaft. Ich glaube man darf nicht aufgeben, darauf zu hoffen. Das Falscheste wäre es, eine Beziehung halbherzig einzugehen, nur weil man Angst hat, allein zu sein.“ „Ich könnte es nicht, einfach nur weil ich unbedingt mit jemanden Sex haben muß, eine Beziehung einzugehen. Das wäre verlogen.“ „Weißt du was Marcel, du bist echt ein ganz Lieber. Ich hoffe du wirst bald deine Traumlandimmigrante finden.“ „Ich weiß nicht“ antwortet Marcel resignierend, da er schon zu lange, zumindest nach seinem jugendlichem Zeitgefühl beurteilt, darauf wartet. Aber das ist das Privileg der Jugend, Träume zu haben und seinen Sehnsüchten nachzuhängen. Die Gefahr liegt allerdings in der Überreaktion. Oliver Droste 55 Irgendwo in Nirgendwo Sabine will ihn nun ablenken von diesem Thema, da es ihr etwas langweilig wird und sie sich auch ernsthaft für Marcels Pläne mit seiner lyrischen Zukunft interessiert. „Was hast du mit deinen vielen Gedichten vor, die sind wirklich schön? Ich bin ein großer Fan, auch wenn es vorhin etwas anders aussah.“ Marcel macht eine wegwerfende Handbewegung, „was nützt es, wenn es euch gefällt und es kein Verlag drucken will?“ „Hast'e immer noch keine Antwort, Marcel?“, womit Sabine einen lyrischen Wettbewerb in Berlin meint, bei dem sich Marcel beteiligt hat. „Nö, weiß auch nich'. Sind wohl tausend andere, die auch was hinschicken und die Verleger nerven. Die machen doch keine Experimente und drucken was von 'nem Unbekannten.“ Paul hebt seinen Kopf, da er im Halbschlaf etwas zugehört hat, „ Mensch, was du machst is' wenigstens nicht so'n langweiliges Zeug. (rölpst) Wer liest schon Romane oder Bücher? Lieber hört man 'ne CD oder sieht sich'n Film an.“ Marcel dreht sich zu Paul, „ja, genau Paulchen, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen; deshalb denke ich auch, daß man mit Lyrik unsere Generation viel eher ansprechen kann.“ Paul denkt sich nichts weiter und sagt mit sich wieder schließenden Augen und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, „ach, is' doch alles geistiges Fastfood.“ „Aber mit hohem Brennwert und Ballaststoffen“, entgegnet Marcel. Oliver Droste 56 Irgendwo in Nirgendwo VI Eskalation im Café Zurück bei Emira und Bea. Die Tür des Cafés geht auf und auf der von unten kommenden Treppe steht ein Skinhead, der suchend in den Raum blickt. Zwei schwarze Ballettänzer winden sich an ihm vorbei und springen elegant zwischen die roten Tänzer des Hintergrundes. Alle Gespräche verstummen und jeder sieht den Glatzkopf an, dem die Stumpfheit seines Geistes aus dem Gesicht springt und sich totlachend auf dem Boden wälzt. Es ist unerheblich, sein Aussehen zu beschreiben, da es sich um einen Stereotypen in immer tragender Kampfuniform handelt. Er dreht sich um und ruft zur Treppe hinunter. „Alles voll Zeckenschleudern und zwei Kanacken sind auch da. Los kommt hoch, Mädels.“ Mit diesem verharmlosenden Wort aus vergangenen Bundeswehrtagen ist leider eine verniedlichende, stumpfe Brutalität des Körpers und des Geistes gemeint, was Emira eher aus Intuition als aus sprachlichem Umgang sofort erkennt. Sie springt auf und rennt auf den Skinhead zu, wirft dabei einen Stuhl um, worauf sich dieser wieder der Gastronomie zuwendet, erstarrt Emira ansieht und kurz grinst. Emira rennt im vollen Tempo auf ihn zu und springt mit beiden Stiefeln voran und mit flatterndem Rock in ihn hinein, wo bei sie die Beine durchstreckt, daß er einen Satz durchs Treppenhaus Oliver Droste 57 Irgendwo in Nirgendwo macht und dabei zwei andere, schon nachrückende Skinheads mitnimmt. Die beiden schwarzen Ballettänzer gleiten wieder im Spagat zurück durch die Tür, ebenfalls die Treppe hinunter. Man hört ein Schreien. Im Café ist Totenstille, als sich Emira umdreht. Alle sehen sie mit großen Augen an. Bea schreit „Emira?“ Emira wendet sich nochmal zur Treppe und ruft hinunter, „verpisst euch ihr Wichser!“ und geht zu Bea. „Hab' doch gesagt, ich hab' 'ne scheiß Laune.“ „OK Emira, wenn du das das nächste Mal sagst, sag ich kein Wort mehr.“ Der Mann von der Thekenbedienung hebt nervöus den Telefonhörer ab und ruft die Polizei an. Zwei Autonome ziehen ihre Handies und wählen den Notruf ihrer antifaschistischen Bürgerwehr. Es wird lauter, die Gäste drängen sich vor dem Eingang, um diesen zu verbarrikadieren. Im Treppenhaus kommen Rufe und Stiefelgetrampel hoch. Ihre von einer Frau gedemütigte Männlichkeit versucht sich vergeblich durch lautes Brüllen wieder aufzurichten. Sie wissen, daß sie es sich und allen anderen wieder beweisen müssen, und dafür fordern sie Blutzoll, der sich in gierender Spur durch das Land zieht. Wie hat Hayder so schön seine rechte Regierung in Österreich vor Schrödres Deutschland verteidigt: ‚In unserem Land wurde noch kein Ausländer zu Tode geprügelt‘ und hatte recht damit. Die Blutspur ist typisch deutsch. Jemand ruft zu Emira, „los, hau ab, durch den Hinterausgang, die bringen dich um.“ „Is mir auch Oliver Droste 58 Irgendwo in Nirgendwo egal.“ „Ich weiß nicht wie lange wir die Tür verbarrikadieren können, sei nicht verrückt!“ Bea wird das alles nun bunt und schreit Emira an, „lauf!“, rennt zu ihr, greift sie, zieht sie und sie laufen los, als auch schon die Tür anfängt zu bersten. Ein Handgemenge entsteht, doch die Brutalität der Skins läßt keinen Verhandlungsspielraum, so daß sie nun mit Schlagringen und Baseballschlägern prügelnd hineinstürzen. Sie sehen Emira und Bea noch gerade hinter dem Tresen durch die Tür verschwinden. Ein Glatzkopf gröhlt, „du hast unseren Kumpel umgebracht, du Kanackenschlampe!“ und läuft hinterher. Als er die Tür erreicht und in die dahinter befindliche Küche eintritt, steht ein großer Farbiger neben ihm und schlägt ihm mit einer Dachlatte vor den Schädel, daß ihm die Nase bricht und er zurücktaumelt, um rücklinks zu Boden zu sinken. Ein weiterer Faschist ruft, „haltet euch nicht so lange auf, ich will dieses Miststück kriegen!“ So springt die Schar über ihren Sinnesgenossen, der eigendlich Kammerad heißen müßte und schlägt auf den rot werdenden Schwarzen mit Baseballschlägern brutal ein, bis dieser bewußtlos am Boden liegt. Sie drängen nun den beiden Frauen hinterher. Die Glatze mit der gebrochenen Nase dreht sich nochmal um und tritt mit voller Wucht, als wolle er einen Fußball über das Spielfeld schießen, mit seinem stahlkappen verhärtetem Stiefel zu und läuft blutig grinsend hinter seinen Kampfgefährten her. Oliver Droste 59 Irgendwo in Nirgendwo Oliver Droste 60 Irgendwo in Nirgendwo VII Wie Nornen die Fäden verknüpfen und Murphies law bestetigt wird Marcel, Roland, Sabine, Oma, Opa, Kellner, Mutter und Vater von Sabine, Skinheads und Polizisten, SEK, Bea und Emira Mittlerweile wich die Lebensenergie der lähmenden alkoholischen Müdigkeit, aber nicht dem Trieb zur Selbsterhaltung. Marcel steht vom Küchentisch auf und geht zu Roland ins Zimmer, wo dieser auf seiner Couch liegt und schläft, da in seinem Bett zwei Kumpels schlafen. Marcel stößt Roland an, „eh, wach auf, wir müssen doch noch was einkaufen gehen, wenn heute Samstag is'“. Der sieht ihn mit glasigen Augen an und meint resignierend, „Mann, ich will pennen, hab' kein bock“ und dreht sich auf die andere Seite. Marcel ist nun Roland beim Hinsetzen behilflich, der nicht gerade Begeisterung für Marcels Ambitionen aufbringen kann. Marcel ünterstützt sein Bestreben, „los Roland, ich hab' kein bock wieder Pizza oder Spaghetti zu essen“. Roland, der noch keinen Gedanken an feste Nahrungsaufnahe verschwendet hat, gibt seinen Unmut Raum, „mir is‘ noch schlecht, wie kannst du jetzt schon wieder an Essen denken?“. Sabine steht im Flur und sieht Marcels vergebenes Bestreben, geht zum Kühlschrank und holt einige Oliver Droste 61 Irgendwo in Nirgendwo Eiswürfel heraus, kommt zurück, grinst Marcel an und steckt sie Roland in den Nacken. Der rührt sich erst gar nicht, doch als das Eis langsam den Rücken hinunterläuft springt er auf und schnautzt Marcel an, „bei dir hackt's wohl, Mann“. Marcel und Sabine nehmen Roland links und rechts unter die Arme und ziehen ihn mit sich. Roland erkennt, daß Widerstand zwecklos ist und fügt sich seinem Schicksal, „mit euch macht man was mit, ihr seid zwei Freunde“. Sie torkeln, alle noch ziemlich angeschlagen und Roland morgenmuffelnd, durch die Tür und durch das Treppenhaus. Draußen am Tageslicht angelangt, setzt sich Roland seine Sonnenbrille auf und sagt ärgerlich „Mann, ist das hell, nicht zum aushalten, dreht doch mal den Dimmer runter“. Alle blinzeln über die Rige unter ihren Augen. Es kommt ein Fußgänger, den Roland ebenfalls auffordert, „Mann, dreh doch mal das scheiß Licht runter“. Marcel sieht Sabine peinlich betroffen an und rüttelt Roland am Arm, „hey, hör auf, mach keinen Ärger“ und dreht sich zu dem seinen Schritt beschleunigenden Passanten um, „'Tschuldigung, der is' noch total blau“. Roland grinst, sich dieser Tatsache bewußt werdend, „richtig“. So schlendern die drei in die Fußgängerzone, bzw. schlingeln und schlängeln sich, mit den Problemen der Schwerkraft und des Gleichgewichts beschäftigt durch die einkaufswütige Menge. Die frische Luft hat ihnen nicht gerade gutgetan, da sie ihren Restalkohol zu katalysieren scheint. Plötzlich schaut Sabine mit schreckerweiterten Augen hoch, „oh, Oliver Droste 62 Irgendwo in Nirgendwo scheiße, da sind meine Eltern“. Ihre Blicke treffen sich bei diesen Worten und sie bahnen sich einen Weg durch die Menge. Ihr Mutter ruft, „hallo Binchen, wo warst du denn?“ Sabine sieht zu Roland und Marcel, die die Situation nicht recht einschätzen können oder wollen, um sie zu ermahnen, „reist euch jetzt bloß zusammen und tut so, als seid ihr nüchtern, das würden die nicht verstehen!“ Roland stellt sich gerade hin und rückt sich die Sonnenbrille zurecht, schwankt dabei hin und her, lacht plötzlich kurz auf und ist gleich wieder ernst. Marcel guckt auch mit glasigen Augen ernst, was als ungewollte Komik eher zu akzeptieren wäre. Sabines Vater, mit patriarchischem Bart, der an den Enden von den Mundwinkeln her gezwirbelt ist, ist eine Erscheinung in Sacko mit Jacket, die von Disziplin zeugt, sie zumindest nach außen zu tragen sucht. Er sieht sich die drei an, so daß man die Schubladen knarren und zuschlagen hören könnte und fragt vorwurfsvoll, „wo warst du die ganze Nacht, hast du es nicht mehr nötig, bescheid zu sagen, wenn du wegbleiben willst; wir haben uns doch Sorgen gemacht“. Sabine ist etwas errötet und antwortet beschwichtigend, „wir haben ein bißchen gefeiert, ist ein wenig später geworden“, wobei sie versucht die Worte genau auszusprechen, was aber eher zu übertriebener Betonung geführt hat und wenig geeignet war, von dem Tatbestand des Rausches Oliver Droste 63 Irgendwo in Nirgendwo abzulenken. Roland grinst dreht sich zu Marcel und sagt leise, „gesoffen“. Das Gesicht des Vaters versteinert sich etwas, als er die Situation durchschaut hat, „sag mal, es stinkt hier ja wie in einer Schnapsfabrik“. Roland hält die Einstellung ihrer Eltern für spießig und fühlt sich langsam genervt, als er meint, „echt helle dein Alter“. Darauf stößt Marcel ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. Sabines Mutter muß die Feststellung ihres Mannes nocheinmal unterstreichen, indem sie sagt, „ihr riecht ja gegen den Wind nach Alkohol“ und rümpft die Nase. Marcel versucht die Situation zu retten, indem er Roland als Vorwand benutzt, der sich durch seine Respektlosigkeit gerade selbst deplaziert hat, sein Verhalten damit zu entschuldigen und Sabine zu entlasten, indem er hinzufügt, „ne, das ist Roland, den wollen wir nach Hause bringen“. Nur ist Rolands Geist noch zu benebelt, als daß er die Finte verstanden hätte und wehrt sich, ungerecht behandelt und verraten gefühlt, sich von Marcel losreißend, „was soll'n der Scheiß, ich denke einkaufen müssen wir. Hättest mich ja liegen lassen können!“, wobei er zu schwanken beginnt, mit den Armen nach Gleichgewicht rudert und neben einen Tisch einer Sitzgruppe vor einem Eiscafé fällt, an dem ein altes Ehepaar sitzt. Die ältere Dame in hoch zugeknöpften Trachtenkleid, zu warm für diese Jahreszeit angezogen, wie es alte Leute gerne tun, deren Kreislauf altersbedingt heruntergefahren ist, dreht Oliver Droste 64 Irgendwo in Nirgendwo sich erschrocken zu Roland, „jungerr Mann, sie sollten iihren Rausch ausschlafen!“. Roland entgleitet zunehmend die Herrschaft über die Situation und auch über seine körperliche sowie geistige Motorik, so daß er flappsig antwortet, „Omma; dat wollt ich auch“. Ihr älterer Begleiter mit zerfurchtem strengen Blick und altdeutsch zurückgekämmten weißem Haar, das im Nacken ausrasiert ist, reagiert aufgebracht über die Respektlosigkeit der Jugend, die Roland, vor ihm liegend, stellvertretend verkörpert und schnauzt, „das ist nicht ihrre Omma, benehmen sie sich mal. Das ist eine Schande, am hellichten Tach betrrrunken. Die Jugend verkommt, die müßten harrt arrbeiten, dann könnten sie nicht auf so dumme Jedanken kommen“. Sabines Eltern stehen entsetz da und verfolgen das Schauspiel, das ihnen wie eine groteske Tragödie erscheint. Der Mutter entfährt ein „oh Gott, was für einen Umgang hat unsere Tochter, haben wir ihr nicht alles gegeben?“. Oma bemerkt, wie sich ihr Mann weiter aufregt und versucht ihn, um Rücksicht auf seinen Blutdruck zu nehmen, zu beschwichtigen, „is‘ doch jut Herrfrried, du jehst Sonntachmorjens ja auch zum Frriehschopp‘n“. Das seine Frau nun diesen desolaten Zustand der Disziplinlosigkeit mit seinen kulturellen Geflogenheiten seiner Stammtischsitten vergleicht, erzeugt nun eher Gegenteiliges, als die alte Frau bezwecken wollte; „dat ies doch wohl was janz and‘rres“ ist seine Schutzbehauptung. Oliver Droste 65 Irgendwo in Nirgendwo Roland will sich nun hochziehen, um sich aus dieser unangenehmen Situation zu befreien, greift nach der Tischdecke und zieht alles darauf Befindliche hinunter. Oma und Opa schimpfen darauf, Sabine wird noch roter und ihre Eltern nehmen dieselbe Farbe an, so daß sich die Familie zu erkennen gibt. Ihr Vater weiß nicht, wie er mit der immer weiter eskalierenden Situation, die sein Ordnungsbild immer weiter in Schräglage versetzt, verfahren soll; „das glaub ich nicht“ entfährt es ihm nach Fassung ringend, um ihr dann doch zu unterliegen. Seine Frau will es nicht noch weiter verschlimmern und am liebsten weglaufen, „beruhige dich bitte, mach hier kein Aufsehen, Friedhelm!“. Der Versuch ist natürlich mißlungen; dafür ist es zu spät. Sabines Vater versucht seine Würde, oder die der Familie zu retten, „kein Aufsehen, wie soll ich jetzt bitte kein Aufsehen machen, es sieht doch schon jeder her. Ist das peinlich“, dreht sich zu seiner Tochter, „und du schämst dich wohl gar nicht“. Der Kellner kommt angelaufen, als Marcel Roland wieder auf die Beine helfen will. Marcel wird es nun auch langsam peinlich und er schnauzt Roland wütend an „reiß dich zusammen, Mann!“ und reicht ihm seine Hand, daß er endlich aufstehen kann, wobei Geschirr und Torte zu Boden fallen. Rolands Sonnenbrille sitzt schief, er hat Torte im Haar und versucht sich gerade hinzustellen, als wäre nichts geschehen. Er sieht Marcel an und kann sich sein Grinsen angesichts der ernsten Blicke nicht Oliver Droste 66 Irgendwo in Nirgendwo verkneifen. Sabine bekommt Angst vor dem in Anflug befindlichem Lachen, „untersteh' dich, jetzt zu lachen, Roland!“ Menschen und Gaffer glotzen schon, endlich mal was aus dem Leben zu sehen, was zur Unterhaltung beiträgt und am nächsten Tag den Kollegen bei der Arbeit, oder den Nachbarn erzählt werden kann; das Leben ist doch aufregend. Roland bekommt einen roten Kopf, da er merkt, wie zwecklos das SichZusammenreißen ist, so daß ihm etwas Schweiß auf der Stirn steht. Sabine sieht ihn ärgerlich an, „Untersteh' dich!“. Der Vater sieht zum hinzukommenden Kellner, dem ein „oh madre mia“ entfährt und versucht ihn zu beruhigen, „oh, ein kleines Mißgeschick“. Der Kellner geht an ihm vorbei zu dem alten Paar, „ist ihnen etwas passiert?“. Der alte Herr macht seinem Ärger platz, „dieserr Rrowdy belästigt meine Frrau“. Der Kellner sieht zu Roland, „ich rufe gleich die Polizei, Bürschchen“. Sabine entschuldigt ihn, um die Wahrheit darzustellen, „er ist nur gestolpert“. Daraufhin versucht sich Opa zu rechtfertigen, „derr Mann hat mene Frrau beledicht“. Sabine reagiert mit ausgeprägtem Rechtsempfinden beseelt, „nun hören sie aber auf, das ist doch gar nicht wahr“. Opa wird nun, durch dieses Besserwisserhafte eines jungen Menschen, der ihn zurechtweisen will, unfreundlich und unsachlich, und blafft Sabine mit gestauten Halsvenen an, „wat wollen sie Flittchen denn?“. Sabines Mutter, für die dieser Ausdruck noch das extrem Anrüchige durch selbst erlebtes aus Oliver Droste 67 Irgendwo in Nirgendwo vergangenen Zeiten an sich hat, sieht ihren Mann an, „Flittchen?“ Sabines Vater macht eine abwinkende Handbewegung zu seiner Frau und versucht nun geschäftsmännisch aus dieser Situation herauszukommen, „wir können das doch ohne Aufsehen regeln“. Roland sieht finster zum Opa, „wat soll'n dat heißen, Flittchen, meinste etwa meine Freundin hier?“ Daraufhin scheint für die Mutter eine Welt zusammenzustürzen, als sie die Verhältnisse erkennt und sieht erschrocken zu Sabine, „das ist dein Freund? Jetzt weiß ich auch warum du ihn nicht mit nach Hause gebracht hast“. Opa sieht Roland ebenfalls mit noch weniger Wohlwollen in die Augen, „ein bießchen mehr Rrespekt vor dem Alterr biete“ und versucht seine Überlegenheit auszuspielen, als er entdeckt, wo Roland empfindlich ist, „so Leute wie iehrr jehörrt in‘ne Anstalt“. Roland wird daraufhin aggressiv, „bist doch schon Scheintod, Opa“. Marcel guckt erschrocken zu Roland, der nicht mehr begreift, wie sich diese Situation immer weiter hochschaukeln kann. Opa springt auf, sein Alter vergessend, seine Jugendraufereien erinnernd, „mit dierr nehme ich es noch lange auf!“ und ballt dabei seine Hand zu einer Faust. Marcel ruft dazwischen gehend, „jetzt hör‘ endlich auf, Roland!“. Nun gerät alles durcheinander. Ein von einem Passanten über Handy gerufener Streifenwagen kommt angefahren und der junge und der alte Polizist springen heraus, was Marcel erschreckt Oliver Droste 68 Irgendwo in Nirgendwo feststellt. ‚Diese Stadt ist ein Kaff, die Welt ein Dorf‘, denkt er. Der junge Polizist versucht sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen, „was ist hier denn los?“ und sieht zu Marcel, „oh sie schon wieder?“ Der ältere Kollege erkennt ihn ebenfalls und geht am jungen vorbei, direkt auf Marcel zu, greift seinen Arm und dreht ihn auf den Rücken, wobei er triumphierend entgegnet, „Augenblick, das haben wir gleich“. Opa, nun sichtlich auf der Gewinnerseite, sich in seiner Meinung endlich bestätigt sehend, ruft in dem Durcheinander, „die haben uns ieberfallen, die sind jemeinjefährrlich“. Sabines Vater, dem gerade der Wind aus den Segeln genommen wird und seinen Mut im Angesicht der Ordnungshüter verliert, versucht zu klären, „moment mal, das ist aber nicht so gewesen“. Sabine verliert nun die Fassung über die unvorhersehbare Wendung des Geschehens und fordert den Polizisten auf, „lassen sie Marcel los!“ und greift nach dessen Arm, „der hat am allerwenigsten damit zu tun“. Verblüfft über einen Angriff auf seine Autorität seitens einer jungen Frau, sieht er sie an und weiß nicht recht, wie er reagieren soll. Der alte Herr sieht nur noch Verbrecher in den mit ihm involvierten Leuten und ruft, „die jehörrt auch mit dabei!“. Nun wird es seiner Frau aber in anbetracht der schwindenden Objektivität ihres Mannes zu unsachlich, so daß sie ihn zur Resson zu bringen sucht, „Herfrried, jetzt hör aber ouf“. Oliver Droste 69 Irgendwo in Nirgendwo „Wielst Du diese Halluncken noch in Schutz nehmen, Wielma?“ Murphies Gesetz wird wieder einmal bestätigt. Das alte Paar streitet sich. Der junge Polizist zieht Sabine grob vom alten, was Roland nicht so sehr gefällt und zu diesem geht, jedoch wieder stolpert, gegen den jungen fällt, so daß dieser erschrocken zu Boden stürzt. Opa ist in solcher Erregung und zeigt, seine Worte zu bestätigen, auf das sich ereignende, „na, de sehjen sie es selbst, die sind jemenjefährlich, dat hätte es frrieher nicht jejeben!“. Der alte Polizist, ebenfalls über den Verlauf des Einsatzes erschrocken, ruft über Handfunkgerät Verstärkung. Der junge Kollege dreht Roland, in einer sich schnell befreienden Bewegung, auf den Bauch und zieht dessen Hand ebenfalls auf den Rücken. Marcel sieht den jüngeren Wachmann an, „jetzt übertreibt ihr aber“. Sabine ruft hilflos, dem Durcheinander ausgeliefert, „was soll denn der Mist, ihr spinnt wohl“. Der Alte dreht sich um, „wie bitte, wir spinnen, das ist Beamtenbeleidigung!“ „Ist mir doch scheißegal“, erwidert sie in Wut geraten, keine Konsequenzen mehr fürchtend, „laßt sie los, das ist alles, alles, Scheiße!“ Ihr Vater, dem die Resolutheit seiner Tochter zu weit geht und das Schlimmste von ihr abhalten will, geht dazwischen, zieht Sabine weg und beschwichtigt den älteren Polizisten, „das hat sie nicht so gemeint, Herr Wachtmeister“. Sabine reagiert erhitzt, „laß mich los, ich hab's so gemeint und wiederhol‘ es noch mal: Ihr seid...“ Doch da Oliver Droste 70 Irgendwo in Nirgendwo springt ihre Mutter entsetzt dazu und hält ihrer Tochter den Mund zu, „Mensch, Kind, du redest dich um Kopf und Kragen, sei jetzt bloß ruhig, du kommst jetzt mit!“ Ihr Vater versucht eine Erklärung für sich und das Verhalten seiner Tochter zu finden und ruft, „die, die ist von den beiden betrunken gemacht worden, sowas macht unsere Tochter normalerweise nicht“. Der wieder, im Angesicht der schützende Staatsmacht sich heraustrauende Kellner fragt nun erregt mit ausgebreiteten Händen die Zuschauermenge von Passanten, „wer bezahlt mir jetzt den Schaden?“. Sabine ruft zu ihrem Vater ärgerlich, „laß mich los“ und löst sich aus seinem Griff. Der Vater fast sie am Arm und ohrfeigt sie, sieht sich dann etwas peinlich berührt um, da er beobachtet wird, „du blamierst uns ja“. Die Mutter sieht ihren Mann an, ärgerlich über die Ohrfeige, die in der Erregung hart getroffen hat und sagt, „hör mal, jetzt reicht es aber.“ Ein Durcheinander entsteht und verschlimmert sich, was die beiden Polizisten kaum noch unter Kontrolle haben. Der junge Polizist ermahnt den Vater von Sabine, hier niemanden zu schlagen, wobei er Roland wieder losläßt. Sabine blutet aus der Nase und ist leicht benommen. Der alte Polzist diskutiert mit dem Kellner und den alten Leuten. Roland sieht den neben sich sitzenden Marcel an, der das Treiben um sich herum betrachtet, es aber nicht mehr einzuordnen weiß und stößt ihn an den Arm, worauf ihn Marcel ansieht und fordert diesen Oliver Droste 71 Irgendwo in Nirgendwo auf, „los, wir hauen ab!“. „Das können wir doch nicht machen, Roland.“ „Und ob“, springt auf, „los, komm!“. Man hört Polizeisirenen und zwei weitere Streifenwagen kommen und Marcel bekommt es nun langsam auch mit der Angst zu tun, wie es nur so eskallieren konnte, „Oh, scheiße. Und das alles nur, weil ich Pizza nicht mehr sehen kann“. Beide laufen los, um den sich nun anbahnendem Ereignissen zu entfliehen; allerdings erreichen sie Gegenteiliges dadurch; seinem Schicksal kann niemand entrinnen, man rennt ihm nur in die Arme, beschleunigt es , strampelt sich tiefer in den Sumpf des Dunkelspinngeschehens. Der Alte wird von ‚umsichtigen‘ Passanten sofort darauf aufmerksam gemacht und rennt hinterher, ruft seinen Kollegen zu. Zwei weitere dazugekommene Polizisten laufen ebenfalls hinterher. Der Faden schließt sich Emira und Bea kommen auf die Straße gerannt und laufen um die nächste Ecke, der Fußgängerzone entgegen, wo sie hoffen, in der Menge untertauchen zu können. Drei Skinheads springen durch die Tür hinterher und laufen mit knallenden Springerstiefeln hinterher. Weitere Glatzköpfe folgen mit grimmigen Gesichtern, wie sie nur der Entsetzen hervorrufende Tod haben kann, aber von seinen Häschern gerne Oliver Droste 72 Irgendwo in Nirgendwo getragen wird, wie ein Pesthauch in die Straßen der Stadt fließt. Emira, die noch mechanisch sowie geistig paralysiert gelaufen ist, läuft nun schneller, den Pesthauch im Nacken spürend, den fauligen Atem riechend, an den Fußgängern vorbei, rempelt den einen und anderen an, springt an ihnen vorbei, weicht ihnen aus und sieht sich ängstlich nach ihren Verfolgern um. Sie sieht die Uniformierten, ihre glühenden Augen leuchten aus tiefstem Schwarz, konturenlos. Ein Skinhead rennt ein Mädchen um. Emira beißen nun Traumgewalten, die ihre Realität vertilgen wollen. Ihr schwarzes Haar flattert wie ein Trauerschleier, immer länger, Nacht werdend. Rote Tänzer verspringen vom gestürzten Mädchen, laufen neben Emira zuckenden Tücheraugenblicks, aufflackernd zwischen den Passanten. Sie will ein schwarzer, großer Vogel werden und über die Dächer davonschweben, mit der Leichtigkeit des Unbefangenseins, wie wir gekommen sind. Bea reist die etwas stockende Emira am Arm, um in die nächste Straße in die Fußgängerzone abzubiegen. Sie sehen sich nach ihren Verfolgern um; das Stiefelknallen wird lauter, sie biegen nun ebenfalls in diese Straße ein. Marcel und Roland haben bekanntlich selbiges Problem wie Emira und Bea, in anderer Gefahrengewichtung. Jedoch rennen sie auch durch Oliver Droste 73 Irgendwo in Nirgendwo Angst beschleunigt, ihren ausgelösten, herausgelösten und dann entkoppelten Konsequenzen, zu entfliehen. Die Polizisten rufen, der ältere schreit im Dienstübereifer oder im Jähzorn über die Flucht, ihr „halt, stehenbleiben!“ und der Alte dann noch „haltet sie auf!“, seine sprinterischen Fähigkeiten erschütternd mangelhaft ausgebildet bemerkend. Marcel und Roland sehen sich um und bemerken nicht, das ihnen entgegenkommende Spinnennetz der Schicksalsweberinnen, so daß sie wie Insekten, vom Licht angelockt, in die dahinter befindliche Lampe fliegen wollen, sich jedoch im Netzt verkleben, worauf die Spinne, aufgrund der Erschütterung allamiert, aus ihrer düsteren Ecke kommt, um ihre Opfer durch einen Giftbiß zu lähmen, einzuwickeln und ihrem Schicksal zu übergeben. So laufen Marcel und Roland an Emira und Bea vorbei, sich erstaunt kurz anblickend, wobei sich Marcel und Emira in die Augen sehen, da sie aus der jeweiligen Fluchtrichtung des anderen kamen und aneinander vorbeiliefen. Marcel erkennt die Augen wieder, bleibt stehen und will etwas sagen, doch bringt kein Wort heraus. Roland bleibt nach einigen Metern ebenfalls stehen, da die Gruppe der Skinheads mit Waffen in den Händen wutschnaubend auf ihn zukommen, braucht das geringere Übel nicht lange abzuwegen und macht kehrt, wobei er nun Marcel stehen sieht. Als Emira wieder nach vorne blickt ist es bereits zu spät und sie stößt mit dem älteren Polizisten Oliver Droste 74 Irgendwo in Nirgendwo zusammen, wobei dieser sie festhält. Der Polizist fragt die sich windende, „wohin so schnell? Wohl keine Augen im Kopf“. Emira schaut sich um und sieht Marcel an. Ihre Blicke treffen sich kurz, kreuzen sich, stürzen in die Tiefen und schauen dann beide auf die wutentbrannten Skins. Der erste von ihnen sieht Emira, wird langsamer, so daß er vor ihr zum Stehen kommt, sieht den Polizisten kurz an und schlägt ihr mit der Faust ins Gesicht, so daß sie hinfällt. Bea springt nun, alle Angst vergessend, dazwischen und schreit „Emira!“ Marcel zwischen die in immer größerer Zahl eintreffenden Skinheads. Marcel springt auf den Skinhead zu, der von einem zu Hilfe eilenden Polizisten festgehalten wird und tritt dem Glatzkopf zwischen die Beine, worauf dieser schmerzverzerrt unter den erschöpften Augen des Polizisten zu Boden sinkt. „Jetzt auch schon Frauen schlagen, was?“ schreit Marcel, die Gefahr in der Skinheadübermacht nicht sehend. Die zwei anderen dazukommenden Polizisten springen zwischen die alles entschlossen scheinenden Skins, "macht jetzt keinen Fehler Jungs!“. „Die Fotze hat mein' Kumpel umgebracht“, argumentiert der eine mit juristischem Weitblick auf Selbstjustiz gerichtet, den Blutrausch in den Augen. Die anderen Skinheads drängeln dazwischen, sich jedoch von der Staatsmacht aufhalten lassend. Ein Polizist ruft errötet, „he, he, erst mal langsam, alles in Ruhe“. Oliver Droste 75 Irgendwo in Nirgendwo Reifenquitschen in der nächsten Seitenstraße und Türenknallen künden von der Ankunft eines Bullies, aus dem einige langhaarige oder wüst friesierte autonome Gestalten mit Dachlatten und Knüppeln bewaffnet und mit Arrafattüchern vermummt, nähern. Ein Skinhead, erstarkt durch die Anwesenheit der anderen Glatzen, entgegnet der Staatsmacht, „nix, langsam, die machen wir platt und du Wichser hinderst uns auch nich‘“, worauf dieser Marcel einen harten Faustschlag ins Gesicht versetzt, der zwischen dem Polizisten und dem Skinhead neben Emira zu Boden fällt. Weitere Polizisten kommen durch die sich teilende, ängstliche, jedoch schaulustige, bzw. blutrünstige Menge gelaufen. Jedoch rennt ihnen die vermummte Bürgerwehr von der Seitenstraße in die Flanke. Schützend und erschreckt heben die Autonomen ihre Schlagwaffen vor den Körper, was die verblüfften Polizeibeamten ihrerseits mit den Schlagstöcken nachtun. Hektisch sehen einige der Linken, die Rechten dort bei Marcel und Emira stehen, sie umringen, dann die neben sich laufenden, erstaunten Polizeibeamten. Sie bemerken nun auch, daß ihre verhassten Feinde eingetroffen sind. Nur ist die Polizei zahlenmäßig unterlegen und ohne eine erkennbare Ordnung im Chaos eingetaucht, was zu wildem Geschrei und zu Unentschlossenheit aller Beteiligten führt. Marcel und Emira rücken in dem Treiben dichter aneinander, von gelegentlichen Fußtritten der Glatzen tracktiert oder zusammen Oliver Droste 76 Irgendwo in Nirgendwo getreten im eigendlichem Sinn des Wortes, von den sich um die beiden schützend stellenden Polizisten verteidigt. Eine Situation, in die der alte Polizist gedrängt, sein Handeln von Schizophränie bespieen, nicht mehr klar beurteilen kann, am liebsten die Seite im Nicht-Schützen-Wollen wechseln würde, da er kaum Ambitionen hat, nun Marcel beschützen und helfen zu müssen. Ein Polizist ruft über das Handfunkgerät mit theatralischer Stimme der Not um Hilfe nach dem SEK. Die dazukommenden Polizisten bieten ein merkwürdiges Schauspiel von abstrakter Diversität. In zwei Reihen gehen sie, sich gegenseitig mit den Autonomen drängelnd auf die Kollegen, Skinheads und den dazwischen kauernden Seelenwesen zu, sich gegenseitig argwöhnisch beäugend. Die autonome Bürgerwehr trennt sich angekommen von der polizeilichen Flanke, um auf die nun die wahre Gefahr erkennenden Skins einzudreschen, was diese ihnen natürlich gleichtun, nur eben in umgekehrter Weise. Die Polizeibeamten nutzen das Chaos, um sich zu formieren, zerren Emira und Marcel in ihrem Schutz zur Seite. Schaufenster gehen zu bruch, Stühle und Tische fliegen nach hooligenmanier durch die Luft. Roland und Bea gehen in dem Durcheinander unter. Emira richtet sich auf und sieht zu Marcel herüber. Marcel kommt langsam wieder zu sich und richtet sich ebenfalls auf und sieht Emira an, wobei er seine blutende Nase berührt und das Gesicht vor Schmerz verzieht, das eingesetzte Chaos um sich noch nicht Oliver Droste 77 Irgendwo in Nirgendwo registrierend. Roland verfolgt hingegen mit erstaunten Augen die Szenerie, überlegend, ob es noch an seinem Rausch liegt. Marcel sieht seine blutige Hand an „aua, was für ein Tag“, sieht zu Emira, die ebenfalls eine blutende Nase hat, sieht ihr in die Augen und grinst. Emira versteht seine aufkommende Heiterkeit nicht und fragt ihn, „was gibt's da zu grinsen?“. „Deine Nase ist ganz rot, wie bei'm Clown.“ „Na, du siehst aber besser aus, Idiot.“ Im großen Chaos springen zwei Skinheads auf Emira im Blutrausch wild um sich prügeld los und fangen an, auf sie einzutreten, „Du Schlampe hast Bernie umgebracht“; ein anderer, von einem Polizisten aufgehalten, feuert seinen Kumpanen an, „mach die Alte fetrig!“ Roland klammert sich um ein Bein des Angreifers und Marcel wirft sich zwischen die Fußtritte schützend über Emira und schreit „hört auf, seid ihr verückt“, wobei er einige Tritte abbekommt, „ahh, ihr spinnt doch, ahrr, hört auf, das ist doch 'ne Frau“. „Halt's Maul Wichser, das is' ne dumme Fotze!“, schreit stumpfe Dummheit, tritt zu und lacht. Zwei Polizisten springen dazu, werfen einen zu Boden und legen ihm Handschellen an. Es gibt Gerangel mit den Skinheads. Emiras Gesicht verkrampft sich, sie versucht Marcel, um sich strampelnd, loszuwerden; ihre Augen flackern, die Venen im Gesicht stauen sich, so daß es eine andere, strenge, fast irre wirkende Linienführung bekommt, was einen surrealen Gesichtsausdruck zur Folge hat. Sie schreit nun wild Oliver Droste 78 Irgendwo in Nirgendwo werdend, durchdringend, Seele von Geist scheidend, auf. Es dringt an Beas Ohren, die sich nach Emira umsehend, dem Schreien nähert. Marcel weicht erschrocken zurück und sieht die sich wälzende und schreiende an, legt seine Hand beruhigend auf ihre Schulter. „Was ist los mit dir, bist du verletzt? Es ist in Ordnung, die Skinheads werden abgehalten.“ Er sieht sich hilfesuchend um, mit den schweißverklebten Haaren im Gesicht. Bei der Berührung schreit Emira um so mehr. Bea hat sich nun durchgerungen und kommt bei Marcel und Emira an, kniet sich zu ihr und hält sie fest. „Emira, ich bin es Bea, hörst du, Emira! Alles ist gut, es ist nichts passiert, die Gefahr ist weg.“ Bea reißt Emira zu sich und hält sie in ihrem Arm. Ihr Schreien weicht einem Wimmern und ihr Körper fällt in eine Starre des sich im Arm geborgenen Haltens. Emiras Augen öffnen sich und starren ausdruckslos zu Bea. „Los Emira, wir müssen hier weg.“ Emira sieht sie mit unverändertem Gesichtsausdruck an und antwortet nichts, als verstehe sie nicht, was Bea sagte. Ein weiteres Polizeifahrzeug kommt hinzu, so daß die Staatsmacht die Überhand gewinnt und die wilden Horden auflösen und in die Flucht schlagen kann, wodurch sich das Geschehen nun vom Schauplatz entfernt. Wie konnte ein dummer Sturz zum Sturz der Ruhe und Ordnung einer Stadt, eines Staates kommen; was mag die Presse schreiben, was mag das Ausland denken über immer wieder Oliver Droste 79 Irgendwo in Nirgendwo aufkeimende rechte Gewalt, diesen multiresisten Keim der geistigen Beschränktheit? Das alte Ehepaar, an dessen Tisch es zu dieser entglittenen Situation kam, sitzt noch an ihrem Tisch, als sich das Geschehen entfernt, entsetzt, den Zeitgeist nicht mehr verstehend; wie konnte es zu solch ausschweifender Unordnung kommen, wie konnte die Jugend so verkommenn? Eine Antwort hatte Herrfried, ein paar stramme Burschen waren ja noch mit rechter Gesinnung dabei, ja, ein kleiner Hitler müßte noch einmal her, damals ging es uns allen besser. Er sieht sich das zerbrochene Geschirr auf dem Boden an, dann zu seiner noch schnell atmenden, zur Hyperventilation neigenden Frau hinüber und fragt sie: „und wer bezahlt uns nun die Schwarzwälder Kirschtorte und den Kaffe?“ Oliver Droste 80 Irgendwo in Nirgendwo VIII Von Flucht, Tabletten und einem Boddybuilder Mit dem wie Nebel sich auflösendem Chaos versuchen Marcel, Emira und Bea sich ebenfalls zu verflüchtigen, um nicht noch mehr Probleme mit dem Recht und der Justiz zu bekommen. Emira liegt noch in Beas Armen, die sie wie ein ängstliches Kind hält und beruhigt. Doch Emiras Geist ist von Nebeltrollen umschwemmt, im Wald der Trauerweiden, Weidenkätzchen, Blütenstaub. Sie taucht immer tifer in den Duft der morastigen Moorluft, im Nebelland wachend. Feuerrote Ballettänzer springen und fliegen flatternden Tüchern gleich, zwischen den Bäumen flimmernd umher, getragen von einem tiefen Wimmern. Die Stimmen dringen nur aus tunnelnder Ferne zu ihr; sie hat keine Gewalt mehr über ihr Wesen. Marcels Stimme schleiert an ihr Ohr, „warte, ich helfe dir“. Emira spürt die mütterliche Wärme und das Streichen Beas Hand in ihrem Gesicht; sie öffnet die Augen, die gerötet, geädert, etwas wirr, mit zuckendem Augenlid, den Geisteszustand veratend, umherblickt, bis ihr Blick auf Bea klebenbleibt, dem festen Punkt in ihrem Nebelleben. Ein Lächeln fliegt wie ein Schmetterling in ihr Gesicht, verweilt dort eine Schwinge weit, „so weit bin ich schon. So weit, - so gut. - Wo sind sie denn? Sind sie schon hinter mir her, Bea?“ Eine Krähenschaar hebt schwatzend auf zum Himmel, der noch düsterer erscheint. Oliver Droste 81 Irgendwo in Nirgendwo „Emira, es ist alles gut, bist du verletzt?“, wobei sie ihr mit ihrem Ärmel das Blut aus dem Gesicht wischt, „wir müssen hier weg.“ Bea versucht ihr bei diesen Worten, auf die Beine zu helfen. Emira schwankt wie betrunken und kann sich nicht halten. Marcel greift sie am anderen Arm, worauf ihn Emira erschrocken ansieht, „wer bist du, was willst du von mir?“ „Ich bin Marcel, ich helfe dir, ich war dabei, als die Skinheads dich verprügeln wollten, ich habe dir geholfen, ich helfe dir.“ Emira sieht ihn argwöhnisch an, dann fragend zu Bea, die sie beruhigt, „das wird schon alles in Ordnung kommen“. „Skinheads?“Marcel wischt sich das Blut von seiner Nase, verschmiert einen roten Schleier. „Komm wir müssen hier weg.“ Emira ist etwas unsicher auf den Beinen, Marcel nimmt ihren Arm und legt ihn um seinen Hals, damit sie sich etwas stützen kann. Ihm gefällt diese Haltung, der Geruch, der in seine schmerzende Nase schleicht und in sein Unterbewußtsein schwebt. „Uhh, mir ist sooo schwindelig.“ Emira torkelt wie betrunken mit schweren Füßen schlurfend. Marcels Hände zittern noch vor Aufregung und sind kalt. „Komm schon, ein Stückchen müssen wir jetzt aber gehen.“ Er blickt sich um, den Schauplatz dieser Schlacht nocheinmal zu sehen. Keine Polizei, kein Skinhead und auch kein Autonomer ist mehr zu sehen, nur noch ferner Lärm zu hören. Er dreht sich zu Bea und fragt, „wo kamen denn die Skinheads her, was wollten die von euch?“ „Emira hat einen von ihnen Oliver Droste 82 Irgendwo in Nirgendwo die Treppe heruntergestoßen, als der so einen ausländerfeindlichen Spruch gemacht hat.“ Marcel sieht Emira verblüfft an und grinst „du hast dich mit diesen Skins angelegt, diesen Totschlägern?“, seine Verwunderung läßt sich nicht in Worte fassen, was Marcel jedoch versucht, „diesen Monstern?“ Emira sieht ihn schwankend an, „jemand muß es ihnen doch zeigen, jemand muß sich doch wehren“. Bea ergreift in immer noch mütterlicher Weise ermahnend das Wort, „die hätten dich umgebracht, wäre da nicht die Polizei gewesen und der Typ hier, wahrscheinlich.“ „Ich heiße Marcel.“ „Ja, ja. Wo kamen eigendlich die ganzen Polizisten her?“ „Eh, das ist auch eine komische Geschichte. Ja, die waren wegen mir und meinen Freunden da; das heißt sie waren hinter uns her, weil mein Kumpel einen Tisch umgerissen hat.“ „Mit so vielen Polizisten?“ entfährt es Bea ungläubig. „Ja, ist irgendwie alles etwas merkwürdig gelaufen, hat sich so hochgeschaukelt.“ „Und die ganzen Gaffer“, klagt Bea bösen Blicks zu Marcel, „niemand hat Emira und mir geholfen“. „Und ich und Roland, wir sind wohl auch nichts.“ „Nein, nein, so war das nicht gemeint.“ Emira wird blasser und sackt in den Knien ein, „verdammt, ich krieg Bauchschmerzen“. Bea sieht sie sorgenvoll an, „bist doch verletzt?“ Marcel zieht Emira wieder hoch, „sie hat einen Tritt in den Bauch bekommen“. „Was redest'e da? Mann, ich hab' Magenkrämpfe. Das hab ich wohl mal.“ Bea versteht, was sie meint und fragt „hast du deine Oliver Droste 83 Irgendwo in Nirgendwo Tabletten nicht mit?“. Emira kneift die Augen vor Schmerzen zusammen und krümmt sich. „Können wir nichts dagegen tun? Wir sollten zum Arzt.“ Bei diesem Wort fährt Emira wieder hoch, „ich brauche meine Tabletten, keinen Arzt“. Die Ringe unter ihren Augen scheinen tiefer zu schwellen. Marcel bleibt stehen und sieht Emira an, „was sagst'e? Warte, mir fällt was ein“. Sie halten vor einem Kiosk. „Bleibt hier stehen, bin gleich wieder da“, geht an den Kiosk, bezahlt und kommt mit einer Flasche Wein zurück. „Hier, Wein ist für den Magen gut, steht schon in der Bibel.“ und gibt ihr die Flasche. Bea sieht Marcel böse an, „was soll denn das werden, denkst du Emira ist auf Turkey, oder was?“ Bea will Emira die Flasche abnehmen, die wehrt sich jedoch dagegen, „wenn ich keine Tabletten habe, hilft mir das schon mal bis nach hause“. „Emira, du wirst nochmal schlimm enden“, antwortet Bea resignierend. „Na, egal“ meint Emira, schraubt die Flasche auf und trinkt, etwas läuft daneben und sie setzt die Flasche ab, hustet. In diesem Augenblick kommen Sabines Eltern aus der Fußgängerzone. Marcel sieht sie etwas erschrocken aus glasigen Augen und unrasiert an, hebt die Schultern mit dumm fragenden Augen, sich entschuldigend. Emira hustet und setzt die Flsche wieder an. Marcel sieht zu ihr, stößt sie an, um sie vom Weintrinken abzuhalten, so daß sie sich wieder verschluckt und eine Weinwolke auf die Oliver Droste 84 Irgendwo in Nirgendwo Straße pustet. Marcel wird etwas rot und sieht wieder zu den Eltern. Sabines Mutter verlangsamt ihren Schritt, so daß ihr Mann sie unwillig ansieht, „oh, Gott! Und mit sowas hat unsere Sabine Umgang“. Ihr Mann sieht sich um, den Blick seiner Frau zu folgen, das Unheil zu schauen, worauf er bestimmend herrscht „das wird sich ändern, die soll nicht so enden“. Angewidert haken sich die beiden noch fester ein, als könnten sie so vor der Welt besser bestehen , wechseln die Straßenseite und beschleunigen ihren Schritt. Marcels Ruf, „es ist nicht so, wie es aussieht“, verhallt nur als gesprochenes Wort und läßt sie noch schneller gehen, der Peinlichkeit dieser Situation zu entkommen. Marcel steht die Ratlosigkeit im Gesicht, die dann dem Ärger weicht, „Scheiße! Das paßt jetzt“. Emira hat die Flasche fast geleert und sieht Marcel an, „jetzt bin ich dir wohl peinlich, was? Passe nich' in deine heile Welt“, worauf sie, um das Gesagte anscheinend noch zu unterstützen, an der Hauswand zur Seite auf den Boden rutscht. Bea schüttelt den Kopf. Marcel zieht Emira hoch, „komm, es reicht, du mußt weiter“. „Aua, du kneifst mich.“ „Quatsch, kneifen, du kannst doch gar nicht alleine stehen, geschweige denn gehen.“ Bea greift Emira ebenfalls ärgerlich unter den Arm, „Marcel hat recht, jetzt komm“. Marcel legt ihren Arm um sich und trägt sie mehr, als daß sie selber geht. Der Alkohol fängt an bei Emira zu wirken; sie sackt mal zusammen, mal Oliver Droste 85 Irgendwo in Nirgendwo nimmt sie den Kopf hoch, dann fällt er nach hinten und wieder vorne über, dann lacht sie kurz auf. Ein sonnenstudiogebräunter Bodybuilder bleibt angewidert stehen, und zischt durch seine Zahnlücke, „scheiß Drogenabhängige, ihr gehört aus dem Verkehr gezogen“. Marcel sieht ihn schweißgebadet, mit Haaren wüst im Gesicht gefallen, an, ärgerlich über die sich angehäuften Probleme und das I-Tüpfelchen einer überflüssigen Anmerkung eines nach körperlicher Perfektion strebenden Menschen, der die geistige Perfektion für weniger erstrebenswert hält und beschimpft ihn mit einem seiner Gedichte: „Es muß wohl alles in deine DIN-Welt passen, Einheitszahnweiß grinst wurzellos aus klearasilgesalbten reinen Gesichtern. Ausdruckslose Köpfe aus Crashtestdummieformen mit Trendsetterfrisuren runden die Fernsehschöpfung ab. Silikonkunstwabbelwölbung steigert den Hormonspiegel bei Waschbrettbauchbizepsboddybuilder-monster, grinst aus Wachstumshormonzahnlücke, potenzkatalysierter Viagrasex, pornovideoinduzierte Neutralphantasie stößt sich an Romantikkerzenlichtpretty-woman. Unförmigkeit verläßt den natürlichen körper hin zum Körperkult, Mtv-kindermode verstößt ein Straßenkind, flüchtet in eine feindliche Fernsehwelt, schafft Suchtunzufriedenheit durch den Vergleich mit DIN-unmensch, schreit Unwortgassenslang, prügelnde Ghettogang, vom Ghettosoundblaster getrieben in TV-brutalität. Eine Oliver Droste 86 Irgendwo in Nirgendwo neue kalte Welt verläßt den alten Arierdreiviertelhalbjuden-schöpfungsversuch in einen globalisierten Wirtschaftshitlerdemokratiefaschismus zu gesteuerter Selbstverwirklichung, hin zu einer neuen Einheitswelt nach DIN“. Der muskelbepackte Mann geht, überheblich grinsend, kantigen Schrittes, mit abgespreizten Armen, weiter, „voll die Kaputten“; er versteht nichts. Bea sieht Marcel verwundert an, welch Schauspiel sich in dieser unwirlichen Welt sich ihr noch bietet. Für Emira wird der Boden immer weicher, als würde sie in Wackelpudding einsinken, doch Marcel zieht sie weiter, bis sie an ihrem Ziel angekommen sind. Emira nimmt den Kopf hoch, sieht Bea an, „mir geht’s nicht gut“. „Kein Wunder, du hättest nicht die ganze Flasche Wein trinken dürfen.“ „Ich brauche die Tabletten, sind noch welche da, Bea?“, ihre Augen flackern trübe und ihre Stimme zittert. „Mensch, Emira, Du machst Dich noch kaputt damit.“ Marcel wundert sich über diese Tablettenkonversation und fragt sich, worum es sich dabei wohl handelt. Bea schließt die Tür auf und sie kommen in ein Portal, das noch von verschwenderischer Raumplanung dieses ehemaligen Mädcheninternats zeugt. Sie stützen Emira beidseitig, die in Erwartung ihrer baldigen Dosis an Medizine etwas zielstrebiger die Stufen mit hinaufgeht und sich nicht mehr so sehr stützen lassen möchte, jedoch aufgrund fehlender Gleichgewichtssensibilität und Oliver Droste 87 Irgendwo in Nirgendwo Feinmotorik, stürzen würde, würde sie nicht gehalten werden. Oliver Droste 88 Irgendwo in Nirgendwo XIV In der Wohnung von Emira und Bea Bea schließt die Tür zu ihrer WG auf; Emira steht, nervöus hinter ihr, von Marcel noch eingehakt. Marcel gefällt diese Nähe zu Emira, die ihm wie schicksalhafte Fügung vorkommt. Er sieht zu ihr, betrachtet durch sein wirres Haar ihre Gesichtskonturen, ihre feinen Züge, die dunklen Augenbrauen, die sich zu den Schläfen hin verjüngen, ihre symetrische Nase, die kleinen Nasenflügel und den Mund, wobei die Oberlippe die gleiche Größe wie die Unterlippe hat, sich jedoch in der Mitte etwas verdickt, was die geschwungene Linie noch verstärkt. Wie gerne würde er jetzt ihre Augen sehen, die ihn so faszinieren. Sie treten in den Flur ein, ein gerader Gang, von Efizienz zeugend, nicht zu sparsam, jedoch auch nicht dem verschwenderischem Baustil des Portals folgend. Kleider hängen an einemHolzstil, der in der Decke mit Stricken befestigt ist. Die Decke zeigt einen einfach aber fantasivoll gemalten Wolkenhimmel, der von Kreativität zeugt. Die Wände überaschen jedoch durch bunte Regenbogenfarben, die die Ruhe des Himmels durch Simultankontraste und Komplementärkontraste in solche Unruhe versetzen, daß der Betrachter diesen visuell unruhigen Bereich schnellstens zu verlassen hofft. Oliver Droste 89 Irgendwo in Nirgendwo Diese Unruhe scheint sich auch auf Emira zu übertragen; sie hakt sich bei Marcel aus, geht in den Flur, von Farben aufgesogen, in den Regenbogen gezogen, scheint sie von bunten Kräften mal hierhin, mal dorthin geschoben zu werden; dreht sich zu Emira und fragt sie: „wo sind die Tabletten, ich hab’s vergessen?“ Sie geht immer schiefer und sackt an die Wand, Marcel kommt ihr zu Hilfe. „Im Bad, wo du sie das letzte mal hast liegenlassen“ bemerkt Bea resignierend und fügt hinzu, die Tür schließend, „es ist keine gute Idee, sie mit Alkohol zu nehmen“. Emira lößt sich von Marcels Hand, „laß mich los, ich komm schon alleine zurecht“ und geht ins Badezimmer. Bea geht an Marcel vorbei, öffnet die nächste Tür und dreht sich zu Marcel, der immer noch hinter Emira hersieht, „komm rein, hier in die Küche. Siehst auch nicht gut aus“. „Emira scheint es schlechter zu gehen.“ Bea weist Marcel Platz zu nehmen. Die Küche zeugt von ebensoviel Phantasie wie der Flur. Die einfache Tapete ist mit Farbe in eine dezent bunte Arabeske aus Sonnenblumen, Zitronen, Efeu mit Weintraubenreben verwandelt worden. Je länger Marcel sich umsieht, desto mehr merkwürdige Gegenstände erkennt er. Sogar ein Regal mit verschiedenen Arbeitsgeräten ist aufgemalt. Er setzt sich in einen Sessel, der die Improvisation der Einrichtung unterstreicht und, wie der Rest des Inventars vom Sperrmüll scheint. Der Gesellschaftsmüll ist ihr Komfort und hat noch Stil, Oliver Droste 90 Irgendwo in Nirgendwo bunt aber eine wilde Linie. Den kleinen Tisch bildet eine Teekiste, die mit einem schwarzweiß gemusterten Tuch gedeckt ist. „Du möchtest doch sicher auch einen Kaffee, Marcel?“ „Klar, den kann ich gebrauchen, nach diesem Tag,“ er schüttelt den Kopf, „was für ein verückter Tag“. Bea stellt den Wasserkocher an, holt Instand-Pulverkaffee und Tassen, womit sie sich zu Marcel setzt. Diesen beschäftigt eine Frage, die er nicht länger zurückhalten will. „Wie lange hat Emira denn schon diese Probleme, was ist mit ihr los?“ Bea sieht ihn an und überlegt, ob sie ihm diese persönliche Auskunft geben sollte. Marcel hat Emira von einer desolaten Seite her kennengelernt, was einer Revision dieses Eindrucks bedarf. "„normalerweise geht es Emira nicht so schlecht. Diese verdammten Skinheads und diese verdammte Begegnung mit dieser Bedrohung haben Emira wohl einen Rückschlag versetzt.“ Das Wasser kocht und Bea steht auf, um ihnen den Kaffee aufzugießen. Marcel weiß noch nicht so recht, wie weit Bea ihn in das Vertrauen ziehen möchte und in wieweit er sich hier einmischen darf, sagt sich jedoch, ‚was soll’s, hier bin ich, wer weiß, ob ich sie nochmal wiedersehe‘ und fragt weiter, „um was für einen Rückschlag handelt es sich, was meinst du damit?“. „Sie ist medikamentenabhängig und wartet auf einen Platz, um davon runterzukommen. Das vertägt sich nur nicht mit Alkohol. Nur versuch ihr das mal klarzumachen.“ Oliver Droste 91 Irgendwo in Nirgendwo Marcel kneift die Augen etwas zusammen, um klarere Gedanken zu fassen „auf was’n für’n Platz?“. „Auf’n Platz an der Sonne, oder was glaubst Du?“ entgegnet Bea dieser Einfältigkeit. Marcel ärgert sich über seine dumme Frage und weiß nicht, wie er das Gespräch fortsetzen solol, wie das Eis brechen. „Ist ja gut.“ Emira kommt in diesem Augenblick in die Küche. Sie hat Beas Reaktion gehört und sieht Bea etwas glasig an, „laß ihn Bea, der is’ in Ordnung, er hilft mir, is’ gut“ und geht in ihr Zimmer. Marcel sieht durch die Küchentür hinterher. Emiras Zimmer ist schräg gegenüber, so daß erdas Treiben beobachten kann. Emira geht an einen Schrank, reißt die Schublade auf, kramt herum, nimmt eine Dose heraus, öffnet sie und wobei sie aus den zitternden Händen gleitet. Auf dem Boden liegen nun einige bunte Pillen, die aus den einzelnen Fächern herausgefallen sind. Emira sinkt auf die Knie und nimmt diese wieder auf mit dem Versuch, sie dabei zu sortieren, „Sch...scheiße!“. Bea sieht es sich eine Zeit lang von der Küche aus an, steht dann auf und geht zu ihr hinüber und nimmt ihr die Dose aus der Hand. „Wo liegen die Packungen denn, dann vergleichen wir die Tabletten und können sie sortieren.“ Bea kniet sich zu Emira, streicht ihr die Haare aus dem Gesicht. Emira sieht Bea nervöus an, „ach, egal, ich muß die sowieso nehmen, sortiert oder nicht“ und nimmt die Hand voll in den Mund und einen Schluck aus einer Wasserflasche. Bea sieht sie erschrocken an „du Oliver Droste 92 Irgendwo in Nirgendwo spinnst doch; bring dich nicht um, ich brauch dich noch“. „Ich kann nicht anders.“ Emira nimmt Beas Hand und sieht sie suchend an. Bea schmerzt die Hilflosigkeit „ich weiß; es wird alles wieder in Ordnung kommen, wir schaffen es schon zusammen. - Es ist immer noch keine Nachricht gekommen“. Bea geht hinaus und schließt die Tür, ruft nochmal zurück, „willst du auch frühstücken, Emira?“. „Ja, bitte.“ Bea stellt den Kocher wieder an und fängt an den Tisch zu decken, dreht sich zu Marcel, „na, Emira ist jetzt erst mal beschäftigt. Geh’ doch mal zu Emira und paß eben auf, daß sie nicht aufhört zu atmen. Das Zeug, was sie nimmt verträgt sich nicht allzugut mit Alkohol und den hast du ihr ja besorgt“. Bea findet immer wieder eine schöne Form von Sarkasmus. Dieser Prüfung unterzieht sie gerne die ihr fremden Personen. Wer sie jedoch kennt, lernt damit umzugehen und zu kontern, was dann meist der Beginn einer guten Konversation werden kann, wenn Bea es zuläßt. Meist ist das jedoch der Beginn der Annäherung. Marcel macht ein ungläubiges Gesicht, „ich wußte doch nicht, daß sie Tabletten nimmt. Verdammt, wo bist’e hier nur reingeraten? Bea dreht sich um und wirft ihm einen etwas verächtlichen Blick zu, worauf Marcel sich aufgefordert sieht und ins Zimmer geht, wo Emira auf ihrem Bett liegt, vor dem Marcel ratlos stehenbleibt. Bea kommt mit einem Becher Kaffee nach und fordert Marcel mit verschmitzter Schadenfreude Oliver Droste 93 Irgendwo in Nirgendwo heraus, „und wenn sie erbricht, ist die stabile Seitenlage ganz gut, damit sie nicht erstickt“. Emira dreht sich und verssucht mit dem Kopf etwas hochzukommen, was mislingt und fragt verwundert „was is’...? Ich liege gut“. Marcel sieht Bea unruhig an, nimmt den ihm hingehaltenen Kaffe, erwidert ärgerlich „sonst geht’s Danke, was?“ und setzt sich zu Emira auf die Bettkante. Bea verläßt das Zimmer und schließt die Tür, jedoch nicht ganz. Marcel sieht Emira an, „he, schön tief durchatmen“. Emira liegt reglos da, wie tot. „Eh, hörst’e mich?“ was er durch vorsichtiges Rütteln an ihren Schultern unterstützt. „Hey, Emira, mach mal die Augen auf!“ und rüttelt sie fester. „Oh, so’n Scheiß!“, ruft lauter, „mach die verdammten Augen auf.“ Bea, die an der Tür gelauscht hat kommt rein, sieht Marcel etwas unsanft Emira schütteln. „Mensch, Du brichst ihr noch das Genick“ und zieht ihn zur Seite, beugt sich über Janin mit dem Gesicht dicht an ihre Nase und fühlt den Atem an ihrer Wange. „Na, die ist jetzt in einer anderen Welt, ist in Ordnung.“ Etwas warm geworden und rot im Gesicht antwortet Marcel „OK“. Bea steht auf und wendet sich nochmal zu Marcel und Emira. „Wenn sie in zehn Minuten noch atmet, ist das schlimmste vorbei.“ Marcel Worte werden nun auch vom Sarkasmus beflügelt: „Na prima, dann können wir ja in Ruhe frühstücken“. Bea bemerkt, daß sie vielleicht etwas gemein mit ihm umgegangen Oliver Droste 94 Irgendwo in Nirgendwo ist und versucht ihn zu beruhigen, „immer mit der Ruhe; mit der Zeit weißt du wie das läuft“ und geht. Marcel sitzt alleine in dem abgedunkelten Zimmer und schaut Emira lange schweigend an, sich über seine aufkommenden Gefühle der Zuneigung zu dieser Frau klar zu werden. Leise spricht er zu sich „Junge, Junge, was ist nur mit Dir los? Warum ist nur alles irgendwie so unwirklich?“ Er streicht Emira über die Haare. „Scheiße, ich glaube ich habe mich in’ne tablettenabhängige Verrückte verliebt; ich glaub es nicht“. Marcel sieht auf die Uhr und hält seine Hand vor Emiras Mund, um die Atmung nocheinmal zu prüfen, bemerkt jedoch nichts. Er besinnt sich an Beas Methode und hält sein Gesicht vor ihren Mund, worauf er einen leichten, warmen Hauch an seiner Wange bemerkt. Er dreht seinen Kopf, so daß sein Mund über ihren schwebt. Langsam senkt er seinen Kopf und berührt mit seinem Mund ihre Lippen. Bea ruft aus der Küche „das Frühstück ist fertig“. Marcel fährt erschreckt hoch und sieht sich unsicher um, „Äh - Emira atmet noch“ will er sich entschuldigen, nur wofür? Vor sich selbst, dafür das er eine Situation ausgenutzt hat? Er weiß es nicht und verläßt das Zimmer. Bea sieht in prüfend an und bemerkt Marcels Zustand. „Sie ist sonst ganz normal, glaub mir. Sie ist meine beste Freundin. Ich habe schon alles in Bewegung gesetzt, um sie in eine Therapie zu schicken. Wir haben es schon hier versucht, aber sie hat es nie durchgehalten. Jetzt versuche ich, für sie Oliver Droste 95 Irgendwo in Nirgendwo einen Platz zu bekommen.“ „Hoffentlich klappt’s. Was machst Du denn sonst?“ „Emira und ich studieren auf Lehramt.“ „Kann Emira denn das überhaupt noch?“ „Was denkst Du denn. Wenn sie ihre Tabletten hatte, ist sie ein normaler Mensch. Man merkt fast nichts. Nur manchmal diese Überreaktionen.“ „Was für Überreaktionen denn?“ „Sie hat einen Skinhead ins Krankenhaus gebracht, – wohl auf Intensiv!“ „Ach Quatsch, so’n Rabiator scheint sie mir aber nicht zu sein? Wie will sie das machen, ist wohl beim Frauenwrestling, was?“ Marcel amüsiert sich über seine witzigen Vergleiche und sieht Emira muskelbepackt im Ring rumwirbeln und Gegner durch die Luft werfen. Bea ärgert sich über Marcels Gelassenheit. Dieses Problem hat ihr schon so manchen Ärger bereitet. Im Nachhinein freut sie sich jedoch über das dumme Gesicht, das der Skinhead gemacht hatte, als Emira auf ihn zugelaufen kam. Zu gerne hätte sie die anderen Gesichter seiner Freunde gesehen, als Emira in der Tür erschien und sie Beschimpfte. Frauenwrestling, quatsch. Nein, nein sie hat einen die Treppe hinuntergeten, aber so, daß er seine Kumpels über die Glatzen strich.“ Marcel will ihr das nicht so recht abnehmen. „Überreaktion, was? Wie soll sie das denn gemacht haben?“ Bea ärgert sich und hat keine Lust sich zu einer Erklärung animiert zu sehen. „Wie hast Du sie denn kennengelernt?“ „Sie flüchtete wohl gerade vor Oliver Droste 96 Irgendwo in Nirgendwo den Glatzen.- Oh.“ „Jedenfalls sieht so eine Überreaktion aus.“ Beide trinken Kaffee, Marcel zündet sich eine selbstgedrehte Zigarette an und fragt Bea, ob sie sich auch eine drehen möchte. Sie sieht den Tabak an, den Marcel in die Mitte des Tisches legt und sagt verächtlich: „Bantam, ne danke“. „Ach ja, ist ja Aldi-Billigtabak. Da fällt mir eine lustige Geschichte ein. Rauchen soll zur Kommunikation anreizen, wird gesagt und dann abfällig von Gruppenzwang gesprochen. Die Sucht nach Nikotin ist aber ein Individualzwang, man raucht ja auch alleine zuhause. Auf einer Fete drehte ich mir gerade eine Zigarette und steckte den Tabak wieder weg. Da kamm eine junge Frau auf mich zu und signalisierte nach diesem. Sprechen war aufgrund der lauten Musik nicht möglich, nur schreien. Ich dachte, na prima, so lernt man mal jemand kennen und gab ihr den Tabak. Deswegen geht man ja auf Parties. Sie lächelte, als sie sich eine drehte, gab ihn mir zurück und grinste: „Bantam“ und ging weg. Soviel zu diesem Tabak.“ Marcel grinst Grübchen, was Emira zu selbiger Reaktion veranlaßt; das Eis scheint zu brechen. Sie erzählen sich noch witzige Geschichten mit demselben Witz und lachen amüsiert über die Verhaltensmuster in der zwischengeschlechtlichen Kommunikation. „Wir waren mal in einer Diskothek“ erinnert sich Bea in diesem Zusammenhang, „und haben uns nach ein paar netten Typen umgesehen. Frauen tun das ja auch.“ „Ah, ja“ bemerkt Marcel interessiert. „Ja“ Oliver Droste 97 Irgendwo in Nirgendwo antwortet Bea schmunzelnd und fährt fort, „jedenfalls stand da ein wirkklich gutausehender Junge, war interessant angezogen und ... sah jedenfalls sehr gut aus. Emira und ich unterhielten uns über ihn und wir überlegten, wie man ihn wohl am besten ansprechen kann. Wir hatten einige witzige Ideen und mußten darüber lachen. Dabei bauten wir nun langsam den Blickkontakt auf, ha ha" “hebt Bea an. „Nur hat das dieser Kerl wohl was falsch verstanden. Nach einiger Zeit brauchten wir uns keine Gedanken über das anquatschen machen; da kommt er mit rotem Kopf und gestauten Halsvenen auf uns zu und blafft uns an, ob wir uns über ihn lächerlich machen wollten und wir wären ein paar eingebildete Schicksen, blöde Hühner und einige andere unangenehme Bezeichnungen knallten noch vor unseren Kopf.“ „Na, da war die Baggerei wohl zu ende, was?“ grinst Marcel. „Tja, Emira wurde so ärgerlich, daß sie dem Typen ihr Knie in die Weichteile rammte, worauf dieser, um dem ganzen noch die Krönung aufzusetzen, von einem Rausschmeißer ziemlich unsaft vor die Tür gesetzt wurde.“ „So’n armer Kerl“ lacht Marcel. „Es hätte ein schöner Abend für ihn werden können.“ „Tja“ grinst Bea, „man kann nicht alles haben“, wobei sie ‚man‘ eher als Substantiv betont hat. Marcel brennt jedoch die eine Frage auf der Zunge, so daß er sie nun doch endlich herausbringt: „Wie kam sie denn an die Tabletten?“ Bea wird wieder ernster und sieht Marcel ruhig, aber etwas genervt an. „Gründe gibt es dafür genug. Weißt Du, wo sie Oliver Droste 98 Irgendwo in Nirgendwo herkommt?“ „Keine Ahnung, sie hat’n Dialekt, vielleicht Polen.“ „Nein, sie kommt aus Bosnien.“ „Seit wann lebt sie hier?“ Marcel drückt seine Zigarette aus, worauf sich Bea eine anzündet, so daß die rauchige Atmosphäre gehalten wird. „Seit sechs Jahren. Im Krieg ist mit ihr und ihrer Familie was schreckliches passiert.“ „Was denn?“ „Frage sie selber, ich weiß nicht, ob ich das jedem erzählen sollte.“ „Klar.“ Sie unterhalten sich und trinken Kaffee; Emira liegt im Bett und schwitzt und wälzt sich, als habe sie einen Alptraum. Nackte Ballettänzer schweben durch flatternd verhangenen Raum, wie zerlaufende Farben in bunten Spinnweben, streifen ihr Gesicht als Regenbogensaum. Fledermäuse fallen wie Regentropfen von der alten, dunkel gewölbten Decke; sie singen ganz leise, drehen Kreise um ihre symetrisch umtanzten Verstecke. Emira fällt nieder, Veitstanz fährt in ihre Glieder, Fledermäuse hängen sich in die Haare, der gläserne Körper schläft 100 Jahre; die Zeit vergeht. „Was machst Du eigentlich, Marcel?“ „Ich schlag mich so mit Gelegenheitsjobs durch und schreibe und nebenbei studiere ich noch Journalistik.“ Bea scheint es zu interessieren, ihre Augen leuchten auf. „Schreibst du für eine Zeitung?“ „Ne, mehr Richtung Lyrik und Prosa. Ab und zu schreib ich auch mal was für ‘ne Zeitung, aber selten. Einen Roman habe ich bei ‘nem kleinen Verlag mal veröffentlicht. Ist aber leider wieder pleite gegangen. Da hab’ ich auch keinen Pfennig gesehen.“ Oliver Droste 99 Irgendwo in Nirgendwo „Scheinst ja richtig erfolgreich zu sein,“ bemerkt Bea ironisch, aber freundschaftlich. Emira läuft durch den Flur, bleibt an der Küchentür stehen und sagt etwas zerknautscht aus geschwollenen Augen blinzelnd, „ich dusche“. „Ist gut, Kaffee ist fertig, Emira“. Emira bleibt in der Tür stehen, „danke Bea und sieht etwas verwundert zu Marcel, „wer is’n das?“ „Marcel“ antwortet Bea und erklärt „er hat dich vor den Skinheads und der Polizei gerettet und mir geholfen, dich mit nach hause zu bringen“. Emira sieht ihn verwundert an. „Ja?“ Polizei? Skinheads? Hm, - danke Marcel“ und geht ins Bad. Marcel sieht Bea an. „Sie weiß wohl nichts mehr.“ „Was du jetzt zu ihr sagst, kriegt sie mit.“ Marcel überlegt, ob es nicht vorteilhaft ist, wenn man schlechte Ereignisse einfach besser vergißt und spricht den Gedanken aus. „Ist vielleicht auch besser so. Ist auch’n scheiß Tag und angeschlagen bin auch.“ Bea sieht diese Situation etwas anders und antwortet auf Marcels Aussage, die eigentlich nicht als Frage gedacht war, wo jedoch der Zweifel über die Richtigkeit der Aussage im Gesagten zweifelnde Untertöne besaß, was Bea sofort bemerkte; für diese Begabung ist ihr Emira sehr dankbar; das macht ihre Freundschaft aus. Bea ist kein Mensch der dann, um sein Gegenüber zu schonen, ein Blatt vor den Mund nimmt. Häufig äußert sich das auch in dem Kennengelernten Sarkasmus. „Es ist nicht besser, soetwas zu verdrängen, Marcel. Das ist der Stoff, aus dem die Erfahrung gestrickt wird. Wie willst du Oliver Droste 100 Irgendwo in Nirgendwo sonst deine Erfahrungen machen, wenn du die Probleme einfach vergißt?“ Marcel macht es nachdenklich. Nach einiger Zeit kommt Emira aus dem Badezimmer, wankt noch etwas. Sonst sieht sie relativ frisch aus, nur die Ränder unter ihren Augen verraten das Gehewimnis. Sie spricht noch etwas langsam, ihrem langsam erwachendem Geist zu Folge, „habt ihr schon gegessen?“. Bea steht auf und geht zu Emira, faßt ihr liebevoll an die Schultern und sieht ihr in die grünen Augen, die langsam klarer werden. Wie sehr liebt sie diesen Menschen mit all seinen Problemen? Wie langweilig wäre ein perfekter Mensch, den die Werbung täglich suggeriert. Ein Leben ohne Probleme muß doch schrecklich langweilig sein; wenn einfach alles schon geregelt wäre und seinen alltäglichen Lauf gehen würde. „Nein, wir haben mit dem Frühstück auf dich gewartet, setz dich“, sie holt den Kaffee und schenkt Emira ein. Marcel sieht ihr in die Augen, die ihn so elkektrisieren. Er bräuchte morgens keinen Kaffee, nur diese Augen, und er wäre hellwach. „Geht’s wieder besser?“ fragt er. Emira ist noch auf dem Weg ins hier und jetzt, „so langsam“, setzt sich und dreht sich zu Bea, „machst du mal Musik an?“. Bea geht zur Anlage und spielt die CD, die eingelegt ist, Tocotronics „Du und deine Welt“ ertönt in der herrlichen Melancholie, die diese Situation so schon beschreibt. Oliver Droste 101 Irgendwo in Nirgendwo Emira sieht Marcel an und überlegt, was das wohl für ein Typ ist, der hier beim Frühstück sitzt. Er hat sympatische Augen, verträumt, vielleicht etwas nervöus, was aber an der ihm fremden Umgebung liegen muß. Er sieht nicht maskulin-überheblich aus, eher verletzlich, scheu. Das macht ihn sympatisch. Emira ist ein Gefühlsmensch, der aus dem Bauch heraus reagiert, ob es ihr schadet oder nicht. Das ist der Juwel in ihrem Wesen; das ist das Licht, das Kinderaugen strahlend macht und ihr ihr Vertrauen schenkt. Sie betrachtet Marcels Edelsteinblick, der ihm nicht standhält, diesem Jesusblick, so warm, so rein, so voll Liebe. „Was machst du denn so, wenn du niemanden rettest?“ fragt Emira lächelnd, so voll Sanftmut, das es Marcels Herz zu sprengen droht, diese Augen. Marcel fällt in dieser Situation nichts besseres ein, als „dies und das, - was ich so gerade kriege“. Er ist so verunsichert. Was wäre, wenn Emira seine Gedanken lesen könnte, ‚dir streiche ich die Sternenkrone ins Haar, dein Gesicht soll kein Jahr die Furche ziehen, dein Lächeln ist bei den Engeln geliehen, deine Haut möchte ich über mich spannen, dieses Zelt laut mit Liebe bemannen..., verdammt‘. Marcel würde erröten; er wird nervöus, doch Bea, erschlägt die Stille, „er ist Schriftsteller“. „Ich versuche jedenfalls einer zu werden.“ Emira taumelt in der Neuigkeit, „oh, ein Künstler, ein Dichter“. Bea setzt sich wieder an den Tisch, „das paßt gut, was?“. „Wir haben Kunst als Hauptfach und malen“, erklärt Emira. „Wir hatten Oliver Droste 102 Irgendwo in Nirgendwo auch schon eine Ausstellung“ ergänzt Bea stolz. „Und wie ist es bei euch gelaufen?“ fragt Marcel interessiert, mal zu hören, wie andere ihren Erfolg erkämpfen, oder auch nicht; wird jeder unbekannte Künstler mal ein verkannter van Gogh? „Ein Besoffener hat auf Beas bestes Bild gekotzt“ weckt ihn Emira. „Es war das erste und das einzige was ich verkauft hatte“ bemerkt sie ärgerlich. Marcel grinst pragmatisch, „und habt ihr es wieder hingekriegt?“. „Magensäure!“, entgegnet Emira, worauf Bea ihren Sarkasmus wiederfindet und fragt, „chon mal was davon gehört“. Marcel grinst etwas und kann sich seinen makaberen Humor nicht verkneifen, „und läuft es jetzt unter Abstrakter Kunst?“. Emira weiß, wie empfindlich Bea ist, wie sehr sie sich darüber geärgert hat; Bea, die sonst nicht zu überreaktionen neigt, war damals doch etwas unkonventionell mit dieser Geschichte umgegangen; sie mußte von einem Sicherheitsbeamten vorübergehend in Verwarsam genommen werden. „Mach da lieber keine Witze drüber, Marcel“ sagt sie. „Das dumme Schwein hätte ich umbringen können.“ „Neigst wohl auch zu Überreaktion, was?“ spricht Marcel seine Gedanken aus. Bea bekommt einen roten Kopf und sucht nach geeigneten Worten. Emira beendet Beas Ringen, „unsere Bilder stehen hinten im Abstellraum, wir nennen ihn unser Atellier“. „Muß ich mir mal ansehen.“ Emira interessiert sich für diesen sympatischen Jungen, der einen leichten, aber tiefen Hgumor zu Oliver Droste 103 Irgendwo in Nirgendwo besitzen scheint, „was schreibst du denn für Sachen?“. Marcel kennt diese Frage, die mit umschreibenden Worten nicht zu beantworten ist, diese Frage, die er hasst. Warum sollte er schreiben, wenn es so einfach in Worte zu fassen wäre? „Ich kann sie dir mal mitbringen, kannst dann selber lesen. Vielleicht gefällt es dir. Nächste Woche nehme ich an einer Lesung teil, mit ein paar Freunden. Kommt doch vorbei, ich geb’ euch auch die Karten.“ Emira ist sofort begeistert; das macht ihre Spontanität aus, die sie aus der Gegenwart schöpft. Ein Mensch, der keine Vergangenheit hat, bei dem die Zukunft nicht abzusehen ist, neigt gerne zu dieser Spontanität, die das Leben aufregend macht. „Oh, ja, ein bischen Kultur schadet nicht. Sowas hab’ ich noch nicht mitgemacht.“ Bea, die sich wieder gefangen hat und an das Praktische denkt fragt ihn, „wie übst du das denn? Liest du sie zuhause jemandem laut vor, oder kannst du deine Gedichte auswendig?“. „Nicht alle, einige muß ich ablesen, einige sind etwas schwerer. - Und du singst? Bist du in’ner Band?“ verrät sich Marcel, ohne nachzudenken. Emira sieht ihn verständnislos an, „woher weißt du das?“ Marcel bemerkt seinen Fehler; er stottert etwas, um sich dann doch in gespielter Selbstsicherheit zu geben, „das - hattest du noch erzählt“. Emira kann keinen Argwohn und kein Mißtrauen gegen diesen Jungen finden und so glaubt sie, „ja? Ach, so’n paar Sachen habe ich geschrieben“. Oliver Droste 104 Irgendwo in Nirgendwo Marcel kann seine Erleichterung kaum unterdrücken, „cool, würd’ ich mir gerne mal anhören“. Klar, mit ein paar Freunden spielen wir ab und zu.“ „Und seid ihr schon mal aufgetreten?“ Bea hebt den Kopf und sieht Marcel stolz an, „das sind sie, und sie sind gut. Irgendwo haben wir doch noch eine Demokassette rumfliegen“. Emira will Beas Licht unter dem Scheffel hervorholen, da sie die treibende Kraft ist, „Bea ist da auch mit bei. Sie spielt Schlagzeug“. Marcel fängt wieder an zu träumen, von Kunst und wie schön die Welt wäre, würden die Menschen doch wieder mehr Verständnis und Zugang zu dieser Welt haben, wo die Kunst den Geist beflügeln kann und für mehr Verständnis unter den Kulturen sorgen kann, als er sagt, „vielleicht können wir mal so’n Künstlerabend machen mit Bildern und Musik von euch und Gedichten von meinen Bekannten und mir“. Emira ist in ihrer Spontanität sofort begeistert, „ja, das wäre super. Ich will mal die anderen fragen, ob sie auch lust haben“, Musik fließt durch ihre Venen wie Sonnenschein. Marcel will endlich aus dem Alltagstrist entkommen und freut sich, „vielleicht passiert ja endlich mal was“. Jedoch bildet Bea den realistischen Faktor mit ihrer Frage, „was soll denn passieren?“ und besieht sich die träumende Runde. Emira strahlt bei der Idee, etwas so schönes zu machen, Beas Frage überhörend; Marcel kommt auf den Boden der Tatsachen zurück, den die vielen Absagen der Verlage bilden, will sich jedoch nicht abschrecken Oliver Droste 105 Irgendwo in Nirgendwo lassen und fragt trotzig, „wieso sollen wir jungen Leute nicht Kunst machen. Wieso soll es nur von denen sein, die Glück gehabt haben und zufällig zur richtigen Zeit die richtigen Leute getroffen haben? Ist Erfolg nur der kommerzielle, oder der, der die Seele berührt; und wenn es nur eine ist?“. Emira begeistert der Ausweg. Endlich ein neuer Horizont. „Genau. Es gibt soviele begabte Maler und gute Bands, die keiner kennt.“ Marcel ergänzt, „und so viele Leute, die Gedichte und Geschichten schreiben, die keiner liest“. „Das stimmt schon“ bemerkt Bea, der auch nicht alle Träumereien abhanden gekommen sind. „Emira, kennst du noch die kleine Bärbel, die hat tolle Sachen geschrieben.“ „Klar, die war doch immer so lustig. Was ist eigendlich aus ihr geworden? Ich hab’ sie lange nicht mehr gesehen.“ „Sie hatte sich doch vor einem Jahr im Wald aufgehängt, Emira, weißt du das denn nicht mehr?“ „Oh.“ Von der Anlage kommt Radioheads „Astroid paranoid“; sie hat nämlich einen CD-Wechsler. Oliver Droste 106 Irgendwo in Nirgendwo XV Von Rechnungen, der Kunst zu Streiten und einer Wendung des Schicksals Marcel, Roland. Marcel kommt nach Hause, geht in die Küche, wo Roland bei einer Tasse Kaffee sitzt und mit tiefliegenden Augen von seiner Zeitung aufsieht. „Wo bist Du gewesen?“ fragt er Marcel vorwurfvoll, aber auch erleichtert, da er anscheinend unversehrt davongekommen ist. „Ich habe Emira noch nach hause gebracht, zusammen mit ihrer Freundin Bea. Du warst aufeinmal verschwunden; wie bist du da weggekommen?“ Marcel setzt sich zu ihm an den Tisch und schenkt sich in eine alte, das heißt benutzte Tasse, einen Kaffee ein und sieht ihn an. Seine Augen scheinen erschöpft, jedoch der Glanz und die reflektierte Lichstärke verleihen ihm eine leuchtende Freude, eine lebensfrohe, blauäugige Energie. Das Radio läuft im Hintergrund. „Ich bin von den Polizisten noch festgehalten worden und mußte mit auf’s Revier. Die haben vielleicht noch’n Akt davon gemacht, bin auch erst vor’ner halben Stunde zurückgekommen.“ „Hast du jetzt Probleme am Hals, ich meine Anzeige oder sowas?“ Roland lehnt sich zurück und sieht auf den Tisch. „Ich weiß nicht, die haben einen ziemlich offiziellen Eindruck gemacht. Aus dem Oliver Droste 107 Irgendwo in Nirgendwo Beamtendeutsch bin ich auch nicht so recht schlau geworden und irgendwie hab‘ ich auch noch nicht alles so richtig mitgeschnitten, wird schon nichts schlimmes kommen.War ja eigentlich nur’ne Lapalie. Ich meine das mit dem Tisch und dem alten Ehepaar.“ Beide schweigen nachdenklich und lassen die Ereignisse im Geist nocheinmal revuepassieren. Aus dem Radio kommen die Nachrichten. Beide hören gelangweilt zu. Ihre Probleme scheinen mit der Welt nichts zu tun zu haben, über die im Rundfunk berichtet wird. Radio: „... wegen Menschenhandel ... zur Prostitution gezwungen ... Staatsanwaltschaft fordert vier Jahre ... Verteidigung Bewährungsstrafe. Hannover. Punker nach Ladendiebstahl von Polizist festgehalten ... weitere sechs Punker greifen diesen an ... wetere Polizisten eilen ihrem Kollegen zu Hilfe ... ein Polizist verletzt. Gegen einen Punker wird ermittelt wegen schwerer Körperverletzung, Wiederstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch ... .“ Marcel und Roland sehen beide auf. Marcel wird es etwas unwohl, als er fragt, „hast du das gehört?“. „Das gibt es doch nicht. Ein Menschenhändler, der Frauen zur Vergewaltigung zwingt, soll höchstens vier Jahre kriegen und die Verteidigung fordert’ne Bewährungsstrafe.“ „Und so’n armer Punk, der vielleicht eine Tüte Schips oder Schokolade geklaut hat, kriegt es fett weg, weil er’nem Polizisten vielleicht eine genockt hat.“ Roland lacht, „den buchten die bestimmt noch für zehn Jahre ein, paß man auf“. Soviel zu unserem Rechtstaat. Marcel Oliver Droste 108 Irgendwo in Nirgendwo überlegt laut, „wo kamen nur die anderen Polizisten her?“. Roland sagt ärgerlich „polizeistaat“ und macht eine wegwerfende Handbewegung, „auf’m Polizeirevier haben die auch sowas gesagt, wie daß es keine Lapalie mehr wäre“. „Scheiße.“ Roland will seine Gedanken an etwas anderes heften und fragt Marcel, vielleicht eher aus Ablenkung, als aus Interesse, „wie hieß die Frau noch, die du nach hause gebracht hast?“. „Emira.“ „Die sah aber ziemlich kaputt aus, wohl’ne Drogenabhängige, was?“ „Sie hat nur Probleme.“ „Verdammt, was hab‘ ich jetzt für’n Ärger am Hals.“ „Was hat das denn mit Emira zu tun?“ Roland lenkt seinen Ärger und die damit verbundene Schuldfrage, vielleicht als Übersprungshandlung, auf dieses Thema. „Mit ihr kamen die Skinheads, noch mehr Polizisten und die Autonomen und das ganze Chaos.“ „Da kann sie doch nichts für.“ „Mich haben die Bullen einkassiert und du hast ‘ne Verückte nach Hause gebracht.“ Marcel versucht sich zu rechtfertigen und an eine soziale Ader zu appelieren. „Sie ist nicht so... äh. Sie ist ganz in Ordnung, versucht gerade klarzukommen. Ihre Freundin besorgt ihr einen Platz zur Rehabilitation.“ „Will wohl ihren Doktor machen, was?“ „Du weißt genau, was ich meine.“ „‘N Junkie, klar.“ „Ne, Tablettenabhängig! Klar?“ „Na dann ist ja alles in Butter.“ Marcel ist nun über die plötzliche Unfreundlichkeit etwas genervt, „ist es auch“ und hofft, daß sich dieses Thema nun erledigt hat. Roland hat jedoch Oliver Droste 109 Irgendwo in Nirgendwo die, durch das tägliche Zusammenleben auftretende, häufig vorkommende Gabe, Dinge, die von dem anderen Gesprächsparter als abgeschlossen betrachtet werden, wieder aufzugreifen, um die Glut der Worte in die Hitze des Geistes zu legen, was häufig zu Streitigkeiten führt, die in der anschließenden Reflektion nicht mehr erklärt werden können. Die Ursachenforschung kann dann, wird sie fündig, ebenfalls erneut zur Auseinandersetzung führen. Roland spricht erneut den Entzug an, als er fragt, „weißt du eigentlich, wie lange sowas dauern kann?“. Marcel, der durch die Zuneigung zu Emira, optimistisch diesbezüglich ist, meint „keine Ahnung, aber irgendwie wird das schon klappen“ und freut sich schon auf die aufregende Zukunft, in der diese Frau eine entscheidende Rolle spielen soll. „Und du hast mit ihr den ganzen Tag verbracht?“ „So kann man es auch nennen,“ was Marcel von einem schmunzelnden, freudigen Grinsen nicht zurückhalten kann, was Rolands Ärger natürlich wieder aufreizt. „Und was gestern gelaufen ist, ist dir heute wohl egal, was?“ Marcel muß nun, auf den Boden der Realität, das Traumbild hinter sich lassend, zur Verteidigung übergehen, was ihn seine Traummut verlassen läßt, „hör bloß auf, du hast ja alles noch schlimmer gemacht“, womit er auf Rolands Eskapaden anspielt. „Und jetzt bin ich an allem schuld, was? Weißt du daß Bine riesen Ärger hat. Sie ist von Zuhause Oliver Droste 110 Irgendwo in Nirgendwo abgehauen, bzw. mehr oder weniger rausgeflogen ist. Sie hat einen riesen Krach gehabt.“ Diese Neuigkeit läßt Marcel nachdenklich werden, der in seinen Gefühlsregungen von gleicher Spontanität geleitet wird, wie in seinen Handlungen und so Ärger schnell wieder abschüttelt. Großer Ärger muß eine Nacht überschlafen werden, um vergessen zu sein. „Und wo ist sie jetzt?“ „Bei ihrer Freundin Sandra.“ Marcel versucht die positive und die praktische Seite zu finden, „die beiden wollten doch sowieso zusammenziehen. Ist doch in Ordnung“. Roland kann diese Einstellung überhaupt nicht akzeptieren und wird ärgerlich und damit auch lauter, „aber doch nicht auf diese Art und Weise, mach mal halblang!“. Marcel bemerkt, daß es keinen Sinn hat. „Ach komm, ich hab’ keine Lust mehr.“ Beide schweigen grummelnd vor sich hin. „Wie heißt die Verückte, noch?“ stichelt Roland. „Emira, und hör endlich auf Verückte zu sagen.“ „Ist sie doch, oder nicht?“ Marcel läßt sich noch einmal hinreißen und reagiert gereizt. „Ja und?“ Beide schweigen wieder. Roland meint, den Sieg davongetragen zu haben und wechselt das Thema. „Im Briefkasten war Post.“ „Von wem?“ „Keine Ahnung, sah aus, wie von ‘ner Behörde.“ „Mist, wieder ‘ne Rechnung, was? Hast du die Telefonrechnung wieder vergessen?“ „Welche Telefonrechnung?“ „Na, die letzte.“ „Ist die nicht abgebucht worden?“ „Der Dispo war doch wieder überzogen.“ Roland überlegt. „Ich glaube, die habe ich bezahlt.“ Oliver Droste 111 Irgendwo in Nirgendwo Nun bemerkt Marcel eine Gelegenheit zum kontern, um dem frischen Ärger nocheinmal Raum zu geben. „Glaubst du. Wenn dein Konto nicht immer überzogen wäre, müßten wir nicht immer die Mahngebühren mitbezahlen.“ Jedoch findet Roland ebenfalls eine Kontermöglichkeit, die in Haushalten mit geringem Budget leicht zu finden ist. „Du hast auch wieder Post von der EWE“ und grinst triumphierend. „Scheiße.“ „Dein Konto sieht wohl auch nicht so gut aus, was?“ Nun, wo die Verhältnisse wieder geklärt sind und ein Gleichstand erreicht ist, sucht Marcel eine Möglichkeit, die wideren Umstände zu ändern. „Mist, wir müssen unbedingt wieder arbeiten gehen.“ „Ziemlich ätzend“ kommentiert Roland diesen bitteren Gedanken an Arbeit. „Und immer auf Jobsuche, die Arbeit machen, die niemand sonst machen will.“ Marcel steht dieser Sache durch vergangene Erfahrungen nicht positiver gegenüber, als sein Mitbewohner. „Und auch noch schlecht bezahlt.“ Nun haben beide endlich etwas gefunden, worauf sie ihren Ärger projezieren können, ohne selbst dabei Im Zentrum des Angriffs stehen zu müssen. Roland seufst „tja, die finden immer einen Dummen“ und zündet sich eine Zigarette an. Marcels zuvor erwähnte Eigenschaft kommt wieder hervor, als er meint „es gibt aber auch gute Jobs“. Auf diesen Gedanken läßt sich Roland gerne ein, „stell dir vor in’ner Videothek sitzen“. „Oder Essen auf Rädern.“ Beide lachen, da diese Jobs Oliver Droste 112 Irgendwo in Nirgendwo unerreichbar sind. „In’ner Tanke arbeiten.“ „Oder in’nem Sonnenstudio Geld wechseln und Leute beraten.“ Roland kann sich von dem Gedanken an schöne Frauen nicht wieder einkriegen, „Und als Einölboy für die Schönen fungieren.“ „Bademeister, à la Baywatch.“ Bei dem Gedanken an vollbusige Badenixen, jedoch ohne Grips, geht es mit Roland durch. „Pornodarsteller.“ „Und dafür noch Geld kriegen.“ Beide lachen noch mehr. Sirenengeheul geht durch Mark und Bein. Der schwarzuniformierte Polizist schreit durch den Lärm von Gelächter und Geheul „Gedankenpolizei, Gedankenpolizei, Karmapolice, das ist chowinistisch, frauenfeindlich, unsittlich! Gedankenpolizei, Gedankenpolizeieiei!“ Marcel wird wieder ernster. „Aber irgendwann macht das wahrscheinlich keinenn Spaß mehr.“ Bei Roland regiert das Hormon, „klar, ab Mitte Fünfzig“ und lacht wieder. Marcel holt ihn runter, „ach ist doch alles beschissen“. „Aber besser als diese Hiwiarbeiten auf’n Bau, oder im Metallbau“ klammert sich Roland. Marcel erinnert sich an frühere Tätigkeiten. „Ich hab’ mal auf’n Erdbeerfeld gearbeittet, das war ‘ne Scheiße. Bei Regen auf allen Vieren durch die Reihen kriechen. Aber nur da, wo die Leute, die zum Pflücken kommen schon alles abgegrast haben und dann ‘n paar Pfennig pro Pfund. Das war vielleicht ‘ne Ausbeute!“ „Hast du eigendlich wieder Gefühl Oliver Droste 113 Irgendwo in Nirgendwo indem linken Fuß?“ womit Roland auf Marcels abgeklemmte Nerven anspielt. „Bis auf drei Zehen wohl. Das behalte ich wahrscheinlich als Andenken an das Erdbeerfeld.“ Roland, der wieder in der Realität angekommen ist erwähnt nebenbei, „da war aber noch ein Brief bei“. Marcel wittert Unangehmes. „Von wem denn noch? Wasser oder Miete?“ „Er liegt da auf’m Bord.“ Marcel steht etwas müde auf, nimmt den Brief und sieht auf den Absender. „Oh Mann, vom Verlag, wo ich meine Gedichte hingeschickt habe,“ wird aber gleich ruhiger, da er nur schlechte Erfahrungen gemacht hat. „Wohl wieder ‘ne Absage.“ „Jedenfalls haben die noch mal geantwortet, das haben die anderen nicht,“ ermutigt ihn Roland, bei dem das ergebnislose Streben seines Freundes Mitleid erzeugt. Marcel öffnet den Brief, liest ihn beim hin und hergehen in der Küche. „Mann, ich werd’ verrückt, Mann, super, wow.“ Roland ist über Marcels Reaktion überrascht, da eine solche Reaktion normalerweise nicht durch solche Briefe hervorgerufen wird. „Was ist, wird es gedruckt, haste was gewonnen, kriegst’e Geld, wieviel?“ „Quatsch, Geld. Die haben mich eingeladen zu ‘ner Veranstaltung nach Berlin. Ich soll da was vortragen. Ich hab’ da zehn Minuten Zeit. Da sind wichtige Leute. Junge, das ist was ganz Großes. Da kommen voll die bekannten Autoren hin. Wow!“ Oliver Droste 114 Irgendwo in Nirgendwo Roland der Praktiker überlegt gleich, was Marcel noch verbessern muß schlägt ihm vor, „dann mußt du so langsam an deiner Ausdrucksweise arbeiten“. Marcel zerfließt gerade mit seinen Gedanken in einer Traumwelt und hört nicht mehr richtig hin, „was is’?“ und liest den Brief ein weiteres Mal, schwebend. Roland der Pragmatiker stchelt freundschaftlich, „ganze Worte. Deutlich aussprechen: Was ist!“ „Red’ nich‘ so’n Quatsch!“ „Rede nicht so einen Quatsch! Ganze Worte, Marcel!“ „Bla.“ „Wann mußt du denn da sein?“ „In einem Monat!“ „Da mußt du das Vortragen noch mal üben.“ Das wirft für Marcel das nächste Problem auf, „was trage ich nur vor? Ich muß was auswählen. Du mußt mir helfen. Ihr müßt die Sachen lesen und mir sagen, welche am besten sind!“ „Vielleicht solltest du deinen alten Deutschlehrer mal fragen, der hilft dir bestimmt. So ein Publikum wird ganz schön anspruchsvoll sein.“ „Ne, ich weiß nicht. Der sucht nur nach Stil- und Ausdrucksmitteln; der versteht doch gar nicht, was ich meine. Ihr müßt das lesen, für euch habe ich das geschrieben!“ Marcel wird flatterig wie ein Schmetterling, was Roland als sein langjähriger Freund sofort bemerkt und dem er Abhilfe schaffen möchte. „Klar, wir üben das schon. Da wirst du hingehen und als großer Lyriker des einundzwanzigsten Jahrhunderts auftreten. Da wirst du berühmt und wir haben keine Geldsorgen mehr, falls du mich dann noch kennst.“ Darüber denkt Roland nun aber erstmal nach. Wer bekannt wird Oliver Droste 115 Irgendwo in Nirgendwo geht andere Wege und vergißt seine Freunde, worauf Marcel auch schon hinausläuft raus und ruft, „ich muß gleich anfangen und die Sachen sortieren und noch mal überarbeiten. Oho, jetzt werd’ ich aber nervös.“ Oliver Droste 116 Irgendwo in Nirgendwo XVI Vom Wolfsgesicht und Seelenuntiefen Marcel, Roland, Emira, Bea, Professor. Die Universität ist ein Komplex mit verschiedenen Fakultätsbereichen, eines dieser typischen, schnell hochgezogenen Betonmonumente, wo Esthetik der Funktionalität gewichen ist. Dort zwängen ab siebenuhrfünzig die anständigen Studenten, lebhaft diskutierend, oder schnell, kurzen Schrittes, auchnachdenklich, durch die Eingänge. Nach ihnen kommen in zeitlicher Verzögerung jene Studenten, die nicht mit der Tugend der Pünktlichkeit versehen sind, die eine der zahlreichen Studentenfeiern hinter sich haben, also dem Alkohol nicht abgeneigt sind – gaudeamus igetur als Lebenseinstellung- oder die die Nacht irgendwo in irgendeiner Gastronomie bzw. Diskothek ihren Lebensunterhaltbestritten haben und sogar Studenten, die, soll man es glauben oder nicht, die letzte Nacht durchgelernt haben oder an manchen schriftlichen Hausarbeiten gesessen haben, mit vom Schlaf aufgedunsenen Gesichtern, das Muster des zerknautschten Kopfkissens als Abdruck in selbigem, mit noch traumgeschwollenen Lidern über oder vor glasigen Augen, Dreitagebart und zerzaustes Haar tragend, in das Gebäude geströmt. Marcel und Roland versuchen diesmal zur ersten Gruppe zu gehören. Sie eilen mit schnellen, langen Oliver Droste 117 Irgendwo in Nirgendwo Schritten, etwas geistesabwesend wirkend, durch die Tür. Roland dreht sich ärgerlich zu Marcel, „Mist, wir kommen wieder zu spät“ und beschleunigt seinen Schritt, so daß dieser Mühe hat, mitzuhalten und bemerkt „egal, der alte Sack lohnt sich sowieso nicht, steht doch eh alles im Skript. Alles nur Nasenfaktor“, womit Marcel die versteckte Anwesenheitspflicht anspricht, das bedeutet, daß einige Proffessoren eine versteckte Eitelkeit besitzen, die von ihnen einen vollen Hörsal erfordert und zumindest einige Interesse heuchelnde oder auch wirkliche Aufmerksamkeit aufbietende Studenten wünscht. Das sind dann meist die Kandidaten, die in den mündlichen Prüfungen den Nasenbonus bekommen, was einfache Fragen und entgegenkommende Bewertung bedeutet. Natürlich sind nicht alle Dozenten so veranlagt, jeder hat seine Stärken und Schwächen. In eine Verallgemeinerung wollen wir uns nun nicht verlieren, das Bewertungssystem ist gerecht, oder?, oder warum bevorzugt die freie Wirtschaft häufig nicht den Primus nach Notenspiegel, sondern die praktischen und logistischen Teamfähigkeiten eines Bewerbers, na egal. Marcel fährt in seinen Überlegungen weiter fort, als er sagt „wenn wir den nicht in der Mündlichen hätten, wäre ich liegengeblieben“. Roland hat jedenfalls kein so gutes Gewissen und sich wenig Gedanken über solche Kausalitäten gemacht, was er dann auch ausspricht. „Na, so’n guten Eindruck macht das ewige Zuspätkommen auch nicht“. Sie Oliver Droste 118 Irgendwo in Nirgendwo biegen beide in einen der breiten Flure. In einiger Entfernung sieht Marcel Bea und Emira laufen. „Oh, da hinten ist Emira. Jetzt kannst du mal sehen, daß sie auch ganz normal sein kann.“ „Ist mir doch egal. Wir haben keine Zeit, los komm!“ Roland ist etwas genervt, daß sich Marcel mehr um die Zuneigung zu dieser Frau interessiert und er nun nur noch eine untergeordnete Rolle in ihrer Freundschaft spielt – auch eine Form der Eifersucht, die häufig übersehen wird. Dafür hat Marcel aber keine Augen, „warte, ich muß ihr das mit dem Verlag erzählen,“ worauf er nun seinen Schritt beschleunigt und in einen leichten Trab übergeht und Roland überholt. Roland bleibt ärgerlich stehen und sieht seinen Freund die Seiten wechseln, wie er meint und ruft Marcel hinterher, „also, ich gehe jetzt, wäre bestimmt auch besser für dich“. Marcel hört schon nichts mehr. Roland wendet sich geschlagen in den nächsten Gang und sagt zu sich, „ich weiß nicht, wie er dieses Semester schaffen soll; am Ende muß ich ihm wieder alles erklären, dafür bin ich dann wieder gut genug“ und geht. Marcel läuft zu Emira und Bea und ruft „he, Emira, Bea!“, worauf sich die beiden umdrehen. Emira erkennt Marcel, „hallo, du bist auch hier?“. Marcel kommt bei ihen zum Stehen, „ja, einige Vorlesungen haben wir hier. Wo wollt ihr denn hin?“ und wendet den Blick von Emira ab, um nicht unhöflich zu sein und blickt kurz Bea an. Emira lächelt und freut sich über das Wiedersehen, „wir haben eigentlich auch Oliver Droste 119 Irgendwo in Nirgendwo Vorlesung“. „Eigentlich?, sagt Bea, mehr vorwerfend, als fragend, um dann mütterlich an die Vernunft zu appellieren, „komm schon, du kannst nicht schon wieder schwänzen Emira!“ „Warte doch mal.“ Emira sieht Marcel freudig an, „was ist los mit dir, du scheinst so aufgeregt.“ „Ich habe vom Verlag Nachricht,“ strahlt es aus Marcel heraus, „wo ich meine Sachen hingeschickt habe“. „Super, das freut mich.“ Bea zeigt nun auch wohlwollendes Interesse, „oh, ich gratuliere, wollen sie es drucken?“. „Sie haben mich eingeladen, zu einer Lesung nach Berlin zu kommen.“ „Dann wirst du bestimmt berühmt“ träumt Emira ihn an. Marcel ist durch die erfolglosen Jahre etwas ernüchtert, als er antwortet, „erst mal soll ich nur lesen und dann werd’ ich sehen was läuft“. Bei Bea siegt nun aber wieder die Vernunft, „also ich will jetzt hingehen, können wir nicht nachher in der Mensa weiterquatschen?“. Emira wägt die belanglose oder zumindest für sie langweilige Vorlesung ab mit dem, was dieser Morgen sonst noch bieten kann und da das ein paar mehr Argumente sind, entscheidet sie sich, „also, soviel Lust habe ich eigentlich nicht.“ Marcelo hilft ihrer Entscheidung, sich durchzusetzen, „wollen wir ‘n Kaffee trinken gehen?“. Emira ist für diese Stütze dankbar, „klar, der alte Knacker langweilt mich sowieso“, wobei dieser Professor, von dem sie gerade redet, um die Ecke geschlendert kommt und wohl freiwillig Zeuge ihres Ausspruchs wurde, was Emira nicht schnell genug Oliver Droste 120 Irgendwo in Nirgendwo merkte. Der Professor bleibt neben ihr stehen und redet seitlich zu ihr, ohne sie anzusehen, ohne sie eines Blickes, oder sonst etwas zu würdigen und sagt, „wenn sie ein wenig häufiger die Vorlesung besuchen würden, würden sie sich in dieser Veranstaltung nicht so sehr langweilen. Und des öfteren mal ausgeschlafen dort erscheinen, wäre sicherlich nicht von geringem Nutzen für ihr Auffassungsvermögen“ und geht weiter. Emira sieht ihn erschrocken weiterschleichen, diesen Schleicher, diesen Schleifer, diesen überheblichen Wortesardist und flucht, „verdammt!“. „War das dein Dozent?“ fragt Marcel und blickt dem Schatten nach. Bea sieht Marcel aus tiefen Augen an, die der Ärger tiefer legte, „das war er; ich gehe. Macht was ihr wollt. Ihr müßt es selber wissen. So viele Fehlstunden kann ich mir nicht erlauben“. Emira ist ärgerlich über Beas geringe Flexibilität und ihrer überherrschender Vernunft, „ach du bist doch ewig in der Uni“. Bea schlägt einen sarkastischen Ton an, als sie Emira eine Augenfunkel hinüberwirft, „das kommt dir nur so vor, weil du so oft nicht mitgekommen bist“. Darauf kann Emira nur trotzig reagieren, „du gönnst mir aber auch überhaupt nichts“. „Ich gönne dir viel zuviel“ antwortet Bea und geht. Marcel ist eigendlich froh, das Bea ihrer Berufung folgt, auch wenn er der Ursprung ihres Ärgers ist, sieht ihr kurz nach und blickt dann Emira an, „wollen wir gehen? Vielleicht kannst du mir helfen, ein paar Gedichte auszuwählen“. „Gerne, hast mir ja auch geholfen, dann revanchiere ich mich. Es Oliver Droste 121 Irgendwo in Nirgendwo interessiert mich, was du so schreibst.“ „Wollen wir zu mir? Dann kann ich dir gleich die Kopien geben; die mußt du dann in Ruhe lesen.“ „Können wir machen. „ Sie gehen beide diesen nun so gespenstig leren Gang hinunter, der ihre Umrisse gebonert spiegelt, dem am Ausgang grell spiegelndem Licht entgegen, verlassen das Universitätsgelände und holen bei einem dafür anliegendem Bäcker Brötchen. Darauf gehen sie traumflugen Blicks durch die Fußgängerzone, trivial konversierend und kommen bei Marcel an. Marcel durchsucht, an der Haustür angekommen, wie gewohnt seine Taschen nach dem Schlüssel und schließt nach einiger Zeit die Tür auf, wobei er Emira entschuldigend vorwarnt „mhm, es ist nicht gerade aufgeräumt, hatte in den letzten Tagen noch nicht richtig Zeit dazu. Du mußt da ein wenig drüber wegsehen“. „Ich werde in deine Gedichte sehen.“ „OK“ lächelt Marcel, „das ist eine gute Alternative“. Sie gehen beide in die Küche, der in dieser WG den Ort der Begegnung und des Lebens darstellt, wie es in den alten Bauernfamilien auch heute noch der Fall ist, was in heutiger Zeit eine kommunikative Institution darstellen könnte. Marcel räumt den Tisch ab, wischt ihn sauber, türmt das Geschirr weiter auf. Nimmt die Stiefel von der Heizung, die dort zum trocknen standen. Beim Rausgehen nimmt er noch die Lederjacke und Motoradhose vom Stuhl, die ebenfalls zum trocknen vor der Heizung hingen. Marcel blickt nocheinmal nervöus in die Rund, um Oliver Droste 122 Irgendwo in Nirgendwo Emira nun einen Platz anbieten zu können, „so, jetzt ist etwas mehr Platz. Setz dich“. „Danke, aber las mich beim Tisch decken helfen, wo stehen die Sachen“, sagt Emira, um ihre Unruhe etwas zu beschäftigen; in dieser fremden Umgebung fühlt sie sich etwas unwohl. Marcel geht zur Tür, wirft die Sachen in den Flur und sieht Emira etwas hilflos an. „Ich muß eben was abwaschen, tut mir leid, setzt dich ruhig hin, ich hol‘ die Gedichte“, geht und kommt mit einer Mappe zurück, „kannst ja mal drin blättern. Ich mach den Kram kurz sauber“. Emira sieht den massigen Ordner erstaunt an, „hast du das alles geschrieben?“ und zeigt auf die Mappe. Marcel antwortet herunterspielend, „klar, es ist nach den Themen geordnet, kannst mal im Inhaltsverzeichnis sehen, was dich interessiert“ und macht sich an das Abräumen und macht, während Emira blättert, alles für das Frühstück fertig und wendet sich kurz zu Emira, „hoffentlich bring ich die Sachen bei der Lesung vernünftig“. „Das mußt du üben. Die Stücke die du vortragen willst, mußt du öfters mal laut lesen. Wie kommst du denn nach Berlin?“ „Ich werde mit dem Motorrad fahren, mit dem Zug ist es zu teuer.“ „Kannst du nicht mit dem Wochenendticket fahren?“ „Ne, es ist am Freitag abend und das Wochenendticket geht erst am Samstag. Außerdem müßte ich dann auch noch mit dem Bus fahren und die Bimmelbahn ist schon ewig unterwegs. Den abend würde ich auch nicht mehr nach hause kommen. Übernachtung in Berlin würde Oliver Droste 123 Irgendwo in Nirgendwo dazukommen, das wäre alles zu teuer. Die Züge sind ja auch total überfüllt.“ „Willst du nicht in Berlin bleiben, wenn du schon mal da bist?“ „Den Abend wird es wahrscheinlich spät, kann sein.“ Emira blättert in dem Ordner und ließt einiges an. Sie bemerkt, daß sie einiges doppelt lesen muß und sieht zu Marcel, der noch mit der Arbeit des Abräumens und des gleichzeitigen tischdeckens beschäftigt ist, an, „die Gedichte nehme ich am besten mit, jetzt hab’ ich keine Ruhe dazu. Darf man hier rauchen?“. „Klar, tu dir keinen Zwang an.“ Emira tut es nicht und zündet sich eine Zigarette an. Marcel überlegt, was Emira nur für einen Akzent hat, sie scheint nicht von hier zu sein, „du hast einen Dialekt, wo kommst du her?“; er setzt sich nun mit der Kanne Kaffe zu Emira. „Aus Bosnien.“ Marcel ist daran interessiert, aber weiß nicht so recht, wie er sie taktvoll dazu befragen soll, „hast du da viel vom Krieg mitgekriegt?“. Emira ist verwundert über diese merkwürdige Frage, „kann man wohl sagen“ und bekommt Falten an der Nasenwurzel, wobei ihr Blick dunkelt. „Wie ist es da denn abgegangen? In den Medien kriegt man doch nur mit, was die einem sagen wollen, um eine bestimmte Meinung zu vertreten. Man hat immer was von Greueltaten gehört, sowas wie KZ’s. Habt ihr davon als Zivilbevölkerung was gewußt? Weißt du, im 2. Weltkrieg haben die Leute hier in Deutschland angeblich auch nichts gewußt. Wie ist das in Bosnien bei euch gewesen?“. Oliver Droste 124 Irgendwo in Nirgendwo Emira senkt den nun glasig werdenden Blick und starrt vor sich hin, „oh“, ihre Augen sehen nach regen aus, als sie Marcel anblickt, „du hättest mich nicht daran erinnern dürfen. Ich dachte, ich könnte es hier vergessen“ und kramt in der Tasche, holt ein Röhrchen mit Tabletten heraus und nimmt eine mit einer Tasse Kaffee zu sich. Marcel ist etwas verstrört über diese emotionale Wendung bei Emira, „äh, du brauchst nicht davon sprechen. Ich wußte nicht, daß es dich so sehr berührt“. Emira wird es warm, kleine perlen dunsten auf ihrer Stirn, „scheiße, jetzt kommt die Erinnerung, die ich vergessen wollte wieder“ und raucht schneller. Marcel fühlt sich in seiner hilflosen Situation unwohl und will schnell auf ein anderes Thema kommen, wobei ihm nichts besseres einfällt, als „OK, vergiß es. - Was machen deine Eltern? - Oder, überlegt er, die falsche Richtung einschlagend und wittert „- leben sie noch?“. Unter Emiras Kopf tropft der beginnende Regen. Marcel fragt etwas hilflos, ein weiteres Thema anschneident, „äh, das Studium, wie kommst du mit unserer Sprache zurecht?“. Emira sieht ihn an, ein Beben zittert hinter ihren Geistestoren, „jetzt hast du das Wolfsgesicht gerufen“. Marcel überlegt, was nun mit Emira los ist, was sie meint, ob sie wohl einen Schaden zurückbehalten hat und fragt sich verängstigt wundernd, „was?“. „Ist schon gut. Weißt du, was in Bosnien passiert ist?“ Marcel will sie nicht noch Oliver Droste 125 Irgendwo in Nirgendwo weiter in diese emotionale Situation stürzen „las sein, du brauchst nicht darüber reden“ und stockt kurz, um zu befinden, daß es ihn doch ein wenig interessiere, und dann anzufügen, „wenn du nicht willst“. Die Wolken draußen scheinen die Sonne und damit auch Emiras Gesicht zu verfinstern, als würde eine Sonnenfinsternis stattfinden. Die Schatten übernehmen die Übermacht im Zimmer, einer erscheint wie ein Wolfshaupt an der Wand hinter Emira, ihre Augen glühen geädert, als sie sagt, „Ich will nicht reden, ich brauche es. Jetzt ist es wieder da. Jetzt setzt dich und hör zu. Ich erzähle sowas nicht gerne, nicht oft, aber du hast es geweckt, jetzt hörst du zu!“ Marcel setzt sich und fragt ernst, „in Ordnung, was ist passiert, was ist mit deinen Eltern, hast du Geschwister?“ „Ich - hatte einen Bruder und eine Schwester.“ Bei diesen Worten senkt sie ihren Kopf, ihre Haare fallen ins Gesicht, dann hebt sie es langsam, als Marcel weiter fragt, „was ist mit ihnen passiert?“ und sieht ihn von unten aus ihrer Tiefe dunkelgrün an und fragt, „hast du Geschwister?“. „Ne.“ Eine Stille setzt ein, die Temperatur des Raumes scheint stark gesunken zu sein. „Es kam eine Horde Söldner durch unser Dorf, die haben Leute einfach so umgebracht,“ sieht ihn verzerrt faltenwerfend an und ergänzt leise, „vergewaltigt. Mein Vater wollte uns beschützen, ich war noch ziemlich klein.“ Nun scheint ihr Redefluß ins Rollen zu kommen, da sich ihre Zunge fast überschlägt bei Oliver Droste 126 Irgendwo in Nirgendwo kurzen, abgehackten Wörtern. „Meinen Vater haben sie halb totgeschlagen und meine Mutter und meine Schwester vergewaltigt, dann haben sie meinem Vater einfach die Kehle durchgeschnitten. Meine Mutter ist dann durchgedreht. Meine Schwester hat es nicht überlebt. Sie war erst 14 und wurde - ahrrr totgefickt.“ Marcel friert, er zittert und starrt vor sich hin, schweigt entsetzt aus Fassungslosigkeit. Emira zittert mehr und nimmt wieder eine Tablette. Ihr Blick verliert die Glut, wird stumpfer und glasig. Der Wolfsschatten dunstet mit den ersten Sonnenstrahlen, die durchbrechen; von der Anlage kommt ein Lied von Bush „Greedy fly“. Marcel hört auf den Text und versteht das Feeling von grunge bei der Textstelle, „I need help ...“. Er träumt vom Krieg, wie sauber er durch die Medien kam, mit so estethischen Worten beschrieben, wie dem anscheinend dem französischem Vokabular entliehenem ‚Bombadement‘ oder den für versehentlich die Zivilbevölkerung getroffen benutzten ‚Kolateralschäden‘. Ja, wenn man das Vokabular so abstrakt gestaltet, dann kann es das Gewissen nicht mehr ergreifen; man glaubt, ein sauberes zu haben, aber sie haben dann gar keins mehr. Marcel kommt vom Abstrakten wieder zum Greifbaren, „deine Mutter lebt noch?“. Emira antwortet heiser „ja“ und reuspert sich, „sie ist in der Psychiatrie hier in der Stadt. Hab’ sie letzte Woche besucht, hätte ich nicht tun dürfen. Dort wirst’e wirklich verrückt, wenn du es nicht schon Oliver Droste 127 Irgendwo in Nirgendwo bist, zwischen den ganzen Verrückten. Das glaubst du nicht, was da für Gestalten rumlaufen.“ „Und wie geht es jetzt weiter; wird deine Mutter bald rauskommen?“ fragt Marcel, als ob der Mensch so und soviel Jahre bekommen hätte und dann aus seinem Gefängnis herauskommt. Doch das Gefängnis ist in diesen Menschen. Emira weiß das, als sie antwortet, „ne, das soll wohl hoffnungslos sein. Und wo soll sie denn dann hin? Alleine kommt sie nicht zurecht und bei Bea und mir ist kein Platz. Ich könnte das auch nicht. Wir würden uns beide runterziehen.“ „Ganz schön beschissen alles“ bemerkt Marcel; er wird nervöus, sein Blut pulsiert nach einer Lösung, doch es findet sie nicht. Was wird den Menschen angetan, was für Wracks hinterläßt diese Zivilisation? Emira ist ärgerlich über keine Lösung, „du weißt doch gar nicht, wie es da zugeht“. „Ganz so blöde bin ich auch nicht“ verteidigt sich Marcel. „Warst du schon mal in einer Psychiatrie?“ „Nö, aber ich kann ja mal mitgehen, wenn es Dich nicht stört.“ Emira überlegt kurz dieses Angebot, „klar können wir machen“. „OK, wann?“ Marcel ist entschlossen. Doch Emira ist entschlossener, „wir können doch jetzt gehen. Mir geht es jetzt ganz gut. Ich darf es nicht verdrängen, sagte der Arzt; es kommt sonst immer wieder. Bald werde ich einen Platz bekommen, um von den Tabletten und so, wieder wegzukommen.“ Marcel geht das etwas schnell, „jetzt willst du gehen? Du bist ziemlich spontan“. Wer keine Vergangenheit mehr hat, da er sie verdrängt hat, hat auch keine Oliver Droste 128 Irgendwo in Nirgendwo Zukunft, da die Erfahrung gezeigt hat, daß unerwartet immer etwas Schreckliches geschehen kann, der ist spontan. „Ich nehme den Tag, wie er ist und heute ist er gut, das fühle ich.“ Marcel stellt sich schnell auf diese Situation prakmatisch ein, „wir können mit dem Motarrad hinfahren, einen zweiten Helm und einen Nierengurt habe ich noch“. Bei dem Gedanken wird Emira lebhafter, Freude verdrängt die Dunkelheit der Vergangenheit, wie die Sonnenstrahlen die Schattenwolken des Zimmers verdampften. „Oh ja, ich wollte schon immer mal auf dem Motorrad fahren.“ Marcel und Emira räumen den Tisch ab und gehen raus. So spontan, wie Emira ist, ändert sich auch ihr seelisches Gleichgewicht, sie lebt wieder und kann sich an den kleinen Dingen erfreuen. Eine seltene Gabe, dafür aber kurzlebig. „Riechst du die Luft? Heute ist sie so frisch, so sanft.“ „Ja, herrlich. Ist es die große Klinik in der Innenstadt, mit dem Park die?“ „Ja, genau.“ Marcel nimmt das Motorrad vom Ständer, tritt es an. Auf seinem Motorrad ist er der Drachentöter, der die Drachen dieser Gesellschaft feuerspuckend, donnernd erschlägt. „Gut, setz dich, hier hinten sind deine Fußrasten, mußt dich gut festhalten, hier hinter dir am Griff.“ Emira denkt über diese merkwürdige Sitzposition nach, wie unpraktisch sie ist. „Hinter meinem Rücken? Wenn ich runterfalle verdreh‘ ich mir die Arme und kann mich nicht festhalten. Ne, darf ich mich nicht an dir festhalten?“ Das ist das Oliver Droste 129 Irgendwo in Nirgendwo Schöne am Motorradfahren, denkt er, „klar“ und fährt langsam los, den Schalk im Nacken. Emira hält sich locker fest. Marcel gibt etwas ruckelnd Gas, als wenn er Kanguruhbenzin getankt hätte, so daß sich Emira etwas fester halten muß, beide grinsen aus gleichem Grund. Sie fahren durch die Stadt, frei. Oliver Droste 130 Irgendwo in Nirgendwo XVII Die Irrenanstalt und zwei Hände Marcel, Emira, Mutter, Pfleger, Arzt, Schwester, Verrückte. Marcel und Emira kommen im Krankenhaus durch den Haupteingang. „Wo müssen wir hin?“ fragt Marcel und sieht Emira an. „Ich weiß, hier lang und mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock.“ Emira geht zielstrebig voran; sie steigen in den Fahrstuhl. Dort sieht Marcel Emira durch den Spiegel an und fragt, „wie lange hast du deine Mutter nicht mehr gesehen?“. „Ich weiß nicht.“ „Du mußt doch wissen, wann du das letzte mal hier warst.“ Marcel sieht sie etwas verständnislos an; eine so lockere Familienbindung ist ihm unverständlich. Emira überlegt wirklich angestrengt. Ihr gefällt das schlechte Gedächtnis auch nicht, es macht ihr angst. „Ich weiß nicht, vielleicht vor ein paar Monaten oder so.“ „Aber auf der Station ist sie noch, wo wir hinfahren?“ „Ich hoffe.“ Der Fahrstuhltür öffnet sich, sie steigen aus, gehen durch den Flur und klingeln an einer schweren Glastür. „Ist ‘ne Geschlossene. Die kommen gleich und schließen die Tür auf“ erklärt Emira. Nach einiger Zeit kommt ein Pfleger und öffnet. Marcel ist es etwas unwohl. Der Pfleger sieht sie an und wünscht einen „guten Tag“. Emira wartet die Frage nicht weiter ab, Oliver Droste 131 Irgendwo in Nirgendwo sondern gibt gleich die Antwort, „hallo, wir wollen meine Mutter besuchen“ und lächelt aus Verlegenheit. Der Pfleger macht kein freundliches Gesicht, es ist ja auch kein Dienstleistungsunternehmen und fragt unfreundlich, als sei es eine Fließbandabfertigung, „wie ist der Name?“. „Meine Mutter heißt Mirna Bladievic.“ Die Frage, ob sie Angehörige sind hat Emira gleich mitbeantwortet, so daß die Prozedur abgekürzt ist. „Kommen sie rein, sie müssen kurz warten.“ Sie treten ein, der Pfleger schließt die Tür hinter ihnen ab und geht ins Stationszimmer. Beide stehen draußen. Da kommt ein junger Mann zu Marcel und fragt ihn mit toten Augen, „hast du die Fliegen gesehen?“. Marcel lächelt kurz, da er eine solche Frage nicht erwartet hat, wird darauf wieder ernst, da er nicht weiß, wie er mit der Situation umgehen soll, „ne, hab’ keine gesehen“ und lächelt Emira verlegen an, die es anscheinend nicht weiter verwundert. Der Mann sieht Marcel aus fahlem Gesicht starr an, „das ist der Teufel, der fliegt hier irgendwo. Den darfst du nicht anfassen, sonst infiziert er dich“. Marcel überlegt, was er mit einer lästigen Fliege machen würde, „ich kann die Fliege ja tothauen“. Die Lösung wäre zu einfach; der Mann ruft entsetzt, „nein, nein, das darfst du nicht. Der geht dann in deinen Kopf. Das darfst du nicht!“ „Ist ja gut, ich tue keiner Fliege was zu leide.“ „Das darfst du nicht. Askopal läßt dich dann nicht mehr los, alle infiziert,“ er macht ausholende Bewegungen, dreht sich um, „wo ist denn mein Oliver Droste 132 Irgendwo in Nirgendwo Engel? Hast du meinen Engel gesehen?“ Marcel wird es unangenehm; in was für einer Welt lebt dieser Mensch hier nur? Er weicht etwas zurück und antwortet „ne, hab’ ich auch nicht gesehen“. „Ich muß den Engel suchen“ und blickt zu Emira, „bist du ein Engel?“. „Ich bin bestimmt kein Engel, die sind im Himmel.“ Der Mann schüttelt den Kopf, zerwühlt sich das Haar und schüttelt sich dann ganz, „nein, nein, ich muß ihn finden. Der war vorhin noch da. Ich muß ihn finden“ und geht, mit sich selbst redend, mit irrem Blick, in ein größeres Zimmer, wo Betten stehen. Sein Blick fliegt ihm vom Gesicht schräg durch das Zimmer, senkt sich dicht über einen Patienten, der ins Leere der Zimmerdecke starrt, von ihm weg, dreht sich durch den Raum, fängt einen weiteren irren Blick und bunte Farben, einen grellen Regenbogen, um wieder in den Flur zu Emira und Marcel zu gelangen, wo er zu Boden fällt. Marcel sieht Emira an, „oh Mann, hier würde ich es nicht aushalten“. „Da gibt es noch schlimmere.“ „Scheiße.“ Man hört Schreie. Der Pfleger kommt und sagt im Vorbeigehen zu den beiden Wartenden, „setzen sie sich doch bitte dort drüben hin; ich hole ihre Mutter sofort“. Sie setzen sich. Kurze Zeit später kommt der Pfleger mit der Mutter zurück. Emiras Mutter ruft, als sie ihre Tochter erkannt hat voller Freude, „hallo, hallo, du bist gekommen“, geht zu Emira und streicht ihr mit der Hand durchs Haar. „Wo ist Michaela, wollte sie nicht kommen?“ „Michaela ist tot, Mama.“ Die Mutter sieht sie etwas Oliver Droste 133 Irgendwo in Nirgendwo streng an, „sag sowas nicht. Nur weil sie sich etwas verspätet“ und streicht ihr wieder durch das Haar. „Wie geht es dir Mama.“ „Gut, gut geht es. Es geht mir hier gut“, sie lacht kurz auf, „alle sind so nett. Ich krieg Tabletten. Alle sind so nett.“ Ein älterer Herr in weißem Arztkittel kommt vorbei, hält einen Papierbogen in der Hand, bleibt bei Marcel stehen, sieht ihn kurz mit Haifischaugen an und erklärt ihm, auf seine Unterlagen verweisend, „da haben wir es, schizophriede Hirnhormone, gehören sie zur Art der paranoiden Entropide, oder haben sie nur den Anschein?“ er schlägt Marcel kurz vor die Brust, als er bemerkt, daß dieser fragend zu Emira sieht, um sich seiner Aufmerksamkeit wieder zu bemächtigen, um weiter auszuführen, „können doch auch schizophriede Metaphide sein.“ Marcel sieht ihn nicht in die Augen, sondern auf das Papier, „bitte? Ich weiß nicht wovon sie reden; ich bin nur zu Besuch hier.“ „Na, wie reagieren wohl schizophride Entropide bei reiner Temperaturerhöhung von 0,00014 hoch –1/3 Megagrad Bensonheit? He? Die Kreisverbindungen im elyptischen Elektronenstrom verhalten sich transnuklear rapide.“ Er sieht wieder in die Papiere, schlägt Marcel wieder vor die Brust, dem langsam unwohl wird und fährt fort, „Aha, die tangentalen, permeablen, rhombischen Epylaxenparaphide verhalten sich schizophride“ und schlägt mit seinem Zeigefinger auf die Papiere, „hypertransgallaktisch genau“. Der Pfleger kommt wieder vorbei und sieht den Weißkittel dort stehen. Er faßt ihn unter den Oliver Droste 134 Irgendwo in Nirgendwo Arm und redet ihm zu, „kommen sie her Proffessor, wo haben sie denn wieder den Kittel her, den sollen sie doch nicht mehr anziehen und die Leute belästigen. Der Proffessor reist sich ruckartig aus dem Griff, stampft mit dem Fuß auf, daß sein Grauhaar bebt und schreit den Pfleger an, mit den Papieren in der Luft wedelnd, „die hyglisierende Neosakrealequlente zeigt eine halluzinöse Schizophrie-hyperventilierung megapolypherierendes negamoschus Paranoid, dürfte keine makromilitangene Nebenreaktion zeigen.“ Der Pfleger greift ihn fest am Arm, eine weitere Schwester kommt dazugelaufen und faßt mit an. Der Pfleger dreht dem alten Mann den Arm auf den Rücken und sie führen ihn ab. Der weißkittelige Grauhaar schreit, „da haben wir die Schoon’sche Gemipinisakralreaktion nicht beachtet. Transzendentale interfekal Schwufftilierung tendiert zur Melancholie-Interaktion der fraktionären Anakraft des spermeastischen Finalsatzes.“ Der Pfleger fragt ihn, „haben sie heute wieder ihre Medizin nicht genommen? und sagt zur Schwester, „hol doch gleich mal sein Haldol“ und sie verschwinden im Zimmer. Die Schwester kommt zurück und sagt entschuldigend im vorbeigehen, „tut mir leid, das hat er wohl mal, das haben wir gleich; er hat wohl zuviele Tierversuche an Affen gemacht, war Leiter des Primateninstituts“ und verschwindet wieder. Emira sieht wieder ihre Mutter an und zeigt auf Marcel, der etwas verwirrt umherblickt, „das hier ist Oliver Droste 135 Irgendwo in Nirgendwo Marcel, ein guter Freund“. „Hallo, Marcel“ sagt sie und nimmt seine Hand und nimmt Emiras Hand und legt sie zusammen, sieht Marcel in die nervösen Augen, wobei sein Blick ruhiger wird und bemerkt weiter, „du bist auch nett. Sei nett zu meinem kleinen Mädchen. Paß gut auf sie auf. Sie darf sich niemals verspäten. Du mußt auf sie aufpassen“. „Das werde ich.“ Emira legt ihre Hand auf die Schulter ihrer Mutter, „er paßt auf mich auf, Mutter; er hilft mir“. Die Mutter lächelt Emira an und fragt, „wo ist Papa? Er kommt nicht. Er verspätet sich auch. Ich bin böse auf ihn“, sieht zu Marcel und lächelt weiter, „aber ihr seid gekommen“. Sie drückt ihre Hände zusammen. Paß auf mein kleines Mädchen auf. Marcel fühlt die Wärme, „das tue ich“. Emiras Mutter steht auf, „ich muß jetzt gehen. Ich muß fernsehen“, worauf sich alle von den Sesseln erheben; die Mutter dreht sich ihnen nochmals zu und nimmt noch mal Marcels und Emiras Hand und sagt zu Marcel, „du darfst sie doch nicht loslassen. Du mußt auf sie aufpassen. Laß sie nicht los, das ist so gefährlich, versprich mir das!“ Marcel lächelt, eine Freude, die er ihr gerne macht, die ihn erfreut, „ich verspreche es“. Die Mutter dreht sich und geht mit sich selbst redend, „doch nicht loslassen“ und schüttelt den Kopf, „nicht loslassen!“ und verschwindet im Hintergrund, im Weiß der Wände, das sie verschluckt. Emira ist nun ziemlich kaputt, von innerlichem Kampf ermüdet, „ich will hier raus“. Oliver Droste 136 Irgendwo in Nirgendwo Beide gehen Hand in Hand zur Tür. Marcel faßt ihre Hand fester, da er merkt, wie sie zittert. Vor der Tür drehen sie sich und winken dem Pfleger, daß er sie öffnet. Beide gehen. Oliver Droste 137 Irgendwo in Nirgendwo XVIII Von Mondstaub und schwebendem Tanz Marcel, Roland, Emira, Joel, Maike, zwei Polizisten. Der Wind weht an diesem Spätnachmittag schwer durch die Gassen, um sich duftbeladen durch die Fenster in ein verrauchtes Zimmer zu lassen, dort durch die Nase eine Synapsapenverknüpfung zu schaffen, der neie Ideen entfliehen, sich in Horizonte verlieren, die geöffnet eine weite Reise durch Traumlandaugen inszenieren. 0815Stadtvogelgesang verbindet es zu einer Großstadtidylle, die Marcel in seine Phantasie abschweifen läßt. Er sitzt in seinem Zimmer am Schreibtisch und kritzelt in einem Stapel loser Blätter herum. Ab und zu hebt sich sein Kopf und er sieht durch das Fenster hinaus, durch die Häuserfassade in eine innere Weite, kaffeetrinkend. Eine Haustür fällt ins Schloß, Schritte nähern sich und Marcels Zimmertür öffnet sich. Roland tritt ein, in alter verwaschener Jeans, einen grauen Kapuzentroyer tragend und wirft einen Stapel Kopien vor Marcels Nase, „hier, ich habe dir die Skriptkopien mitgebracht“. Marcel dreht sich ihm, in seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt, zu, fragt mit schlechtem Gewissen nach Beruhigung des selbigen, „und hab‘ ich heute was verpaßt?“. Oliver Droste 138 Irgendwo in Nirgendwo Roland nimmt eine wichtige Haltung und ein ernstes Gesicht an, „war alles klausurrelevant. Der Prof. hat uns einige Tips gegeben.“ „Mach keinen Scheiß“ sieht ihn Marcel ungläubig, aber blauäugig und somit leicht zu verarschen, an. „Ach, hätte ich mir heute auch sparen können, hätte genausogut im Bett bleiben können“, lockert Roland die Atmosphäre wieder. Marcels Augen werden wieder heller, „ah, danke, das wollte ich hören. Haste was mitgeschrieben?“. „Ja, aber steht auch alles im Skript, hab ich dir auf deinen Schreibtisch gelegt.“ „Jo, danke.“ Gut kopiert und gut sortiert ist halb studiert, ist Marcels Devise. Wenn einer von beiden die Vorlesung besucht und mitschreibt, braucht man nur die halbe Vorlesungszeit zu besuchen. Hat man eine gute Quelle für gute Mitschriften und organisiert sich die Skripte bzw. Bücher, kann man die gewonnene Zeit auch mit Arbeit und Party machen sinnvoller verbringen. Der Streß kommt für Marcel und Roland erst immer kurz vor den Klausuren und Prüfungen, wo sie sich jedes Semester aufs Neue schwören ‚aber nächstes Semester fangen wir früher an zu lernen‘, was sich bei ihrer mangelnden Disziplin natürlich zu Beginn der Prüfungszeit regelmäßig, einer Gesetzmäßigkeit folgend, wiederholt. Roland setzt sich auf Marcels Schreibtisch und fragt, „was läuft denn heute abend? Wo wollen wir uns treffen?“, womit er ihr Hobby anspricht, sich in Oliver Droste 139 Irgendwo in Nirgendwo Literatur zu versuchen, jedoch mit dem nötigen Spaßfaktor (gaudeamus igetur ...). „Wir fahren erst mal runter zum Markt und wollen von da weiter. Aber ein genaues Ziel hatten wir noch nicht festgelegt. Weißt ja, wie spontan das immer läuft.“ Organisierter Spaß ist nur halber Spaß. „Wollen wir wieder in die alte Fabrik?“ Marcel überlegt kurz, „weiß´nicht. Heute ist es eigendlich viel zu schönes Wetter, als daß wir in so ‘nem Kellergewölbe hausen sollten“ und sieht zum Fenster hinaus, die schwere Luft zu besehen. Roland denkt ähnlich und kommt auf eine bessere Örtlichkeit, „wie wäre es mit der alten Burgruine?“. „Ich weiß nicht, ist da nicht zuviel Tourismus?“ „Abends ist da doch fast nichts los. Außerdem ist Publikum doch gar nicht so schlecht, oder?“ „Stimmt. Wir können eigentlich wieder ein Lagerfeuer machen; oder wir besorgen ein paar Fackeln, das bringt Stimmung.“ „Und was zu trinken“, bringt Roland, eines der wichtigsten Gründe für ein solches Treffen, vor. Dem kann sich Marcel auch nicht verschließen und nimmt die Organisation gleich in die Hand „mach ich“, was für sein logistisches Talent spricht und fügt hinzu, „ich freue mich schon darauf, was Neues zu hören, was die anderen gemacht haben“. Roland interessiert sich nun aber auch dafür, wie Marcel den Vormittag verbracht hat, wollte aber nicht gleich so aufdringlich sein und mit der Tür ins Haus fallen. Nun überkommt ihn aber der fast verflogene Gedanken wieder, als er neben sich auf Oliver Droste 140 Irgendwo in Nirgendwo dem Schreibtisch in den Papieren stöbert, so daß er Marcel künstlich beiläufig fragt, „was habt ihr denn heute eigendlich so getrieben?“. Marcel bemerkt nicht die unterschwellige Eifersucht in Rolands Frage, als er antwortet, „wir waren noch ihre Mutter im Krankenhaus besuchen, in der geschlossenen“. Roland versucht es freundschaftlich mit einem abgegriffenen Spruch, „bist ja wieder rausgekommen, hatten wohl keinen Platz für ’nen verrückten Dichter, was?“ und grinst. Marcel wird wieder ernst, sich an die Vorkommnisse in dser Psychatrie erinnernd; das Lichtlachen entweicht aus seinen Augen, „na, das war nicht besonders lustig. Das muß ganz schön schwer für Emira sein, ihre halbe Familie auf diese grausame Weise verloren zu haben“. Um das nicht den erwünschten Erfolg zeigende Thema zu wechseln kommt Roland auf das freudige Ereignis, das Marcels Gedanken sicher wieder schweifen läßt, „mhm, heute abend kannst du ja erzählen, daß du Nachricht vom Verlag hast und die Einladung zur Lesung nach Berlin“. Es klappt. „Ja genau, in die Höhle des Löwen. Berlin ist doch die Kunststadt überhaupt. Da mußt du schon ein etwas durchgeknallter Künstler sein, um da anzukommen, denke ich.“ „Ja, Berlin, Paris, Rom, Wien“ spinnt Roland die Träumereien weiter. „Paris“ hebt Marcel in Erfurcht an, „das ist die Kunststadt überhaupt. Da waren schon alle großen Oliver Droste 141 Irgendwo in Nirgendwo Künstler. Irgendwann fahre ich da hin.“ „Klar, da machen wir mal am Ende der Semesterferien eine Motorradtour hin, wenn wir genug verdient haben. Da nehmen wir die anderen mit, die auch Motorrad fahren.“ Roland freut sich auf eine Tiur mit seinem besten Kumpel und sieht sich schon Easy-Ridermäßig durch die französische Landschaft jagen. Marcel hegt diesen Traum auch schon eine Ewigkeit, jedoch filigraner, „und wir müssen über Amsterdam fahren und in das van Gogh-Museum gehen, unbedingt. Monet will ich sehen und zum Grab von Jim Morisson. Wenn man schonmal in diese Länder fährt, muß man alle die großen Künstler sehen, die wir hier im Original nie zu sehen bekommen“. Das Realitätsbewißtsein und etwas mangelnde Spontanität äußern sich bei dem Realiste Roland in wiederholtem Ansprechen der finanziellen Probleme, „aber erst mal müssen wir in den Semesterferien malochen. Mein Motorrad braucht einige Ersatzteile“. So kommt auch Marcel wieder zurück von seiner Geistesreise, „ich brauch auch noch ‘n neuen Reifen, ‘ne Kette und ‘n Kettenritzel“. Nun fällt Roland ein, „bei meiner Mühle wird TÜV bald fällig“ und rechnet schon hoch, was ihn das kosten wird. Nun kommt Marcel auf Rolands wunden und gefürchteten Punkt zu sprechen, „ich frag Emira, ob sie auch mitkommt“. Das trifft Roland tief, sein ganzer Urlaubselan macht der Eifersucht platz, „Mann, Emira, Emira, Emira. Oliver Droste 142 Irgendwo in Nirgendwo Kannst du auch noch an was anderes denken? Laß uns alleine fahren, dann können wir richtig Spaß haben. Du hast dich doch nicht in diese Verrückte wirklich verknallt?“. Nun hat sich Roland verraten und Marcels Leidenschaft verletzt, der sich vehement wehrt, „und ich kann dein scheiß Verrückte, Verrückte, Verrückte auch nicht mehr hören! Sie wird schon wieder“. Roland sieht das jedoch nicht ein, sondern anders, „gibt es da einen vernünftigen Grund für?“ schaukelt er die Diskussion hoch. „Klar gibt es den“ läßt sich Marcel ebenfalls dazu hinreißen. „Und?“ fragt Roland fordernd. „Na“ überlegt Marcel, „sie sieht so toll aus und irgendwie alles und - es hat mich voll erwischt und ich kann nicht sagen warum. Es paßt irgendwie alles“. „Das ist ein Grund“, entgegnet Roland voller Ironie, die Marcel nicht bemerkt, als er sich bestätigt sehend sagt, „siehst du, sag ich doch“. Die Blauäugigkeit verletzt nun langsam Rolands Realismus, „Mann, werd vernünftig. Diese Emira findest du vielleicht gutaussehend; ich meine, ist ja schon’n Gerät, so optisch ‘ne 8 oder 9, aber eben total durchgeknallt. Was da mit den Skinheads gelaufen ist. Mensch, was ich da gehört habe. Wer weiß, was sie dazu treibt, sich mit solchen Killern anzulegen, die hat doch kein Realitätsgefühl.“ Marcel bemerkt nun die Falle und ärgert sich, „ach, du spinnst doch. Jetzt hör auf. Weißt du was? - Ich kann mir nicht helfen, ich weiß ja, daß das alles Oliver Droste 143 Irgendwo in Nirgendwo irgendwie merkwürdig gelaufen ist und vielleicht keinen Zweck hat, also vom Verstand aus, aber - ich es hat mich total erwischt. Du weißt ja nicht, wie das gelaufen ist.“ Roland verfällt nun dem Sarkasmus, da er Marcel nicht versteht und ihre Freundschaft durch diesen Fremdkörper gestört sieht, „oh, ja? Wie heißt sie denn, kenn ich sie?“ und springt vom Schreibtisch auf, um der freundschaftlichen Ferne auch die optische zu verleihen. „Ach, du bist doch ... . Ich find das jetzt nicht sehr komisch. Das ist nämlich ein Problem. Du hast mal hier ‘ne Freundin, mal da; bei mir ist das aber anders. Ich mein es ernst. Wenn ich mich verliebt habe, dann soll das für’s Leben sein. Da bin ich irgendwie konsequenter.“ Das trifft nun Roland hart, der seine Beziehungskisten in einem anderen Licht sieht, „was soll das heißen? Denkst du, mir geht alles am Arsch vorbei, oder was?“. Die Diskussion nähert sich weiter der Unsachlichkeit und dem Verletzendem, als Marcel in die Offensive geht, „du wechselst doch deine Freundinnen, wie ...“. Als sich das Blatt wendet und Roland in die Verteidigung gehen muß wird er agressiver, „nun werd’ mal nicht polemisch“. Es klingelt an der Tür, beide schweigen. Roland überwindet als erster die Sturheit, „komm, es hat keinen Zweck. Jeder hat seinen Privatbereich. Oliver Droste 144 Irgendwo in Nirgendwo Ich kümmere mich nicht um deinen und du dich nicht um meinen, was Frauen betrifft“. Es klingelt wieder. „Ist in Ordnung“, nimmt Marcel den Vorschlag an, geht zur Tür und öffnet sie; Emira steht dort. Marcel ist erstaunt über das plötzliche und unverhoffte Wiedersehen, „oh, hallo. Wie geht es dir?“. „Danke, es geht“ antwortet Emira und sieht zu Rolamnd, der im Flur steht, „hallo Roland“. Roland kann sein Desinteresse und Ärger über die Zeit, die Marcel jetzt in eine andere Freundschaft als die ihrige investiert, nicht so gut verstecken, da der Konflikt noch zu kurz zurückliegt, „Tach“. „Komm rein“ lädt Marcel freundlicher ein. Emira sieht Marcel etwas verstört, den feindlichen Unterton sensibel bemerkend, an und erklärt entschuldigend, „ich brauch ein wenig Ablenkung, Marcel“. Marcel sieht Roland böse an und lädt Emira freundlich ein, „laß uns in meine Bude gehen“ und sie gehen. Etwas unsicher erwähnt Marcel noch das Chaos in seinem Zimmer, „ist aber nicht gerade aufgeräumt“, läuft zu einem Haufen mit Wäsche und schiebt sie mit dem Fuß unter das Bett. „Macht nichts, hab’ mich ja auch nicht angemeldet“ hilft ihm Emira. „Warte“ entgegnet Marcel, nimmt einige Bücher und Papierkram von einem alten Sessel und macht Musik an. Bob Dylans „One more coffee before I go setz dich“ ertönt, was Marcel zu einer Einladung zu eben diesem verpflichtet, so daß er diese Weinladung Oliver Droste 145 Irgendwo in Nirgendwo ausspricht, „willst du einen Kaffee, ich mach’ sowieso welchen, oder was anderes?“. „Ja, gerne.“ Marcel stellt in seinem Zimmer eine Kaffeemaschine an. Er versucht nun ein Gespräch zu beginnen, hat aber Angst, daß es nur ein Smalltalk wird, als er beginnt, „ist doch komisch, wir haben beide einen französisch klingenden Namen“. „Stimmt, habe ich noch gar nicht dran gedacht.“ Marcel überlegt angestrengt, ‚wie kann ich nur ein gutes Gespräch beginnen?‘ „Was ist los, du siehst traurig aus?“ beginnt er, verständnisvoll blickend. Eine kurze Pause setzt ein. Marcel sieht Emira mit seinem durchdringenden Blick an, bemerkt ihre Unsicherheit, die auf ihn zurückfällt. Emira gibt aber nach, „ach, es kommen immer wieder diese Erinnerungen und Bilder“. Sie überlegt, ob ihre Sympathie ihre Offenheit rechtfertigen würde; sie geht bei diesen Überlegungen aber weniger von Vernunft aus, als von Vertrauen zu diesem Menschen mit den ehrlichen Augen, wenn es soetwas gibt, vielleicht es mehr der Blick; „ich mußte irgendwas machen, sonst wird es immer schlimmer. Und diese Medikamente helfen auch nicht, die schießen einen nur ab“. Das ist für Marcel eine einladende Überleiutung zu der geplanten Abendunterhaltung, „heute abend kannst du etwas Ablenkung an der alten Burgruine finden. Wir treffen uns da und machen ein bisschen Party und lesen Gedichte und machen etwas Musik.“ Oliver Droste 146 Irgendwo in Nirgendwo Das Gespräch gerät in einen Fluß. Marcel atmet auf und die Stimmung lockert sich, als Emira anfügt, „das klingt ja gut. Besser als zuhause rumzusitzen“. „Oder vor der Glotze abzuhängen“, steigt Marcel begeistert ein. „Oder in die Disco zu gehen“, bemerkt Emira. Marcel ist nun nicht mehr zu halten, die Zunge löst sich, „ja, genau. Was hat denn das Leben sonst zu geben. Fernsehen, Disco, Video, Kino oder Kneipe. Das kann doch nicht alles gewesen sein. „ „Da war das bei uns in meiner Heimat früher besser“ erinnert sich Emira, „da gab es noch richtig Tanzveranstaltungen mit Lifemusik von so einer Tanzkapelle“. „Oh, so mit schwofen und auffordern“ witzelt Marcel. „Man konnte sich jedenfalls unterhalten und hatte am nächsten Morgen kein Pipen in den Ohren.“ „Klingt aber ganz schön altmodisch.“ „Da konnte man noch Leute kennenlernen. Und es war eher romantisch.“ Das Argument kann Marcel nicht von der Hand weisen, „tja, das gibt es heute hier nicht mehr. Das soll es wohl vor dreißig Jahren hier gegeben haben, hab’ ich mal in ‘nem alten Film gesehen.“ „Das gibt es heute in meinem Land auch nicht mehr, leider!“ Emira wird bei dem Gedanken an ihre verlorene Heimat traurig. Sie ist ihr für immer verloren gegangen, so wie ihre Erinnerung an die schönen, vergangenen Tage. Marcel will die Situation retten, „vielleicht sollten wir von was anderem reden“. Oliver Droste 147 Irgendwo in Nirgendwo „Es erinnert mich aber so viel an meine Vergangenheit“ wehrt Emira ab. Marcel ergibt sich, „was kannst du dagegen nur machen?“. „Ich muß damit fertigwerden. Das sind eben so Phasen, wo ich so down bin.“ „Oh, der Kaffee ist fertig,“ bemerkt Marcel am Blubbern der Kaffeemaschine, „ich hole eben Tassen aus der Küche“ und geht. Der Duft der frischen schwarzen Brühe durchsteigt den Raum. Emira sieht sich im Zimmer um, nimmt ein paar lose Zettel vom Fußboden und liest. Marcel kommt zurück. Marcel sieht Emira über die Schulter in die Blätter und erklärt, „oh, das sind ein paar Gedichte, die ich an ‘ne Zeitung geschickt hatte. Hab’ ich dir schon gesagt, daß ich nach Berlin eingeladen bin. Ich kann da was lesen und suche mir gerade was Gutes raus,“ was sie dann auch macht. Marcel setzt sich auf sein altes Sperrmüllsofa, trinkt Kaffee und zündet sich eine Zigarette an, da er nervöus ist, wie wohl Emiras Urteil ausfallen wird. Ihr Kopf scheint in ihren Haaren versunken, versunken im Lesen. Sie blättert und liest etwas anderes. ‚Was liest sie nur gerade?‘ Diese Ungewissheit läßt ihn intensiver rauchen. Emira scheint seinen Gedanken aufgefangen zu haben, als sie erklärt, „das ist ja schön. Wie kommst du auf sowas? Interessante Bilder sind darin.“ Das erleichtert Marcels Spannung, „das freut mich, daß es dir gefällt. Ich will unbedingt Bilder im Leser erzeugen, will Stimmungen und Gefühle Oliver Droste 148 Irgendwo in Nirgendwo rüberbringen, oder manchmal Themen irgendwie ausdrucksstark verpacken, die mich beschäftigen. Lies ruhig, es interessiert mich, was du darüber denkst.“ „Das gefällt mir“; sie steht vom Sessel auf und setzt sich auf den Fußboden, wo sie noch mehr Zettel aufhebt. Marcels Nervöusität läßt seinen Blick im Raum herumspringen, wo er noch mehr Unordnung in seinem Chaos entdeckt, „äh, ja, ich hab’ nicht mit Besuch gerechnet, nicht gerade aufgeräumt.“ Emira hört nur noch halb hin, legt sich auf den Fußboden und liest weiter, „Ist mir doch egal“. Marcel drückt die Zigarette aus und steht vom Sofa auf, steigt über Emira an seinen Schreibtisch, fährt den Computer hoch, knippst einen Beamer an und startet ein visuelles Programm, das Musik in abstrakte Formen farblich wandelt. Diese Farbenspiele richtet er an die Decke und startet eine CD von Kula Shaker, indische Klänge verformen sich in E-gitarrensound mit melodischem Gesang. Marcel sieht zu Emira zu Boden; Der sterbende Tag zerfließt blutend am Horizont in Feuerquallenfarben, die in Marcels Zimmer schatten. Alles verwandelt sich in warme übernatürliche Energiefarben, zum Kontrast der Deckenspiele. Marcel legt sich dann zu Emira und ließt die Überschrift eines Gedichtes, um es schnell zu Überfliegen und zu beurteilen, „oh, das finde ich auch ganz gut“, was er nicht zu jedem seiner Verse sagen kann. Draußen wird es dunkler, die Dämmerung legt sich mit ihrem Mantel über die Stadt, eine Singdrossel Oliver Droste 149 Irgendwo in Nirgendwo auf einem hohen Ast des Straßenbaums und singt Carusos Reinkarnation, wovon in Marcels Zimmer nichts zu hören ist, aufgrund der laufenden Musik von P.J. Harvey. Marcel hat inzwischen Kerzen angemacht und zum lesen auf den Fußboden gestellt. Emira liest nun laut „Mondstaub: Ich lege Sterne in dein Haar, Mars an deine Stirn. Du kleidest dich in Wind, läßt Bäume weinen, Drachen fliegen, Feuer spucken. Ich gehe durch korallenen Garten bloßen Fußes, feuerquallenschwer, wartend auf den Wind. Streiche den Mond in mein Haar, um Gezeiten zu rufen, mit der Flut zu gehen. Ein fallender Stern streift dein Gesicht, schlägt in mein Meer. Ich sah ihn tauchen, Düfte dampfend ersaufen, fasse ihn am Schweif und rieche dein Gesicht in seinem Stein.“ Emira schweigt, dreht ihren Kopf zu Marcel, streicht ihr Haar aus dem Gesicht und funkelt grün in Marcels Gletscheraugen, „das sind schöne Bilder“. Marcels Augen beginnen nun den Himmel zu spiegeln in der Freude eines Kinderherzens. Dieses Urteil war ihm besonders viel wert, „danke“sieht sie tiefer an, fast bis an ihr Seelentor, das für ihn jedoch durch Fremde verschlossen bleibt. Emira taucht ebenfalls in seine Seen, um seine fliegende Welt zu sehen, worauf er durch den salzigen Seehauch eine Gänsehaut auf dem Arm bekommt, „deine Augen sind interessant“ bemerkt, diese persönliche Beschreibung erklärend. „Grün.“ „Ist mir noch nicht aufgefallen.“ Oliver Droste 150 Irgendwo in Nirgendwo Nun bemerkt Emira, „in deinen Augen sehe ich die Kerze brennen“. „Blau.“ „Ja, sehr.“ Ihre Augen flammen sich an. Schattenspiele ihrer Finsternisse schwingen quantenspringend ineinander und tanzen wild durcheinander, farvermischend. Marcel erklärt ihr das gerade gelesene Gedicht. „Ich habe dich das erste Mal in der Fußgängerzone gesehen, als ich dort Gitarre spielte und später durch einen wundersamen Zufall auf einer Fensterbank singen gehört. Diesem Lied bin ich gefolgt bis an eine verwachsene Mauer und kletterte in einen Baum, dem Klang der Sirene folgend. In deinem Haar war der Mond, als ich dich das erste mal erblickte. Ich sah zu ihm auf und fand eine Sternschnuppe fallend. Mars war die Wunde wie Feuerquallen in deiner Stimme - seitdem brennt ein Feuer, wie von Drachen gespien in mir. Ich lag in einem Baum, der mich laubweinend in seinen hölzernen Armen hielt und hörte dir zu. Emira dreht sich auf den Rücken und sieht dem Farbenspiel der Decke, zur Musik von P. J. Harveys ‚Missed‘, zu. Sie winkelt die Knie an und kann ein Kichern nicht zurückhalten. Sie hat hier endlich Frieden und Ruhe gefunden, die sie glücklich machen. Es ist das erste Mal seit Jahren, daß sie dieses Gefühl hat. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das das letzte Mal so erlebt hatte. Sie dreht sich zur Seite und holt aus ihrer Tasche einen Tabakbeutel heraus, dem sie eine fertig gedrehte Oliver Droste 151 Irgendwo in Nirgendwo trichterförmige Zigarette entnimmt und sie ansteckt. Sie möchte dieses seltene Gefühl verstärken. Marcel dreht sich auch auf den Rücken und raucht mit. Sie sehen beide in diese Farbenwelt und lassen sich dorthin treiben, ihre Seelen fliegen und aneinanderstoßen, durch den Raum tanzen. Sie tanzen zur Musik und schweben, zeitlos. Ein neues Lied beginnt, „controlling my feelings for too long ... they make me real ... trying to breath you for too long ... make me dream ... make my scream...“ ‚Showbiz‘ von Muse steigert sich im Gesang und dem Musiksound zu wilden Bildern, „... set off distruction ...“. Sie wirbeln durch das immer weiter werdende Zimmer und bleiben am Liedende in ihren Armen stehen, um sich wieder in die Traumaugen zu schauen. Marcel möchte irgendwie seine innere Wärme nach Außen tragen, sie in Emiras Hände legen, die er ergreift und tief in sie eintaucht und den Anfang zu machen sucht, „Emira?“ „Schsch“. Blau taucht in Grün, Grün taut in Blau, in ein Farbensee. Ihre Blicke schweifen von Auge zu Auge zu Mund und duften im Schweif von Sternschnuppenkribbeln. Ihre Gesichter nähern sich, bereit ineinanderzufließen. Es klopft energisch an die Tür, Rolands Eisenschlagstimme ruft drachenerschlagend, „Marcel, sag mal, willst du nicht mitkommen?“ und öffnet die Tür. Roland sieht die beiden in einer surrealen Farbenwelt im Raum schweben. „Oh, ich wollte nicht stören“, doch mit dem gesprochenem Wort ist Oliver Droste 152 Irgendwo in Nirgendwo sie bereits eingetreten und Marcel und Emira fallen zu Boden. Marcel, von der Realität wieder in tentakelnden Empfang genommen weist Roland sauer zurecht, „schon mal was von unpassend gehört?“. Seine Augen nehmen eine gerötete Farbe an, was das Blau wie einen Gewitterhimmel erscheinen läßt. „Sorry.“ Marcel sieht zu Emira, die noch zwischen den Welten steht, „kommst du mit?“. „Ja, gerne.“ Sie hofft auf die Wiederkehr dieses wärmenden Gefühls. Roland geht, läßt aber die Tür offen und heißt sie in der Welt willkommen „beeilt euch, wir sind schon zu spät“. Marcel ist sehr ärgerlich, daß sein Traumbild wie eine nach der Explosion eine kühle Leere hinterläßt und kommentiert, „manchmal könnte ich ihn töten“. Emira erschrickt bei diesem Gedanken, „nein, das könntest du nicht“. „Ist nur ‘ne Redensart“ entschuldigt sich Marcel. „So sollte man nicht reden. In meiner Heimat ist daraus Wirklichkeit geworden.“ „Ich würde meinen besten Freund nicht umbringen, war nur so dahingesagt.“ „Sag das nicht.“ Marcel geht zu Roland in den Flur, um ihn zur Rede zu stellen, „sag mal, haben wir nicht was abgemacht, von wegen anklopfen, herein sagen und so?“. „Entschuldigung, hab’ ich nicht dran gedacht. Hab’ ich gestört?“ „Es hätte nicht unpassender sein können, verdammt.“ „Ich habe sehr gestört, was?“ Oliver Droste 153 Irgendwo in Nirgendwo bedauert Roland. „Du Idiot.“ „Scheiße, entschuldige.“ Emira kommt ebenfalls in den Flur, „wo habt ihr denn die Toilette?“ Marceol zeigt auf das Gangende, „dahinten die Tür mit dem Schild: student crossing“. „Ah, ja“ quittiert Emira und geht. Roland will schnellst möglich das Thema wechseln, sowie Marcels Gemütslage, „du kannst heute abend das freudige Ereignis ja verkünden, daß du nach Berlin eingeladen wurdest“. Doch Marcels Geist hat wieder seine Schärfe erreicht, „lenk ruhig ab, Du Sack“, kann sich jedoch ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seinem Freund kann er nicht lange böse sein, die offensichtliche Hilflosigkeit, mit der Roland sich aus dieser Schlinge ziehen möchte, macht ihn wieder symphatisch. Roland muß nun auch Schmunzeln, was sich zu Marcel fortpflanzt und ihn grinsen läßt; das springt zu Roland zurück, so daß sie beide lachen. Roland schlägt seinem Kumpel gegen die Schulter und fragt, „nimmst du deine Gitarre wieder mit?“. „Klar, ich hab’n neues Lied, das werde ich heute abend uraufführen.“ „Du bist auch wieder kreativ. Und neue Gedichte haste wohl auch wieder?“ „Das eine oder andere.“ Von der Toilette ist ein Plätschern zu vernehmen. „Äh, ihr müßt mir bei der Auswahl helfen.“ „Klar und wenn du berühmt bist, kannst du unsere anderen Sachen von der Gruppe rausbringen“ albert Roland. „Jou, wir werden als Künstlergruppe in die Kulturgeschichte eingehen“ nimmt Marcel den Gedanken auf. „Ja, eingehen werden wir, nur Oliver Droste 154 Irgendwo in Nirgendwo worin, oder woran“ schlägt ihn Roland wieder aus der Hand. Toilettenspülung. „Fahren wir mit den Moppeds?“ fragt Marcel. „Ne, laß uns mit dem alten Ford fahren.“ „OK, laß uns fortfahren.“ „Wir müssen noch Joel und Maike abholen.“ „Na, dann los.“ Emira kommt und sie brechen auf. Oliver Droste 155 Irgendwo in Nirgendwo XVIV Eine Fahrt zur Burgruine Marcel, Roland, Emira, Joel, Maike, zwei Polizisten Draußen hat sich ein junger Abend ausgebreiet. Ein paar Drosseln bespotten ihn mit ihrem „zipp, zipp, zipp“ und suchen einen sicheren Schlafplatz auf. Der alte Ford fliegt fort von Ort zu Ort, bis sie bei Joel und Maike angekommen sind, sie aufnehmen und weiterfahren. Joel ruft fröhlich in die Runde, „los, mach Musi an“ und rüttelt am vor ihm befindlichen Fahrersitz. Roland dreht Nirvana auf. Joel zündet sich eine Tüte an und gibt sie im Auto weiter. Alle bewegen sich zu der Musik. Als sie ziemlich breit sind kommt eine Stelle, an der Kurt Cobain anfängt zu schreien. Roland dreht sich zur Seite, sieht Marcel kurz an, dann in den Rückspiegel zu Joel und alle drei schreien zur Musik mit, worauf großes Gelächter ausbricht. Sie biegen auf eine Landstraße und fahren aus der Stadt raus. Sie singen mit, tanzen und pogen sich im Sitzen an. Ein Auto fährt ihnen hinten dicht auf. Marcel bemerkt es als erster und stößt Roland an, „heh, die hinter uns wollen wohl ein Rennen“. Joel, der einen Schuß Proletenblut nicht unterdrücken kann und Spaß haben will ruft „los, die hängen wir ab“. Maike lacht „gib Gas!“. Oliver Droste 156 Irgendwo in Nirgendwo Roland fährt mit 50 äußerst angestrengt. Die anderen sehen auf die an ihnen vorbeifliegende Straße, oder wenden sich zu dem folgenden Fahrzeug um. Marcel versucht in der Dunkelheit, den Straßenverlauf zu erkennen, „ich glaub, da kommt ‘ne Linkskurve“. Joel zweifelt „sieht aber irgendwie rechts aus, die Kurve“ und grinst. „Ich glaub ich hab’ den Mittelstreifen verloren“ bemerkt Roland, der diesen zur Orientierung benutzte. Emira streckt ihren Kopf nach vorne, an Marcels Gesicht vorbei und ruft gegen die Musik, „da vorne ist einer, in der Mitte“ und zeigt auf die Straße. „Ja“ erkennt ihn Roland, „jetzt hab’ ich ihn wieder. Deswegen heißt er auch Mittelstreifen. Er ist doch in der Mitte“. „Der muß doch sonst, äh links sein, oder?“ lacht Maike. „Quatsch, rechts ist immer ein Streifen“ meint Joel. „Egal, wo er sonst ist, von vorne kommt ein Auto“, sagt Emira. „Auf unserer Seite“ bemerkt Maike, worauf Marcel lacht, „so ein Schlingel, ein Falschfahrer“, der aufblendet. „Scheiße, ich glaub’, ich bin falsch“ ruft Roland und reist das Lenkrad herum. „Mach jetzt keinen falschen Fehler!“ meint Marcel ängstlich zu Roland. Der Wagen schleudert nach links, dann nach rechts. Roland lenkt jedesmal dagegen, wodurch sich der Wagen immer weiter aufschaukelt. Roland findet seinen Gefallen daran und läßt den Wagen schaukeln, worauf sie alle lachen, bis auf Emira, die sich beschwert, „oh, mir wird schlecht, fahr mal ordentlich Roland“. „Warum rast du auch so?“ fragt ihn Joel. „Ich fahr’ fünfzig.“ „Hier is’ hundert“ bemerkt Marcel grinsend, worauf Oliver Droste 157 Irgendwo in Nirgendwo Roland meint, „ach, ne, laß mal. Schneller kann ich nicht“ und fährt wieder ordnungsmäßig. Der Wagen hinter ihnen überholt nun hupend und verschwindet in der Dunkelheit. Joel ruft, „dreh mal die Musi lauter!“ Es wird wieder lauter und sie singen wieder mit. Vor ihnen winkt ein rotes Licht. Von der Anlage kommt von P.J. Harvey „I’m flying“. Roland sieht angestrengt auf das Licht und weist seine Fahrgäste darauf hin, „he, guckt mal“. Alle sehen geradeaus auf das rote Licht. Joel erkennt sie als erstes, „scheiße, Bullen“. Alle lachen. „Das is ja’n Ding“ sagt Roland, die Nase dicht am Lenkrad, „Junge, da muß ich wohl mal rechts ran“. „Jo.“ Marcel fragt ihn unsicher, „wo is’ rechts?“. „Na, da, wo die Bullen stehen ist rechts“ erklärt Roland. „Die Bullen stehen immer rechts“, sagt Joel sarkastisch. Roland fährt langsam auf den Polizisten zu, der darauf zur Seite springen muß. Maike ruft erschrocken, „paß auf, der Polizist, mach jetzt keinen Scheiß!“. Marcel sieht den Ernst der Situation und sagt scharf zu Roland, „ja, Mann, easy. So jetzt bremsen, halten, und sich nichts anmerken lassen. Schnauze halten Leute!“ Nach einer kurzen Ruhepause kitzelt es in ihren Bäuchen und alles lacht los. Marcel kann sich das Lachen kaum selbst verkneifen, aber will die Situation unter Koontrolle bekommen, „jetzt seid mal eben Lei ... haha .. se!“. Ein Polizist klopft an die Scheibe. „Scheiße, ruhig jetzt!“ bekommt es Roland mit der Oliver Droste 158 Irgendwo in Nirgendwo Angst, die Staatsmacht an seiner Tür stehen sehend und dreht die Scheibe herunter; rauch zieht heraus. „Haben sie was getrunken?“ fragt der Polizist. Roland sieht ihn mit glasigen Augen an, was man in der Dunkelheit nicht so gut erkennt und grinst „nöö“. „Hauchen sie mich mal an!“ zweifelt der Beamte. Roland haucht. „Ihre Papiere bitte.“ Roland wühlt im Handschuhfach, „Marcel, guck doch mal, wo sind, äh, ist der Fahrzeugschein“. Marcel grinst und sieht nach, „ja wo ist er denn, der Schlingelschein“. Joel meldet sich von hinten und scherzt unpassend, „Herr Wachtmeister, eh, die alte Rübe hat bestimmt kein TÜV mehr“ und lacht. Roland sieht hilflos umher, da er das sich einstellende Chaos nicht mehr unter Kontrolle hat. Marcel dreht zu allem Überfluß die Musik lauter. Roland entschuldigt sich beim Wachtmeister, „wenn man solche Freunde hat braucht man keine Feinde“. Der Polizist ruft zu seinem Kollegen, „sieh mal nach dem Tüv“. „Hören sie nicht auf die, die sind besoffen“, meint Roland. Lauter Protest ertönt im Auto unter Grinsen. „TÜV ist noch in Ordnung“, erwähnt der Kollege des Beamten. In der Zwischenzeit hat Marcel den Schein gefunden und reicht ihn weiter an Roland, der ihn durchs Fenster reicht. Der Polizist hält seinen Kugelschreiber gestikullierend hin, als er sagt, „soweit ist alles in Ordnung, dann fahren sie etwas zügiger“. Roland greift den Kugelschreiber und bläst hinein, da er noch an die Alkoholkontrolle denkt. Oliver Droste 159 Irgendwo in Nirgendwo Der Polizist sieht ihn verdutzt an und sagt zu seinem Kollegen, „Jens, hol mal den Alkoholtester“, der tut, wie ihm aufgetragen und reicht ihn seinem Kollegen, der ihn an Roland weitergibt, „Na, dann pusten sie doch mal hier hinein. Roland pustet erneut und gibt ihn zurück. Der Polizist prüft verdutzt das Ergebnis, „ist in Ordnung, na dann noch gute Fahrt“. Sie fahren weiter. Roland atmet erleichtert auf, „Junge, Junge“, dem Marcel zustimmt, „das war wohl knapp“. Ein allgemeines Lachen setzt ein. Oliver Droste 160 Irgendwo in Nirgendwo XX Die Burgruine und der Waldalp Marcel, Roland, Emira und Freunde. Marcel, Roland Emira und einige Freunde kommen an der Burgruine auf einem Waldhügel an. Taschenlampen und Fackeln werfen wilde Schatten zwischen die Bäume. Gelächter und frohe Stimmen sind zu hören und ca. 15 bis 20 Leute gehen ins Innere der Burgruine. Das alte Gemäuer wird wieder lebendig. Sie sammeln Holz und schichten es auf. Jemand gießt Benzin darüber und warnt, „vorsicht, zurücktreten!“ „Mensch bist du verrückt?“ ruft Roland, als er seine Absicht erkennt. Doch da schnipst dieser eine Zigarette ins Holz, worauf mit einer großen Stichflamme das Feuer losbrennt. Ein Raunen geht durch die kleine Schar. Sie sammeln sich um das Feuer und trinken Bier und Wein aus Flaschen. Roland klettert auf eine Mauer, breitet die Arme aus, um eine den Lärmpegel zu senkende Bewegung zu machen und ruft, „hört mal her Leute, Marcel hat heute ein fröhliches Ereignis zu verkünden“. Jemand ruft, „was denn, ist er Vater geworden?“. „Ja, er hat wohl wieder die Muse geschwängert“ ruft ein anderer, was in Gelächter überspringt. Marcel lacht, „unter anderem“. Ein Waldkauz ruft die Nacht. „Wie ihr wißt habe ich meine Gedichte zu einem Ausschreiben nach Berlin geschickt“, beginnt Oliver Droste 161 Irgendwo in Nirgendwo Marcel. „Sag bloß, es hat sich mal jemand gemeldet?“, fragt ein junger Mann erstaunt. Joel witzelt „wahrscheinlich mußten sie Nachporto bezahlen und wollen jetzt das Geld“ und lacht. Marcel geht durch gespannte, fragende Blicke bis unterhalb von Roland, der sich nun auf die Mauer setzt und auf die Leute um das Feuer sieht. „Sie sind interessiert und haben mich zu einer Lesung nach Berlin eingeladen.“ Allgemeiner Jubel bricht aus. „Wahnsinn, es geht voran“, freut sich ein Mädchen. Jemand anderes ruft, „endlich tut sich was“ und prostet Marcel zu. Roland breitet nocheinmal seine Arme aus und ruft, „als sein Mitbewohner und Freund fordere ich jetzt Silentium! Hört unseren aufstrebenden Dichter sprechen“. Marcel greift seine Gitarre und klettert zu Roland hinauf, „aufstreben will ich - das Gemäuer hinaufstreben und singen“. Die Leute klatschen, Marcel setzt sich neben Roland und läßt seine Beine baumeln. Unter ihm setzten sich die anderen im Halbkreis um das Feuer, erheben ihr Getränk und jemand ruft, „salve Cäsar, morituri te salutant“, was die römischen Gladiatoren zum Gruß in der Arena vor dem Kampf riefen; es bedeutet: die Totgeweihten grüßen dich. Ein Zitat, das dieser Zirkel an der Burgruine gerne ausruft, wenn einer von ihnen etwas vortragen will und sich dem Urteil seiner Zuhörer unterzieht. „Ich hoffe, ihr seid meiner Musik wohlgesonnen und laßt euren cäsarischen Daumen oben. Einem ehrlichen Urteil werde ich mich beugen.“ Alles Oliver Droste 162 Irgendwo in Nirgendwo schweigt, Marcel spielt eine Melodie und fängt an zu singen. Der Text, den er vor ein paar Tagen geschrieben hat geht ungefähr so: „Sunbeam from a mirrowball. Big room, beach sand moon, white skin sun in her vein, her bleeding eyes in a shady corner, surched for a world, wich is wormer. Glances moved past on dusty water to fast, lie scared faces, never win the races. Ref.: The truth that you have recogniced, experiences made, the truth is yousless in your eyes, it always comes to late. Friends stand eyes averted, she screams words muted, without eyes and without light, in your arms hold her tight. Dancing straightjacked youth, stupid musik and shiny teeth, her empty brain, no mind and no thought, there’s only a sunbeam from a mirrowball. Refrain: The truth that you have recognized, experiences made, truth is youseless in your eyes, it always comes to late.“ Es ist ein trauriges Lied mit einer schönen Melodie, passagenweise in Moll-Duren gehalten. Es wird applaudiert. Marcel möchte nicht so lange im Vordergrund stehen und übernimmt das weiterleiten, „wer von euch hat was vorzutragen?“. Der Anfang ist immer schwer. Die Leute müssen erst einmal aus sich herauskommen, vielleicht mehr trinken, um ihre Seele dann zu entblößen. Jemand steht auf und geht vor den Halbkreis. „Silentium.“ Er hält eine Taschenlampe und ließt von einem Blatt: Spieglein, Spieglein... Wann wirst du erkennen, der Teufel kommt aus sprechenden Oliver Droste 163 Irgendwo in Nirgendwo Bildern? Wie verrückt darf man sein, um noch als normal durchzugehen? Wo liegt deine Hemmschwelle, um zu töten? Wieviel Elend brauchst du, um zu fühlen? Gibst einem Penner nur was, wenn du Geld hast? Liebst du nur, wenn du zurückgeliebt wirst? Sprichst du mit Gott nur, wenn du in der Scheiße steckst? Du siehst fern und erkennst doch nichts. Du bist nach außen der, der du bist, dein Inneres erkennt man nicht. Du schlägst mal über die Strenge; am Morgen danach ist es dir peinlich. Du fühlst nur Elend, wenn du was brauchst. Ein Penner kriegt nur was, wenn dein Gewissen dich plagt. Du gibst nur Liebe, wenn du sie zurückbekommst. Der Teufel spricht Scheinrealität. Normal? Wer ist das schon? Mit Worten kannst du töten. Elend existiert, solange der Mensch ist. Geld hast du, frag ein hungerndes Kind.“ Die Leute klatschen. Der Leser geht erleichtert zurück auf seinen Platz. Marcel wendet sich der Versammlung zu, „wir haben hier eine weitere Künstlerin, Leute“, dreht sich zu Emira, „sie kann sehr gut singen.“ Er geht mit seiner Gitarre zu ihr und reicht sie ihr, „komm, spiel mal was, Emira“. „Ach, du bist doch verückt. Ich singe doch nicht vor Leuten.“ „Loß, du hast eine tolle Stimme, mach doch.“ „Hier kannst du noch so schief singen, is’ egal“, munter Roland sie auf. „Es zählt nur das künstlerische Schaffen, die Kreativität, Hauptsache man macht was“, erklärt Marcel. „Hier Oliver Droste 164 Irgendwo in Nirgendwo wird keiner davongejagdt“, ruft ihr jemand zu. Roland lacht, „höchstens nicht mehr zum Vortragen aufgefordert“. „OK“ gibt Emira nach, „jetzt kommt aber ein ruhiges Lied, von Melanie ‚Save the night‘, das geht so“ und fängt an zu spielen. Als sie am Ende angelangt ist, spielt sie die Melodie vor sich hin; die Leute sind ruhig. Emira gibt die Gitarre zurück und sieht etwas traurig aus. Das Klatschen setzt dafür um so mehr ein. „So, jetzt will ich euch Dichter hören“ sagt sie und geht zu einem Mädchen, daß diesen Abend zurückhaltend und ruhig dasaß, „du siehst so aus, als würdest du ein schönes Gedicht haben, ein trauriges“. „Ich, äh, ja, ich habe eins“ stottert diese. Jemand flüstert zu seinem Nachbarn, „jetzt geht die schöne Stimmung den Bach runter“. Emira lächelt sie an, „ließ es doch vor, wenn du magst“. Das Mädchen beginnt zögernd, „ich habe etwas geschrieben, für meine Mutter. Ihr wißt, daß sie sich vor drei Jahren die Pulsadern aufgeschnitten hat. Jetzt habe ich für sie etwas geschrieben. Ich glaube ihr werdet es nicht verstehen, aber meine Mama hört mich jetzt, sie ist bei mir“ und schaut in den nächtlichen Himmel, „das ist für dich: Auf dem See der Lebenslichter schwimmt auch eins von dir. Wer war denn der große Richter, der nahm dich von mir? Erloschen ist dein Licht schon lang; es treibt die Kerze noch. Ich höre deiner Stimme Klang und weiß du liebst mich doch. Die Kerze wird nicht untergehen, solang ich an dich denke und du gibst mir zu verstehen, daß ich sie für dich lenke. Mit dem Oliver Droste 165 Irgendwo in Nirgendwo Boot der Traurigkeit gleit ich durch die Kerzen und nehme mit Vergänglichkeit, auf mich alle Schmerzen. Ein Engel gibt mir Kraft und Ruh, beschützt mich Nacht und Tag. Nur ich weiß, Mama, das bist du, weil ich dich so mag.“ Das Mädchen starrt vor sich auf das Papier und friert. Emira setzt sich neben sie, sieht sie an und nimmt ihre Hand, „ich verstehe dich. Ich weiß, was es heißt seine Familie zu verlieren“. Marcel zerbricht das allgemeine Schweigen, „das war wunderbar“. Jemand wischt sich eine Träne ab. „Eigentlich dürfte ich nicht alleine nach Berlin gehen. Ihr seid alle genauso gut, wenn nicht noch besser.“ Jemand nimmt eine Gitarre und ruft, „das ist doch ein Grund zum feiern; so, jetzt mal was zum mitsingen, laßt uns Party machen“, spielt einige Rock’n’Roll- Akkorde und singt von Marius „Mit 18“. Marcel steigt auf der Mauer mit ein, steht auf, spielt Gitarre und tanzt dabei auf der Mauer langsam hinunter, gefolgt von Roland. Die Leute singen alle mit und klatschen oder tanzen dazu. Emira torkelt lächelnd durch die Menge. Einige Leute sehen sie komisch an, da sie fremd ist. Doch Marcel liebt fremd erscheinende Mensche; sie sind interessanter, als Normale. Er springt von der Mauer und bewegt sich wild spielend auf Emira zu. Emira lächelt um sich und tanzt etwas außerhalb des Taktes. Weinflaschen und Bierdosen gehen um und sie trinkt etwas. Das Lied geht zuende, jemand grölt. Oliver Droste 166 Irgendwo in Nirgendwo Emira umarmt Marcel, „hier ist ja was los. Ich dachte, da sitzen bloß so Brillenschleichen und diskutieren über Gedichte“. Marcel lacht, „ne, ne, ‘n bischen Spaß muß man schon haben“. Roland, der immer noch hinter Marcel steht fügt hinzu, „das ist hier ja kein Club der toten Dichter“. Jemand ruft, „nö, hier is’ Leben drin“. „Lyrik lebt.“ „Und wie!“ stimmt Roland zu. Es werden jetzt um das Feuer herum weiter Gedichte vorgetragen. Marcel und Emira setzen sich in eine Ecke der Mauer und beobachten das Geschen. Marcel interessiert sich jetzt weniger für Lyrik, als für das zu erforschende Fremde in Emira, sieht sie an und fragt, Emira?“. „Ja?“ „Wieso sprichst du so gut deutsch?“ „Für Sprachen war ich begabt und hab in der Schule schnell deutsch und englisch gelernt. Meine Lehrerin meinte, ich solle Dolmetscherin werden.“ „Warum hast du das nicht gemacht?“, wundert sich Marcel. Ein Windhauch fährt durch die Gemäuer, als würde es zu atmen beginnen. „Ich lernte Bea in der Schule kennen. Sie wollte was anderes studieren. Ich wollte mit ihr gehen, sonst hatte ich ja niemanden mehr.“ „Und macht es Spaß?“ „Doch. Es ist auch sehr interessant. Bea hilft mir gut. - Was machst du, wenn das in Berlin ein Erfolg wird?“ „Ich glaube nicht, daß es was besonderes wird. Es gibt genug Schriftsteller.“ „Bleibst du dann vielleicht in Berlin?“ „Ich weiß nicht, was kommen wird. Ich werde mich dann entscheiden.“ Oliver Droste 167 Irgendwo in Nirgendwo Der Wald erwacht zur Nacht zum leben, als scheinen ihn Träume zur Wacht übergeben. Für Emira scheint diese Welt an die ihre zu stoßen und rüttelt sie, so daß wieder mehr Licht und Wärme in ihr Leben fällt. „Es ist schön hier, sowas habe ich noch nie mitgemacht.“ Ein schauriger Schrei fährt durch den Wald. Emira erschreckt, „oh, was ist das? Das ist richtig gruselig“. „Ein Waldkautz. Das ist aber nicht gruselig. Hier im Wald ist der sicherste Platz. Die Menschen haben fast alle angst im dunklen Wald. Mehr Angst sollte man in der Stadt oder auf dunklen Parkplätzen haben, oder in der Straßenbahn, oder in der Disco.“ „Oder als Skinhead in einem Café.“ „Das stimmt. Komm laß uns in den Wald gehen und die Natur genießen. Hier wird es sowieso nur noch ausgelassener.“ „Ich weiß nicht“, übelegt Emira; für sie ist das Fremde hier furchteinflößend. „Du kannst mir vertrauen“, versichert Marcel, steht auf und reicht Emira die Hand. „Na gut, ich vertraue dir“, greift Emira zu. Sie gehen weiter ins Dunkel, vom Schein des Lagefeuers weg, zwischen Mauern dann in den alten Hutewald aus knorrigen, tiefastigen Eichen, der dann auf hohe, schlanke Buchen stößt. Der Mond scheint aus dem wolkenlosen Nichts. Schatten fallen von den alten Bäumen wie von Säulen aus alten römischen Tempeln. Sie gehen ästeknackend in die Tiefe, bis sie an eine Lichtung kommen, wo ein Baumriese am Boden langsam vermodert. Marcel setzt sich in das Moos. „Komm setz dich, es ist Oliver Droste 168 Irgendwo in Nirgendwo schön weich.“ Emira setzt sich, „oh, ja. riechst du die Luft, wie frisch und mild sie ist?“. „Herrlich, was? Riechst du den alten Baum hier?“ Sie atmen genießend ein, zünden sich eine Zigarette an, um diese Sinnesexkursion abzubrechen und der Akustik zu lauschen. Ein Singen ertönt von den Eichen. „Was ist das für ein Vogel, der da singt?“ „Oh, zu dieser Zeit singt nur ein Vogel das muß eine Nachtigall sein.“ „Was war das, dieses heisere Bellen?“ „Das war ein Fuchs, aber weit weg.“ „Tun die denn nichts?“ „Die haben mehr Angst vor uns. Das hier ist der sicherste Ort auf der Welt. Hier könntest du in Frieden schlafen.“ „Ich weiß nicht. Ich find es trotzdem gruselig.“ „Hör dir einfach die Natur an, höre, was der Wald erzählt.“ Marcel legt sich ins Moos und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Emira atmet noch einmal die Luft tief ein, genießt es kurz und legt sich neben Marcel. Sie beobachten den Rauch, den sie hinaufblasen, der sich in den Nachthimmel löst. „Sieh mal in den Sternenhimmel. Da über den Kronen fliegt eine Fledermaus“, sagt Marcel, in den Himmel zeigend. „Wo?“ fragt Emira erschrocken. „Da, zwischen den Kronen, paß auf, da kommt sie wieder.“ Emira ist emotional sehr empfindlich, was nicht nur an den Psychopharmakern liegt, sondern sicher auch im Alkohol- und Schittkonsum dieses Tages. Sie dreht sich zu Marcel und legt ihre Hand auf seine Brust, „das ist jetzt aber doch gruselig“. Ihn belustigt jedoch diese unbegründete Angst, die er nicht einschätzen kann, „Furcht, Quatsch. Die tun doch Oliver Droste 169 Irgendwo in Nirgendwo überhaupt nichts. Ist es nicht interessant, wieviel Leben nachts im Wald ist? Sowas kriegen die meisten Menschen gar nicht mit“; er genießt diese friedliche Welt der Freiheit, keine Zwänge, nur pures Leben, einfach nur der Wille zum Leben, der Überlebenstrieb. Für Emira ist es Dunkelheit, Angst vor dem Unbekannten; überall können versteckte Gefahren drohen, Hinterhalte, eine Welt die sie nicht kennt, wo ist eine Zufluchtsmöglichkeit, wer hilft ihr? Sie drückt sich an Marcels Seite. Er führt weiter aus, „Fledermäuse fressen Insekten“. „Es gibt doch auch welche, die saugen Blut.“ Marcel bemerkt nicht die Schwärze in ihren Worten, versucht sie aufzuheitern, indem er sie nicht ernst nimmt, „ja, Vampirfledermäuse“ und beugt sich über Emira, fletscht die Zähne, „die beißen sich in der Kehle fest und saugen dein Blut aus.“ Er tut so, als würde er Emira in den Hals beißen. ‚Blut‘ fährt es ihr durch den schweren, flatterigen Geist, der wie ein geflügelter Rabe auf der Straße vor dem drohendem Verkehr zu fliehen sucht; sie schreit kurz auf, „laß das“. Er nimmt den Mund von Emiras Hals und sieht in ihr Grün. Seine Berauschtheit ermutigt ihn, im Gegensatz zu Emira und küßt sie kurz, „die gibt es nur in Afrika; dort saugen sie an Rindern, bzw. beißen sie und lecken dann das Blut. In ihrem Speichel haben sie sogar einen Gerinnungshemmer. Hier gibt es sowas aber nicht.“ ‚Blut‘ – blutrote Ballettänzer schweben durch das Kronendach, Oliver Droste 170 Irgendwo in Nirgendwo blätterraschelnd, springen hinter den Bäumen in ihre Verstecke, sobald Emira saie zu erblicken versucht. „Na, hoffentlich“ sagt sie und sieht Marcel in die Augen, beide schweigen. – Marcel genießt. Emira friert. Sie verwirrt sich in ihrer Scheinrealität und träumt in die Vergangenheit. „Ich kannte einen Engel und kenne ihn noch, da ich ihn ab und zu wieder spreche. Eine Engelin, weißt Du, einen Engel, der in einen menschlichen Körper gesperrt wurde und auf diese Weise immer wieder in Konflikt geriet, da er immer wieder mit seiner unvollkommenen Seite konfrontiert wurde, was seiner Engelsseele widersprach. Alle Kinderherzen öffneten sich diesem Engelswesen und liebten es, liebten seine Selbstlosigkeit, bis es von schwarzen Engeln zu Tode geliebt wurde.“ Diese Traumbilder verleihen Marcels Geist Flügel, die er in Worte fassen möchte, obwohl sich Träume nicht berühren lassen, „manchmal wachsen mir auch Engelsflügel, doch schlagen sie sich an zu engen Räumen und zu kleinen Türen wund. Meine Augen werden dann Sonnenregen und leuchten die Herzen durch die Tore ihrer Augen aus.“ „Aber manche Herzen sind schwarze Löcher, negative Materie, die dich verschlingen wollen. Ihre Augen sind leblos wie die von Haifischen.“ Das Gefühl kennt Marcel auch, „und manche so verblaßt, daß ich nicht in die Tiefe gehen kann. Sie verbrauchen viel Sonnenregen und blasen Herbstraub in meine Seelen.“ Emira warnt ihn, da sie diese kennt, „ja, vor diesen mußt du dich hüten, besonders wenn sie Honigmünder haben Oliver Droste 171 Irgendwo in Nirgendwo und mit den Augen funkeln, ist es in ihrem Innern dunkel. Falsche Kristalle verleiten zu tödlichen Illusionen.“ Der Rausch scheint ihre Worte zu bläuen, „wie oft haben sie meine nachgewachsenen Flügel zerzaust und gebrochen, ausgerissen, mich als Menschenwesen verspottet und denunziert,“ sieht Emira in die Augen, „manchmal jedoch treffe ich diese wunderbaren Wesen mit Diamantaugen und Sonnenregenblick; dann wachsen wir zusammen unsere Engelsflügel nach und werden Himmelswesen, flattern wie Schmetterlinge über Blumenwiesen unserer Einfalt im Traum eines besseren Lebens, trinken den Nektar unserer Seelen, befruchten Orchideen englischer Rasen und lassen unsere Kreativität fliegen, als Kinder, anderen Flügel wachsen zu lassen.“ Emira verbindet diese Bilder mit Flucht, „ja, fliegen will ich. Es ist so schön, zu gehen, ohne den Boden zu spüren, von Flügeln getragen“; sie will nicht mehr in dieser Welt leben, sie sucht eine einfachere, eine schmerzfreie, sicherere Welt. „Und Lachen wird zu bunten Schmetterlingswolken geblasen“ fügt Marcel hinzu. „Eine kurze Zeit siehst du sie dann fliegen, wie Kinder die sich auf den Traum in der Nacht freuen, um in eine andere grenzenlose Welt eintauchen zu können“ erklärt Emira ihr Gefühl. „Doch werden englische Rasen bekanntlich von Unkräutern freigehalten und es wird uns unmöglich gemacht, sich zu stärken, um diese Metamorphose durchzuführen.“ „So viele Oliver Droste 172 Irgendwo in Nirgendwo Schmetterlingskokons - so viele von Parasiten befallen“, verfällt Marcel in Agonie seines Traums, einen Stimmungswechsel verzeichnend, aber nicht zu akzeptieren, „und wenn ich wieder flügellos bin, suche ich diese Edelsteine, verlegte Blicke zwischen den Seiten wertvoller Bücher, flatternde Seiten. – Welch Engelseinfalt“. „Engelseinfalter!“ spinnt Emira den Faden weiter, an den Tod einer Eintagsfliege erinnert. „Emira, laß uns in Meinweiten gleiten!“ bietet ihr Marcel eine fluchtmöglichkeit vor dieser Realität an, eine Flucht in die Scheinrealität, oder vor der Scheinrealität? Er weiß nicht, wie er ihr sein Gefühl für sie, an sie herantragen soll. Ihm fällt nichts besseres ein, seine Worte neigen sich in mangelnder Phantasie dem Ende, als er es versucht, „zu meiner Schulzeit als 14 oder 15-jähriger hätte ich dich jetzt gefragt, ob du mit mir gehen willst“. „Und wohin?“ fragt Emira, diesen Ausdruck in ihrer Sprache nicht kennend. „Nirgendwohin, irgendwo nach Nirgendwo. Es heißt soviel, wie – ich, äh, liebe dich, oh Mann fällt mir das schwer“. „Das hättest du mich jetzt gefragt?“ „Ja, Emira, laß uns zusammen gehen. Ich weiß nicht wohin, vielleicht geht es nach Nirgendwo. Wer weiß wohin. Aber zu zweit wäre der Weg sicher einfacher, oder angenehmer.“ Emira sieht ihn an und schweigt, wie sehr hat sie einen Weg gesucht, einen Ausweg, mit jemandem, der mit ihr geht. „Jetzt solltest du etwas sagen,“ fordert Marcel ungeduldig, ihr sein offenes Herz hinhaltend. „Was sind schon Worte?“, fragt Emira, hebt ihren Oliver Droste 173 Irgendwo in Nirgendwo Kopf und Marcels senkt sich langsam, bis sie sich im Kuß treffen. Zuerst küssen sie sich vorsichtig, dann immer intensiver und zum Schluß heftig, als wollten sie sich gegenseitig auffressen. Gegenseitig ziehen sie sich aus und es wird immer wilder. Zwei Menschen, die endlich ihr Gegenstück gefunden haben, die ihre Liebe erwidert bekommen, sogar mit Zinsen zurückbekommen. Ein wenig Wärme sich gegenseitig spenden, Haut fühlen, in einer milden Nacht; das läßt sie immer weiter fortfahren in ihrem Treiben, bis sie ganz nackt ineinander verschlungen sich im Moos drehen und wälzen, als wären sie im Todeskampf. Wie ein Tier, das von einer Kugel getroffen wurde und sich noch dreht und zuckt. So vertieft ineinander unter rhythmischen Bewegungen fangen sie im Mondlicht an zu schwitzen und zu stöhnen. Und niemand ist da, der sie stört. Nicht der Waldkautz, nicht die Nachtigall, auch nicht der heisere Fuchs. Nur stumm zieht die Fledermaus ihre Kreise durch den Mond, als wolle sie gleich niederstoßen. Emira stöhnt immer lauter und ihre Gedanken geraten ineinander. Der Joint am Lagerfeuer entfaltet seine Wirkung nun wie eine Decke in der Nacht, über das Gesicht gezogen. So langsam kommen in ihr die Gedanken aus ihrer Heimat hoch und vermischen sich mit der Realität hier im Wald. Die drohenden Schreie des Waldkauzes, irgendwo knackt es. Es nähern sich Schritte, es raschelt, sie stöhnt lauter und lauter. Es ist nicht mehr angenehm, irgendetwas Bedrohliches ist bei ihr, etwas aus der Oliver Droste 174 Irgendwo in Nirgendwo Vergangenheit kommt. Sie öffnet die Augen und schreit. Ein Soldat vergewaltigt Emira. Sein Atem legt sich auf ihren Mund, daß sie zu ersticken droht. In Todesangst entwickelt sie übermenschliche Kräfte und schlägt mit einem ergriffenen Knüppel nach Marcels Kopf. Marcel richtet sich benommen auf und starrt ins Leere, worauf Emira die Gelegenheit der Hilflosigkeit ausnuzt, um ihren Vergewaltiger den zweiten Schlag zu versetzten. Marcel kippt zur Seite und bleibt regungslos liegen. Seine Hand zuckt noch etwas, doch dann ist er ruhig, dann ist er irgendwo in Nirgendwo. Oliver Droste 175 Irgendwo in Nirgendwo XXI Wie Emira Engelsflügel erhält Marcel, Roland, Bea, Emira, Engel, zwei Sanitäter, Notarzt, Wohnung von Marcel und Roland: Wie Marcel nach Hause gekommen ist, weiß er nicht mehr. Er hat tief und erschöpft geschlafen. Roland, Emira und Bea sitzen in der Küche. Marcel läuft, noch immer etwas benommen, durch den Flur und kommt zu seinen Freunden. Seine Haare sind fettig und zerwuschelt, „was ist nur mit meinem Kopf. Ich weiß nicht mehr, was gestern abend passiert ist“. „Du hättest dich nicht so abschießen dürfen“ weist ihn Roland zurecht. „Ich hab’ vielleicht ‘nen Kopf. Und schlecht ist mir. Mir ist noch richtig schwindelig.“ „Und dann willst du mit dem Motorrad nach Berlin fahren?“, fragt ihn Roland kopfschüttelnd, „wir haben euch gestern abend noch überall gesucht, und Emira kann sich auch an nichts mehr erinnern“. „Aha, wenn Stau ist komm ich so viel schneller durch. Wie spät ist es denn?“ Bea sieht auf ihre Uhr, „gleich halb zwei“. „Ach du scheiße, ich muß los, wo ist denn der Motorradschlüssel? Wo kann der scheiß Schlüssel nur sein?“ Er geht wiedert in sein Zimmer und versucht sich die Motorradhose anzuziehen, doch strauchelt, als er mit einem Bein Oliver Droste 176 Irgendwo in Nirgendwo schon drin ist, hopst im Zimmer und fällt in einen Sessel. Nachdem der seine Lederjacke angezogen hat, kommt er wieder in die Küche und sieht Emira an. Ihr Gesicht ist anteilslos, ihre Augen tragen noch die Schatten der Nacht tief gefurcht. Marcel erschreckt ein wenig der Ausdruck; er steht etwas ratlos wirkend an die Tür gelehnt da. „Guck doch mal in deine Lederjacke“, hilft ihn Roland wieder zurück. „Hab’ ich schon“, sagt Marcel und geht zurück in sein Zimmer, man hört wildes Kramen, Schubladen knallen und ihn schimpfen, „ich hab’ ihn gestern doch noch irgendwo gehabt“ und kommt wieder in die Küche, dem Bedürfnis folgend, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, „ist der Kaffee schon durch?“. „Der ist gleich schon wieder auf, kannst dann neuen ansetzen“, bemerkt Roland gelassen, provozierend. Marcel, der mit seiner körperlichen und geistigen Selbstbeherrschung noch genügend beschäftigt ist, um diese große, vielleicht auch schon größte Aufgabe in seinem Leben zu meistern, sieht ärgerlich in die Runde, „wie könnt ihr alle nur so ruhig sein? Ich muß heute nach Berlin und find den scheiß Schlüssel nicht“. Emira versucht Marcel, den unruhigen Punkt an diesem Nachmittag, einzufangen, „du hast doch noch genug Zeit, trink doch’n Kaffee und frühstücke mit uns, dann fällt dir bestimmt ein, wo der Schlüssel ist“. Bea, die mehr praktisch veranlagte, fragt, „hast du wenigstens deine Gedichte?“. „Die liegen schon im Oliver Droste 177 Irgendwo in Nirgendwo Tankrucksack. Oh, der Tankrucksack, ich sehe mal da rein.“Er geht wieder, - „Mist!“. Dieser Vorgang ist bekannt. Roland erklärt den anderen, „da ist er auch nicht“ und grinst. Marcel kommt zurück, seinen Tagesablauf ordnend, jedoch verwirrt, „ok, was essen muß ich, nachher krieg ich nichts mehr runter“. Bea betrachtet ihn: schwarze Lederhose, schwarzer Rollkragenpulli, Lederjacke und sieht ihn darin von einem Podest aus ehrwürdigen, alten Männern vortragen und fragt, „willst du da so hingehen?“, abwertend. Emira sieht ihn nebelnd an, fühlt Wärme in seinen Augen, „wieso, er sieht doch gut aus?“. „Das bezweifele ich doch nicht,“ beharrt Bea, „nur bei einer so offiziellen Sache, zu der so wichtige Leute kommen, da sollte man sich vernünftig repräsentieren“. Marcel verteidigt sich, „ich verkleide mich nicht; soll ich mit ‘nem Anzug auf’n Motorrad fahren?“ „Warum willst du denn unbedingt mit dem Motorrad fahren?“ müttert Bea. „Bei dem schönen Wetter fahre ich bestimmt nicht mit dem Auto.“ „Das wird was werden“ fügt Bea an und resigniert vor diesem Starrsinn. Marcel geht zum Kühlschrank, seinem Drang nach Nahrungsaufnahme folgend und holt Quark heraus, stellt ihn zum Frühstück, guckt etwas komisch, dreht sich wieder, macht den Kühlschrank noch mal auf und holt den Schlüssel heraus, wundert sich „wie kommt er denn da rein?“ Roland lacht, „Mann, bist du vielleicht durch’n Wind“. „Ach egal“ winkt Marcel ab, setzt sich und Oliver Droste 178 Irgendwo in Nirgendwo schmiert sich ein Brot mit Nutella und Quark. Bea beobachtet ihn und wundert sich über die Kombination seines Brotaufstrichs, „wie kannst du nur sowas essen?“. „Schmeckt gut, ist gesund. Hoffentlich klappt das mit der Lesung heute.“ „Du schreibst wunderbar, das müssen sie mögen“, muntert ihn Emira auf. „Ich weiß nicht, vielleicht hätte ich doch etwas intellektuelleres aussuchen sollen.“ „Jetzt schmeiß das bloß nicht über’n Haufen. Die Sachen sind gut. Und wenn die das nicht mögen, dann sind sie eben zu verknöchert“, sieht Roland ihn schon kapitulliere. „Wir mögen es doch und die Leute, denen ich deine Sachen gezeigt habe, finden das auch ganz toll“, steht ihm Emira bei. Roland ist auf Kontrakurs, „ob das Leute wie wir mögen oder nicht, wird die in Berlin nicht interessieren“. Marcel stimmt mit vollem Mund zu, „genau“. Roland schneidet sich eine Scheibe Brot ab, beschmiert sie mit Magarine und fordert Marcel auf, „gib mir doch mal den Quark rüber“. Er bekommt ihn, will sich auch etwas auf das Brot schmieren und riecht kurz dran, „bäh“, riecht nocheinmal daran und bestätigt seine Sinneswarnehmung, „buäh, wie kannst du das nur essen, der ist ja schlecht, stinkt wie ‘ne tote Katze“. Marcel riecht an dem Brot auf seinem Brettchen und gräbt mit den Händen in seinen Haaren, „Scheiße, ich hab es fast aufgegessen“. „Studentenmagen, verdaut alles, was?“ amüsiert sich Roland. „Und ich hab’ mich schon gewundert, was für’n komischen Geschmack Oliver Droste 179 Irgendwo in Nirgendwo ich im Mund habe.“ „Das wird sich für heute wohl nicht ändern“, bemerkt Bea trocken. Marcel erinnert sich an die Folgen solchen Genusses, „Mist, kriegt man da nicht Durchfall von?“und wirft sich zurück in den Stuhl. „Ne, das ist nicht schlimm. Ich habe auch schon Schlechtes gegessen“, beruhigt in Emira. Bea, die noch besorgt ist, über die sich in den letzten Tagen verschlechternde Verfassung Emiras, entgegnet, „das kriegst du doch gar nicht mit“. „Was soll das denn? Ich werde schon noch in Ordnung kommen“, verteidigt sich Emira. „Dann mußt du mal langsam anfangen und von den Tabletten wegkommen. Und dann noch was rauchen und trinken, du spinnst doch“, resümiert sie die letzte Nacht, die Emira so verschattet hat. „Dieses Wochenende nach der Lesung werden wir das in Angriff nehmen“, steht Marcel ihr ermutigend bei, sich von seiner Hürde ablenkend. Emira sieht Marcel erfreut an. „Mit Emira ist das in der letzten Zeit schlimmer geworden. Letzte Nacht ist sie fast wieder durchgedreht. Sie war wieder ohnmächtig. Ich war kurz davor den Notarzt zu rufen“, fährt Bea Marcel an, als sie bemerkt, daß er das Problem auf die leichte Schulter nimmt, auf die flügellose. Emira ärgert sich über diese Unstimmigkeit, die ihr unbegründet erscheint, „hört endlich auf; eure Probleme möchte ich haben“. „Noch jemand Kaffee?“ beendet Roland den Desput. Alle heben ihre Tassen zustimmend, Roland schenkt ein; für ihn bleibt nichts mehr übrig, „na, dann kann Oliver Droste 180 Irgendwo in Nirgendwo ich ja noch ‘ne Kanne machen“. „Also, ich trink noch einen“, sagt Marcel, „ich auch“, schließt sich Emira an und zieht die Nase hoch. Roland nimmt sich dieser Aufgabe schleppend an und steht auf, „wann mußt du eigentlich in Berlin sein?“. Marcel springt plötzlich auf, wieder an seine heutige Aufgabe erinnert, „oh Mann, ich muß doch los, wo sind die Schlüssel?“. „In deiner Tasche“, erinnert ihn Bea. „Ach, ja.“ Emira putzt sich die Nase, bekommt Nasenbluten und entschuldigt sich „oh, macht nichts“. Sie steht auf und geht hinaus. Marcel läuft, diesen Vorgang nicht bemerkend, aufgeregt durch die Wohnung und zieht sich seine Lederjacke an, nimmt seinen Halbschalenhelm und seine Sonnenbrille, „ich muß los, macht’s gut, drückt mir die Daumen“ und geht in den Flur. „Viel Glück“, wünscht ihm Bea. „Wo ist Emira hin?“ fragt er nervöus. „Ich glaube auf dem Klo“, antwortet Bea. Marcel geht zur Toilettentür und ruft „tschüß, Emira, ich muß los. „Fahr vorsichtig“, kommt es leise zurück, „und viel Erfolg, äh und so“. „Komm doch eben raus.“ Emira sitzt auf dem Fußboden, „geht jetzt nicht“, Blut tropft aus dem durchtänkten Taschentuch auf die Fliesen, sie ist blaß und zittert, „ich - ich wünsche dir viel Glück, aufwiedersehen“. „Ich muß los, ich komme sonst zu spät“, drängt Marcel. Bea ruft aus der Küche, „fahr vorsichtig“. Marcel geht zur Tür raus. „ja, ja. Tschau“. „Zeig’s denen!“ kumpelt Roland. „Jou“ antwortet er, geht und knallt die Tür zu. Oliver Droste 181 Irgendwo in Nirgendwo Emira sitzt im Bad und kramt mit blutigen Händen ihr Tablettenrörchen aus ihrer Tasche, kippt welche in ihre Hand, nimmt sie von dort in den Mund. Einige Tabletten kleben noch auf der Hand, die sie herunterleckt und dann mit einem Zahnputzbecher voll Wasser schluckt. Sie zittert noch mehr. Bea sieht Roland an und bemerkt, „er hat keine Schuhe an“. Es klingelt, Roland öffnet und grinst. Marcel sieht ihn wirr an, „mensch, ich hab doch glatt vergessen mir die Stiefel anzuziehen“. „Aber die Gedichte hast du?“ „Klar, denkste ich fahr ohne meine Gedichte los.“ „Natürlich nicht“, sagt Roland ironisch. Marcel zieht die Stiefel an und springt wieder die Treppe herunter. Roland geht zu Bea in die Küche zurück und setzt sich mit dem frischen Kaffee zu ihr. Von draußen ist das Motorrad mit einer Fehlzündung zu hören, dann lautes Motorblubbern, quitschende Reifen und ein hupendes Auto. Das Motorengeräusch entfernt sich. Bea, beurteilt das Reifenquitschen in Verbindung mit seinem Fahrstil, „er fährt sich noch mal tot“. „Vielleicht“, gibt Roland zu. Bea sieht in den Flur und horcht nach Emira, „wo bleibt Emira nur?“. Etwas unsensibel fragt Roland, „wie hältst du das eigentlich aus, wenn sie immer solche Anfälle kriegt?“. „Na, Anfälle sind das nicht, eher Depressionen. Einfach ist das bestimmt nicht. Manchmal ist Emira Tage lang weg, ich weiß nicht wo. Wenn sie dann wiederkommt ist sie ziemlich verstört. Manchmal glaube ich, sie weiß selber nicht, Oliver Droste 182 Irgendwo in Nirgendwo wo sie war. Zur Zeit sieht sie aber wieder ganz gut aus, bis auf heute.“ „Vielleicht kommt das, weil sie sich mit Marcel so gut versteht und sie demnächst den Tablettenentzug machen will.“ „Vielleicht hat sie diesmal eine Chance. Dann hört das endlich auf. Ich kann mir das nicht mit ansehen, wie sie sich mit den starken Medikamenten kaputtmacht und dann noch was trinkt oder was raucht.“ Bea und Roland kommen sich persönlich etwas näher. ER empfindet Symphatie für Bea. „Wieso macht sie das denn auch alles?“ „Sie muß wirklich ein schlimmes Kriegstrauma haben“, meint Bea leiser, „was sie manchmal für wirres Zeug erzählt und ihre Alpträume. Wie oft ist sie schon nachts schreiend aufgewacht. Ich konnte sie dann kaum beruhigen. Wo bleibt Emira denn?“ „Ich weiß nicht, sie ist schon ziemlich lange im Bad.“ „Ich glaube, da stimmt was nicht.“ Diese Bemerkung ängstigt beide; sie gehen an die Badezimmertür und klopfen, „Emira, alles in Ordnung?“ Keine Antwort. „Emira? Hörst du mich, alles in Ordnung?“ ruft Bea etwas lauter. Keine Antwort. Roland wird nervöus, „Emira, was ist los? Komm raus!“. „Sie hat bestimmt wieder ihre Tabletten geschluckt. Wenn ich da nicht aufpasse nimmt sie immer mehr, damit es ihr schneller besser geht“, erklärt Bea. Roland bückt sich nun sehr besorgt und sieht durch das Schlüsselloch, „ach du Scheiße“, springt hoch, schubst Bea zur Seite und tritt die Tür ein, daß das Holz springt. Oliver Droste 183 Irgendwo in Nirgendwo Bea schreit „Emira?“. Sie liegt graublau auf dem Boden in ihrem Blut mit offenen Augen in Embryonalstellung, die Haare im Blut verklebt. Bea dreht sie um, hört mit ihrem Ohr auf Emiras Brust, „ruf den Notarzt!“. Roland läuft zum Telefon, verwählt sich das erste Mal, „Scheiße“, wählt neu; er hat die Rettungsleitstelle am Apparat, „kommen sie schnell, hier stirbt jemand, oder ist tot, oder so. - Was? Eh, Albert Einsteinstraße 75, 2. Stock, kommen sie schnell! - Was? Puls? Bea, du sollst den Puls fühlen!“ - „Ich kann nichts fühlen.“ – „Wie, was? Die Halsschlagader Bea, am Hals sollst du fühlen.“ Bea weint „da ist auch nichts“. – „Ja, verstanden, Führerschein – Erste Hilfe“, wirft den Hörer daneben und springt ins Bad zu Bea, „los, wiederbeleben, Herzdruckmassage, ich mache Herzdruckmassage, du pustest, die kommen“. Für Bea stürzt eine Welt zusammen, sie hat die Kontrolle verloren, schwebt in freiem Fall und schluchzt, „ja, ich kann nicht, ich“, schluchzt, „Emira ist tot“. Roland schiebt Bea zur Seite und pustet Emira Luft in den Mund, Blut kommt aus der Nase. Bea sieht es entsetzt, „halt die Nase zu, geh weg und drück“. In dieser Not schaltet sich nun der Verstand aus und sie arbeiten mechanisch. Bea beugt sich über Emiras Kopf, überstreckt ihn, hält die Nase zu und bläst Luft hinein. Roland fängt mit der Herzdruckmassage an, „verdammt, wo bleiben die denn, scheiße, wo bleiben die denn?“. Die Zeit schleicht so langsam Oliver Droste 184 Irgendwo in Nirgendwo und gedehnt durch die Wohnung, daß sie überhauptnicht vorbeikriechen will. Die Reanimation läuft unkoordiniert ab, Bea beatmet, während ihr die Tränen herunterlaufen. Bea ist außer Atem, vom vielen Pusten ist sie schon ganz benommen, als wolle sie den Sauerstoff beim Einatmen selber nicht verbrauchen, sondern ihn Emira überlassen, „Emira, Emira, komm zurück!“, sie bläßt wieder in sie hinein. Nach einiger Zeit hören sie den Notarztwagen. Türen knallen, Geräusche, im Treppenhaus Schritte, es klingelt. Roland springt auf, rennt zur Tür, reißt sie auf. Der Notarzt und zwei Sanitäter kommen herein. Emira liegt mit offenen Augen auf dem Boden, verliert wieder an Farbe, wird graublau im Gesicht und starrt an die Decke, durch die Decke. Sie bekommt Engelsflügel und schwebt aus dem Raum, sieht nach unten, wie sie sich vom Haus entfernt. Sie besieht sich ihre Engelsflügel und flattert in die Wolken, genießt die Luft und lacht. Dann sieht sie durch die Wolken nach unten zur Erde und sieht die Autobahn, auf der Marcel fährt. Sie stürzt wie ein Falke im Sturzflug herunter und gleitet über Marcel durch die Luft, endlich frei. Marcel fährt sehr schnell auf seinem Chopper. Er spricht Gedichte vor sich her und ist mit den Gedanken ganz woanders. Seine Geschwindigkeit dürfte mit 170 km/h an der Leistungsgrenze sein. Vor ihm scheert plötzlich ein BMW aus, der gerade vom Beschleunigungsstreifen kommt, um einen Oliver Droste 185 Irgendwo in Nirgendwo anderen PKW zu überholen. Emira haut Marcel mit der Faust auf den Helm und versucht zu schrein, aber es kommt kein Ton über ihre Lippen. Marcel schreckt aus seinen Gedanken hoch, bremst, aber ist schon zu dicht dran. Er zieht mit dem Motorrad auf den Grünstreifen, zwischen BMW und den Leitplanken. Das Hinterrad fängt an zu schleudern. Marcel versucht die Maschine wieder unter Kontrolle zu bekommen. Emira greift am hinteren Schutzblech das Motorrad und bringt es zum ruhigen Fahren. Marcel kommt mit Mühe wieder auf die Straße, indem ihm Emira mit letzter Kraft einen Schubs gibt, wobei sie selber mit den Flügeln in die Leitplanken kommt sich mehrfach überschlägt und dann am Straßenrand liegenbleibt. Ihre Augen offen in die Wolken gerichtet, ihr Gesicht graublau werdend. Der Notarzt fragt Roland, hinter ihm herlaufend, „wo müssen wir hin?“, um etwas zu sagen. „Hier, hier ins Bad.“ Der Arzt kniet sich neben Emira, fühlt den Carotispuls, die Sanitäter stellen den Koffer ab. Der Notarzt schaut mit einer Taschenlampe in die Pupillen und gibt gleichzeitig kurze Anweisungen, „Ambubeutel, Rea!“. Sie beginnen mit ihrer Arbeit. Ein Sanitäter redet beruhigend zu Marcel und Bea, „lassen sie uns jetzt bitte alleine, wir machen das schon“. Bea kann sich nicht von Emira lösen, sie ist wie erstarrt. Der Notarzt zieht sie energisch von Emira weg, die darauf anfängt hemmungslos zu weinen. Der Arzt sieht kurz zu Roland hoch, „nehmen sie das Mädchen hier weg, wir brauchen Oliver Droste 186 Irgendwo in Nirgendwo Platz“, sieht den Sanitäter an, um weitere Arbeitsanweisungen zu geben, „EKG, Zugang, Nabi, zweiter Zugang Supra, Intubation vorbereiten“. Alles läuft in gut abgestimmter Teamarbeit, ohne viel hektik; jeder Handgriff sitzt. Der Arzt sieht auf das angeschlossene EKG, „Arrhythmie, Defi laden, Gel auf die Paddels, wir wollen die junge Dame ja nicht grillen, wie den letzten!“ und grinst, denn auch in diesem Beruf arbeitet man nicht ohne Humor, wennauch er schwarz ist. Ein Rettungssanitäter sieht zur Tür zu Roland und Bea, „los, gehen sie mit dem Mädchen nach nebenan, machen sie Kaffee oder so was“, um sie mit einer sinnvollen Beschäftigung von dieser Situation abzulenken, denn zum Kaffeetrinken werden sie erst wieder auf der Wache kommen. Roland zieht Bea am Arm, froh, einen Grund gefunden zu haben, diesen schrecklichen Schauplatz endlich verlassen zu dürfen, von der Wiederbelebung entbunden zu sein, „los nun komm endlich, wir können nichts mehr tun“. „Das ist meine beste Freundin“, wehrt sich Bea. Roland zieht sie jetzt mit sanfter Gewalt in den Flur und Bea ruft beim Schließen der Tür, „retten sie sie“. „Wir tun unser Bestes, gehen sie, das ist jetzt nichts für sie.“ Der Defi piept. Der Notarzt ruft um sich sehend, „alle zur Seite!“, setzt die Paddels auf und drückt ab. Emira zuckt mit den Armen und macht ein Hohlkreuz, liegt dann wieder regungslos da. Der Notarzt sieht auf das EKG, „Dolorhythmal, 10 ml!“; der Sani zieht auf, zeigt dem Arzt die Ampulle mit der fertigen Spritze und verabreicht es. Oliver Droste 187 Irgendwo in Nirgendwo In der Küche weint Bea, Roland zündet sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und raucht hastig mit Blut am Mund und verschmiert im Gesicht. Nach einiger Zeit, als er ein poltern im Flur hört, öffnet er die Küchentür und sieht zum Bad hinüber, dann zur Wohnungstür. Die Sanis kommen gerade mit der Trage hoch, Emira wird etwas unsanft aufgelegt, das EKG läuft, ein Beatmungsgerät ist am Tubus angeschlossen, der aus ihrem Mund steht. Die Infusion wird vom Notarzt hochgehalten. Der Notarzt bittet Marcel, „bringen sie bitte die Koffer mit runter!“. „Ja, sofort.“ Er wirft die Zigarette in die Spüle, wo sie zischend im Geschirr verglimmt und tut, wie ihm aufgetragen. Das Treppenhaus ist eng und die Rettungssanitäter schnaufen heftig bei der Anstrengung. Emira wird zum Wagen getragen und eingeladen, Roland reicht die Koffer hinein und Bea läuft kopflos umher, die Sanitäter fragend, „kann ich mitfahren?“. „Sie können jetzt nichts tun, kommen sie einfach zum Krankenhaus nach, dort können sie warten. Bringen sie ihrer Freundin einige Sachen mit“, springt, nachdem er alle Türen geschlossen hat, auf den Fahrersitz und fährt mit Alarm los. „Komm Bea, ich bringe dich ins Krankenhaus.“ Sie laufen beide zum Wagen und fahren hinterher. Oliver Droste 188 Irgendwo in Nirgendwo XXII Wie Marcel eine Scheibe einschlägt und nach Berlin kommt Zwei Proleten und ihre Freundinnen, Kinder, Wachmänner, Diner, Pressemann, Veranstalter. Noch 100 km bis Berlin. Vor Marcel taucht ein notorischer Rechtsfahrer mit vier Personen im Auto auf. Vorne sitzten zwei Typen mit Gel in den Haaren, Sonnenbrille auf und hören laut Rap mit durchschlagendem Bass. Hinten sitzen zwei Frauen. Marcel blendet auf. Doch das Auto fährt links weiter. Er will rechts überholen, doch der Wagen zieht nach rechts hinüber. Marcel muß wieder abbremsen. Die beiden Frauen drehen sich um und grinsen. Marcel schimpft, zieht nach links, doch der Wagen macht es ebenfalls. Marcel muß bremsen, damit er nicht auffährt und schimpft, „du Penner, soll ich mich totfahren, Lackaffe!“. Die Personen scheinen sich zu amüsieren. Sichtlich mit Spaß im Gesicht sehen die Frauen nach hinten aus dem Fenster. Marcel hupt, hebt die Faust und schimpft. Marcel täuscht jetzt das Überholen rechts an und zieht links vorbei, als der PKW nach rechts zieht. Die Lackaffen versuchen ihn noch durch ihr linksfahren zum Bremsen zu bewegen, doch das Motorrad ist haarscharf vorbei. Marcel macht jetzt vor dem Wagen eine Vollbremsung, das Auto macht es ihm gezwungenermaßen nach. Marcel stellt das Oliver Droste 189 Irgendwo in Nirgendwo Motorrad auf den Seitenständer, das Blut staut ihm die Venen, „jetzt hab’ ich aber die Schnauze voll, die sind dran“. Marcel steigt ab, geht finster, schwarzledernd mit Sonnenbrille auf den Wagen zu. Alle vier Insassen drücken erschrocken die Knöpfe runter und sehen mit großen Augen zu Marcel. Hinter dem Auto machen zwei PKW’s eine Vollbremsung und kommen gerade noch zum Stehen. „Los du Schwein, mach die Tür auf, ich bring dich um“; er faßt den Türgriff und rüttelt daran, die vier im Auto grinsen etwas verstört, sich in Sicherheit wiegend. „Mach die Tür auf Arschloch, ich schlag dir die Fresse ein.“ Die Autos hinten hupen. Marcel sieht in das blöde grinsende Gesicht des Fahrers, ballt die Faust, holt aus und schlägt die Scheibe ein. Die Insassen werden blaß, der Fahrer weicht zum Beifahrer und die beiden Frauen schreien auf. Dieser Kerl hätte ihn fast umgebracht. Wieviele Motorradfahren haben schon den Todeskuß der Leitplanken gefühlt, „komm raus du Schwein, ich bring dich um. (Die Frauen fangen an zu heulen. „Komm raus!“ Marcel greift nach dem Ärmel des Fahrers, dieser versucht sich zu wehren, indem er mit der Hand auf den Lederhandschuh schlägt und nervöus ruft, „spinnst du, es war doch nur ein Spaß“. „Und ich schlag Dich jetzt aus Spaß tot. Du hättest mich fast umgebracht.“ Marcel fällt sein Thermin wieder ein, „Wichser!“ und geht zu seinem Motorrad, startet und fährt mit durchdrehendem Reifen los. Oliver Droste 190 Irgendwo in Nirgendwo Nach einiger Zeit kommt er an einen ausscherenden Bus. Einige Kinder in der letzten Reihe winken Marcel zu. Der Bus schert wieder ein, Marcel winkt zurück und grinst breit, wobei er in einen Fliegenschwarm kommt, der in sein Gesicht und auf seine Zähne klatscht. Jetzt grinsen die Kinder. Marcel wischt sich einen Teil der Insekten von der Brille und vom Gesicht, gibt Gas und fährt auf einem Rad unter Jubel der Kinder am Bus vorbei. In Berlin angekommen fragt sich Marcel bei Taxifahrern durch, findet die Straße und kommt an eine Absperrung. Ein Wachmann, einer privaten Sicherheitsfirma kommt auf ihn zu, sieht einen Rocker, der unerwünscht ist, da er nicht hierher paßt. Er kann die gefährlichen Leute an Äußerlichkeiten erkennen; überzeugt von seiner Menschenkenntnis, „hier ist gesperrt, sie müssen woanders langfahren“. „Hier soll doch eine Lesung stattfinden“, entgegnet Marcel. „Das ist richtig, sie müssen trotzdem woanders langfahren“, beharrt der Wachmann. „Da muß ich hin.“ „Das glaube ich kaum“, besieht ihn der Wachmann verachtend von oben bis unten, „hier kommt niemand durch, nur mit Einladung.“ Marcel zieht sich seinen Lederhandschuh aus, kramt in seiner Lederjacke, faltet die Einladung auf und reicht sie dem argwöhnischen Sicherheitsbeamten, der kurz ließt, „zeigen sie erst mal ihren Ausweiß, könnte ja jeder kommen“. Marcel sieht nun das Wort Koryntenkacker personifiziert vor sich stehen, zieht sein Portemonnaie und gibt dem Wachmann den Ausweis, der den Namen vergleicht. „Setzen sie mal Oliver Droste 191 Irgendwo in Nirgendwo ihre Brille ab.“ Er vergleicht das Foto mit dem Original und muß kapitulieren, „na ja, dann fahren sie eben durch“ und gibt die Papiere zurück, Marcel fährt ärgerlich los, eine Fehlzündung erschreckt einige Sicherheitsbeamte. Vor dem Haupteingang fährt gerade eine Limousine weg, Marcel fährt vor. Der Diner sieht ihn fassungslos an. Marcel fühlt sich fehl am Platz, mit einer solch vornehmen Veranstaltung hat er nicht gerechnet und fragt, „sag mal, wo kann ich das Motorrad parken“. „Tut mir leid mein Herr, darauf sind wir nicht eingerichtet“, antwortet der Diner verwirrt, sich das erste Mal in einer solchen Situation befindend. Zwei Sicherheitsbeamte kommen angelaufen, Pressefotografen knipsen. Die Beamten gestikulieren, es entsteht ein Streitgespräch durch Kompetenzgehabe. Es wird wichtig in Funkgeräte gesprochen. „Was is’n hier los, soll der Papst auch kommen, oder was?“ raunt Marcel unbeachtet, er klopft dem Sicherheitsbeamten auf die Schulter, der sich finster umdreht. „Sagen sie, ich soll da drinnen lesen und da werde ich jetzt auch reingehen.“ So läßt sich der Beamte seine Kompetenz schon gar nicht übergehen, „zeigen sie erst mal ihre Einladung“. „Die habe ich gerade ihrem Kollegen gezeigt.“ „Das interessiert mich nicht.“ Marcel muß wieder die Brille absetzen. Der Beamte telefoniert mit seinem Handy. „Ich soll da jetzt gleich lesen und bin schon spät genug“, sagt Marcel und sieht auf seine Uhr. „Augenblick, sie kommen da so nicht rein.“ Marcel Oliver Droste 192 Irgendwo in Nirgendwo stellt das Motorrad aus und steigt herunter. „Moment, Moment, das Ding kann hier nicht stehen bleiben!“ schnauzt der Beamte. Der Diner will sich nun auch einmischen, da hier sein Platz ist, seine Aufgabe, die er pflichtgetreu erfüllen will, wie er es sein Leben lang getan hat. Marcel drückt ihm seinen Schlüssel in die Hand, „dann kümmert euch darum“ und will an diesem vorbei. Ein Securitymann schiebt den Diner zur Seite, weist ihn in seine Grenzen, „das hier ist jetzt nicht mehr ihre Aufgabe, ich zeig ihnen Mal wie das hier läuft“, greift Marcels Arm und dreht ihn auf den Rücken. Marcel sieht seine einmalige Chance, hier zu lesen, langsam schwinden und wehrt sich, „hey, was soll’n das, laß mich los“. Der Sicherheitsbeamte ruft zum Kollegen, „ruf die Polizei, der wird erst mal festgesetzt“. Marcel kann nicht glauben, schon wieder mit der Polizei in unangenehmen Kontakt zu kommen, dreht sich mit einem Ellenbogenstoß heraus. Es gibt ein Handgemenge und jemand schlägt Marcel auf das Auge. Ein weiterer Sicherheitsbeamter kommt angelaufen und Marcel wird unter Gewalt hineingeführt. „Ich sag’ euch, ich soll da gleich lesen.“ Es kommt jemand in Anzug angelaufen und spricht mit dem Beamten, sieht sich die Einladung an, dann zu Marcel, „entschuldigen sie, das hier ist wohl ein großes Mißverständnis, wir erwarten sie bereits“. Marcel löst sich aus den sich lockerndem Griff des verständnislos blickenden Wachmanns heraus, sieht ihn triumphierend an, „sag ich doch“. Ein Oliver Droste 193 Irgendwo in Nirgendwo Pressemann, der eine Schlagzeile wittert kommt aus dem Eingangsbereich angelaufen und ruft, „Augenblick, ein Foto bitte“. Der Mann im Anzug und Marcel stellen sich in Pose, die Sicherheitsbeamten stehen hinter dem Pressemann. Marcel grinst sie an, wobei ihm das Veilchen und die Fliegen auf den Zähnen unfreiwillige Komik verleihen. Der Reporter grinst, „danke, das gibt einen Aufhänger“. Alle gehen hinein. Vorne am Rednerpult übt sich jemand in belangloser Rhetorik, die Gäste sehen wichtig und aufmerksam zu. Marcel wird ein Platz zugewiesen, worauf er durch das angewidert gaffende Publikum diesen einnimmt. Eine überschminkte ältere Dame in Abendkleid und protzenden Klunkern sieht ihn verachtend an. Tolleranz hat ihre Grenze. Marcel bemerkt diesen Blick und flüstert, die Hand zum Gruß erhoben, „Tachchen junge Dame“ und grinst, worauf diese sich zu ihrem Begleiter wendet, diese Unverschämtheit anzeigend. „Schscht!“ kommt es von hinten ärgerlich. ‚Oh, verdammt, das wird hier in die Hose gehen‘ befürchtet Marcel. Verschiedene Künstler tragen vorne am Rednerpult, wichtig gestikulierend mit gekonnten rethorischen Pausen, ihre Arbeiten vor. Nach einiger Zeit wird Marcel dann aufgefordert nach vorne zu kommen, um zu lesen. Marcel beginnt sein erstes Gedicht vorzutragen. Ein Handy klingelt. Ein Sicherheitsbeamter dreht sich weg und flüstert etwas. Marcel sieht von seinen Schriften hoch und Oliver Droste 194 Irgendwo in Nirgendwo etwas ärgerlich zu dem Sicherheitsbeamten hinüber. Er unterbricht seine Lesung, einige Zuschauer drehen sich um und blicken den Störenfried ärgerlich an. Nicht das dieser Mann ihm schon draußen genug ärger gemacht hat, nein jetzt will er seine große Stunde vereiteln, „können sie nicht zuhause telefonieren, es stört!“. Der Mann dreht sich weg und flüstert ins Telefon, „Moment“, spricht zu seinem Kollegen, dann sehen sie auf ein Papier mit dem Tagesablauf und schauen auf die Uhr. Er sieht sich zu Marcel um, der immer noch pausiert, „entschuldigen sie“. „Sind sie bald fertig?“ „Sind sie Herr Heym?“ „So ist es“, entfährt es Marcel. „Es ist für sie, wichtige familiäre Angelegenheit“, fügt der Wachmann hinzu, er bringt das Handy nach vorne und gibt es Marcel. Dieser versteht nicht, was hier vorgeht, und sagt, etwas aus dem Konzept gebracht, „doch nicht jetzt!“, nimmt das Telefon entgegen, „ja, - hallo?“ dreht sich weg, „Roland, sag mal, bist du verrückt, ich stehe gerade... Was? Was ist los? Und wie geht es ihr jetzt? Was? Kommt sie durch? Was? Scheiße!“. Marcel legt das Handy auf das Rednerpult und rennt hinaus. Ein verständnisloses Tuscheln geht durch das Publikum. Der Mann im Anzug kommt angelaufen, spricht mit dem Sicherheitsbeamten. Marcel springt auf sein Motorrad und rast mit rauchendem Hinterrad los. Oliver Droste 195 Irgendwo in Nirgendwo XXIII Vom Drachen und verfliegendem Lichtlachen Marcel, Emira, Schwester Tage vergehen, fliegen schnellen Fluges horizontwärts. Marcel verbringt sie im Krankenhaus am Abgrund von Emiras Bett. Sie wird gerade von einer Schwester gefüttert, „So ist es schön und noch einen Happen, so schön den Mund aufmachen. So, nur noch ein Löffelchen“ und wischt ihr den Mund ab, „bist ein feines Mädchen“. Marcel sieht finster angewidert durch seine ins Gesicht hängenden Haare zur Schwester, erschüttert von der Situation, „hören sie auf, lassen sie das. Emira ist kein kleines Kind“. Die Krankenschwester sieht ihn ärgerlich darüber, daß so ein junger Rotslöffel ihr in die Arbeit redet, an, der nicht einmal verwandt ist mit der Patientin, „hören sie mal junger Mann, ich mache das schon dreißig Jahre“. „Man kann es auch dreißig Jahre verkehrt machen. Lassen sie das!“ Oho, ihr sagen, daß sie das falsch macht. „Ich werde mich beim Oberarzt beschweren“, giftet sie Marcel an. „Verschwinde bloß du alter Drachen!“ „Uhh, das muß ich mir nicht bieten lassen. Das ist mir noch nie passiert. Sie werden schon noch sehen, was sie davon haben“, droht der Drachen schwefeldampfend, feuerspuckend. „Kschsch, kschsch!“ verscheucht Marcel das altersschwache Reptil. „Sowas hab ich ja noch nicht erlebt, nein, Oliver Droste 196 Irgendwo in Nirgendwo nein,“ raucht kopfschüttelnd aus dem Zimmer, „wie undankbar dieses Volk“. Marcel ist endlich alleine mit Emira. Sie riecht nach Creme oder irgendwelchem Puder, „hörst du mich? Weißt du was ich heute mitgebracht habe?“. Er holt einen Zettel heraus, faltet ihn auf und zeigt ihn Emira, die mit offenen Augen regungslos ins Zimmer starrt. Ihr Augengrün scheint ergraut. „Es ist dein Platz“, lächelt er mit feuchten Augen, „du weißt doch, um den Psychopharmerkaentzug zu machen. Dein Platz auf den du gewartet hast“ und fügt verbittert hinzu, „endlich hast du deinen Platz“. Marcel zerknüllt den Zettel und gibt ihn Emira in die Hand, die ihn aus Reflex greift. „Ja Emira, jetzt nützt er nichts mehr, was?“ Er füttert Emira, zittert in der Stimme, „wo bist du jetzt, bist du jetzt glücklicher? - Jetzt hast du keine Sorgen mehr. Jetzt weißt du gar nicht mehr, was das bedeutet. Wie kann denn nur das Leben so ungerecht sein? Du hast doch schon genug durchgemacht. Jetzt hättest du den Platz, jetzt wäre deine Chance, jetzt könnten wir glücklich werden.“ Er streicht Emira durch das Haar, sie bewegt im Reflex die Augen. Marcel küßt sie auf die Stirn, ihr die Nacht herauszusaugen, Prinzessin Dreck wachzuküssen. Eine Träne fällt aus seinem Auge in Emiras, das darauf grün aufleuchtet, grüner, als Marcel es in Erinnerung hat, er sieht in ihre tiefe Dunkelheit und stürzt hinunter ins Giftgrün, von sanfter Schwerkraft verlockt, gesogen. Im Lichtfall hockt ein Schimmer von Erinnerung auf der Wimper, springend, blitzend, Oliver Droste 197 Irgendwo in Nirgendwo blinkt und platzt auf beim Aufprall und versinkt im Gedankenland bergauf. Ein Bach wird daraus entstehen, an der Wange unter Trauerhaarkraus gesehen. Marcel flüstert, „ich werde dich suchen zwischen den Welten; ich werde dich finden und nach hause bringen, nach hause zu mir. Wir werden dann für immer zusammenbleiben.“ Er sitzt am Bett, sein Auge brennt aderrot, das Lichtlachen wurde ertränkt. Marcel steht auf und geht. In Emiras Augen ist klebende Traurigkeit flechtengrün in tropenmangrovenartig alten Fiebermühen gefangen. Ihr Gesicht ist weiß und glatt, gleicht einem Kristallhauch, bleicht und zerstaubt zu Elfenbeinstein. Das schwarze Haar im Kontrast zerquellt opheliahaft; unter den Augenlichtern drücken nicht geweinte Tränenfalten. Sie sucht im Dunkel ihrer zerfließenden Nacht das Augenfunkel, das sie umgebracht hat. Jetzt dunkelt es brackwasserstinkend in ihrer Stirn schwer, trüb versinkend, blickt nach Nirgendwo. Oliver Droste 198 Irgendwo in Nirgendwo XXIV Emira, Pfleger, Mutter, alter und junger Polizist, Taxifahrer, Chefarzt, Landpolizei, Passanten, Roland, Arzt. Ein Pfleger kommt herein, setzt Emira in den Rollstuhl und schiebt sie hinaus, um sie auf eine andere Station, für sogenannte therapieresistente Fälle zur Pflege, zu bringen. Es ist die Station, wo jetzt ihre Mutter ist. Seit Wochen blieb Emira in ihrem Wachkoma gefangen. Auf der Station kommt ihre Mutter den Flur herunter mit einer Puppe im Arm und erkennt Emira, „huh, Emira, da bist du ja. Mein kleines Mädchen“. Der Pfleger stellt Emira ab und geht ins Schwesternzimmer. Die Mutter setzt sich Emira gegenüber in eine Sesselgruppe und strahlt, „jetzt bist du endlich wieder da. Jetzt bist du endlich bei mir. Jetzt bleibst du bei mir.“ Sie legt ihre Puppe zur Seite, beugt sich vor und nimmt ihr Tochter in den Arm. Emira bewegt die Hand, die Umarmung zu erwidern. Ein Arzt sieht erstaunt durch die Glasscheibe in den Flur. Die Mutter streicht Emira durch das Haar, streichelt ihr Gesicht. Emira bewegt die Augen. Jetzt hebt sie die Hand und streicht der Mutter durch das Haar, sieht sie an und flüstert heiser, „Mama, ich bin wieder da“. „Ja Emira, da bist du endlich.“ Ein Arzt sieht durch die Scheibe des Stationszimmers und sagt zu einer dabeistehenden Schwester, „sehen sie mal, da bahnt sich ein kleines Oliver Droste 199 Irgendwo in Nirgendwo Wunder an, ist nicht möglich“. „Ist das nicht der Neuzugang, die Apoplektikerin mit dem Tablettenintox?“ fragt ihn die Schwester. Der arzt zeigt auf eine braune Mappe, „zeigen sie mir doch einmal die Papiere; so ist es angemeldet. Ich glaube die Kollegen haben sie etwas zu früh abgeschrieben, interessante Sache.“ Die Schwester reicht sie ihm und erwähnt, aus der Scheibe blickend, „nach 8 Wochen hätte ich das aber auch nicht mehr für möglich gehalten“. Der Stationsarzt überfliegt den Bericht und sieht hinaus zu Mutter und Tochter, „sehen sie mal, Frau Bladievic verhällt sich vollkommen anders, als hier im Bericht beschrieben. Das ist ja interessant, sehr interessant. „Mensch, das ist ja mal ein Ding“, freut sich die junge Krankenschwester. „Ja, ja, nicht alles läßt sich in der Medizin voraussagen. Wird eine interessante Untersuchung geben“, freut sich der Medizinmann auf die folgenden Tage. „Soll ich die Angehörigen unterrichten?“ fragt ihn die Schwester. „Der Vater ist doch im Kosevo ums Leben gekommen ihre Schwestern doch auch, oder irre ich mich? Deswegen haben wir die Mutter auch hier in Behandlung“. „Und was ist mit dem Freund?“ fragt die Schwester. „Warten sie erst einmal. Ich werde sie zuerst untersuchen, sicher eine interessante Untersuchung.“ Oliver Droste 200 Irgendwo in Nirgendwo XXV Negative Creep bricht Polizistennase Marcel ist ermüdet zu Hause angekommen; seine Hoffnung um Emira ist auf einen Tiefpunkt angekommen. So viele Tage ist er dort gewesen, so lange hat sich bei ihr nichts geändert. Er geht in die Küche, wo Roland auf dem Sofa sitzt und ihn begrüßt, „hallo, wie ist es?“. „Wie soll es sein?“ „Was hat der Arzt gesagt?“ Marcel sieht ihn aus der finsteren Tiefe seiner hohlen Augen an, „aus seinem Latein hab ich nur so viel verstanden, daß da wohl nichts zu machen sei. Wahrscheinlich wegen dem Sauerstoffmangel.“ Roland, dem sein Mitbewohner langsam fremd geworden ist, fragt ihn weiter, um mit ihm zu reden, „wo warst du gestern?“, denn Marcel lebt seit Emiras Koma zurückgezogen und spricht nicht mehr viel. „Ist doch egal“ ist die kurze abweisende Antwort. „Da waren zwei Polizisten hier, Du weißt doch noch, unsere beiden Dorfsheriffs“, erklärt Roland. „Und was wollten die?“, fragt Marcel desinteressiert. „Keine Ahnung. Irgendwas war, als du nach Berlin gefahren bist.“ „Ja?“ „Die wollten noch mal wiederkommen.“ „So.“ Roland weiß nicht, wie er an seinen Freund wieder herankommen soll und wird etwas vertraulicher und geht auf Marcel zu, um ihm wenigstens Physisch näherzutreten, „gibt es denn keine Hoffnung für Emira?“. Marcel geht an Roland ärgerlich vorbei, Oliver Droste 201 Irgendwo in Nirgendwo „wenn da was im Gehirn abgestorben ist, wegen der Sauerstoffunterversorgung“, er sieht Roland finster an, „weil ihr die Wiederbelebung nicht richtig hingekriegt habt“ und geht in sein Zimmer. Roland wird ärgerlich über diese zerstörte Freundschaft und schnauzt hinterher, „sag’ mal, du bist vielleicht ‘n Arschloch, was denkst du, was wir getan haben. Du weißt ja gar nicht ... . Du hättest auch nicht so schnell abhauen zu brauchen. Hättest du auf Emira gewartet, bis sie aus dem Bad ist ...“. Nun scheint die Freundschaft doch noch durch Emira zerstört worden zu sein, nur so, daß alle Beteiligten dadurch voneinander getrennt worden sind. Marcel kommt nocheinmal zurück schreit ihn an, „halt bloß deine Schnauze, jetzt bin ich noch daran Schuld, daß ihr nicht richtig wiederbeleben konntet“. „Du machst es dir einfach. Suchst dir einen Schuldigen“, verteidigt sich Roland, den Federhandschuh zurückschleudernd. Verwirrt darüber, daß es ein Schicksalsschlag ist, wofür kein Schuldiger anklagbar ist sagt Marcel, „ich, - ich hätte, ach Scheiße, sie hat einen Platz, es wäre alles gut gegangen. Wieso ist das verdammte Leben nicht wie’n Hollywoodfilm, so mit Happy End?“, geht in sein Zimmer und macht laute Musik an; Nirvanas ‚negative creep‘ ist zu hören. Roland entschuldigt sich vor sich selbst, „was hätte ich denn machen sollen. Beim Erste Hilfe für’n Führerschein hab ich auch nicht richtig aufgepaßt, ich glaub’ ich fahr am besten zu Bea, hier weg.“ Oliver Droste 202 Irgendwo in Nirgendwo Roland schnappt sich seine Jacke und geht zur Tür, wo es jetzt klingelt, er öffnet. Der alte und der junge Polizist stehen dort. Der ältere, wichtig dreinblickende, sich wie ein Spatz im Winter, aufplusternde, fragt unfreundlich, „wohnt hier ein Marcel Heym?“, dann unverschämt unfreundlich, „ach quatsch, natürlich wohnt dieser Verbrecher hier. Na los, holen sie ihn!“. Der junge Kollege versucht, irgendwie noch die dienstgebotene Höflichkeit zu wahren und fragt nocheinmal, als würde das diese feindliche Stimmung etwas lösen, „ist er wohl zuhause?“ und sieht seinen Kollegen vorwurfsvoll an. Roland dreht sich, „moment mal“, geht, klopft an Marcels Tür und öffnet sie. Die dröhnende, m,arschierende E-Gitarre erbricht sich zu den Polizisten; Kurt schreit gerade ‚I’m a negative creep, I’m a negative creep, I’m stoned...‘. Marcel sitzt am Schreibtisch, dreht sich um. Roland kommt unaufgefordert herein und macht die Musik aus, was bei Marcel eine nicht gerade wohlgesonnene Stimmung erzeugt. Roland erklärt sein Handeln, „dein Freund und Helfer steht vor der Tür“. Marcel sieht ihn genervt an, „was? Was wollen die Bullen denn schon wieder?“ und steht auf. „Die sind nicht gerade das, was man gut gelaunt nennt“, schwenkt Roland den Zaunpfahl, um Marcel zu warnen, daß ihn wohl eine ernste Angelegenheit erwartet. Marcel ist schon mit Aggressivität und Nonchalance beladen, „ich auch nicht“, geht hinaus, sieht seine Oliver Droste 203 Irgendwo in Nirgendwo beiden Freunde dort stehen, „was wollt ihr zwei denn schon wieder?“. Dieser kumpelhafte Ton ist bei dem alten Polizisten unangebracht. Er holt einen Zettel heraus, hält ihn Marcel hin und wedelt mit diesem roten Tuch triumphierend vor Marcels Augen, „so Freundchen, heute ist der schönste Tag in meiner Laufbahn. Ich habe darum gebeten hierher fahren zu dürfen. Es gibt doch einen Polizistengott, - du bist festgenommen.“ „Is’ ja’n Ding“, quittiert Marcel gelassen. Roland ist über den Ernst der Situation erschrocken und fragt den Beamten, „wieso?“. Der junge Kollege greift in die Stimmung erklärend ein, „er soll vor Berlin auf der Autobahn auf der linken Spur geparkt haben“. Marcel kann sich angesichts dieser Vorstellung ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Roland appeliert an den gesunden Menschenverstand, „so’n Blödsinn. Überlegen sie doch mal, auf der Überholspur. Marcel ist doch nicht verrückt“, sieht bei diesen Worten Marcel an und weiß, daß er es doch ist. Der alte Polizist setzt seinen Triumpfzug weiter fort, „dann gab es noch Sachbeschädigung, versuchte Körperverletzung und bei einer Veranstaltung hat er einen Wachmann angegriffen, klingt das glaubwürdiger?“, um dann die Siegessäulen zu küssen, greift Marcels Arm und versucht ihn auf den Rücken zu drehen, dieser wehrt sich und will sich losreißen. Der alte greift jetzt Marcel in die Haare und reißt seinen Kopf in den Nacken. Von dieser Oliver Droste 204 Irgendwo in Nirgendwo Durchführung seiner freudigen Pflicht hat er die letzten Nächte schon geträumt, auch auf der Hinfahrt in seinen Polizeiheldentagträumen. Das das so einfach werden wird, hatte er sich jedoch nicht erträumt. „Was soll’n das, ah, Arschloch“, schimpft Marcel. „Wie schön, nun haben wir auch noch Beamtenbeleidigung“, schwellt es beglückt aus dem Beamten heraus. „Ah, las meine Haare los, du Penner.“ „Ich kann auch anders, Bürschchen.“ „Ich auch“, warnt ihn Marcel, greift nach der Hand in seinem Haar, bekommt den kleinen Finger zu fassen, reißt ihn weg, daß es knackt. Der jüngere Kollege will eingreifen, doch Marcel ist schon los und tritt dem zu Hilfe eilenden zwischen die Beine, so daß dieser mit einem erstickendem Ausdruck im Gesicht zusammensackt. Der alte sieht das und will nach seiner Waffe greifen, doch Marcel hat schon ausgeholt und dem erschrockenem Wachtmeister mit einem Faustschlag die Nase gebrochen. Roland steht nicht weniger überrascht im Flur und versteht nicht, was dort vor sich geht. Der alte Polizist sackt ebenfalls zusammen. Marcel schnappt sich seine Lederjacke und springt über die Polizisten durchs Treppenhaus raus, wirft seine Maschine an und fährt los. Der junge Polizist atmet schwer, richtet sich auf und rüttelt den Kollegen, doch erfolglos, dieser ist noch in Lummerland, träumt noch von seinem großen Tag. Der junge steht auf, geht gekrümmt zum Wagen hinunter zum Funk. Oliver Droste 205 Irgendwo in Nirgendwo Der alte kommt im Flur vor der Tür liegend gerade langsam wieder zu sich. Für Roland ist gerade eine Welt zerstört worden; ersieht den alten Beamten an und verurteilt ihn, „selbst Schuld, ihr macht euch eure Verbrecher auch selber“. Dieser sieht auf die Hände gestützt hoch, will diesen über seine Rechte aufklären, doch knallt Roland die Tür schon zu, die den älteren Kollegen wieder am Kopf trifft. Roland schnappt sich seine Jacke, luft zu seinem Wagen und fährt zu Bea. Oliver Droste 206 Irgendwo in Nirgendwo XXVI Die Flucht nach Nirgendwo, oder wie das Netzt gesponnen ist Zur gleichen Zeit im Krankenhaus: Emira weiß von den Ereignissen und dem sich änderndem Schicksal nichts, wird jedoch lebhafter. Mag sein, daß es keine Seelenverwandtschaft gibt, vielleicht auch keine Telepatie. Es wäre aber eine gute Möglichkeit, um ihren Drang, aus dem Krankenhaus zu kommen, zu erklären. Die Lebensgeister sind zurückgekehrt, mit einer Kraft, die sich im Menschen entwickeln kann, für die es jedoch auch keine annehmbare rationelle Erklärung gibt. Sie fast den untersuchenden Arzt an den Armen und fragt erschrocken, „wo ist Marcel?“. „Ich weiß es nicht“, antwortet dieser. Die assestierende Krankenschwester fügt hinzu, „wir rufen gerade bei ihrer Freundin an“ und lächelt. „Ich will nach hause“, flattert Emira, wie ein Vogel im Käfig, wo ist Marcel?“. Der Arzt beruhigt sie ebenfalls lächelnd, zähnefletschend, „sie müssen sich beruhigen, kommen sie erst mal zu Kräften und entspannen sie sich“. Sein Gebiß entspricht nicht ganz den Proportionen und erzeugt einen bedrohenden Ausdruck. Emira wehrt diesem, „sie brauchen nicht so blöd zu grinsen, ich bin ordentlich ausgeruht, mir geht es gut“. Oliver Droste 207 Irgendwo in Nirgendwo Marcel ist mit dem Motorrad unterwegs. Bevor sich sein Schicksal erfüllt und der Polizistengott ihn richtet, möchte er nocheinmal Emira im Krankenhaus sehen; was dann mit ihm wird ist ihm mittlerweile egal. Die allamierte Polizei ist mit mehreren Streifenwagen unterwegs, einen Gewaltverbrecher zu fangen, eine willkommene Ablenkung vom Polizistenalltag in dieser Kleinstadt. Marcel ist im Straßenverkehr auffällig, da er ohne Helm fährt. In der Zwischenzeit kommt Roland bei Bea an. Der Keis der Verfolger zieht sich enger, da Marcel keine Nebenstraßen benutzt. Er bemerkt einen Streifenwagen hinter sich und flucht, seine Fahrtroute ändernd, „Scheiße, dann eben nicht“ und gibt Gas. Die Streife melodet über Funk, „haben verdächtige Person gefunden, fährt mit hoher Geschwindigkeit Richtung Innenstadt“. Marcel versucht entschlossen, zu Emira zu kommen. Und zurück bei Emira. Der Stationsarzt versucht Emira zu beruhigen, „sie müssen sich erholen, sie können nicht so schnell gesund sein“, seine jahrelange Erfahrung schützend und geht ins Schwesternzimmer. „Mir geht es gut“, verteidigt sich Emira verärgert, „hab’ mich schon schlechter gefühlt“. Emira und ihre Mutter sind nun alleine. „Mama, ich halte es hier nicht aus, hilfst du mir?“ fast Emira entschlossen ihr Schicksal. Die Mutter ist glücklich Oliver Droste 208 Irgendwo in Nirgendwo über die Anwesenheit ihrer Tochter und den sich aufhellenden eigenen Verstsand, als sie ihr antwortet, „oh, Emira, ich helfe dir“. Emira hört ein Motorrad und läuft zum Fenster. Martinshorn ist zu hören. Sie erkennt ihn draußen vor dem Krankenhaus und schreit, „Marcel, da ist Marcel, warte auf mich!“ und läuft zur Mutter und fordert sie in ihrer Spontanität auf, „lenk sie ab Mama. Du mußt sie ablenken, ich schleiche zur Tür. Du mußt den Öffner irgendwie betätigen.“ „Denkst du daß das richtig ist?“, sagt die Mutter bemutternd. „Was ist schon richtig?“ Sie umarmen sich. „Vergiß mich nicht mein Mädchen.“ „Du wirst auch bald rauskommen, alles wird gut, dann stell ich dir Marcel vor.“ „Ist gut.“ Sie verlassen beide das Zimmer. Marcel macht eine Vollbremsung vor dem Krankenhaus, dreht, da von vorne ein zweiter Polizeiwagen gekommen ist. Er sieht zum Krankenhausfenster hoch, als habe er Emira irgendwo gesehen, doch findet nicht das Gesicht, das er suchte. ‚Kann ja auch nicht sein‘, schüttelt er den Kopf und ruft, nun in Bedrängnis gekommen, „bye Emira, bald bin ich bei dir, dann trennt uns nichts mehr“ und gibt Gas, fährt auf den quer stehenden Polizeiwagen zu, dann auf den Bürgersteig. Die Polizisten springen aus dem Wagen und wollen diesen sichern. Marcel biegt scharf abbremsend in die Krankenhauseinfahrt ab, fährt sie hoch, zwängt sich an einem Krankenwagen und zwei rauchenden Sanitätern vorbei, fährt die andere Seite wieder Oliver Droste 209 Irgendwo in Nirgendwo hinunter und ist an den Polizisten vorbei. Eine schwarzgeistiger Glatzkopf kommt in diesem Augenblick aus dem Krankenhauseingang, die Zeichen der letzten Schlägerei stolz tragend. Er und Marcel sehen sich kurz in die Augen. Trotz seines kaum genuztem Hirns erkennt dieser Marcel, sieht die Polizeibeamten in ihren Wagen springen, wenden und Marcel verfolgen. Er läuft zu einem Wagen, wo seine Kameraden warten und rauchen. Ein alter Mann, groß, kräftig, ein alter deutscher Hühne geht vorbei, sieht diese glatzköpfigen Bomberjacken an und geht vorüber. Ein Skinhead ruft, den Arm hebend sein „Heil Hitler“ stumpf grinsend hinterher. Der Alte bleibt stehen, dreht sich um und geht auf diese Meute zu, die ihn lachend ansieht und sagt, jedes Wort korrekt aussprechend, mit rollendem R und kräftiger Stimme, „ihr solltet einmal, - nur ein einziges Mal in einem Schützengraben unter Trommelfeuer liegen; es braucht niemand getroffen zu werden; es soll euch nur der Dreck um die Ohren fliege. Glaubt mir, von euch würde niemand mehr nach Krieg schreien!“ und geht wieder unter Spott der Unvernunft. Er humpelt, da er fünf mal verwundet wurde und am Ende noch aus dem Kessel von Stalingrad entkam und den Krieg vom ersten bis zum letzten Tag überlebt hatte. Der verletzte Skinhead kommt am Auto an und ruft seinen Leuten voller Tatendrang zu, „da war gerade das Schwein, das bei der Schlacht in der Fußgängerzone diese Kanackenschlampe geholfen hat“. Die witzelnden, Oliver Droste 210 Irgendwo in Nirgendwo gröhlenden Skins hörem ihm nicht zu, sondern spotten über die Feigheit dieses alten Mannes mit Zivilcourage. Emira schleicht zur Tür und die Mutter klopft am Schwesternzimmer, jedoch öffnet ihr niemand. Ein Arzt will gerade die Station betreten und schließt die Tür von außen auf. Emira steht da und sieht ihn erschrocken an. Der Graubärtige, vornehme Mann fragt sie väterlich, „was machst du denn hier mein Kind?“. Emira überlegt nicht lange, holt aus und schlägt den Chefarzt schräg von der Seite ans Kinn. Dieser wackelt auf seinen Beinen noch schwerfällig zurück, läßt seine Papiere, ihnen ungläubig nachsehend, fallen, bevor er zusammensackt. Emira springt über ihn hinweg und läuft hinaus. Eine Schwester läuft dem Chefarzt zur Hilfe und ruft erschrocken, „Herr Proffessor?“. Emira rennt durch den langen Flur, sieht einen Pfleger zum Spurt ansetzen und biegt in das Treppenhaus ab. Aus dem Haupteingang herrauslaufend sieht sie ein Taxi und rennt darauf zu. Der Wagen mit den Skinheads fährt gerade am Eingang vorbei. Der Verletzte sieht Emira und macht seine Kumpanen wild gestikulierend und schreiend auf Emira aufmerksam. Der Wagen bremst, drei Mann springen heraus und renn hinter Emira hinterher, die sich umblickt und die Gefahr kommen sieht. Blut schießt ihr durch die dunklen Windungen ihres Gehirns. Der Pfleger kommt ebenfalls auf die Straße gelaufen und rennt nun Oliver Droste 211 Irgendwo in Nirgendwo neben den Skinheads her, und ruft mit diesen, „halt stehenbleiben!“, sieht erschrocken die Meute neben sich an. Emira springt in das Taxi. Der Fahrer kaut gerade auf seinem Brot, sieht Emira überrascht an und will den Polizeifunk, der gerade bei ihm im Wagen läuft ausstellen. „Lassen sie das ruhig an und fahren sie los, schnell!“ „Hier ist was los. Die jagen gerade einen Verbrecher, der flieht mit dem Motorrad, ist hier gerade an mir vorbeigefahren. Ich habe Glück gehabt, daß ich noch lebe. Der Kerl wollte mich umfahren. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in die Büsche retten. Sowas.“ Er sieht in den Rückspiegel zu Emira, dann durch die Heckscheibe den Mob kommen, wirft das Brot zur Seite und gibt Gas, „was ist denn hier los, scheiße!“ und fährt mit quitschenden Reifen los. Die ersten Skinheads sind am Auto, reißen die Türen auf, doch da beschleunigt der Wagen und hängt sie ab. Janiene erklärt Marcels Verhalten, „er wollte sie bestimmt nicht umfahren“. Der Taxifahrer sieht verwirrt in den Rückspiegel und dann wieder auf die Straße, „woher wollen sie das denn wissen. Sie waren doch gar nicht dabei. Haben sie gerade Probleme gehabt?“ und zeigt mit dem Daumen nach hinten auf die Verfolger. „Fahren sie bloß hier weg“, antwortet Emira, sieht ängstlich nach hinten, „ich sag ihnen dann woher ich das weiß“. „Ja, ja“, sagt der Taxifahrer und fährt los, durch die Stadt und hören die Verfolgungsjagd über den Scanner. Die Skinheads wurden durch das Abbiegen in zwei kleine Seitenstraßen vom Oliver Droste 212 Irgendwo in Nirgendwo Taxifahrer gekonnt abgehängt. Durch seine geübte Ortskenntnis kommen sie bald an ihr Fahrziel bei Bea an. „Macht 14, 80 DM, oder ungefähr 7 Euro, haha. Man muß sich ja nun langsam daran gewöhnen, was?“, freut sich der Taxifahrer über seinen Lieblingsscherz und seine gelungene Fahrleistung. „So woher wollten sie denn wissen, daß mich der Gangster nicht umgefahren hätte?“ fragt der Taxifahrer, sein Potemonaie hervorholend. „Marcel ist kein Gangster und fährt niemanden mit Absicht um.“ „Marcel? Woher wissen sie wie der heißt?“ Im Polizeifunk wird jetzt erwähnt, daß Emira aus der geschlossenen Abteilung ausgebrochen ist, eine Beschreibung durchgegeben, die der Taxifahrer erschrocken mit dem Original vergleicht. Es wird im Anschluß erwähnt, daß Marcel jetzt wohl gerade auf dem Weg zu ihr sei. Emira steigt aus und beugt sich zum Fenster, „kommen sie doch mit hoch, meine Freundin hat das Geld, aber wohl keine Euro“. Der Taxifahrer kann über den zurückgegebenen Scherz nicht lachen. Emira sieht erwartungsvoll die Straße hoch, nach einem Motorrad ausschau haltend und fügt hinzu, „dann können sie auch Marcel kennenlernen, der ist ganz nett“. Der Taxifahrer sieht nervöus die Straße hoch, „was? ‘nVerbrecher, der zu seiner bekloppten ausgebrochenen Freundin will? Oh, Gott“ und gibt Gas, daß die offene Tür von Emira zufällt. Sie wartet an der Straße und hört das Motorrad schon knattern, es nähert sich. Marcel wird jeden Augenblick hier in Oliver Droste 213 Irgendwo in Nirgendwo die Straße einbiegen. Emiras Herz schlägt schneller. Ein Polizeiwagen kommt von hinten und prescht die Straße hoch. Emira erschreckt sich und ruft hinterher, „nein, laßt Marcel endlich kommen“. Marcel wird so der Weg abgeschnitten. Es wird ihm nun zuviel und er versucht aus der Stadt zu entkommen. Es gelingt ihm. Emira geht nach längerem warten ins Haus und klingelt bei Bea. Die Tür geht öffnet sich. Bea sieht Emira verwundert an, erkennt sie und schreit, „Emira“, um ihr im nächsten Moment um den Hals zu fallen und zu weinen. Roland kommt angelaufen, um zu sehen, was sich da gerade abspielt, sieht Emira nicht weniger verwundert an und stottert, „Jannnine, du lebst wieder“ und bekommt einen feuchten Blick. Emira ist von neuem Lebensdrang erfüllt, der sich in neuen Tatendrang äußert, „ich habe Marcel gesehen, die Polizei verfolgt ihn“, sieht Bea an, „du hast doch noch den Scanner von deinem Bruder, oder? Laß uns hören, wo sie sind und zu Marcel fahren“. Bea holt den Scanner, sie laufen zum Auto und fahren los. Roland gibt Gas, Bea versucht auf der Rückbank den Scanner auf den Polizeikanal zu bringen, was ihr dann auch gelingt. Emira ruft aufgeregt und freudig, die Situation in der Marcel steckt misachtend, „wo sind sie jetzt?“ und rüttelt an den Vordersitzen. Roland sieht zu Bea und fragt, „kriegst du den Kanal rein?“. „Ich versuche es.“ Nach einiger Zeit hören sie das, was zu einer Verfolgungsfahrt paßt, „Verdächtiger fährt Richtung Oliver Droste 214 Irgendwo in Nirgendwo Eberhausen...“, dann Rauschen. Ratlosigkeit macht sich in Beas Gesicht breit. Roland ruft, „ich weiß, wo das ist“ und biegt in die nächste Straße ab. Marcel fährt in hoher Geschwindigkeit eine Landstraße entlang, im Rückspiegel zwei Polizeiwagen mit Blaulicht fahren. Vor ihm kommt die nächste Ortschaft. Eine alte Dame überquert die Straße mit einem Pekinesen an der Leine. Roland muß bremsen, kommt kurz vor ihr zum Stehen und blickt sich nach seinen Verfolgern um. Die alte Dame hat sich so sehr erschrocken, daß ihr implantierter Defibrilator anspringt. Oma schwankt, bekommt einen Ruck und springt wutentbrannt auf Marcel zu, schlägt mit ihrer Handtasche wild auf ihn ein, den Hund um sich wirbelnd. Er wendet mit einer Drehung am Gasgriff die Maschine, gibt Gas und donnert an der alten Dame vorbei; der Pekinese fletscht die Zähne. Die Polizeiwagen schließen auf, Marcel fährt vorne weg. Doch dann bremsen die Verfolger ab, Marcel biegt in die nächste Kurve, die er durch die hohe Geschwindigkeit nur mit Mühe schafft, doch vor ihm macht sich eine Straßensperre breit. Marcel muß eine Vollbremsung machen und stürzt. Einige Schaulustige stehen an der Straße, die Aktion der Polizei zu beobachten, die letzte Anweisung der polizeibeamten mißachtend. Marcel rutscht auf dem Asphalt und dreht sich, ein Polizist kommt angelaufen. Marcel springt wieder auf die Beine. Der Polizist fingert an seinem Koppel nach seiner Dienstpistole und ruft, „mach jetzt keinen Fehler“ Oliver Droste 215 Irgendwo in Nirgendwo und zieht seine Waffe vor Nervosität zitternd. Einen solchen Einsatz hat er hier auf dem Lande bisher noch nicht gehabt und möchte seine Sache gut machen. Marcel steht etwas unschlüssig da. Zwei Polizisten rufen hinter dem Wagen, „sei vorsichtig, der hat zwei Kollegen verprügelt, als sie ihn festnehmen wollten“. Der Polizist sieht sich kurz ängstlich um, seine Beine zittern und sagt zu Marcel, „los, Hände hoch. Marcel sieht ihn starr an, jede Konsequenz verachtend. Schweiß steht auf seiner Stirn. Hinter ihm hört man Martinshörner näher kommen. Marcel geht jetzt ruhig mit leicht erhobenen Händen auf den Polizisten zu, der nervöus, heiser schreit, „bleiben sie stehen, oder ich , äh...“. „Schieße“, fügt Marcel ihm in die Augen blickend an. „Ja, ja, genau“, stimmt ihm der Beamte zu und zittert nun auch mit den Händen. „Ziemlicher Gewissenskonflikt, was?“ fragt ihn Marcel. Die anderen Polizeibeamten verstecken sich mit gezogenen Waffen hinter ihren Autos; einer ruft, „mach was Kalle!“ „Was denn schreit dieser zurück und geht einen Schritt zurück, „bist du lebensmüde?“. „Vielleicht.“ ‚Falsche Antwort denkt der Wachtmeister‘. Marcel fügt hinzu, „freedom is just another word for nothing else to loose“. „Schieß doch!“, ruft der andere Polizist. „Stehenbleiben“, ruft dieser und schießt in die Luft. Marcel ist ziemlich nahe gekommen und sieht ihn etwas traurig an. Einer der verschanzten Polizisten schreit zu den Gaffern, hinüber, die den Bezug zur Wirklichkeit Oliver Droste 216 Irgendwo in Nirgendwo und zu der Gefahr verloren haben, „gehen sie verdammt noch mal in Deckung!“. Der Polizist mit der Waffe sieht nervös zu den Passanten. In diesem Augenblick macht Marcel eine katzenartige Bewegung, greift die Waffe und schlägt während einer Körperdrehung mit dem Ellenbogen in das Gesicht des Beamten. Dabei löst sich ein Schuß, ein Passant schreit auf, da er ins Bein getroffen wurde. Marcel hat die Waffe in der Hand, zeigt auf den Polizisten und zu den anderen, „die Waffen weg!“ und schwenkt seine Pistole von einem zum anderen. „Machen sie keinen Blödsinn, bis jetzt ist noch niemandem etwas passiert, ruft es hinter dem quer stehendem Polizeiwagen hervor. Der angeschossene Passant brüllt verärgert auf dem Gehweg liegen, „ich bin wohl niemand, was“. Der Polizist mit den erhobenen Händen, froh darüber nicht mehr über Leben und Tod entscheiden zu müssen, verärgert, in dieser Situation zu stecken, sagt verängstigt, „machen sie es nicht noch schlimmer“. Marcel sieht sich um, listet die Vergehen auf, die ihm zur Last gelegt werden und resumiert, „jetzt ist doch sowieso alles egal. Waffen weg!“. Die Polizisten lassen die Waffen zu Boden fallen. Marcel reißt das Motorrad hoch, wirft es an, schießt in die Luft und fährt los. Die beiden Polizisten springen zurück zu ihren Pistolen, ärgerlich darüber, versagt zu haben und schießen wild hinter Marcel her, der um die Kurve rast und der nächsten Nebenstraße verschwindet, um den verfolgenden Polizisten zu entkommen. Oliver Droste 217 Irgendwo in Nirgendwo Die Polizeibeamten stehen auf der Straße, die Schaulustigen drehen sich von ihnen weg, da sie eine enttäuschende Show gesehen haben, die nicht mit den Polizeiverfolgungsjagden amerikanischen Fernsehens zu vergleichen sind. Der eine Kollege dreht sich zu seinem immer noch waffenlosen Kollegen, „wie kann man nur so dämlich sein?“. Der andere ärgert sich, „so ein Mist, auf dem Schießstand bin ich doch der Beste“. „Im Ernstfall ist das eben was ganz anderes“, entschuldigt dieser sich. „Ich hab noch nie vorbeigeschossen“, verteidigt er sich. „Red doch nicht so’n Blödsinn“, weist der andere ihn zurecht. Roland, Bea und Emira werden blaß, als sie aus dem Scanner erfahren, daß es eine Schießerei gegeben hat und Marcel nun bewaffnet sei. Roland sagt entsetzt, „was macht er denn jetzt für Sachen, ist er denn total durchgeknallt?“. „Die werden doch Marcel nichts tun?“ fürchtet Emira. Bea sieht Roland gespannt an,“wie weit ist es noch?“. „Wir müssen gleich da sein. Da vorne sind Blaulichter! Da, auf dem Acker, seht doch, da fährt Marcel. Da, der Feldweg zur alten Burgruine hoch. Ich kenne den Weg“, biegt links ab und fährt einen anderen Feldweg hoch. Weiter hinten drehen die Polizeiwagen und fahren in einer Staubwolke hinter Marcel her. Die Sonne steht tief und wird langsam rot. Marcel rast in den Waldweg, fährt zwischen den Mauern der Burgruine in den Innenteil. Emira, Bea und Roland kommen knapp vor den Polizeiwagen an der Burg an. Emira springt noch vor dem Halten des Oliver Droste 218 Irgendwo in Nirgendwo Fahrzeugs heraus, dreht und überschlägt sich mehrmals, springt wieder auf die Beine, läuft, den eintreffenden Polizeiwagen noch gerade entkommend, in die Ruine. Zwei Polizisten greifen Bea und Roland, beim Verlassen des Wagens, so daß diese nicht folgen können, einer ruft, „sind sie verrückt, der Mann ist bewaffnet!“. Er hat Mühe, die sich währenden zu halten. „Es ist unser Freund! Lassen sie mich los, reist sich Roland los, um gleich wieder von weiter eintreffenden Polizeibeamten festgehalten und zu Boden geworfen zu werden. Weitere Polizisten laufen auf Weisung vorsichtig von Deckung zu Deckung auf den Eingang der Ruine zu. Emira kommt an den Platz, wo sie die Dichterlesung hatten. Sie sieht das Motorrad im Innenhof liegen und sucht Marcel. Ihr Blick schweift verwirrt hin und her, zurück zu den näher schleichenden Beamten. Sie fühlt die Zeit verrinnen, dann die Waffe Marcels, die sie aufhebt. Sie sieht Blut in ihren Händen, und das Blut der Vergangenheit schlägt mit Erinnerung Emira in den Nacken, daß sie ihre Sinne verliert. Vergangene Schreckensbilder kehren wieder lebhafter mit den Gefühlen dieser Zeit zurück, als wären sie nie gegangen und als werden sie auch nicht mehr gehen. Der Geruch von Blut steigt in ihre Nase und in ihren Kopf. Polizisten kommen hereingestürmt und verschanzen sich. Emira kann die Bilder in ihren Kopf nicht mehr von denen außerhalb auseinanderhalten. Sie sieht nur bewaffnete, uniformierte Männer, hört Oliver Droste 219 Irgendwo in Nirgendwo Befehlsrufe, hört längst verklungene Schreie. Sie sieht das Blut an der Pistole und an ihren Händen und schreit nach längst vergangenen Personen, die aus ihrer Erinnerung wieder herausgetreten sind. Marcel steht auf der Mauer, durch einen Schuß verletzt und hört Emiras Rufe und ihr Schreien. Es fällt ihm ebenfalls schwer dieses der Realität zuzuordnen. Rufe aus dem Jenseits ins Diesseits, oder ist er schon jenseits von Diesseits. Sein Blutverlust und sein Schmerz verhindern eine klare Warnehmung. Ihm läuft Schweiß in die Augen, wobei er doch friert. Ein Schwarzspecht mit roter Haube, also ein normaler Schwarzspecht springt von Chinesenbart zu Chinesenbart und lacht höhnisch in der Ferne über das Treiben. Marcel sieht von der Mauer zu den Polizisten herunter und an der Burgruine Schaulustige kommen. Ein Mann von der Presse, von umsichtigen Passanten informiert, fotografiert von einem Baum aus. Polizisten schreien irgendwelche Anweisungen herum und tasten sich zu ihren Deckungen vor. Einige jüngere Polizisten blühen auf in ihrem Räuber und Gendarm Spiel; endlich werden sie gefordert, endlich passiert etwas in ihrem Alltagstrott, wovon sie noch ihren Kindern erzählen können. Marcel sieht sich auf der Mauer stehend sein Publikum an. Das Lagerfeuer brennt in der Tiefe vor ihm, wie ein Scheiterhaufen, auf dem eine schwarzhaarige Hexe steht. Marcel wankt im Rausche seiner Verletzung hin und her und grüßt die Beamten so, wie er seine Oliver Droste 220 Irgendwo in Nirgendwo Dichterfreunde immer grüßte, „Salve Cäsar, morituri te salutant! Ich bin der Drachentöter den ihr jagt“ und hebt mit trübem, augenlidzuckendem Blick an zu seinem Monolog, „ich weiß mein Tag wird kommen, mein Tag, den ich bemale mit meinen Lebensfarben. - Ich bin so schwer, mit gebrochenem Flügel an meiner müden Schulter. - An meinen Tag gelehnt, mein alter Freund der Engel. - In den Himmel bleich Blut spuckend“ und zeigt auf den Sonnenuntergang, „erzeugt er wirre Idylle. - Engel steh auf, laß dich nicht hängen! Wer hängt schon Engel auf, - wenn sie fliegen können, ohne ihnen zuvor die Flügel zu brechen? - Engel, schau“, er macht eine ausholende Bewegung, „in meine wunderbaren blauen Augen, - morgen früh werden sie in Monde ergrauen. –„ Dann mit monotonem Ton in der zitternden Stimme, „ein Lachen viel herab, ich hob es auf, doch der Verlierer wollte es nicht haben - und schoß mir in den Bauch.“ Die Polizisten werden langsam unruhig, Emira hat immer noch die Waffe in der Hand, durchs Megafon werden sie aufgefordert ihre Waffen wegzuwerfen, „Waffen weg, ihr habt keine Chance, ihr seid umstellt, seid vernünftig“. Marcel sieht von der Mauer in den Innenhof,meint Emiras Stimme zu erkennen, und fragt kraftlos, „Emira bist du das?“. Er hört nur wilde Rufe kratziger Männerstimmen und Emiras Rufen, flehen und Schreien. Marcel ist es ziemlich schwindelig und will der Realität auf die Schliche kommen, wo sie nun wohl schleiche. Oliver Droste 221 Irgendwo in Nirgendwo Emira sieht mit weit aufgerissenen, flackernden Augen in das Chaos um sie herum und aus ihr heraus. Rote Ballettänzer springen in dem Durcheinander durcheinander, als tanzten sie Prokofievs ‚Tanz der Ritter‘. Ihre schreiende Schwester wird verschleppt, an den Haaren in eine männerumringte Ecke gezerrt. Fürchterliche, entsetzliche Schreie der Todesangst zerreißen ihr Gehör, verwirren ihren Geist, der aus diesem Chaos zu entschwinden sucht, aber nicht kann, da er an Körperliches gebunden ist. Er rüttelt sich und schüttelt sie, wie ein erstickender im Todeskampf. Emira sieht das Blut an den Händen, hört das gurgelnde Ersticken ihres halsdurchschnittenen Vaters, sieht ihn in einer Blutlache wälzend, dann nur noch zuckend, um schließlich im Zittern den Ort des Wahnsinns zu verlassen. Seine aufgerissenen Augen starren in ihre, - nein, es sind ihre Augen. Nun reißt sie diese von der Pistole und jene auch noch hoch, um auf die Polizisten zu feuern: ein Schuß, zwei Schuß, der dritte trifft. Ein uniformierter, bewaffneter Mann fällt stöhnend zu Boden. Emira rennt weiter in den inneren Bereich der alten Burg, unter wilden Schüssen der erschrockenen Männer, die sie jedoch, nervöus und ungezielt abgefeuert, verfehlen. Emira lacht, „ha, ha, ihr habt nicht gedacht, daß ich auch eine Waffe habe; ich werde euch Schweine alle töten“. Sie ist dieses Mal nicht wehrlos und fühlt sich stark. Oliver Droste 222 Irgendwo in Nirgendwo Marcel steigt von der Mauer, torkelt aus dem Innern heraus und sieht Emira dort stehen, verwundert, verwundet und ruft schwach, „Emira, bist du es wirklich? Emira?“und kann sich kaum auf den Beinen halte. Er weiß nicht mehr, ob er seinen morschen Sinnen noch trauen kann. Emira sieht eine schwarze, jämmerliche Gestalt dort stehen, schwarz und bedrohlich, mit schwarzen Flügeln, diese aber nur schemenhaft. Marcel erkennt, nocheinmal erwacht, wie ein Sterbender vor seinem Tod, „Emira, du lebst?“, flüstert, „jetzt wird alles gut, egal, wo wir jetzt sind“, womit er wohl seinen geschwächten Bewußtseinszustand gemeint hatte. Emira hört diese sehnsüchtigen Worte mit den Ohren des Grauens, das sie eingeholt hat und antwortet ironisch, „auf dich habe ich gewartet, dich habe ich gesucht, mein schwarzer Dämon. Endlich bist du da“. Marcel versteht nicht ganz, was sie meint, freut sich über ihre Rückkehr aus dem Jenseits des Komas, aber zurückgekehrt ins Diesseits der Vergangenheit, irgendwo in Nirgendwo. Er breitet die Arme aus und geht auf Emira zu, mit einem Lächeln im Gesicht, das er aufhob aus dem Staub der Erwartung eines sich erfüllenden Traums. Emira sieht ihn an, hebt ihren Arm und schießt ihm in den Bauch. Marcel lächelt, wackelt, zittert und fragt, „Emira, was ist passiert“. Sie schießt ein zweites Mal und lacht, „es ist alles in Ordnung, komm nur zu mir“. Marcel blutet aus der Nase, sieht an sich herunter, sieht die dritte Wunde bluten. Oliver Droste 223 Irgendwo in Nirgendwo Emira geht weiter auf ihn zu und lacht lauter, bleibt zwei Meter vor Marcel stehen und schießt ihm in den Kopf, so daß sein Hinterkopf weggesprengt wird, wie ein Regenbogen im Sonnenuntergang, sprüht eine Wolke heraus. Er fällt schlagartig zu Boden, wobei sein Hinterkopfrest platschend aufschlägt und seine Nerven ein leichtes Zucken über seinen Körper legen. Emira feuert das Magazin leer, „willst du denn nicht endlich sterben?“. Vor ihr liegt ein toter schwarzer Engel, blaue Ballettänzer schweben heraus und tanzen mit den roten durch die Burgruine. Oliver Droste 224 Irgendwo in Nirgendwo XXVII Der Nebelgesang Letzter Auftritt: Geschlossene Abteilung der Psychatrie, Emira in einer ausgepolsterten Zelle, lachend, Marcels Hand streichelnd. Ein Tag geht wundend in die Nacht, zieht den Dämmerschleier wie Nebelwogen über ihr Gesicht, wo Marcels warmer Atem wacht. Der erste Stern zwinkert sein Sonnenlachen funkelnd in ihre blauegrünen Seen, tief ins Herz dunkelnd, wo Gedankenbäume stehen, weit ausladend in den Kronen. Unser Besuch dort hat sich gelohnt, in ihrem Nirgendort. Paradiesvögel sitzen auf den Ästen, prächtig Farben sprießend, stumm – „Ich hab’ doch gesagt, es wird wieder alles gut“ lacht sie Marcel an; sie lacht, lacht lauter, lacht schreiend. Dort spielt sie nun, ein Kind, das den Vögeln ihre Lieder vorsingt, hoffend, der Wind blase sie dann durch ihr Gefieder, sie in ihre Traumweiten zu begleiten. So oft warf die Nacht sie fort, so oft war sie in ihrdort, wo ihr ihr Farbenschöpferworet gehört, was sie sich erzählt und niemand hört, denn nur sie ist dort Wort, dem Paradiesvogelabort, wo Gedankenblasen fährt ihr ins Gefieder. Oliver Droste 225 Irgendwo in Nirgendwo Oliver Droste 226