Religionen für mündige Menschen

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Gisbert König
Religionen für mündige Menschen
Tz.
S.
Einleitung
2
Teil 1 Religion der Seele versus Religionen des Ich
3
Religionsbegriff
Religion der Seele
Religionen des Ich, insbesondere Offenbarungsreligionen
Keine Offenbarung der Offenbarungsreligionen
1
2
3-8
9-13
Teil 2 Religionen der Erkenntnis
Karl Jaspers
Anhang: Der Gottesgedanke
Dalai Lama
9
14-19
20-21
22-26
Teil 3 Darstellung der eigenen Position
Bestandteile einer Religion
Ethische Grundsätze
Natürliche Glaubensgrundsätze
Übernatürliche Glaubensgrundsätze
Einleitung
Eigene Glaubensgrundsätze
Kein Glaube an die Existenz eines Schöpfergottes
Kein Glaube an ein Leben nach dem Tode
Spiritismus
Übernatürliche Glaubensgrundsätze, Alternative
Namensgebung
Religionsrating
Quintessenz
3
4
4
7
9
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14
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31-33
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52
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18
22
22
23
24
26
26
27
30
30
33
Literaturverzeichnis
37
Anlage: Georg Steiner zum Problem der Theodizee
40
2
Einleitung
"Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines
anderen zu bedienen. ... Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer
Teil der Menschheit ... gerne zeitlebens unmündig bleibt und warum es anderen so leicht
wird, sich zu deren Vormünder aufzuwerfen. Es ist so bequem unmündig zu sein. ...
Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, sich aus der Unmündigkeit
herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ (Immanuel Kant). Im
Umkehrschluss kann man Menschen als mündig bezeichnen, wenn sie bereit sind, immer
wieder die Zeit und die Energie aufzubringen, zu den wichtigen Fragen des Lebens durch
Denkarbeit und kritische Auseinandersetzung mit den respektablen Auffassungen
Anderer eigene Überzeugungen zu erarbeiten und danach ihr Leben auszurichten, auch
wenn dieses Mut erfordert. Es gibt Menschen, die zwar im übrigen Leben durchaus
autonom handeln, darunter auch Führungspersönlichkeiten, die jedoch in religiöser
Hinsicht gedankenlos und unkritisch, nicht selten sogar buchstabengetreu, religiösen
Schriften folgen, die vor Jahrtausenden unter völlig anderen gesellschaftlichen
Verhältnissen entstanden und auch damals bereits in erster Linie die persönliche
Meinung und die Gedanken ihrer jeweiligen Verfasser wiedergaben, und sich willig von
mitunter engstirnigen und rückwärtsgewandten Religionsfunktionären leiten lassen.
Die meisten Menschen werden in eine organisierte Religion hineingeboren. Als Kinder
stellen sie sie kaum jemals in Frage. Wenn sie aber erwachsen geworden sind, ist es an
der Zeit, sich kritisch mit der zunächst reflektionslos übernommenen Religion
auseinander zu setzen. Dieses gelingt am besten, wenn man versucht, eine Position
außerhalb dieser Religion einzunehmen, sich mit ihr also wie ein unvoreingenommener
Außenstehender zu befassen, so wie man es eo ipso mit anderen Religionen und
religiösen Vorstellungen macht. Das Ergebnis könnte sein, dass man bei seiner
Kindheitsreligion bleibt, entweder in allen Einzelheiten, die die maßgebenden
Religionsfunktionäre unterrichten, oder mit individuellen Abwandlungen, dass man zu
einer anderen (organisierten) Religion übertritt, ohne oder mit Abwandlungen, oder
seine eigene Religion entwickelt. Im erstgenannten Fall (Beibehaltung ohne
Änderungen) unterscheidet man sich von den Kindern und den unmündigen
Erwachsenen dadurch, dass man nicht aus Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit in der
durch die Eltern vorbestimmten Religion verharrt, sondern weil man sich selbst diese
Religion neu erarbeitet hat und sich aufgrund dessen voll und bewusst mit ihr
identifiziert. Indessen halte ich diesen Fall eher für unwahrscheinlich. Ein mündiger
Katholik z. B. würde wahrscheinlich nicht an die „unbefleckte“ Empfängnis und die
Himmelfahrt Mariens glauben wollen, desgleichen nicht an die Unfehlbarkeit der Päpste
und würde wohl kaum die Einstellung der Kurie zu Fragen der Sexualität und der
Geburtenkontrolle übernehmen.
Nach Auffassung des Dalai Lama benötigen wir eine Vielzahl von Religionen; im
Grunde genommen brauche jeder Mensch seine eigene Religion, und zwar eine
solche, die seiner geistigen Veranlagung, seiner natürlichen Neigung und seinem
kulturellen Hintergrund am besten entspricht.
Auf der gleichen Linie liegt Hermann Hesse. Bei der Suche nach dem für ihn richtigen
spirituellen Pfad begegnet Siddhartha mit seinem Freund Govinda Buddha. Nachdem sie
3
ihn gehört haben, reiht sich Govinda in die Schar seiner Anhänger ein. Siddhartha glaubt
in Buddhas Lehre einen Widerspruch zu erkennen, der ihn veranlasst, weiterhin nach
seinem Weg zu suchen. Buddha verabschiedet ihn mit den Worten: “Mögest du ans Ziel
kommen.“ Das Gleiche wünscht Siddharta den Jüngern des Buddha und fügt hinzu:
“Nicht steht mir zu, über eines anderen Leben zu urteilen! Einzig für mich, für mich
allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen.“ Jahrzehnte später
begegnen sich Siddharta und Govinda wieder. Jeder ist seinen Weg gegangen. Siddharta
hat sein Ziel gefunden, Govinda (noch) nicht. Er fragt seinen Freund: „Hast du eine
Lehre? Hast du einen Glauben oder ein Wissen, dem du folgst, das dir leben
und recht tun hilft?“ Siddharta muss ihn enttäuschen: „Ich habe Gedanken gehabt, ja,
und Erkenntnisse, je und je. Ich habe manchmal Wissen in mir gefühlt, so wie man
Leben in seinem Herzen fühlt. Manche Gedanken waren es, aber schwer wäre es für
mich, sie dir mitzuteilen. ... Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser
mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.“
Jeder muss also seinen Weg selbst finden, ungeachtet der Tatsache, dass es Menschen
gibt, von denen er lernen kann, meist jedoch, ohne von ihnen Unterweisungen zu
erhalten.
In der folgenden Abhandlung setze ich mich mit verschiedenen Religionen auseinander,
und zwar mit der Religion der Seele, den Religionen des Ich (hierzu gehören auch die
Offenbarungsreligionen) und den Religionen der Erkenntnis, und entwickle dabei auf
philosophischer Grundlage eine Religion für mich selbst. Diese hält die Existenz eines
Schöpfergottes eher für unwahrscheinlich. Gleichwohl habe ich mir die Frage gestellt,
was ich in Ansehung Gottes glauben würde oder könnte, wenn ich zu einem späteren
Zeitpunkt hinsichtlich der Existenz eines Schöpfergottes zu der gegenteiligen Auffassung
gelangen sollte. So sind zwei Religionen entstanden, die teilweise, insbesondere in
Fragen der Ethik, deckungsgleich sind, sich aber in der Frage der Existenz Gottes und
eines Lebens nach dem Tode voneinander unterscheiden. Die Bedeutung dieses
zunächst möglicherweise groß erscheinenden Unterschieds relativiert sich, wenn man die
Auffassung von Hirsi Ali teilt: “Religion ist die Art, wie wir uns anderen gegenüber
verhalten.“
In Teil 1 stelle ich die Religion der Seele den Religionen des Ich gegenüber, in Teil 2
befasse ich mich mit Religionen der (philosophischen) Erkenntnis. In einem dritten Teil
entwickle ich unter Bezug auf Gedanken der beiden ersten Teile die erwähnten neuen
Religionen. Am Ende folgt ein Literaturverzeichnis. Wer vorab wissen möchte, zu
welchen Ergebnissen ich gelangt bin, kann die letzten Seiten (Tz. 59: Quintessenz)
zuerst lesen.
Teil 1
Religion der Seele (natürliche Religion) versus Religionen des Ich
Religionsbegriff
(1) Der Begriff Religion kommt vom lateinischen religere, d. h. sorgsam beachten. Was
soll sorgsam beachtet werden? Herkömmlicher Weise die Lehren der jeweiligen
4
Religionsstifter oder wesentlichen Veränderer, z. B. Echnaton, Moses, Buddha, Paulus,
Mohammed (weiterführend Abschnitt 27).
Religion der Seele
(2) Nach Bert Hellinger ( „Die Mitte fühlt sich leicht an“, Kapitel Psychotherapie und
Religion) geht es bei der Religion darum, die uns umgebende erfahrbare Wirklichkeit zu
beachten, die Wirklichkeit wie sie sich zeigt und wie sie sich wandelt mit der Zeit. Diese
Wirklichkeit, so Hellinger, berge für uns Geheimnisse, z. B. das Geheimnis des Lebens
und Vergehens. In dieser Wirklichkeit sähen wir uns auch von Kräften abhängig, deren
Wirken für uns geheimnisvoll bleibt. Im Angesicht solcher Erfahrungen eine Haltung der
Ehrfurcht oder der Demut oder der Andacht vor etwas Geheimnisvollem, das man nicht
versteht, einzunehmen, bezeichnet Hellinger als „Religion der Seele“. Diese religiöse
Haltung sei ohne Anspruch, im Einklang und in Frieden. Sie habe zu tun mit der allen
Menschen gemeinsamen Erfahrung der Welt und der Grenzen, die sie uns setzt. Sie sei
Zustimmung zu den Grenzen, die uns die erfahrbare Wirklichkeit setzt, ohne sie
aufheben oder überschreiten zu wollen. Weil diese religiöse Haltung jedem auf gleiche
Weise zugänglich sei, könne man sie auch „Natürliche Religion“ nennen. Deshalb
verbinde die Religion der Seele bzw. die Natürliche Religion, wo andere Religionen
trennen. Die beschriebene religiöse Haltung sei eine persönliche Leistung. Im Gegensatz
zu den anderen Religionen gebe es hier keine Überlegenheit gegenüber den anderen,
keine Machtansprüche und keine Propaganda. Hier sei jeder einzeln.
Religionen des Ich, insbesondere Offenbarungsreligionen
(3) „Religionen des Ich“ nennt Hellinger die Religionen, die versuchen, die Wirklichkeit
hinter den Erscheinungen in den Griff zu bekommen, sie zu beeinflussen und sich
dienstbar zu machen, z. B. durch Riten, Opfer, Sühne, Gebet. Zu diesen Religionen
rechnet er zunächst die archaischen Religionen, die in einer Zeit entstanden, als der
Mensch sich noch in jeder Hinsicht als abhängig erfuhr und dann versuchte, das
Unheimliche und Gefährliche mit magischen Mitteln und Riten zu bannen. Aus dieser
archaischen Tiefe der Seele komme das Bedürfnis nach Opfer, nach Beschwichtigung,
nach Sühne, nach Einflussnahme.
Diese archaischen Religionen sind auch heute noch bei bestimmten Naturvölkern
anzutreffen, z. B. in Afrika und in Südamerika, teils vermischt mit Elementen der
Offenbarungsreligionen. Diese bilden die zweite Gruppe der Religionen des Ich.
Auch Ludger Lütkehaus verwendet hierfür diesen Begriff, indem er vom Monotheismus
des Ichs spricht ("Nichts", S. 644, 664).
Hellinger: „Offenbarungsreligionen sind Religionen, die auf einen Menschen
zurückgehen, der anderen gesagt hat, er habe von Gott eine Offenbarung erhalten, und
der auffordert, oft unter Androhung der ewigen Verdammnis, seine Offenbarung zu
glauben. Die Offenbarungsreligionen - für uns vor allem das Christentum - sind
gleichsam der Gipfel einer Religion des Ich. Nicht nur ist der Gott, von dem gesagt wird,
er habe sich offenbart, ein Ich, mit allen Eigenschaften eines Ich. Auch der Offenbarer
spricht als ein Ich, das von anderen verlangt, dass sie ihr Ich seinem Ich unterwerfen.
Doch wenn wir uns den Vorgang auch hier unbefangen anschauen, stellen wir fest, dass
der Offenbarer nur von sich redet und der Glaube, den er fordert, letztlich ein Glaube an
5
ihn ist. Damit behauptet er zugleich, dass Gott niemand anderem eine ähnliche
Offenbarung zukommen lassen wird, dass alle Anderen daher von einer ähnlichen
Offenbarung ausgeschlossen sind, und dass Gott selbst sich dieser Offenbarung für alle
Zeiten fügt. Der Offenbarer erhebt sich also durch seine Offenbarung nicht nur über
seine Anhänger, sondern auch über den von ihm verkündeten Gott.“ (S. 221 f) ...“Dieser
Gott wird ausgestattet mit den Eigenschaften, Absichten und Gefühlen, wie wir sie aus
der Erfahrung mit Königen und Herrschern kennen. Daher ist dieser Gott oben und wir
sind unten. Daher unterstellen wir ihm, dass er auf seine Ehre bedacht ist und beleidigt
werden kann und dass er zu Gericht sitzt, belohnt und bestraft, je nachdem, wie wir uns
ihm gegenüber verhalten. Wie ein idealer Herrscher hat er auch gerecht zu sein und
wohltätig und uns zu beschützen gegen Unbilden und gegen unsere Feinde. Wie ein
König hat auch er einen Hofstaat, die Engel und die Heiligen. Viele hoffen, als seine
Auserwählten diesem Hofstaat einmal anzugehören.“ (S. 227)
(4) Die Offenbarungsreligionen verbinden mit dem Glauben eine Morallehre, im
Christentum insbesondere das Gebot der Nächstenliebe und die auf Moses
zurückgehenden Gebote. Hier sei der Hinweis auf Alexander und Margarete Mitscherlich
gestattet, die 1967 in ihrem gemeinsamen Buch "Die Unfähigkeit zu Trauern, Grundlagen
kollektiven Verhaltens" festgestellt haben, dass es nicht nur eine Moral gibt, sondern
viele Moralen und dass die Menschheit sich noch zu keiner Zeit auf eine einheitliche
Moral hat verständigen können, nicht einmal auf einzelne Verhaltensweisen, z. B. das
Gebot: „Du sollst nicht töten.“ (Selbst die katholische Kirche hat dieses Gebot häufig
außer Kraft gesetzt, insbesondere zu Zeiten der Inquisition und des Hexenwahns und bei
ihren gewalttätigen Missionierungen in Südamerika.) Dieses sollten auch die
Offenbarungsreligionen anerkennen und aufhören, ihre jeweiligen Moralvorstellungen zu
propagieren und anderen als überlegen darzustellen. Dieses wäre ein Stück Anerkennung
der uns umgebenden Wirklichkeit.
(5) Es soll nicht verkannt werden, dass die Religionen des Ich zahlreichen Menschen
etwas geben, vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, aber auch Halt
und Trost. Für viele ist auch nicht möglich, die angestammte Religion zu verlassen, ohne
aus der Familie oder der Volksgruppe, der sie angehören, verstoßen oder isoliert oder
sogar umgebracht zu werden (Hinweis auf den Fall Kamariah Ali, einer Lehrerin aus
Malaysia, die nicht länger Mohammedanerin sein wollte, obwohl alle Malayen lt.
Verfassung von Geburt an Mohammedaner sind sowie den Ende März 2006 durch die
Weltpresse gegangenen Fall Abdul Rahman, einem in Deutschland zum Christentum
übergetretenen Afghanen, der nach Rückkehr in seine Heimat von einem Schariahgericht
vor die Wahl gestellt wurde, entweder zum Islam zurückzukehren oder hingerichtet zu
werden!). Darüber hinaus ist für zahlreiche Menschen, vor allem in den
Entwicklungsländern, das Leben so beschwerlich und leidvoll, dass sie ohne eine tiefe
Gläubigkeit und vor allem ohne den Glauben an ein besseres Jenseits zu Grunde gehen
würden.
Dieses gilt auch für unterprivilegierte Minderheiten in einigermaßen entwickelten
Ländern, z. B. für die Indios in Südamerika, deren Glaube durch eine besonders
inbrünstige Hinwendung zur Gottesmutter gekennzeichnet ist. Die Religion der Seele
respektiert ihren Glauben und ihr religiöses Leben. Sie erwartet aber von den Religionen
des Ich, dass sie sich untereinander und auch die Religion der Seele des Einzelnen
respektieren, also auf Machtansprüche und Propaganda (Missionierung) verzichten.
6
Diese Erwartungshaltung in bezug auf die Religionen des Ich dürfte allerdings wenig
realistisch sein. Der von Hellinger verlangte „Reinigungsprozess“ dieser Religionen findet
jedenfalls nicht generell sondern allenfalls bei einzelnen Mitgliedern dieser Religionen
statt.
(6) Papst Johannes Paul II. hat einmal dem Buddhismus seine Eigenschaft als Religion
abgesprochen, weil ihm der Glaube an einen personifizierten Gott fehle. Nach heftiger
Kritik der Buddhisten hat er diese Einschätzung wieder zurückgenommen. Auch die
Religion der Seele bzw. die Natürliche Religion ist kein Glaube, erst recht kein Glaube an
ein überirdisches Wesen. In seiner Rede in Krakau am 18. August 2002 beklagte der
Papst die „Ungläubigkeit in unserer Zeit.“ Mit Glauben dürfte er den Glauben an die
Existenz Gottes gemeint haben. Folge der Ungläubigkeit sei „Angst vor der Zukunft, vor
Leiden, Leere und Zerstörung.“ Mir erscheint es fraglich, ob die erwähnten Ängste vor
gläubigen Katholiken halt machen. Auch solche Menschen werden erfahrungsgemäß von
Unglücken, Krankheit und Not, von Naturkatastrophen und Kriegen heimgesucht. Sogar
katholische Kirchen bleiben bei solchen Ereignissen nicht verschont, ebenso wenig wie
Synagogen und Moscheen. Den einzigen Vorteil des Glaubens sehe ich in der Hoffnung
auf ein Jenseits, in dem es keine Angst gibt und in dem man vollkommen glücklich ist,
eine Hoffung, die einen die Mühsal des irdischen Lebens besser ertragen lässt, dieses
aber nur, wenn der Glaube an ein solches Jenseits unerschütterlich ist. Ein Glaubender
sollte sich stets dessen bewusst sein, das sein Glaube nicht auf Wissen beruht und daher
auch falsch sein kann, zumal er bei einem Blick in die Welt sieht, dass es noch andere
Glaubenslehren gibt und jede von sich selbst lediglich annehmen kann, die richtige zu
sein.
(7) Die Offenbarungsreligionen stellen ihren Gott dar als eine Persönlichkeit, die nie
einen Anfang hatte und nie ein Ende haben wird, die also seit ewigen Zeiten existiert
und in alle Ewigkeit existieren wird, zudem als eine Persönlichkeit, die allein Kraft ihres
Wollens, gewissermaßen durch Reiben mit einem Seidentuch an einem Zauberstab, das
Weltall und später das Leben auf der Erde und vielleicht auch auf anderen Planeten
geschaffen hat, eine Persönlichkeit, die allwissend ist in bezug auf Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft und die das Leben und die Handlungen eines jeden Lebewesens
und sogar die Gedanken der Menschen aller Zeiten registriert und speichert. Es liegt auf
der Hand, dass eine solche Persönlichkeit dem menschlichen Verstand nicht zugänglich
ist. Diese Auffassung vertritt auch der mittelalterliche Kirchenlehrer Nicolaus Cusanus
(1401-1464). Nach seiner Auffassung kann ein Mensch nicht über den Verstand zum
Glauben gelangen. Wer sich auch nur, wenn auch noch zweifelnd, mit dem Glauben
befasse, müsse schon vom Bazillus des Glaubens infiziert sein. Daraus folgt, dass kein
Mensch sich mit seinem Verstand dafür entscheiden kann, die Lehren einer Religion des
Ich zu glauben. Ähnlich hat sich hat sich der dänische Philosoph Sören Kierkegaard
(1813-1855) geäußert: „Es ist ein Sprung, durch den der Einzelne zum Glauben kommt,
ein Sprung in den Bereich jenseits aller Vernunft, ins Absurde und Paradoxe. "Ich
wage die Behauptung, dass sich die These von Nikolaus Cusanus umkehren lässt: Ein
Nichtglaubender kann zwar nicht über den Verstand zum Glauben gelangen, wohl kann
ein Glaubender über den Verstand dazu kommen, seinen Glauben aufzugeben.
Diejenigen, die sich zu einer der Religionen des Ich bekennen, wurden zum weitaus
überwiegenden Teil in diese Religionen hineingeboren. Sie setzen, vielfach unter
staatlichem Schutz, Gewohnheiten fort. Ein kleiner Teil mag von der einen dieser
7
Religionen zur anderen übergetreten sein. Dass jemand, der ohne Glauben
aufgewachsen ist, später eine der Religionen des Ich annimmt, dürfte eher selten
vorkommen.´.
(8) Rupert Lay, Jesuit, Hochschullehrer und Autor, beklagte in einem Vortrag, dass kaum
ein Christ seine Religion reflektiere, vielmehr fast alle gedankenlos und kritiklos alles
nachplapperten, was die religiösen Vorturner ihnen vorsprächen oder vorschrieben.
Dieses gilt wohl auch für die Angehörigen der anderen Religionen des Ich. Als ein
Beispiel nannte Lay die Bitte des Vater unser: “Führe uns nicht in Versuchung.“ Welch
ärmliches Gottesbild spricht hieraus, das Bild eines Gottes, oder ist es eher ein Götze,
dem es Spaß macht, die Menschen zu verführen, und den diese immer wieder bitten
müssen, solche Späße auf ihre Kosten gefälligst zu unterlassen! Nach Lay handelt es sich
hier offenbar um einen Fehler in der Übersetzung aus dem Aramäischen ins Griechische.
Die richtige Übersetzung laute etwa: “Und lass uns der Versuchung nicht erliegen“.
Dieser Text macht Sinn. 2007 haben die italienischen Bischöfe den Vers geändert; er
lautet dort nun (ins Deutsche übersetzt): "Und lass uns nicht der Versuchung
anheimfallen." So wird er nunmehr auch im Tessin gebetet.
Keine Offenbarung der Offenbarungsreligionen
(9) Die Botschaft der Begründer der Offenbarungsreligionen erscheint mir unaufrichtig:
Ich bin überzeugt davon, dass sie den von ihnen behaupteten Gott nie gesehen sondern
ihn erdacht haben. Sie haben dann Gott in jeder erdenklichen Weise individualisiert und
seine Persönlichkeit ausgeschmückt (ein Bild gemacht), ihm einen Lebenslauf gegeben,
ein Reich und zahlreiche Diener. Am Ende kreieren sie ein mehr oder weniger
umfangreiches Gesetzeswerk, das sie ihrem Gott als seinen Willen unterstellen. Nachdem
sie damit fertig sind, „verkaufen“ sie dieses Produkt ihrer eigenen Gedanken ihren
Mitmenschen als Offenbarung, wohl aus der Furcht heraus, andernfalls kaum Anhänger
gewinnen zu können. Sie behaupten, der von ihnen erdachte Gott sei ihnen, und zwar
ihnen allein, leibhaftig erschienen, er (oder sein Erzengel) habe mit ihnen gesprochen,
sie unterwiesen und sie beauftragt, diese Lehre zu verbreiten. Während die vom
„Offenbarer“ gewonnen Anhänger (lediglich) glauben, ist der Offenbarer der einzige, der
über konkretes Wissen verfügt, das Wissen nämlich, dass sich ihm kein höheres Wesen
offenbart sondern er alles selbst erdacht hat. Jede Religion – wie könnte es auch anders
sein- wurde von einem oder mehreren Menschen erdacht und kann damit ohne
irgendwelche Tabuverletzungen geändert, insbesondere veränderten
Lebensbedingungen angepasst werden.
Die vorstehenden Ausführungen werden nicht dadurch entkräftet, dass Jehova und Allah
bereits vor den Offenbarungen Moses` bzw. Mohammeds erdacht waren und als
Gottheiten verehrt wurden. Der Glaube der Juden an Jehova vor der Offenbarung durch
Moses war so flüchtig, dass sie während Moses` Abwesenheit den Glauben an Jehova
aufgaben. Allah führte, bevor ihn Mohammed zum Objekt seiner Offenbarung machte,
eher ein Schattendasein in einer kleinen Stammesgemeinschaft.
(10) Wenn die behaupteten Offenbarungen wirklich stattgefunden hätten, hätte es im
Interesse Gottes gelegen, den Empfängern der Offenbarungen, im wesentlichen Moses,
Mohammed und Joseph Smith (Begründer der mormonischen Religion im 19.Jh.), für die
Menschen, denen sie die Offenbarungen verkünden sollten, Beweise mitzugeben. So
8
hätte er dem Moses Gesetzestafeln mitgeben können aus einem auf der Erde und auch
sonst im Universum nicht vorkommenden Material, graviert in einer auch mit heutiger
Technik nicht nachahmbaren Weise. Diesen hätte er die Eigenschaft der Unverlierbarkeit
und Unzerstörbarkeit beilegen können. In Anknüpfung an die Darstellung der
angeblichen Himmelfahrt Christi im NT, an deren Anschluss ein jeder einen Engel in
seiner Sprache reden gehört haben soll, hätten die Tafeln die weitere Eigenschaft haben
können, dass sie –auch heute noch- ein jeder in seiner Sprache mit den dazugehörigen
Schriftzeichen lesen könnte, eine Kleinigkeit für einen allmächtigen Gott. Moses hat sich
nicht einmal bemüht, auch nur den kleinsten Beleg für seine angebliche
Gottesbegegnung vorzuweisen, von einem belastbaren Beweis gar nicht zu reden. Er hat
die vermeintliche Offenbarung lediglich behauptet und leichtgläubige Anhänger
gefunden. Genau so hielt es Mohammed mit seinen angeblichen Offenbarungen durch
den Erzengel Gabriel oder Allah selbst, darunter auch Offenbarungen, die allein ihm
persönlich zu Gute kamen: „Er verliebte sich in Aischa, die neunjährige Tochter seines
besten Freundes. Ihr Vater sagte `Warte doch bitte, bis sie in der Pubertät ist´, doch
was geschieht? Er bekommt von Allah die Botschaft, dass sich Aischa für Mohammed
bereit machen soll.“ (Ayaan Hirsi Ali, Ich klage an, S. 80) Smith will von einem Engel auf
goldenen Tafeln das Buch Mormon überreicht bekommen haben, als letzte und
endgültige Offenbarung. Dieses hatte übrigens bereits Mohammed für sich in Anspruch
genommen. Unglücklicherweise hat er nach Fertigung einer Übersetzung vom
Ägyptischen ins Englische die Tafeln dem Engel wieder zurückgegeben. Er hätte sie ja
leicht vorher der Öffentlichkeit präsentieren, sie von Ägyptologen untersuchen lassen
und die Rückgabe an den Engel unter Zeugen vornehmen können. Hier wurde eine
grandiose Gelegenheit für einen echten Gottesbeweis, dazu noch in der Neuzeit, vertan,
zu dumm aber auch.
(11) Die Behauptung einer Offenbarung ist also nur ein geschicktes Marketingargument
zur besseren Verbreitung der Religionen, die sich die „Offenbarer“ ausgedacht haben.
Das selbe gilt für das „Sola-fide-Argument“, wonach nur derjenige die ewige Seligkeit
erlangen könne, der exakt das glaubt, was die Begründer der jeweiligen Religionen bzw.
die nachfolgenden Funktionäre zu glauben vorgeben. Gute Werke allein reichen nicht
aus. Durch Angst Machen sollen also Anhänger bei der Stange gehalten und neue
gewonnen werden. Dieses spricht nicht gerade für die Überzeugungskraft dieser
Religionen.
(12) Die Lehre des „Offenbarers“ muss nicht schlecht sein, sie könnte in ihren
grundsätzlichen Aussagen (zufällig) sogar wahr sein. Dennoch bliebe sie mit dem Makel
behaftet, dass sie auf unredliche Weise in den Handel gebracht wurde. Offensichtlich
messen die heutigen Repräsentanten der Offenbarungsreligionen ihren Lehren aus sich
heraus so wenig Überzeugungskraft zu, dass sie deren Zusammenbruch befürchten,
wenn sie die beschriebenen zweifelhaften Umstände ihrer Entstehung heute kundtun
und eindeutig klarstellen würden, dass ihre Religionen nicht göttlichen sondern
menschlichen Ursprungs sind und dass sie demzufolge in jeder Hinsicht abänderbar sind
–durch die Repräsentanten dieser Religionen, aber für sich selbst auch durch jeden
Menschen, der auf der Suche nach einer ihm gemäßen Religion ist- und vor allem keinen
Raum für Orthodoxie und Fundamentalismus bieten. Geschähe dieses aber dennoch und
würden die Religionsfunktionäre im Zuge dieses Eingeständnisses auf jede weitere
Propaganda (Missionierung) und auch auf jede weitere Machtausübung verzichten, was
auch die Abschaffung der sog. Gottesstaaten und die Entfernung ausschließlich religiös-
9
ideologisch begründeter Normen aus den staatlichen Gesetzbüchern beinhaltete, würde
die Menschheit m. E. den größten Fortschritt der letzten 3000 Jahre vollziehen. Ich bin
mir natürlich darüber im klaren, dass dieses angesichts des Machtstrebens der
Funktionäre, der von ihnen verhängten Lese- und Denkverbote und der Unfähigkeit des
weitaus überwiegenden Teils der Menschheit zu selbständigem, kritischen Denken
niemals geschehen wird.
(13) Bertrand Russel (1872-1970), einer der bedeutendsten Philosophen seit Kant, hielt
Religion für entbehrlich, ja für ein Übel. Sie sei kennzeichnend für noch nicht ganz
erwachsene Menschen (H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer
Taschenbuch 2002, S.770). Dem stimme ich zu, allerdings nur im Hinblick auf die
Religionen des Ich, nicht für die im folgenden behandelten Religionen der Erkenntnis, in
die ich - nach Erweiterungen - auch die Natürliche Religion einordnen werde.
Teil 2
Religionen der Erkenntnis
Ich nähere mich jetzt der Religion von der Philosophie her und stütze mich dabei auf
Gedanken Karl Jaspers’ und des Dalai Lama.
Karl Jaspers (1883-1969)
Die Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, entnommen dem Buch
Karl Jaspers „Einführung in die Philosophie“ (1953)
(14) Das aus dem griechischen stammende Wort Philosoph (philosophos) beinhaltet die
Worte philos - Freund und sophos – Weisheit, Erkenntnis. Ein Philosoph ist also ein
Freund der Weisheit, der sich durch fortwährende und bis zum äußersten gehende
Fragestellungen um Erkenntnis bemüht. Philosophie heißt nach Jaspers: auf dem Wege
sein. Ihre Fragen seien wesentlicher als ihre Antworten und jede Antwort werde zur
neuen Frage (S. 14.) Die Antworten führen nie zu einem „aussagbaren Bewusstsein“. Sie
geben nur eine Möglichkeit wieder, stets mit dem Zweifel behaftet. Insofern hat
Philosophie auch etwas mit Spekulation zu tun. Dennoch birgt dieses Auf-dem-WegeSein nach Jaspers in sich die Möglichkeit tiefer Befriedigung, ja in hohen Augenblicken
einer Vollendung. Diese liege in der geschichtlichen Verwirklichung des Menschseins,
dem das Sein selbst aufgeht. „Diese Wirklichkeit in der Situation zu gewinnen, in der
jeweils ein Mensch steht, ist der Sinn des Philosophierens“ (S 14). Durch Philosophieren
wird nicht mein Wissen sondern mein Selbstbewusstsein anders (S. 36).
(15) Jaspers hat, wie z. B. Platon, Aristoteles, Ibn Tufail (1110-1185) und Averroes
(1126-1198) einen nicht auf Offenbarungen gegründeten ausgearbeiteten
philosophischen Gottesglauben entwickelt, mit dem er sich auch persönlich identifiziert
hat. Jaspers` Gottesglaube ist wesentlicher Bestandteil eines umfassenderen
philosophischen Glaubens, den er 1948 in seiner Schrift Der philosophische Glaube
begründete, 1950 in Radiovorträgen mit dem Thema Einführung in die Philosophie, 1961
in seiner letzten Vorlesung an der Uni Basel mit dem Thema Chiffren der Transzendenz
10
und 1962 in seinem Werk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
erweiterte. Er bringt ihn in den folgenden Sätzen zum Ausdruck (Einführung, S. 83):
1. Gott ist.
2. Wir können in Führung durch Gott leben.
3. Es gibt die unbedingte Forderung im Dasein.
4. Der Mensch ist unvollendet und nicht vollendbar.
5. Die Realität in der Welt hat ein verschwindendes Dasein zwischen Gott und Existenz.
Zu 1: „Nur wer von Gott ausgeht, kann ihn suchen. Eine Gewissheit vom Sein Gottes,
mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des
Philosophierens.“ (Der philosophische Glaube, S. 33) Für Jaspers ist Gott zwar die einzige
unvergängliche Wirklichkeit, allerdings unerweisbar. (Einführung, S. 49) Ein Erdenken,
was Gott sei, sei unmöglich. (Der philosophische Glaube, S. 34) Daher sei nicht oder nur
wie ein Schleier, was immer wir uns in Ansehung Gottes vor Augen stellen. (Einführung,
S. 46) Hinweis auf das alttestamentliche „kein Bildnis und kein Gleichnis“. Die gleichwohl
im AT zahlreich enthaltenen Bilder, Vorstellungen und geschilderten Begegnungen mit
Gott sind für Jaspers lediglich Chiffren der Transzendenz, zwar notwendig als Ausgang
für die Suche nach Gott, transzendierend jedoch zu überwinden, um zum reinen Glauben
zu gelangen (Vorlesung Chiffren der Transzendenz), in dem Gott nur als „leises
Bewusstsein“ gegenwärtig ist, (S. 47) ein Bewusstein um einen jeder Definition sich
entziehenden Gott, der alles aus dem Nichts geschaffen habe und alles in seiner Hand
halte (S. 38). Der Glaube zieht sich somit für Jaspers auf ein Minimum an der Grenze des
Unglaubens zurück. (Der philosophische Glaube, S. 23)
Zu 2: Die Führung durch Gott geschehe auf dem Wege über die Freiheit des handeln
Könnens, wenn der Mensch Gott höre. Der Glaubende lebe in der ständigen Bereitschaft
des Hörens. (S.49) Wodurch hört der Mensch, was Gott will? Wenn in
Entscheidungsfragen des Lebenswegs nach langen Zweifeln plötzlich Gewissheit eintrete.
Gottes Stimme liege in dem, was dem Menschen aufgehe in Selbstvergewisserung, wenn
er aufgeschlossen sei für alles, was aus Überlieferung und Umwelt an ihn herantritt. Der
Mensch finde jedoch nie eindeutig und endgültig Gottes Urteil: Niemand wisse in
objektiver Garantie, was Gott wolle, daher das Wagnis des Verfehlens. (Der
philosophische Glaube, S. 63 f und Einführung, S. 66-68) Psychologisch gesehen sei die
Stimme Gottes nur in hohen Augenblicken wahrnehmbar. "Aus ihnen her und zu ihnen
hin leben wir“ (S. 69)
Zu 3: Hier geht es um Postulate im Hinblick auf unser Verhalten im Leben, auf das, was
wir zu tun oder zu unterlassen haben. Im Alltag ist unser Verhalten von Zwecken
(Bedingungen) bestimmt, die sich aus unserem Daseinsinteresse ergeben, aber auch von
Gehorsam gegenüber Autoritäten. (Einführung, S. 53) „Unbedingte Handlungen
[hingegen] geschehen in der Liebe, im Kampf, im Ergreifen hoher Aufgaben.
Kennzeichen .. des Unbedingten ist, dass das Handeln gegründet ist auf etwas, dem
gegenüber das Leben als Ganzes bedingt und nicht das Letzte ist.“ (Einführung, S. 51)
Unbedingtheit ist aus einer Freiheit, die gar nicht anders kann. „Die Unbedingtheit wird ..
zeitlich offenbar in der Erfahrung der Grenzsituationen und in der Gefahr des sich untreu
11
Werdens.“ (Einführung, S. 57) Sie ist die Entscheidung zwischen gut und böse. Gut sein
heißt, das Leben unter die Bedingung des moralisch Gültigen zu stellen, im Konfliktfall
auch gegen eigene Glücks- und Daseinsinteressen. (Einführung, S. 58) Ich weigere mich
z. B., auf Befehl zu morden, obwohl ich weiß, dass ich dadurch möglicherweise mein
eigenes Leben verwirke. Höchstes moralisches Prinzip ist für Jaspers somit das in der
Liebe gründende Prinzip des Guten, das von der Transzendenz (Gott) als „unbedingte
Forderung“ an den Menschen gestellt wird, der sich selbst treu bleiben will.
Zu 4: Jaspers spricht von der „Brüchigkeit des Menschen im Grunde“, von Ohnmacht,
Schwäche und Scheitern. Nehmen wir Gedanken aus der Ausarbeitung der „unbedingten
Forderung“ hinzu, könnte man vielleicht sagen, die mangelnde Vollendung des Menschen
liege darin, dass er in seiner Entscheidungsfreiheit, die Jaspers als gegeben erachtet, oft
genug das Böse wählt, sei es aus Schwäche, Egoismus oder falscher Führung durch
Autoritäten, die sich ihrerseits wieder für das Böse entschieden haben.
Zu 5: „Zum verschwindenden, zwischen Gott und Existenz sich vollziehendem Weltsein
gehört ein Mythos, der – in biblischen Kategorien – die Welt als Erscheinung einer
transzendenten Geschichte denkt: Von der Weltschöpfung über den Abfall und dann
durch die Schritte des Heilsgeschehens bis zum Weltende und zur Herstellung aller
Dinge. Für diesen Mythos ist die Welt nicht aus sich, sondern ein vorübergehendes
Dasein im Gang eines überweltlichen Geschehens. Während die Welt etwas
Verschwindendes ist, ist die Wirklichkeit in diesem Verschwindenden Gott und die
Existenz.“ (Einführung, S. 82)
(16) Jaspers: „Keiner dieser fünf Grundsätze ist beweisbar wie ein endliches Wissen von
Gegenständen in der Welt. Ihre Wahrheit ist nur „aufweisbar“ durch aufmerksam
machen oder „erhellbar“ durch eine Gedankenführung. ... Sie sind nicht als ein
Bekenntnis gültig, sondern bleiben trotz der Kraft ihres Geglaubtseins in der
Schwebe des Nichtgewusstseins.“ Er warnt davor, dass die Grundsätze durch die
Eindeutigkeit der Aussage zu einem Scheinwissen führen könnten.
Und weiter: „Wo wir denken, ist sogleich die doppelte Möglichkeit: Wir können das
Wahre treffen oder verfehlen“.
Für Jaspers ist Glaube kein Besitz sondern ein ständiges Wagnis. Seine Erkenntnis führt
ihn dazu, dass er Gott nicht weiß, er sogar nicht einmal weiß, ob er glaubt (S. 49). Er
wagt nur zu glauben.
(17) Wichtig sind auch die folgenden Ausführungen:
"Priester [Jaspers meint damit wohl Funktionäre der Offenbarungsreligionen] erheben ..
den Vorwurf der hochmütigen Eigenmächtigkeit des Einzelnen, wenn er sich
philosophierend auf Gott bezieht. Sie verlangen Gehorsam gegenüber dem offenbarten
Gott. Ihnen ist zu antworten: der philosophierende Einzelne glaubt, wo er aus der Tiefe
entschieden ist, Gott zu gehorchen, ohne in objektiver Garantie zu wissen, was Gott will,
vielmehr in ständigem Wagnis. Gott wirkt durch freie Entschlüsse der Einzelnen“ (S. 71).
„Es gibt eine Ratlosigkeit im Greifen nach dem Halt in vertrauenswürdigen Gesetzen und
Befehlen einer Autorität. Es gibt dagegen die sich aufschwingende Energie der
12
Verantwortung des Einzelnen im Hören aus dem Ganzen der Wirklichkeit“ (S.
71).
(18) Der vorstehend dargestellte, durch philosophische Erkenntnis gewonnene Glaube ist
eine Religion im Sinne der Definition in Textziffer (1). Hier kommt es darauf an, sorgsam
auf die Stimme Gottes zu achten, auch wenn man nur in seltenen hohen Augenblicken
damit rechnen kann, sie zu vernehmen.
Die Religionen der Erkenntnis sind ehrlich und aufrichtig. Jaspers und die anderen in
ähnlicher Weise über Gott denkenden Philosophen machen keinen Hehl daraus, dass sie
im Irrtum sein könnten und ihr Glaube daher von Zweifeln begleitet wird. Ferner
verzichten Sie darauf, sich den Gott ihrer Erkenntnis in Einzelheiten auszumalen, sich ein
Bild von ihm zu machen, weil sie einräumen müssen, nichts von ihm zu wissen; er hat
sich ihnen ja nicht offenbart. Sie glauben lediglich, das Wirken eines irgendwie gearteten
höheren Wesens zu spüren.
Wenn man Jaspers gefragt hätte, ob die innere Stimme, die in bestimmten Situationen
zu ihm spricht und die er für Gottes Stimme hält, nicht auch die Reflektion seiner
eigenen Gedanken im Zusammenwirken mit all dem, was er bisher im Leben erfahren
hat und was auf ihn eingewirkt hat, sein könne, würde er wohl antworten: „Dieses
könnte so sein“. Mit dieser Frage ist es halt, wie mit allem in der Philosophie: Die
gewonnen Erkenntnisse können wahr oder auch falsch sein.
(19) Ergänzend weise ich noch darauf hin, dass es keine Äußerung von Jaspers gibt, aus
der geschlossen werden könnte, dass er an ein Leben nach dem Tode und ein göttliches
Gericht geglaubt hätte, beides alte Fragen der Philosophie. Wie dem auch sei, wichtig ist,
dass der Glaube für Jaspers primär dazu diente, hier auf Erden durch ein anderes
Selbstbewusstsein zu einer höheren Stufe des Menschseins zu gelangen. Ähnlich verhält
es sich beim Buddhismus, den ich ebenfalls zu den Religionen der Erkenntnis zähle, da
er, wenigstens in seiner ursprünglichen Form, auf philosophischer Grundlage beruht.
Anhang: Der Gottesgedanke
(20) Warum hat sich die Menschheit seit jeher mit dem Phänomen Gott befasst? Ich
denke aus dem Wunsch heraus, ein Leben in Geborgenheit, Harmonie und frei von
Ängsten, Kummer, Leid, Schmerz und Not zu führen. Ein solches Leben kann nur eine
mächtige und uns wohl gesonnene Persönlichkeit richten. Die Sehnsucht richtet sich also
auf eine solche Persönlichkeit, deren Führung man sich gerne anvertraut, der man aber
auch gerne begegnen möchte. Man will sie aufsuchen und sich mit ihr unterhalten
können, wie ein Kind mit seinen Eltern oder ein junger Mensch mit einem erfahrenen
Lehrer oder älteren Freund. Diese Wünsche finden ihren Niederschlag z. B. in der
Geschichte von Adam und Eva im Paradies (vor dem Sündenfall und der Vertreibung).
Solche Geschichten, die möglicherweise so oder ähnlich auch in anderen Kulturen
überliefert werden, waren stets nur Mythos. Man hat einen Gott erdacht, der sein Reich
im Jenseits hat und hat dem Menschen ewiges Leben verliehen, um im Anschluss an ein
irdisches nicht den geschilderten Sehnsüchten der Menschen entsprechendes Leben im
Jenseits ein glückseliges Leben zu erlangen. Welch schöner Gedanke, wäre da nicht das
Damoklesschwert eines längeren Aufenthalts im Fegefeuer oder gar der ewigen
Verdammnis.
13
(21) Zum Gottesgedanken hat aber auch der Drang des forschenden Menschen geführt,
die Ursprünge des Seins zu erkennen, insbesondere die Ursprünge des Weltalls, der Erde
und des Lebens auf dieser Erde. Hilfreich waren dabei die Beobachtungen der
Naturwissenschaften und der Archäologie. Auf die entscheidenden Fragen vermochten
sie jedoch keine Antwort zu geben, z. B. auf die Frage der Entstehung des Lebens. An
der Grenze menschlicher Erkenntnismöglichkeiten gibt es zwei
Verhaltensalternativen:
1. Wir akzeptieren, dass unsere Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind und Wesentliches
für uns Geheimnis bleibt. Wir akzeptieren das Sein als solches.
2. Wir verlassen den Bereich unserer realen Erkenntnismöglichkeiten und wenden uns
der Spekulation zu.
Die Religionen des Ich und teilweise die Religionen der Erkenntnis haben von der 2.
Alternative Gebrauch gemacht. Alles, was sie sich nicht erklären können, führen sie auf
das Wirken eines übernatürlichen Wesens zurück, das sie Gott nennen, dessen Existenz
sie aber nicht beweisen können; daher sprechen sie von Glaube (anders der
Buddhismus, der aber zumindest in seinem Glauben an die Reinkarnation ebenfalls
spekulativ ist). Gott soll alles geschaffen haben, das Universum und auch das Leben.
Irgendwann werde er auch alles wieder vernichten. Zu Beginn des JohannesEvangeliums heißt es: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott
war das Wort.“ Dieses soll die endgültige wenn auch nur spekulative Antwort nach den
Ursprüngen sein. Diese Antwort kann meinen Erkenntnisdrang nicht befriedigen. Wann
war der Anfang und wer hat ihn gesetzt? Was war vorher? Woher kommt dieser Gott?
Wer hat sein Leben entstehen lassen? Konsequenter Weise kann man auch hierüber nur
spekulieren. Tun wir es doch einmal und sagen, vor diesem Gott müsse es noch einen
anderen, höheren Gott gegeben haben, einen Ur-Gott gewissermaßen. Auch wenn man
sich noch so viele Ur-, Vor-, oder Übergötter denkt, man kommt in seinen Spekulationen
nie an den Anfang, nie zum wirklichen Ursprung allen Seins. Dieser Erkenntnis folgend
frage ich mich, welchen Sinn ein Verhalten gemäß Alternative 2 haben soll. Eine
Bescheidung auf die Alternative 1 erscheint mir als der richtigere Weg, einen Weg den
uns bereits die altindische Philosophie aufgezeigt haben könnte:
„Doch wem ist auszuforschen es gelungen,
Wer hat , woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
Wer sagt es also, wo sie hergekommen?
Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,
der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weiß es – oder weiß auch er es nicht?“
Aus dem Schöpfungshymnus der Rigveda (ca. 1200 v. Chr.) in der Übersetzung von Paul
Deussen 1906, zitiert nach Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 38.
14
Dalai Lama
Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Buch
Dalai Lama / Howard C. Cutler „Die Regeln des Glücks“
Bastei Lübbe Taschenbuch 6. Auflage Dezember 2002
Ähnliche Gedanken beinhalten auch andere Schriften des Dalai Lama und viele seiner
Reden.
(22) Beim Glauben lassen sich zwei Kategorien unterscheiden:
• der auf die irdischen Gegebenheiten gerichtete Glaube (im weiteren natürlicher Glaube
genannt)
• der auf das Spirituelle, das Transzendente oder das Übernatürliche gerichtete Glaube
(im weiteren übernatürlicher Glaube genannt)
Soweit ich weiß, besteht der übernatürliche Glaube des Buddhismus allein in der Lehre
der Wiedergeburten. Der Dalai Lama folgt darüber hinaus einer Reihe von natürlichen
Glaubensgrundsätzen (Grundüberzeugungen). In dem genannten Werk habe ich davon
zehn gefunden:
1. Der eigentliche Sinn unseres Lebens besteht im Streben nach Glück (oder doch
wenigstens nach Zufriedenheit).
2. Glück (Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl (tibetisch
sem) erlangt werden. „Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte
Lebenseinstellung umwandeln“ (S. 23). Glück wird eher durch die eigene
Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt (S.
28, 30). Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz (S.41).
3. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne
ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart (S. 39).
4. Es gibt eine elementare Milde, Güte und Aufgeschlossenheit der Menschen sowie
Gemeinschaftlichkeit unter allen Lebewesen (S. 18). Unsere menschliche Natur ist
grundsätzlich freundlich und mitfühlend (S. 57). Wir besitzen auch ein angeborenes
Potenzial für Barmherzigkeit (S. 61).
5. Das fundamentale subtile Bewusstsein des Menschen ist nicht von negativen
Emotionen getrübt (S. 242). Negative Geisteszustände sind kein unserer Psyche von
Natur innewohnender Teil, sondern nur vergängliche Hindernisse, die unseren
natürlichen Zustand der Freude und des Glücks hemmen (S. 245).
6. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer
besseren geistigen Gesundheit und zu Glück (S. 49).
7. Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu
reagieren, dass wir überleben können (S. 53).
15
8. Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom
menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und
Vorstellungskraft (S.63).
9. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz (S. 141). Unsere Geburt ist
eigentlich die Geburt des Leidens (S. 145). Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit
von Leid zu erlangen (S. 147 f).
10. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände
leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans
ansehen (S. 161).
(23) Der Dalai Lama hält es ganz und gar nicht für erstrebenswert, dass alle Menschen
die selbe Religion hätten oder gar alle Buddhisten wären. Da unterschiedliche Menschen
auch unterschiedliche Veranlagungen hätten, benötigten wir eine Vielfalt an Religionen.
Manchmal habe er den Eindruck, dass 6 Milliarden Menschen auch 6 Milliarden
Religionen benötigten. Jeder solle den spirituellen Pfad beschreiten, der seiner geistigen
Veranlagung und natürlichen Neigung, seinem Temperament und Glauben, seiner
Familie und seinem kulturellen Hintergrund am besten entspricht (S. 293; Texte teilweise
schon in der Einleitung zitiert). Durch den engeren Kontakt zu anderen Traditionen und
Religionen erkennen wir deren positive Seiten. „Wir können alle an einem Tisch sitzen
und uns verschiedene Gerichte nach unserem Geschmack bestellen. Jeder isst etwas
anderes, aber niemand streitet sich deswegen“ (S. 202).
Der Zweck einer jeden Religion besteht nach der Anschauung des Dalai Lama darin, den
Menschen zu nützen (S. 293). Eine ähnliche Auffassung vertrat schon vor 2000 Jahren
der römische Schriftsteller Plinius (d. Ä.) in seinem Werk Naturalis historia (II,5,18) :
„Deus est mortali iuvare mortalem“, frei übersetzt etwa: „Gott hat den Sterblichen das
Leben zu erleichtern“.
(24) Glück und Religion, Zitat aus dem Eingangs genannten Buch: „Im Westen wenden
sich viele Menschen der Religion als einer Quelle des Glücks zu. Doch der Ansatz des
Dalai Lama unterscheidet sich fundamental von dem vieler westlicher Religionen, da er
die Vernunft und die Geistesschulung wesentlich stärker betont als den Glauben“ (S.
244 f).
(25) Während sich die römische Kirche als Verkünderin der „einen, heiligen und
allumfassenden“ Religion ansieht und am liebsten alle Menschen zu Katholiken machen
möchte, ist die Auffassung des Dalai Lama von wohltuender Toleranz und Aufgeklärtheit
geprägt. Wie bei der Natürlichen Religion sieht er keine Überlegenheit seiner Religion
gegenüber anderen, wie er überhaupt im Umgang mit den Mitmenschen die Achtung vor
dem anderen hervorhebt. Natürlich gibt es nicht wirklich 6 Milliarden gänzlich
verschiedene Religionen, wohl aber unzählige Varianten der gemeinhin bekannten
Religionen. Nach seiner Auffassung soll jeder für sich die Religion oder Religionsvariante
wählen, von der er glaubt, dass sie ihm am ehesten bei seinem Streben nach einem
glücklichen oder wenigstens zufriedenstellenden Leben helfen kann. Wenn z.B. ein Christ
ein inniges Verhältnis zur Gottesmutter oder zu anderen Heiligen hat und daraus Trost
und Stärkung findet, wäre es sicher nicht im Sinne des Dalai Lama, wenn ein anderer
Christ daherkäme und jenem ein paar aus dem Kontext gerissene Bibelstellen um die
16
Ohren schlüge, um ihm rechthaberisch einen Teil der Grundlage seines Glücks unter den
Füßen wegzuziehen. Und wenn sich ein Katholik mit bestimmten Glaubensgrundsätzen
nicht identifizieren kann, z.B. der Himmelfahrt Mariens oder der Unfehlbarkeit des
Papstes, wenn er ex cathedra spricht, und auch den Vorstellungen der Amtskirche in
Sachen Sexualität und Geburtenplanung nicht zu folgen vermag, ohne einen Verlust an
Glück zu erleiden, soll ihm niemand seine persönliche Religionsvariante streitig machen
wollen. Das selbe gilt, wenn sich jemand für eine Religion entscheidet, die ohne einen
auf das Transzendente gerichteten Glauben auskommt.
(26) Die vom Dalai Lama geforderte Toleranz gegenüber allen möglichen Religionen oder
Lebensauffassungen erfährt zumindest für mich ihre Grenze gegenüber Religionen oder
Lebensauffassungen, die entweder selbst nicht tolerant sind oder die Anderen,
insbesondere anders Denkenden, auch solchen aus den eigenen Reihen, aggressiv
gegenübertreten, die Machtansprüche entfalten, sich anderen überlegen fühlen und
diese im Hinblick auf ihre vermeintliche Unterlegenheit zu missionieren suchen,
womöglich noch mit Feuer und Schwert oder wie bei vielen Sekten mit ausgeklügelter
psychologischer Beeinflussung. Eine bloße und auch wechselseitige Unterrichtung über
die eigene Religion oder Lebensauffassung ist natürlich nicht nur statthaft sondern auch
nützlich. Um mit dem vom Dalai Lama gewählten Bild abzuschließen: Toleranz
gegenüber jedem, der mit mir friedlich am Tisch sitzt, nicht gegenüber dem, der mir das
von mir gewählte Essen madig machen will oder mir gar seine Suppe ins Gesicht
schüttet.
Teil 3
Darstellung der eigenen Position
Bestandteile einer Religion
(27) Der philosophierende Mensch, d. h. der Mensch, der sich um Erkenntnisse in den
wichtigen Lebensfragen bemüht, gelangt zu einer Lebensauffassung. Dazu gehören m.
E. ethische Grundsätze und Glaubensgrundsätze (oder Überzeugungen), und zwar
in dieser Reihenfolge. Religion, wie ich sie mit Hinweis auf Abschnitt 1 definieren
möchte, besteht in der sorgfältigen Beachtung der Lebensauffassung; Religion
manifestiert sich somit im Handeln. Die Lebensauffassung stellt danach die theoretische
Grundlage für die Religion (verstanden als Religionsausübung) dar. Ich denke, dass ich
mich insoweit auch in Übereinstimmung mit Christus befinde, der sagte: „An ihren
Früchten werdet ihr sie erkennen“ und: „Nicht jeder, der sagt Herr, Herr wird in das
Himmelreich eingehen, sondern der, der den Willen Gottes tut“.
So auch Nietzsche, der zum echten, ursprünglichen Christentum sagt, dass es in einem
Tun, vor allem in einem vieles nicht Tun bestehe und dass irgend ein Glaube, ein für
wahr Halten fünften Ranges sei. Im Ergebnis so auch Ayaan Hirsi Ali mit dem bereits in
der Einleitung zitierten Ausspruch: „Religion ist die Art, wie wir uns anderen
gegenüber verhalten.“ (S. 90)
Wie in Abschnitt 22 dargelegt, unterscheide ich zwischen natürlichen und
übernatürlichen Glaubenssätzen.
17
Ethische Grundsätze
(28) Eine Reihe von Philosophen seit Konfuzius (551-479 v. Chr.) haben mit
vergleichbaren Worten die goldene Regel der Ethik aufgestellt, die ich so formulieren
möchte:
„Verhalte dich anderen Menschen gegenüber so, wie du möchtest, dass sie
sich dir gegenüber verhalten.“ Ergänzen möchte ich sie noch um den Satz:
„Respektiere andere Lebewesen und die Natur “ und um den Satz: “Verhalte
dich so, das du die Lebensgrundlagen und die berechtigten Interessen der
künftigen Generationen, soweit möglich, nicht beeinträchtigst “.
Dieses Verhalten bedeutet nicht, dass ich meine Wünsche und Bedürfnisse auf andere
übertrage, sondern dass ich bemüht bin, die Wünsche und Bedürfnisse des anderen zu
erkennen und, soweit sie legitim sind, danach zu handeln.
Die goldene Regel betrifft das Verhalten gegenüber anderen. Es gibt aber auch
Verpflichtungen gegenüber sich selbst, die man so formulieren könnte: „Liebe dich
selbst und trage Sorge für dich.“
Aus den vorstehenden Grundsätzen kann ein Mensch mit Charakter, Weisheit und
Verstand m. E. alle Regeln für sein Verhalten (Tun oder Unterlassen) in den meisten
Lebenssituationen ableiten.
Kant und Jaspers haben als höchstes moralisches Prinzip die "unbedingte Forderung"
formuliert, siehe in Abschnitt (15) die Ausführungen zu Ziffer 3. Dieses Prinzip stellt sehr
weitgehende Anforderungen an uns.
Weitere Ausführungen zu diesem Thema enthält u. a. das Buch Philosophie für Dummies
von Tom Morris, Kapitel 9 „Ethische Regeln und moralischer Charakter“. Hingewiesen sei
auch auf die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der Weltreligionen vom
4.9.1993. Die Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen ist besonderes Anliegen
des aus meiner Heimatstadt Mönchengladbach stammenden Philosophen Hans Jonas
(1903-1993) in seinen Werken Das Prinzip Verantwortung und Technik, Medizin und
Ethik, zur Praxis des Prinzips Verantwortung.
Es mag Grenzsituationen geben, in denen es schwer fällt, die ethisch/moralisch richtige
Entscheidung zu treffen. Ich denke dabei z. B. an die Situation einer vergewaltigten
Frau, die vor der Entscheidung einer Abtreibung steht, oder die Situation eines
Genforschers, der sich fragt, wo er die Grenze für seine Tätigkeit ziehen soll. Zu dieser
Thematik hat sich aus konservativ-katholischer Sicht Robert Spaemann in zahlreichen
Veröffentlichungen geäußert. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er die "sittliche
Vernunft" zum Maßstab des Verhaltens machen. Die Frage ist nur, auf welche Maßstäbe
sich wiederum diese sittliche Vernunft stützen soll. Wilhelm Schmid, von dem im
nächsten Abschnitt näher die Rede sein wird, hat als oberstes Prinzip der Kunst des
Lebens herausgestellt, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die richtige Wahl zu
treffen. Dabei weist er darauf hin, dass wir grundsätzlich für eine Wahl Kriterien
brauchen, die Auswahl der Kriterien ihrerseits aber wiederum ein Wahlakt ist, für den wir
erneut Kriterien benötigen, ebenso wie für die Auswahl der letztgenannten Kriterien usf.
und dass wir dabei irgendwann an den Punkt kommen, wo uns keinerlei Auswahlkriterien
18
mehr zur Verfügung stehen. An diesem Punkt gelte es, allein aus unserem Gefühl für das
Richtige oder Falsche heraus eine Basisentscheidung zu treffen. Ich denke, dass der
Einzelne in den genannten Grenzsituationen auch nur nach diesem Gefühl entscheiden
kann.
Natürliche Glaubensgrundsätze
(29) Hierunter verstehe ich die auf die irdischen Gegebenheiten gerichteten
Überzeugungen. Die in Abschnitt 22 dargestellten Grundüberzeugungen des Dalai Lama
sind offenbar Bestandteil der buddhistischen Lebenstechniken. Der erste Satz enthält
eine Aussage über den Sinn des Lebens. Die katholische Kirche sieht den Sinn des
Lebens ausschließlich in der Erfüllung der Gebote und Verbote Gottes, auch in der
demütigen Hinnahme von Leid, das uns Gott schickt. Der Dalai Lama ist mit Aristoteles
und anderen Philosophen der Überzeugung, der Sinn bestehe in dem Streben nach Glück
oder wenigstens nach Zufriedenheit. Ich möchte, nicht zuletzt wegen der dem deutschen
Begriff Sinn anhaftenden Vieldeutigkeit und Unschärfe, die hinter dieser Frage stehende
Suche des Menschen etwas anders angehen und dabei zunächst weiter ausholen. Eine
der wichtigsten Fragen, mit denen sich die Philosophie seit Schopenhauer beschäftigt,
lautet: Warum ist überhaupt etwas (und jemand) und nicht vielmehr nichts (und
niemand)? Die Frage nach dem warum ist schlechterdings nicht beantwortbar. Wer eine
Antwort sucht, könnte fragen: Wäre es nicht besser, es gäbe nichts als das, was ist?
(ausführlich hierzu Ludger Lütkehaus, Nichts) Betrachtet man das ganze Leid und
Unrecht dieser Welt, könnte man diese Frage durchaus bejahen (vgl. auch Abschnitt 38,
2. Absatz). In der altgriechischen Midassage verrät ein Halbgott dem König, was die
Menschen eigentlich nicht erfahren sollten: „Das Allerbeste für sie wäre nicht geboren
worden zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein; das Zweitbeste ... bald zu sterben.“ Nach
Nietzsche ist das Leben des Einzelnen wie das Fortleben der Gattung „im Grunde Trieb,
Instinkt, Torheit, Grundlosigkeit“ (III 371). Zuvor hatte bereits Schopenhauer von der
„Grundlosigkeit des blinden Lebenswillens“ gesprochen. Wie dem auch sei, wir sind
jedenfalls in eine höchst unvollkommene Welt hinein geworfen – ohne dass wir vorher
hätten gefragt werden können. Manche Philosophen sprechen vom Diktat der Geburt.
Selbst wenn wir es als besser ansähen, es gäbe nichts und auch uns nicht, an der
Tatsache der Existenz der Welt und unserer Geburt können wir nichts ändern. Vor
diesem Hintergrund glaube ich, dass wir die Aufgabe haben, das Beste aus der
gegebenen Situation zu machen. Die Frage lautet, was sollen, müssen oder können wir
tun, um zu einem erfüllten, bejahenswerten oder doch wenigstens einem im Großen
und Ganzen zufriedenstellenden Leben zu gelangen? Hierzu weist uns die Philosophie,
deren eigentlicher Bereich seit jeher die Lehre vom richtigen Leben ist (Theodor W.
Adorno, Minima Moralia), den Weg. Nach Sokrates ist das ungeprüfte Leben seinen Preis
nicht wert. Daraus ergibt sich das Postulat, das Leben nicht einfach unreflektiert und
unbewusst dahin ziehen zu lassen sondern die für uns wichtigen Fragen des Lebens zu
prüfen, um schließlich zu einer im Rahmen der gegebenen Bedingungen möglichst
weitgehenden autonomen Lebensführung zu gelangen, die auf das formulierte Ziel, so
wie das einzelne Individuum es versteht, seinen Lebenshorizont, ausgerichtet ist. Es ist
das Anliegen der Philosophie der Lebenskunst, uns bei dieser Arbeit, die wie immer in
der Philosophie ein Unterwegssein ist, insbesondere durch theoretische Reflektion über
die Bedingungen und Möglichkeiten eines gekonnten Lebensvollzugs zu unterstützen.
19
Wilhelm Schmid hat es in den 90-ger Jahren des 20. Jh. unternommen, die Philosophie
der Lebenskunst unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen in der freien Welt
neu zu begründen. Seine Arbeiten sind zusammengefasst in dem verdienstvollen
Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft „Philosophie der Lebenskunst – Eine
Grundlegung“, 1998, 6. Auflage 2000, 460 Seiten Text und ca. 100 Seiten Anmerkungen
und Literaturverzeichnis. Dabei verzichtet Schmid bewusst auf eine inhaltliche Festlegung
der Lebenskunst, die dem Einzelnen überlassen bleiben muss. Nach Schmid ist es
zielführend, das Bejahenswerte im Leben zu suchen, aber auch das Leben
bejahenswerter zu machen, und hierzu eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am
Leben mit Anderen, für die man Sorge zu tragen hat, und an den Verhältnissen, die
dieses unser Leben bedingen, zu leisten (S. 170). Ein erfülltes Leben besteht nicht nur
aus Glücksmomenten sondern auch aus Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind,
Widerständen, Komplikationen, Entbehrungen und Konflikten, die ausgefochten oder
ausgehalten werden (S. 171). Weitere Ausführungen würden den Rahmen dieser
Abhandlung sprengen.
(30) Nun komme ich zu den übrigen Grundüberzeugungen des Dalai Lama, die ich zur
Vermeidung des Rückblätterns hier noch einmal
in der Reihenfolge meiner Stellungnahme wiedergebe:
Zu den Aussagen 2, 3, 6, 9 und 10
2. Glück (Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl (tibetisch
sem) erlangt werden. „Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte
Lebenseinstellung umwandeln“. Glück wird eher durch die eigene Geistesverfassung und
durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt.
Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz.
3. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne
ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart.
6. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer
besseren geistigen Gesundheit und zu Glück.
9. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz. Unsere Geburt ist eigentlich
die Geburt des Leidens. Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von Leid zu
erlangen.
10. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände
leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans
ansehen.
Diese Aussagen kann ich ohne Weiteres akzeptieren.
An die Aussage 7
"Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu
reagieren, dass wir überleben können."
möchte ich gerne glauben, weil sie uns die Zuversicht gibt, auch in schwierigen
Lebenssituationen nicht unterzugehen. Daher
wage ich, an die Richtigkeit dieser Annahme zu glauben.
Aussage 8
20
"Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom
menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch
unserer Intelligenz und Vorstellungskraft."
ergänze ich dahingehend, dass Konflikte häufig durch den uns von der Natur
mitgegebenen Aggressionstrieb verursacht werden.
Es wäre schön, wenn auch die Aussage 4 wahr wäre.
"Es gibt eine elementare Milde, Güte und Aufgeschlossenheit der Menschen sowie
Gemeinschaftlichkeit unter allen Lebewesen. Unsere menschliche Natur ist grundsätzlich
freundlich und mitfühlend. Wir besitzen auch ein angeborenes Potenzial für
Barmherzigkeit."
Indessen möchte ich mich lieber nicht darauf verlassen, dass mir andere Menschen bei
entsprechenden Gelegenheiten stets mit Aufgeschlossenheit, Güte, Milde oder
Barmherzigkeit begegnen. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch über gute und
schlechte Anlagen verfügt, dass er altruistisch und egoistisch, rechtschaffen und
betrügerisch, liebevoll und grausam handeln kann. Daraus folgt, dass man zum eigenen
Schutz stets auf der Hut sein sollte.
Nicht beurteilen kann ich die Aussage 5.
"Das fundamentale subtile Bewusstsein des Menschen ist nicht von negativen Emotionen
getrübt. Negative Geisteszustände sind kein unserer Psyche von Natur innewohnender
Teil, sondern nur vergängliche Hindernisse, die unseren natürlichen Zustand der Freude
und des Glücks hemmen.
Die wiedergegebenen Überzeugungen des Dalai Lama beschränken sich auf den nach
einem Lebenssinn suchenden Menschen und seine Gemeinschaft mit seinen
Mitmenschen. Sie stellen kein alle denkbaren Wissensgebiete umfassendes Weltbild dar.
Diese Beschränkung halte ich jedoch, wenn es um eine Lebensauffassung als Grundlage
einer Religion geht, für gerechtfertigt.
Menschen haben eine Vielzahl von Überzeugungen, ohne dass sie ad hoc in der Lage
wären, sie vollständig zu katalogisieren. Mit Sicherheit habe auch ich noch weitere
Überzeugungen in dem Bereich, auf den ich mich hier beschränken will, ohne sie hier
und jetzt erschöpfend aufführen zu können.
(30a) Nachstehend nochmals zusammenfassend die hier abgehandelten natürlichen
Glaubensgrundsätze:
1. In diese Welt und dieses Leben durch fremde Entscheidung (die unserer Eltern)
hineingeworfen, ist es angesagt, das Beste aus der Situation zu machen, indem wir
uns unser ganzes Leben (omnia vita) um einen gekonnten Lebensvollzug bemühen
(vivere discimus), das Bejahenswerte im Leben suchen, aber auch das Leben
bejahenswerter zu machen suchen, und hierzu eine Arbeit an uns selbst, am eigenen
Leben, am Leben mit Anderen, für die wir Sorge zu tragen haben, und an den
Verhältnissen, die dieses unser Leben bedingen, zu leisten. Ein erfülltes Leben
21
besteht nicht nur aus Glücksmomenten sondern auch aus Schwierigkeiten, die zu
bewältigen sind, Widerständen, Komplikationen, Entbehrungen und Konflikten, die
ausgefochten oder ausgehalten werden.
2. Glück (Lebensbejahung, Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und
Gefühl erlangt werden. Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere
gesamte Lebenseinstellung umwandeln. Glück wird eher durch die eigene
Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse
bestimmt.
Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz.
3. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu
einer besseren geistigen Gesundheit und zu Glück.
4. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und
ohne ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart.
5. Der Mensch verfügt über gute und schlechte Anlagen, er kann altruistisch und
egoistisch, milde und hartherzig, rechtschaffen und betrügerisch, liebevoll und
grausam handeln. Daraus folgt, dass man zum eigenen Schutz stets auf der Hut sein
sollte.
6. Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr
vom menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und
Vorstellungskraft - aber auch durch den uns von der Natur mitgegebenen
Aggressionstrieb.
7. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz. Unsere Geburt ist
eigentlich die Geburt des Leidens. Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von
Leid zu erlangen oder Leid erträglich zu machen.
8. Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu
reagieren, dass wir überleben können.
9. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände
leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines
Plans ansehen.
22
Übernatürliche Glaubensgrundsätze
Einleitung
(31) Hierbei handelt es sich um Überzeugungen, die sich auf die unsichtbare Welt oder
das Transzendente beziehen. Hierzu finden sich z. B. folgende Aussagen:
1. Es existiert ein Schöpfergott
2. Es gibt ein Leben nach dem Tod
3. Es gibt im Jenseits einen Pool menschlichen Lebens; die Seele eines jeden
Menschen geht aus diesem Pool hervor und kehrt nach seinem Tod wieder dorthin
zurück und vereint sich mit der Substanz, aus der neues menschliches Leben entsteht
(Präexistenz der Seele, Reinkarnation, Seelenwanderung)
Es finden sich aber auch die gegenteiligen Aussagen: es gibt keinen Schöpfergott und
kein Leben vor oder nach dem irdischen.
(32) Philosophische Aussagen sind immer nur Annahmen oder Hypothesen. Jaspers hat
eindringlich darauf hingewiesen, dass die Bestimmtheit der Aussagen nicht über ihren
Charakter als Annahmen täuschen dürfe, dass sie wahr oder unwahr (richtig oder
falsch) sein können und stets mit dem Zweifel behaftet sind. Hiervon ausgenommen
sind lediglich stark eingeschränkte Aussagen in bezug auf das natürliche Leben, deren
Aussagewert aber ebenfalls stark eingeschränkt, um nicht zu sagen trivial ist.
Warum wir trotzdem philosophieren sollen, hat Sokrates mit dem schon zitierten Satz
gesagt: „Das ungeprüfte Leben ist seinen Preis nicht wert.“ Sokrates prüfte die wichtigen
Fragen des Lebens und kam dabei zu dem zunächst ernüchternden Ergebnis, dass er
wohl nichts Bedeutendes wisse. Ich hatte bereits Karl Jaspers mit den Worten zitiert,
dass Philosophie nicht zu Wissen führt. Er spricht vielmehr von erworbenem Nichtwissen,
eine sehr interessante Formulierung wie ich finde. Jaspers befindet sich damit im
Einklang mit dem berühmten alt-chinesischen Philosophen Laotse (6. Jh. v. Chr.), der in
seinem immer noch in vielen Sprachen aufgelegten Vermächtnis Tao Te King in Kap. 71
sagt: “Nichtwissen ist wahres Wissen“. Dieses Nichtwissen unterscheidet sich substanziell
gewaltig von dem Nichtwissen des „Toren“ [vgl. das hervorragend neu übersetzte,
witzig-ironische, aber auch hintergründig philosophische Traktat Lob der Torheit von
Erasmus von Rotterdam (1469-1536)]. Der Tor nimmt das Leben wie es kommt, er geht
lieber ins Wirtshaus oder buhlt mit schönen Frauen als die Abende oder gar Nächte mit
Philosophieren zu vergeuden. Er macht sich keinen Kopp, Probleme hält er sich vom
Leib. Beide, der Tor und der Philosoph, wissen nichts. Der Tor hat das Leben nicht
geprüft, er ist in den wichtigen Lebensfragen ein Ignorant, er könnte bei einer
Diskussion nicht mitreden. Anders der Philosoph: er hat sich mit der Materie befasst, er
ist im Thema. Dass er am Ende zu nicht beweisbaren und von Zweifeln begleiteten
Überzeugungen gelangt oder gar eine Frage unentschieden lässt, ficht ihn nicht an: er
hat das Leben geprüft, er kann nunmehr bewusst leben, sich Lebensziele setzen, sein
Leben auf diese Ziele ausrichten und damit seinem Leben eine höhere Wertigkeit
verleihen.
(33) Stellen wir uns zwei philosophierende Menschen vor. Der eine gelangt zu der
Aussage, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, der andere zu der gegenteiligen
Aussage. Diese beiden Positionen erscheinen auf den ersten Blick zu 100%
23
gegensätzlich. Wenn beide Philosophen ihren jeweiligen Aussagen eine 60 %ige
Wahrscheinlichkeit beimessen, liegen sie in ihren Bewertungen allerdings nur um 20 %
auseinander. Bei dieser Situation würden sie sich wohl kaum wegen ihrer
unterschiedlichen Überzeugungen ernsthaft in die Haare geraten. Jeder würde den
anderen respektieren. Mit Jaspers würde möglicherweise jeder von ihnen sagen, dass er
nicht sicher sei, ob er seine Aussage wirklich glaube, dass er lediglich zu glauben wage.
Gleichwohl fließt das Wagnis des Glaubens an die Richtigkeit der jeweiligen Aussage in
die Lebensauffassung des einzelnen ein. Dieses kann auch bei im übrigen, insbesondere
hinsichtlich der ethischen Grundsätze, gleicher Lebensauffassung in Grenzsituationen zu
einem anderen Verhalten führen. Derjenige, der sich entschieden hat, nicht an ein Leben
nach dem Tod zu glauben, hängt möglicherweise mehr an seinem (irdischen) Leben als
der andere, der nach seiner Überzeugung ja noch ein zweites erstrebenswerteres weil
vollkommen glückseliges Leben hat. Letzterer könnte wegen dieser Überzeugung z. B.
eher bereit sein, sich einer riskanten Operation zu unterziehen oder als Freiwilliger an
einem Verteidigungskrieg teilzunehmen oder sein Leben für einen nahestehenden
Menschen zu opfern.
Eigene Glaubensgrundsätze
(34) Welche Überzeugungen im Bereich des Übernatürlichen habe ich mir zu eigen
gemacht?
Ich habe mich nicht dazu entschließen können, an die Richtigkeit irgendeiner der in
Abschnitt 31 wiedergegebenen drei Aussagen zu glauben.
Zur Begründung führe ich zunächst an, dass unserer Beobachtung nur die sichtbare Welt
zugänglich ist. Über die Frage, ob es daneben noch eine unsichtbare gibt, können wir
nur spekulieren. Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund
frage ich mich, warum ich an die Existenz einer unsichtbaren Welt glauben und mir diese
dann noch in einer Reihe von Einzelheiten ausschmücken soll.
(35) Martin Heidegger (1889-1976) unterscheidet zwischen dem Seienden und dem Sein,
durch das alles Seiende erst ein Seiendes ist. Dieses Sein war bereits vor dem Urknall,
wenn diese Theorie der Naturwissenschaftler richtig ist, und wird auch nach der in
etlichen Milliarden Jahren zu erwartenden Implosion des Weltalls sein. Heidegger denkt
sich dieses Sein als etwas Ungegenständliches und Unpersonifiziertes. Dem schließe ich
mich an. Da ich nicht an einen Schöpfergott glaube, akzeptiere ich, dass das Entstehen
des Seienden und damit auch des menschlichen Lebens für mich ein Geheimnis bleibt.
(36) Die Entscheidung, in das Leben auf diesem Planeten einzutreten, haben unsere
Eltern für uns getroffen und damit meines Erachtens eine kaum tragbare Verantwortung
übernommen, können sie uns doch kein Leben frei von Angst und Leid garantieren. In
diese Welt hineingeworfen (Heidegger spricht vom existenziellen Wurf ins Ungewisse),
sind wir auf uns nahestehende Menschen, in erster Linie aber auf uns selbst gestellt. Wir
können nicht erwarten, dass eine überirdische, uns wohlgesonnene Macht unseren
Lebensweg begleitet und uns beschützt und auch nicht, dass es für uns ein glückseliges
Leben nach dem Tode gibt. Vor unserer Zeugung gab es uns nicht und nach unserem
Tod werden wir nicht mehr sein.
24
(37) George Steiner, weltweit tätiger Dozent für philosophische Hermeneutik,
Schriftsteller und Heidegger-Interpret führte in seiner Rede in der Paulskirche am
25.5.2003 anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an ihn, die ich im
Fernsehen verfolgte und die in der FAZ vom 31.5.2003 abgedruckt wurde, folgendes
aus:
„Der Mensch ist ins Leben geworfen, um Heideggers gewaltigen Ausdruck zu benützen.
Für diese Geworfenheit gibt es kein Warum, keine grundsätzliche Erklärung. Man kommt
blind oder taub oder von genetischer Krankheit schon im Voraus verurteilt in die
Existenz. Man ist schön wie Apoll oder hässlich wie Sokrates. Einer wird im Wohlstand, in
der Kultur, in der Sicherheit zur Welt kommen, der andere in einem von Hunger oder
Aids verwüsteten afrikanischen oder asiatischen Hinterland. Der eine hat Genie, der
andere verbringt seine Tage in sturer Dummheit oder Hilflosigkeit. ... Geworfenheit ist
ein unergründliches Würfelspiel. ... Es gibt keine mögliche Erklärung für die Lotterie, das
Monte Carlo der Geworfenheit. Dies bedeutet, dass wir alle Gäste des Lebens sind. Das
Sein ist unser Gastgeber. ... Leben heißt, eine willkürliche Gabe in Empfang nehmen.“
Gabe kommt von geben. Das Leben ist uns gegeben, willkürlich bedeutet, dass wir keine
Wahlmöglichkeit hatten. Hätte ein weiser Gott uns nicht über das Leben, das uns auf
diesem Planeten erwartet, ein Leben mit glücklichen Umständen aber auch mit Leid,
Schmerz, Not, Ungerechtigkeit und Grausamkeit aufgeklärt und dann uns die Wahl
überlassen, in dieses Leben einzutreten oder nicht?
Von den in Abschnitt 31 aufgeführten Aussagen will ich in den Abschnitten 38 bis 41 auf
die beiden ersten näher eingehen (Gott, Leben nach dem Tode).
Kein Glaube an die Existenz eines Schöpfergottes
(38) Eine Person soll das Weltall und das Leben auf Erden aus dem Nichts erschaffen
haben. Dieser Person werden weitere unglaubliche Eigenschaften beigemessen: Sie sei
in der Lage, das Leben aller Menschen zu kontrollieren, alle ihre Handlungen
wahrzunehmen und im Gedächtnis zu behalten. Sie verstehe alle Sprachen und Dialekte
und könne sogar Gedanken lesen, und zwar gleichzeitig die Gedanken vieler Milliarden
Menschen und auch diese speichern, um sie zusammen mit den gespeicherten
Handlungen jedem einzelnen Menschen nach seinem irdischen Tod in einem göttliche
Gericht vorhalten zu können. Eine Person mit derartigen Fähigkeiten vermag ich mir nur
schwer vorzustellen.
Es gibt aber noch einen anderen Umstand, der mir den Glauben an einen Schöpfergott
erschwert: die Unvollkommenheit der Schöpfung und das Negative (das Schlechte und
Böse) in der Welt. Für ein überirdisches Wesen mit den beschriebenen Eigenschaften
wäre es doch ein Leichtes gewesen, eine vollkommene und heile Welt zu schaffen, statt
einer Welt, in der jedenfalls die meisten Lebewesen mit der Angst leben müssen, von
anderen gefressen, umgebracht, bedroht, ausgebeutet, beraubt, übervorteilt oder in
anderer Weise schlecht behandelt zu werden. Es geht hier um das Problem der
Theodizee. Dieses hat Georg Steiner im letzten Kapitel seines 1999 in deutsch
erschienenen Werks „Errata, Bilanz eines Lebens“ treffend dargestellt. Die Seiten 206 bis
211 oben sind als Anlage beigefügt.
25
Für mich ist wie für Steiner und viele andere Denker die völlig verunglückte Schöpfung
mit kaum beschreibbarem Leid und Unrecht und der Gedanke an einen allmächtigen und
allgütigen Gott schlichtweg unvereinbar. Statt mir einen unfähigen oder gar bösartigen
Gott vorzustellen, habe ich mich für die Hypothese „Gott ist nicht“ entschieden und
befinde mich damit in Übereinstimmung mit Nietzsche: „Gott ist eine viel zu extreme
Hypothese“ (XII 212 ff).
Natürlich bin ich mir bewusst, dass viele Menschen an einen Schöpfergott glauben. Man
kann immer wieder beobachten, dass die Menschen vorwiegend das glauben, was sie
glauben möchten. Gewiss gibt es viele, die sich in der Vorstellung eines allmächtigen
Schöpfergottes, der sie leitet und beschützt und ihnen in einem späteren Leben
vollkommene Glückseligkeit verspricht, geborgen fühlen, also an solch einen Gott gerne
glauben möchten und dann auch an ihn glauben.
(39) Ein Hinweis auf die Entstehung des Glaubens der Juden an ihren Gott: Ursprünglich
hatten die Juden (wie übrigens alle archaischen Völker) mehrere Götter; Jehova war nur
einer von ihnen. Sie haben sich dann entschlossen, ihn als alleinigen Gott anzuerkennen,
allerdings nicht ohne Gegenleistung: Er sollte sie zu seinem auserwählten Volk machen
und zu ihnen und nur zu ihnen stehen. Der vielgepriesene Pakt war ein also Geschäft:
Do ut des. So schnell und unter solchen Umständen wurde der Schöpfergott, an den
auch die Christen glauben, geschaffen.
(40) Wenn ich der Annahme, dass kein Schöpfergott existiert, eine höhere
Wahrscheinlichkeit beimesse als der gegenteiligen Annahme, schließe ich damit die
Möglichkeit der Existenz Gottes nicht aus. Daher muss ich ihn, seine Existenz unterstellt,
auch ontologisch einordnen können. Das Alte Testament weist den Weg: Es lässt Jehova
zu Moses sagen: „Ich bin der Seiende.“ Existiert Gott, ist er zweifellos das höchste
Seiende, das alles andere Seiende geschaffen hat, wenn auch nicht aus dem nichts,
sondern durch Umschaffung aus schon immer vorhandenen kleinsten Bausteinen. Als
seiende Entität kann er nicht das Sein selbst sein, wie die Scholastiker annahmen; ich
würde sagen, er ist (von Ewigkeit zu Ewigkeit) mit dem Sein.
Seit Menschengedenken ist der Mensch auf der Suche nach dem Höchsten. In dem
bereits am Ende des Abschnitts 21 auszugsweise wiedergegebenen etwa 3200 Jahre
alten Schöpfungshymnus der Rigveda, heißt es:
Damals war nicht das Nicht-Sein noch das Sein,
kein Luftraum.., kein Himmel..., nicht Tod... noch Unsterblichkeit, nicht Nacht,
nicht Tag.
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit das Eine, außer dem kein anderes war.
Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden als der Erkenntnis Samenkorn die
Liebe.
Des Daseins Wurzelung im Nicht-Sein fanden die Weisen forschend in des Herzens
Triebe.
Auch einige Philosophen unseres Kulturkreises haben in späteren Jahrtausenden den
Begriff der oder das Eine für den Urgrund des Lebensstroms verwendet. Lao Tse spricht
in seiner ebenfalls bereits genannten Schrift Tao Te King vom Tao:
26
Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao,
der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name.
Das Unnennbare ist das ewig Wirkliche,... das Tor zu allem Verstehen.
.....
Es ist verborgen und doch immer da. Ich weiß nicht, wer es hervorbrachte.
Es ist älter als Gott.
....
Bevor noch Zeit und Raum bestanden, bestand das Tao schon.
Es liegt jenseits von Sein und Nicht-Sein.
Woher ich weiß, dass dieses zutrifft?
Ich schaue in mich hinein und sehe es.
Statt des In-Sich-Hineinschauens verwendet Jaspers das Bild des Hörens aus dem
Ganzen der Wirklichkeit. Angesichts dessen, dass unseren Sinnen nur die hier
wahrnehmbare Welt offen steht, können wir meines Erachtens mit Blick auf eine
angenommene unsichtbare Welt seriöser Weise allenfalls von einem ahnenden Erfassen
des Höchsten und des daraus hervorgegangenen Lebensstroms sprechen, zu dem auch
die Liebe und der Herzen Triebe (Rigveda) gehören. Auch Schiller spricht in seiner Ode
an die Freude von diesem Ahnen. Es versteht sich, dass das Ergebnis des ahnenden
Erfassens des Unbegreiflichen nichts konkret Greifbares, bildhaft Vorstellbares,
Mitteilbares sein und natürlich niemals zu einer Lehre führen kann. Es kann
äußerstenfalls zu einem leisen Bewusstsein führen, wie Jaspers es ausgedrückt hat.
Kein Glaube an ein Leben nach dem Tod
(41) Von allen Argumenten gegen ein Leben nach dem Tod überzeugt mich am meisten
die Tatsache, dass bisher noch nie beweisbar oder zumindest glaubhaft davon berichtet
wurde, dass ein Verstorbener einem Lebenden erschienen und ihm Einblick in sein neues
Leben gewährt habe. Kritiker halten dagegen, die Toten hätten Besseres zu tun (keine
Zeit), ein schwaches Verlegenheitsargument, finde ich. Wenn es ein solches Leben gibt,
werden nach meinem irdischen Tod meine Familienmitglieder die ersten Lebenden sein,
die hiervon aus erster Hand alles Wissenswerte erfahren werden.
Wer an ein Leben nach dem Tode glaubt, glaubt in der Regel an ein ewiges Leben, für
mich eher ein Alptraum. Tausend Jahre, vielleicht auch ein Bisschen mehr, ließe ich mir
schon gefallen, um das Universum zu durchsteifen und all die Erkenntnisse zu gewinnen,
die zu erlangen uns auf Erden nicht möglich war. Auch die Kommunikation mit anderen
Geistern und interspirituelle Liebe, falls es so etwas geben sollte, könnte ein Zeit lang
interessant und lebenserfüllend sein. Aber irgend wann, nach hunderttausend oder
Millionen Jahren kennt man alles, hat alles zur Neige genossen und begehrt nichts mehr;
es wird unsterblich langweilig, Ähnlich ergeht es ja auch dem aristotelischen Gott,
dessen einzige Beschäftigung es ist, sich selbst zu denken.
Spiritismus
(42) Für manche Menschen gehören zu den übernatürlichen Glaubensgrundsätzen auch
solche aus dem Bereich des Spiritismus. Sie mögen z. B. glauben, dass es über
Entfernungen hinweg geistige Verbindungen zu anderen Menschen gibt, dass es
Menschen gibt, die die Fähigkeit besitzen, aus der Ferne Krankheiten eines ihnen bis
27
dahin unbekannten Menschen zu erkennen und Linderung zu schicken (Telepathie). Es
wird berichtet von Menschen, die das künftige Schicksal anderer zutreffend vorausgesagt
oder die den Aufenthaltsort eines Vermissten „gesehen“ haben, von Müttern, die den
Tod ihrer Söhne im Krieg gespürt haben genau zu der Stunde, in der sie fielen. Sogar bei
Tieren will man Ähnliches beobachtet haben: Ein Hund fing genau in der Minute an zu
heulen, als sein Herr im Krankenhaus verstarb. Naturvölker berichten gar von geistigen
Verbindungen zu den Ahnen.
In diesem Bereich habe ich kaum Erfahrungen, so dass ich hier auch keine
Glaubenssätze entwickelt habe.
Übernatürliche Glaubensgrundsätze, Alternative
(43) Wenn ich auch an der Existenz eines Schöpfergottes und an der Unsterblichkeit des
Menschen eher zweifle, muss ich doch diese Möglichkeiten in Rechnung stellen. Daher
stelle ich die Frage, zu welchen Glaubensgrundsätzen ich gelangen würde, wenn ich, der
ich mich ja immer noch auf dem Wege sehe, einmal zu der Auffassung gelangen würde,
dass der Aussage „Gott ist“ eine höhere Wahrscheinlichkeit beizumessen wäre als der
gegenteiligen Aussage. Statt dessen könnte ich auch die Frage stellen, welche
Glaubensgrundsätze ein moderner, aufgeklärter, zu selbständigem Denken bereiter und
befähigter Mensch entwickeln könnte, der entsprechend dem Postulat des Dalai Lama
eine seiner kulturellen Herkunft und seiner Individualität entsprechende Religion anstrebt
und dabei von der Existenz eines Schöpfergottes ausgehen möchte, ohne eine der zu
ganz anderen Zeiten und unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen
entstandenen Offenbarungsreligionen mit den sie begleitenden Machtansprüchen und
Aggressionen, Mythen und teilweise infantilen Vorstellungen zu übernehmen.
(44) Bei den Überlegungen zu dieser Frage halte ich die Gottesvorstellungen von Karl
Jaspers für den geeigneten Ansatz, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Jaspers räumt (wohltuend) ein, dass jede philosophische Erkenntnis, auch und
insbesondere jede, die sich auf eine unserer sinnlichen Wahrnehmung
verschlossene unsichtbare Welt bezieht, auch unrichtig sein könnte,
2. Da wir somit nach seiner Auffassung Gott nicht wissen können, rät er dazu, sich
kein Bild von ihm zu machen, also auf die Entwicklung detailreicher Vorstellungen
von Gott zu verzichten,
3. Jaspers glaubt nicht, dass Gott sich jemals irgendeinem Menschen offenbart hat.
Wir können uns also Gott nur denkend nähern, und dieses auch nur in engen
Grenzen.
Somit übernehme ich (unter dem Aspekt der eingangs genannten Fragestellung)
zunächst die nachstehenden jasperschen Aussagen:
1. Gott ist.
2. Nichts, was ist, ist ohne ihn.
3. Wir können in Führung durch Gott leben; er teilt sich uns, jedenfalls in besonderen
Lebenssituationen, über unsere innere Stimme mit.
4. Gott ist nicht, was auch immer wir uns vor Augen stellen.
28
Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Jaspers sich in seinen Schriften, soweit
ersichtlich, nicht zu der Frage eines Lebens nach dem irdischen und der Frage eines
göttlichen Gerichts geäußert hat. Es ist nicht anzunehmen, dass Jaspers über diese
Fragen nicht nachgedacht hat, handelt es sich doch um alte philosophische
Fragestellungen, mit denen sich auch Plato, von Jaspers über alles geschätzt, befasst
hat. Daher ist anzunehmen, dass Jaspers sich mit Bedacht auf die vorgenannten
Aussagen beschränkt hat. Vielleicht wollte er auch –wie Plato- seine geheimsten
Gedanken keinem Buch anvertrauen. Gleichwohl möchte ich den Versuch unternehmen,
den Aussagen Jaspers` Aussagen zu einem Leben nach dem Tode und zu einem
göttlichen Gericht hinzuzufügen. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Bejahung eines
göttlichen Gerichts die Annahme einer menschlichen Seele voraussetzt, die nach dem
Tode des Körpers jedenfalls noch ein Zeit lang, vielleicht auch in Ewigkeit weiterlebt. In
gleicher Weise müsste man davon ausgehen, dass sich Gott – im Gegensatz zu der
Gottesvorstellung eines Aristoteles- für den Menschen interessiert und einen bestimmten
Willen in Bezug auf die Lebensführung der Menschen hat, der für die Menschen auch
erkennbar ist, da er sich sonst nicht vor seinem Gericht verantworten könnte, d. h. es
müssten auch Aussagen zum Willen Gottes gemacht werden, wohlgemerkt zum Willen
eines denkend angenommenen, nicht eines offenbarten Gottes. Zudem halte ich es für
erforderlich, auch auf die Frage einzugehen, ob es vorstellbar ist, dass der Mensch
Gottes Willen beeinflussen kann.
(45) Folgende weitere Glaubenssätze lassen sich aufstellen:
5.
6.
7.
8.
9.
Der Mensch verfügt außer seinem Körper über eine immaterielle Seele.
Gott erschafft die Seele eines jeden Menschen mit seiner Geburt.
Die Seele stirbt nicht mit dem Körper.
Es gibt ein göttliches Gericht.
Die Seele geht nach Verantwortung vor dem göttlichen Gericht in ein Leben
vollkommener Harmonie ein.
10. Der Mensch hat keinen Einfluss auf den Willen Gottes.
(46) Der Begriff der Seele in dem hier verwendeten Sinn ist ein rein religiöser. Er
bezeichnet das eigentliche ego des Menschen, das in der Zeit des irdischen Lebens mit
dem Körper verbunden ist und anschließend als geistiges Wesen weiterlebt. Unter
denjenigen, die die Existenz einer Seele bejahen, gibt es ganz unterschiedliche
Auffassungen darüber, wann die Seele entsteht. So gibt es z. B. den Glauben an die
Präexistenz der Seele und die Seelenwanderung. Manche glauben auch, dass nicht nur
Menschen sondern auch Tiere und sogar Pflanzen eine Seele haben. Die abrahamischen
Offenbarungsreligionen glauben dagegen, dass nur Menschen beseelt sind und dass
jeder Mensch über eine individuelle Seele verfügt, die von Gott geschaffen wird, wobei
der genaue Zeitpunkt im Unklaren bleibt. Ist es der Zeitpunkt der Befruchtung oder der
der Geburt oder ein Zeitpunkt dazwischen? Ich würde mich für den Zeitpunkt der Geburt
(des ersten Atemzuges) entscheiden. Ebenso bleibt unklar, welches das erste Lebewesen
in der Kette der Vorfahren des Homo sapiens sapiens war, dem diese Religionen eine
Seele zugestehen wollen. Alle diese Religionen glauben an die Unsterblichkeit der Seele.
Demgegenüber bleibt in der Aussage 7 offen, ob die Seele ewig lebt oder ob auch für sie
irgendwann einmal Ende ist. Sie beinhaltet jedenfalls ein Leben nach dem Tode; hierauf
komme ich nach Beleuchtung des 8. Glaubensgrundsatzes zurück.
29
(47) Bevor ich zu einem göttlichen Gericht komme, ist, wie dargelegt, zu ergründen,
welchen Willen in Bezug auf das menschliche Verhalten man einem von uns gedachten
Gott unterstellen könnte. Ich denke hier in erster Linie an die bereits behandelten
ethischen Grundsätze. Danach könnte der Wille Gottes in dem Postulat bestehen, uns
Gedanken über ethisch einwandfreies Verhalten zu machen, d. h. eine eigene Ethik zu
entwickeln oder nach Prüfung ethische Grundsätze anderer zu übernehmen und danach
zu leben. Da es aber durchaus unterschiedliche ethische Auffassungen geben kann,
würde die Seele eines jeden Menschen bei einem göttlichen Gericht danach beurteilt, ob
sie der von ihr für richtig gehaltenen Ethik gefolgt ist. Das würde zu dem absonderlichen
Ergebnis führen, dass der eine Mensch für eine bestimmte Handlung verurteilt werden
könnte, ein anderer für die selbe Handlung nicht. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit
als die, dass jeder Mensch, der Gott denkt, seine Vorstellungen über das richtige
menschliche Verhalten auf Gott überträgt, dieses deswegen, weil, wie Jaspers es
ausdrückte, niemand in objektiver Garantie weiß, was Gott will. (Hier wird das Dilemma
des Glaubens an einen Schöpfergott, den sich der menschliche Geist erschafft,
besonders deutlich.)
(48) Wie soll man sich das göttliche Gericht vorstellen? Mit Sicherheit nicht in der Art
eines menschlichen Gerichts wie die Offenbarungsreligionen es tun. Die Art wie
Menschen seit jeher Gericht halten, ist schon für diese, gemessen an ihrem Verstand, auf
den sie sich so viel einbilden, ein Armutszeugnis erster Kategorie, ist ihnen bisher doch
kaum etwas anderes eingefallen, als auf ein tatsächliches oder vermeintliches
Fehlverhalten mit der Knüppel-aus-dem-Sack-Methode zu reagieren. Eine derartige
Veranstaltung kann einem weit über den Menschen stehenden Gott ganz offensichtlich
nicht als Vorbild dienen. Insofern kann man die Vorstellungen der
Offenbarungsreligionen über das göttliche Gericht nur als infantil bezeichnen, wie
übrigens viele andere Vorstellungen dieser Religionen ebenfalls. In Anlehnung an Jaspers
würde ich auch hier sagen:
„Das göttliche Gericht ist nicht, was auch immer wir uns vor Augen stellen.“
(49) Es bleibt die Frage, wie unsere Seele nach dem Tod und nach dem Gang durch das
göttliche Gericht lebt. Die meisten Menschen haben in ihrem irdischen Leben von
anderen Menschen Leid und Unrecht erfahren, viele haben anderen Leid und Unrecht
zugefügt. Menschen haben andere Menschen geliebt, wieder andere gehasst. Das Leben
nach dem Tod sollte schon ein besseres Leben sein als hier, vor allem ein Leben ohne
Zorn oder gar Hass auf andere Seelen, denen man dort begegnen mag, andererseits
auch ohne ein permanent schlechtes Gewissen gegenüber denen, denen gegenüber man
sich auf Erden stets oder in einzelnen Fällen verwerflich verhalten hat. Schafft Gott hier
einen Ausgleich, der dazu führt, dass alle in vollständiger Harmonie miteinander leben?
Man mag es hoffen, aber wie will er das hinbekommen? Man könnte z.B. daran denken,
dass er unsere Erinnerung an das irdische Leben auslöscht oder sie so modifiziert, dass
wir keine belastenden Erinnerungen mehr haben.
(50) Viele stellen sich vor, im Jenseits geliebten Menschen wiederzubegegnen, jedoch
ohne Eifersucht. Hierzu ein einfaches Beispiel: Eine Frau verliert in jungen Jahren ihren
geliebten Ehemann. Später verliebt und verheiratet sie sich erneut. Im Jenseits trifft sie
beide Männer wieder. Dort kann es ja wohl nicht sein, dass die beiden Männer sich
30
ihretwegen in die Haare geraten. Auch in solchen Situationen ist das Eingreifen Gottes
vonnöten, um negative Empfindungen erst gar nicht entstehen zu lassen.
Wie das Leben der Seelen im einzelnen verläuft, nachdem sie sich für ihr Verhalten im
irdischen Leben vor Gott verantwortet haben, und wie Gott die Harmonie (die
tranquilitas animae, um mit Seneca zu sprechen) herstellt, dazu würde ich wieder in
Anlehnung an Jaspers sagen:
„Das Leben nach dem Tode und dem göttlichen Gericht ist nicht, was immer wir uns vor
Augen stellen.“ Es bleibt jedoch die Aussage eines Lebens in vollständiger Harmonie.
(51) Vom Jenseits wieder zurück zum irdischen Leben. Der 10. Glaubensgrundsatz
schließt aus, dass die hier vorgetragene Religion in die Niederungen einer Religion des
Ich abgleitet. Gott weiß, was er will und handelt danach. Er hat den vollen Durchblick,
begeht keine Denkfehler, übersieht nichts bei seinen Entscheidungen. Es gibt nichts, auf
das wir ihn aufmerksam machen müssten. Unsere Wünsche kennt er im Voraus. Aus all
diesen Gründen sind Sühne, Opfer und Gebet obsolet, jedenfalls zur Beeinflussung
seines Willens. Gebete sind aber auch als Lobpreisungen obsolet. Gott kennt seine Größe
besser als wir, er benötigt keine Streicheleinheiten seitens seiner Geschöpfe.
Namensgebung
(52) Mit den vorstehenden Ausführungen habe ich meine Lebensauffassung als
Grundlage meiner Religion dargestellt. Da philosophisch begründet zähle ich sie zu den
Religionen der Erkenntnis. Wenn ich ihr einen Namen geben sollte (der ersten
Alternative, die nicht von der Existenz eines Gottes ausgeht), würde ich sie Natürliche
Religion nennen, zum einen weil sie das, was Hellinger als natürliche Religion
bezeichnet, als einen der Bausteine und Denkansätze beinhaltet, zum anderen weil sich
die Goldene Regel als Fundament meiner ethischen Grundsätze ebenfalls aus
allgemeinen menschlichen Erfahrungen ergibt und weil auch das Streben nach einem
bejahenswerten Leben als etwas Natürliches betrachtet werden kann. Für diese
Namensgebung spricht ferner, dass bei der hier als Grundlage der Religion
vorgetragenen Lebensauffassung in Ermangelung eines Schöpfergottes die Natur die
höchste Gewalt darstellt, die alle Entwicklungen steuert.
Religionsrating
(53) Meine Definition des Begriffs Religion bringt es mit sich, dass Religionen bewertet
werden müssen. Sie können gut oder schlecht sein. Sie müssen sich unter ethischen
Gesichtspunkten einem Rating unterwerfen. Hierzu ein Beispiel:
Die Lebensauffassung eines angenommenen Menschen umfasse folgende Grundsätze:
Übernatürliche Glaubensgrundsätze
Gott liebt starke Menschen. Schwachen Menschen hat er die Aufgabe zugewiesen, den
starken zu dienen.
Natürliche Glaubensgrundsätze
Der Sinn des Lebens besteht darin, nach Stärke, Macht und Besitztümern zu streben.
Schwächere wollen unterworfen und ausgebeutet werden.
31
Ethische Grundsätze
Jedes Mittel, das der Erreichung des beschriebenen Lebensziels dient, ist legitim, auch
Gewalt, Lug und Betrug
Wenn dieser Mensch diese Grundsätze praktiziert, ist auch er religiös in dem von mir
definierten Sinn. Natürlich handelt es sich um eine absolut destruktive Religion. Sie
würde somit ein denkbar schlechtes Rating erfahren.
(54) Betrachten wir doch einmal unter diesem Blickwinkel einige der sogenannten
„großen Weltreligionen“. Das Kasten(un)wesen des Hinduismus, der nach der Definition
Hellingers ebenfalls unter die Religionen des Ich einzureihen ist, weist ähnlich
destruktive Züge auf wie die zuletzt skizzierte Religion. Pervers auch der Brauch der
Witwenverbrennungen. Die meisten bekannten Religionen waren in ihrer Geschichte
absolut intolerant und aggressiv und sind es teilweise heute noch. Der erste Völkermord
der Geschichte wird im Alten Testament berichtet und wurde von den Juden verübt,
dazu noch an einem ihnen freundlich gesonnen Volk, das zum Judentum übertreten
wollte. Christen sind ausgezogen, um Mohammedaner zu vernichten (Kreuzzüge) und
vielleicht auch umgekehrt, und zwar aus voller religiöser Überzeugung. Verschiedene
Glaubensrichtungen innerhalb des Christentums und des Islam haben sich gegenseitig
umgebracht, wiederum aus religiöser Überzeugung. Die Missionierungen beider
Religionen verliefen nicht selten blutig: wer nicht glauben wollte, wurde ermordet. Selbst
kleinste Abweichungen von der offiziellen Glaubenslehre wurden mit schlimmsten
Folterungen und häufig mit Verbrennung bei lebendigem Leibe „bestraft“ (Inquisition).
Wiederum glaubten die Machthaber innerhalb der katholischen Kirche, die Folterer und
Henker und auch häufig die den Prozeduren beiwohnenden einfachen Gläubigen, dass
hiermit in besonderer Weise der Wille ihres Gottes - in diesem Fall wäre der Ausdruck
Götze wohl richtiger - erfüllt werde. Die von der römischen Kirche über lange Zeiträume
betriebene sog. „Hexen“-Verfolgung mit unbeschreiblich grausamen und
langanhaltenden Folterungen völlig unschuldiger Menschen liegt auf der selben Ebene.
Die Religion deren, die in diese schlimmen Verbrechen verstrickt waren oder sie
guthießen, kann nur auf der untersten Stufe aller schlechten Religionen angesiedelt
werden. Es darf daran erinnert werden, dass die katholische Kirche sich von all diesen
Verbrechen bisher kaum distanziert hat: kein dafür verantwortlicher Papst, Bischoff, Abt
oder Inquisitor wurde posthum exkommuniziert, kein Verurteilter rehabilitiert. Die
spanischen Bischöfe verteidigen heute noch die Ermordung von Millionen Indios als der
Sache des Glaubens dienlich. Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass
auch Martin Luther die sog. „Hexen“-Verfolgung guthieß und dass seine Anhänger sich
mit großem religiösen Eifer an den kaum beschreibbaren Grausamkeiten gegenüber
ihren Mitmenschen beteiligten, auch hier also ein vernichtendes Rating. Das Gleiche gilt
für Calvin.
Andere grausame „Strafen“ für tatsächliche oder vermeintliche Regelverstöße, wie sie
Inhalt der islamischen Sharia sind, und ähnliche Praktiken der Juden im Altertum liegen
auf der selben Linie.
(55) Wir können aber auch einen Blick in die Gegenwart werfen. Wie wir aus dem im
Jahr 2002 gedrehten Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ wissen, beendete die
katholische Kirche die Sklaverei erst 1996 mit der letzten Schließung der
Magdalenenheime in Irland. Statt den noch lebenden Opfern sofort für die jahrelang
32
erlittenen Peinigungen und Demütigungen großzügige Entschädigungen anzubieten,
versuchte der Nachfolger der Großinquisitoren, der bayerische Kardinal Ratzinger, der
heutige Papst, den auf recherchierten Tatsachen beruhenden Film verbieten zu lassen!
Im Frühjahr 2003 ging durch die Weltpresse, dass in Südamerika ein 9-jähriges Mädchen
exkommuniziert worden ist, weil es mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen nach
einer Vergewaltigung eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Wiederum waren es die
selbstgerechten spanischen Bischöfe, die diese Maßnahme guthießen. Der damalige
Papst, hat nicht nur nichts dagegen unternommen, sondern die Exkommunikation
gebilligt. (Seine erwachsenen polnischen Landsleute, die regelmäßig in Deutschland
Autos stehlen, dürfen dagegen Mitglieder der Kirche bleiben, desgleichen Bischöfe und
andere Kleriker, die sich des Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht haben.)
(56) Alle Offenbarungsreligionen konnten offenbar mühelos die massenweise
Versklavung von Mitmenschen in ihre Religionen integrieren. „Gottes eigenes Volk“, die
ach so christlichen US-Amerikaner, hatten ebenso wenig religiöse Bedenken, sich einen
ganzen Kontinent unter den Nagel zu reißen, indem sie Millionen Indianer umbrachten
und die verbliebenen (bis heute) entrechteten und den Kontinent anschließend von
Negersklaven urbar machen zu lassen. Ein Bekannter, der in Florida eine Wohnung
besitzt, erzählte mir von einer eifrig religiösen Amerikanerin, die sogar auf ihrer
Internetseite Propaganda für Christus betreibt, aber die Straßenseite wechselt, wenn ihr
ein Schwarzer entgegenkommt. Bleiben wir bei den Amis. Sich Christen nennende
Führungskräfte amerikanischer global agierender Unternehmen können es anscheinend
gut mit ihrer Religion vereinbaren, wenn sie durch Mordtrupps große Gebiete des
brasilianischen Urwalds „indianerfrei“ machen lassen, weil die brasilianische Regierung
nur Land, auf dem keine Indianerstämme ansässig sind, an ausländische Unternehmen
verkauft. Sie haben auch keine religiösen Bedenken, in Mittel- und Südamerika Bananen
und andere Früchte anzubauen und dabei in Massen Pestizide zu verwenden, die in allen
zivilisierten Staaten längst verboten sind, und die einheimischen Arbeiter völlig ohne
Masken und Schutzkleidung arbeiten lassen, mit der Folge, dass sie nach 5 Jahren Arbeit
für einen Hungerlohn gesundheitlich für den Rest ihres Lebens ruiniert sind. Die
Mitglieder aller amerikanischen Regierungen des vorigen Jahrhunderts, die bei jeder
Gelegenheit Gott im Mund führten, hatten keine religiöse Bedenken, die übelsten
Diktatoren in Mittel- und Südamerika zu unterstützen, wenn sie nur bereitwillig ihr Land
und ihre Bewohner der Ausbeutung durch US-Konzerne zur Verfügung stellten. Wurde
einmal eine demokratische Regierung gewählt, die im Interesse ihres Landes und ihrer
Bevölkerung tätig sein wollte, wie in Chile (Alliende), destabilisierte man mit viel Geld das
Land und ließ den Präsidenten und führende Mitglieder der neuen Regierung binnen
kürzester Zeit durch den CIA umbringen.
(57) In Saudi-Arabien und anderen islamischen „Gottesstaaten“ erhält ein vergewaltigtes
Mädchen von Religionspolizisten 180 Peitschenhiebe, weil es Geschlechtsverkehr vor der
Ehe hatte (Hirsi Ali, S. 90). Im Jemen wurde sogar eine 13jährige, die von drei jungen
Männern überfallen und vergewaltigt wurde, gesteinigt. Das gleiche Schicksal erwartet in
den meisten mohammedanischen Staaten alle Frauen, die sich außerhalb der Ehe einem
Mann in Liebe hingeben, also von ihrem Recht der sexuellen Selbstbestimmung
Gebrauch machen. Ebenfalls aus religiösen Gründen schlagen mohemmedanische
Männer ihre Frauen und Töchter; letztere werden oft in einer Zwangsheirat der
permaneneten Vergewaltigung durch einen ihr fremden und ungeliebten Mann
ausgesetzt. Hirsi Ali: Ich klage an. Theo van Gogh: Submission (Drehbuch Hirsi Ali).
33
Wenn Religion die Art ist, wie wir uns anderen gegenüber verhalten, liegt das Rating für
diese Religion auf der Hand: abartig, menschenunwürdig.
(58) Ich gehe davon aus, dass es zu allen Zeiten und in den verschiedensten Ländern
auch Angehörige der vorstehend kritisierten Religionen gegeben hat und auch heute
gibt, die in ihrer praktischen Lebensführung hohe ethische Grundsätze wie z. B.
Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, Toleranz, Milde, Güte und Wahrhaftigkeit beachtet und
verabscheuungswürdige Grundsätze ihrer Religionen gemieden haben. Das
Religionsrating betrifft zum einen die Qualität einer bestimmten Religionslehre, zum
anderen die Verhaltensweise des Einzelnen : die Religion (das Verhalten) des einen kann
ein gutes Rating erfahren, die Religion eines anderen der selben Religionslehre
angehörenden, und zwar eines aus religiöser Überzeugung so handelnden Menschen, ein
vernichtendes.
Quintessenz
(59) Zum Schluss möchte ich meine wichtigsten Gedanken wie folgt zusammenfassen:
1. Bestandteile einer Religion
Grundlage einer Religion, wie ich sie verstehe, sind ethische Grundsätze, natürliche
Glaubensgrundsätze und übernatürliche Glaubensgrundsätze.
Die ethischen Vorstellungen verschiedener Menschen können weit auseinander gehen.
Bei seinen Glaubensgrundsätzen sollte jeder ins Kalkül stellen, dass sie auch falsch sein
könnten (keine Orthodoxie).
2. Meine Position
Im Bereich der Ethik halte ich die „Goldene Regel“ in der im Abschnitt 28 dargestellten
erweiterten Fassung und die "unbedingten Forderung" im Sinne Kants und Jaspers` für
richtungweisende Prinzipien.
Bei den natürlichen Glaubensgrundsätzen gehe ich von der Geworfenheit des Menschen
aus. Ich glaube, dass wir im eigenen Interesse die Aufgabe haben, das Beste aus der
jeweils gegebenen Situation zu machen, mit dem Ziel, zu einem bejahenswerten Leben
zu gelangen. Im übrigen folge ich einigen der Grundüberzeugungen des Dalai Lama, wie
in Abschnitt 30 dargestellt.
Im übernatürlichen Bereich glaube ich lediglich, dass Kräfte auf uns einwirken, die für
uns geheimnisvoll bleiben. Insbesondere glaube ich nicht an eine unsterbliche Seele des
Menschen. Zur Gottesfrage die folgenden Ziffern 3 und 4.
Für mich ist die Religion reine Privatsache. Natürlich kann man mit anderen darüber
sprechen, allerdings ohne Missionierungsabsicht. Jeder möge seine eigenen religiösen
Vorstellungen haben und danach leben, ohne sie demonstrativ in die Öffentlichkeit zu
tragen. Religion ist für mich demzufolge keine soziale Veranstaltung! Hier ist jeder
einzeln (Hesse, Jaspers, Hellinger).
34
3. Keine Existenz eines offenbarten Gottes
Wenn es einen Schöpfergott gibt, gibt es ihn nur als gedachten nicht als offenbarten
Gott. Wer auch immer behautet, ihm sei ein übernatürliches Wesen erschienen und habe
sich ihm als Schöpfergott offenbart, ohne hierfür Beweise oder wenigstens eine Reihe
nachprüfbarer Anhaltspunkte vorzulegen, ist in meinen Augen schlichtweg ein
Scharlatan.
Gäbe es einen offenbarten Gott und wäre sein Interesse an den Menschen so groß wie
von den Offenbarungsreligionen behauptet wird („er schuf den Menschen nach seinem
Bilde“), würde er mit den Menschen regelmäßig kommunizieren so, wie er es nach der
biblischen Schöpfungsgeschichte mit den ersten Menschen tat oder wie dem NT zufolge
Engel nach der Himmelfahrt Christi zu den versammelten Menschen sprachen, wobei
jeder die Engel in seiner Sprache vernahm. In seiner Allmacht wäre es Gott, wenn es ihn
mit den Eigenschaften gäbe, die die Offenbarungsreligionen ihm andichten, ein Leichtes,
Wege zur gleichzeitigen Kommunikation mit Milliarden Menschen zu finden. Er würde
sich jedenfalls nicht damit begnügen nur einmal in der Menschheitsgeschichte einem
einzelnen Menschen zu erscheinen.
Die Offenbarungsreligionen folgen teilweise recht naiven Vorstellungen, treten
rechthaberisch, intolerant und aggressiv auf und haben im Laufe ihrer Geschichte eine
grässliche Blutspur hinterlassen. Zudem übertreffen die von ihnen erfundenen Strafen in
einem jenseitigen Leben an Grausamkeit alle denkbaren irdischen Verbrechen, indem sie
insbesondere den sog. Ungläubigen das ewige Feuer androhen. Das bedeutet, dass die
Betroffenen nicht wie bei einer irdischen Verbrennung auf dem Scheiterhaufen nach
kurzer Zeit mit einem Ende ihrer entsetzlichen Qualen rechnen könnten, sondern diese
Abermilliarden Jahre zu ertragen hätten.
Fazit: Religionen, die von der Existenz eines offenbarten Gottes ausgehen, ohne für die
behauptete Offenbarung auch nur den geringsten Beweis vorweisen zu können, sich
ihren Gott in vielen Einzelheiten als ein menschenähnliches Lebewesen ausmalen und
dann auch noch vorgeben, seinen Willen in allen möglichen Verästelungen zu kennen,
sind für mich als Lehre nicht ernsthaft diskutierbar. Was den Einzelnen und sein
Verhalten anbetrifft, verweise ich auf Abschnitt 58.
4. Mögliche Existenz eines gedachten Gottes
Von den überlieferten Anfängen der Philosophie bis in die heutige Zeit hat es zahlreiche
Philosophen gegeben, die sich in ihrem Bemühen um Erkenntnis auch mit der Frage
befasst haben, ob es jenseits der uns sichtbaren Welt noch eine andere und dort eine
Kraft geben könne, die die sichtbare Welt hervorgebracht hat. Nicht wenige dieser
Denker haben diese Frage bejaht und in die Form einer philosophischen Aussage
gekleidet, die in der kürzesten Form lautet: „Gott ist“. Zusätzlich kann man zu einigen
wenigen weiteren Aussagen gelangen, wie sie in Abschnitten 44 und 45 entwickelt
wurden, allerdings mit der größten Behutsamkeit und unter Verzicht detailreiche
Ausmalungen, da man sich bereits mit der Grundaussage Gott ist auf dünnem Eis
befindet. Wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein, dass alle Aussagen nur Hypothesen
sind, die richtig oder falsch sein können.
35
Wie Jaspers das Wagnis einzugehen, an diese Hypothesen zu glauben und auch immer
wieder in sich hinein zu horchen, ob man Gottes Stimme vernimmt, um sich von ihr
leiten zu lassen, ist nach meinem Urteil eine vollkommen akzeptable und hoch stehende
religiöse Haltung.
5. Hoch stehende Religionen auch ohne Gottesvorstellung möglich
„Religion ohne Gott“ titelte der Stern in Heft 47/2004.über den Buddhismus. Und weiter:
„Diese Religion kennt keinen Schöpfer ... lehrt aber höchsten Respekt vor jedem
Lebewesen. Philosophische Kraft und Friedfertigkeit machen den Buddhismus auch für
Menschen in westlichen Ländern zunehmend attraktiv.“ Die ursprüngliche, reine Lehre
Buddhas sei „eigentlich“ ein Paradox: eine Religion ohne den Glauben an einen höheren
Geist oder ein göttliches Gebot, ohne verbindliche Glaubensregeln, ohne Organisation
und ohne Priester. „Buddhismus ist tiefe Frömmigkeit auf der Basis hoher
Philosophie – und für die meisten Frommen viel zu anspruchsvoll.“
Außer dem Buddhismus, den es übrigens, wie alle anderen Religionen, in vielen
Varianten gibt, sind natürlich auch andere Religionen ohne Gottesvorstellung möglich.
Wir erinnern uns an den Ausspruch des Dalai Lama, dass im Grunde jeder Mensch seine
eigene Religion haben müsste. Die von mir in in dieser Arbeit vorgestellte Natürliche
Religion mit ihren Glaubens- und ethischen Grundsätzen, die teilweise vom Buddhismus
übernommen wurden, gehört ebenfalls in die Kategorie dieser Religionen.
Auch Peter Ustinov vertritt in seinem Buch „Achtung! Vorurteile“ die Auffassung, man
könne in seinem Inneren ein sehr religiöser Mensch sein, ohne an einen Gott zu glauben.
Die Verehrung eines entrückten Gottes habe die Menschen auch nie überzeugt. Daher
hätten sie sich ein Bild von ihm zu machen versucht. So wie sie Tiere sprechen ließen,
um sie sich näher zu bringen, hätten sie ihrem Gott eine menschliche Gestalt angedichtet
(S. 231 f).
6. Warum Dominanz der Religionen des Ich?
Wie in Abschnitt 3 ausgeführt, versteht Hellinger unter den Religionen des Ich solche,
die an eine höhere für uns unsichtbare Macht oder Mächte und die Fähigkeit der
Menschen glauben, diese durch Opfer , Sühne, Gebet u. ä. in einer für uns positiven
Weise beeinflussen zu können. Zu diesen Religionen gehören insbesondere der
Hinduismus und die abrahamischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam). Es gibt
aber auch Varianten (besser Abarten) des Buddhismus, die Buddha, weitab seiner Lehre,
zu Gott erheben, an den man sich mit seinen Anliegen wenden kann, und die sich,
vergleichbar mit dem Islam, ein Jenseits mit vielen Freuden ausmalen, z. B. köstliche
Speisen und Jungfrauen, deren Jungfräulichkeit sich jede Nacht erneuert. Wo solche
Vorstellungen um sich greifen oder sich der Buddhismus, wie in Sri Lanka und Thailand,
mit dem Animismus (Geisterglauben) vermischt, kippt er und wird in diesen Abarten
ebenfalls zu einer Religion des Ich. Ähnliche Entwicklungen hat es auch im Taoismus
gegeben. Dieser ist heute aufgegangen im „Chinesischen Universalismus“, einer
Mischung aus Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus und archaischen Volksreligionen
mit 72 Göttern, von denen jeder für bestimmte Anliegen der Menschen zuständig ist,
ähnlich wie die Heiligen im Katholizismus.
36
Wie ist es zu erklären, dass die meisten Menschen, die einigermaßen ernsthaft als
religiös betrachtet werden können, sich zu solchen Religionen bekennen, Religionen, bei
denen es sich – im Lichte analysierenden Verstandes - ganz offensichtlich um von
Menschenhand gefertigte Konglomerate aus Mythen, Wunschvorstellungen, naiven
Phantasien, Geiser- und Dämonenglauben und archaischen Lebensvorstellungen handelt,
vielfach in Verbindung mit Regelwerken und Mechanismen, die den
Religionsfunktionären Geltung und Macht über viele Menschen sichern, Macht, die sich
nicht selten auf Leib und Leben der betreffenden Religionsangehörigen erstreckt und
darüber hinaus auch noch auf das Schicksal in einem angenommenen jenseitigen Leben
(„Wem Ihr die Sünden behalten werdet, dem sind sie behalten“, er kommt also in die
„Hölle“)?
a) Religionen der Erkenntnis zu anspruchsvoll für die breite Masse
„Für die meisten Frommen viel zu anspruchsvoll“, schreibt der Stern über den
Buddhismus. Dieses gilt in gleicher Weise für die anderen Religionen der Erkenntnis. Die
einfachen Menschen wollen Götter, und zwar solche zum Anfassen und zum Anbeten.
Sie wollen auch Wunder erleben (oder wenigstens von solchen hören), und sie wollen
Zeremonien, Mysterien und das ganze Brimborium, mit dem die Religionen des Ich sich
umgeben.
Einer der großen arabischen Philosophen des Mittelalters, Ibn Roschd, latinisiert Averroes
(1126-1198), verstand das Verhältnis von Philosophie und Religion so, „dass die höhere
und reine Wahrheit, die der Philosoph in seiner Philosophie erkennt, in der Religion in
einer bildhaften Einkleidung erscheint, die dem schwachen Verstand der Menge
angepasst ist“ (Störig, S. 279). Im gleichen Sinne hatte sich bereits 1100 Jahre früher
Seneca geäußert. Nietzsche formulierte, Religion sei Platonismus für`s Volk. Averroes
selbst, obwohl dem Islam zugehörig, glaubte wie sein hoch geschätztes Vorbild
Aristoteles und sein großer Vorgänger Ibn Sina, latinisiert Avicenna (980-1037), an einen
gedachten Gott; Allah war die bildhafte Einkleidung für die Menge. Die einfachen
Menschen brauchen Bilder, um das Leben zu verstehen. Die aus philosophischen
Reflektionen gewonnenen Religionen erreichen die Köpfe einer geistigen Aristokratie
(Stern), nicht die Herzen der Frommen. Daher gilt: Die Verbreitung einer Religion
steht im reziproken Verhältnis zu ihren intellektellen Anforderungen.
b) Herdentrieb, gesellschaftliche Zwänge
Wie in Abschnitt 5 dargelegt, vermitteln die Religionen des Ich dem Einzelnen das Gefühl
der Zugehörigkeit zu einer meist großen Gruppe und auch Halt und Trost. Viele ziehen
die Behaglichkeit der Herde und ein beschauliches Leben einem autonom gestalteten
vor, bei dem man ja von seinen Geistesgaben regen Gebrauch machen müsste. Im
Übrigen ist es für viele nicht möglich, die angestammte Religion zu verlassen, ohne aus
Familie und Volk verstoßen oder gar getötet zu werden.
c) Gefährlichkeit unabhängigen Denkens
Nicht an die Meinung der Mächtigen angepasstes Denken war schon immer gefährlich.
Sokrates wurde 400 v.Chr. zum Tode verurteilt, Aristoteles und Averroes wurden gegen
Ende ihres Lebens verbannt, Giordano Bruno 1600 in Rom von der katholischen Kirche
37
öffentlich bei lebendigem Leibe verbrannt. Kant konnte von Glück sagen, dass er nach
dem Erscheinen seines Buches "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft"
von seinem nur mit schwachen Verstand ausgestatteten König lediglich eine Verwarnung
erhielt, in der er „bei Vermeidung höchster Ungnade und unfehlbar unangenehmer
Verfügungen“ aufgefordert wurde, nicht „weiterhin Grundlehren der Heiligen Schrift und
des Christentums zu entstellen und herabzuwürdigen“. Albert Einstein wurde nach seiner
Emigrierung in die USA permanent vom FBI überwacht.
d) Keine Zeit für Reflektionen, Trägheit
Für mich erstaunlich ist, dass nicht wenige erwachsene Menschen mit hohem Intellekt,
die in einer Gesellschaft mit Religionsfreiheit und Toleranz leben, sich gleichwohl zu einer
Religion des Ich bekennen, in die sie hineingeboren wurden. Einem dieser Menschen
habe ich den Entwurf dieser Abhandlung zum Lesen gegeben. Nach der Lektüre sagte er
mir, er habe in seinem bisherigen Leben noch keine Zeit gefunden, sich mit den von mir
untersuchten Fragen auseinander zu setzen und auch nicht, die hier zitierten
Schriftsteller zu lesen. „Ich arbeite 60 Stunden pro Woche in meinem Beruf, die Familie
kommt bereits zu kurz, woher soll ich die Zeit hierzu nehmen?“ Auf Grund einer
gewissen Trägheit und Bequemlichkeit stellt er die angestammte Religion nicht in Frage.
Er folgt weder dem Postulat Senecas, sich neben der beruflichen Betätigung auch
genügend Zeit für die Philosophie (und die Künste) zu nehmen, noch oder nur in
Teilbereichen dem sokratischen Postulat, das Leben zu prüfen, wozu für mich auch
gehört, den ganzen Schutt, den in unserer Kindheit Elternhaus, Schule, Kirche, Staat und
interessierte Organisationen auf unsere Seele gehäuft haben, im Erwachsenenalter
Schicht um Schicht abzutragen, um zur reinen und höheren Wahrheit zu gelangen, wie
Averroes sich ausdrückt. Natürlich gibt es keine absolute Wahrheit (Hinweis auf Sokrates
und Jaspers), wohl aber höhere Erkenntnisse, die ich mir erarbeite und an die ich zu
glauben wage und nach denen ich mein Leben einstweilen ausrichte, einstweilen
deswegen, weil der philosophierende Mensch immer auf dem Wege ist (Jaspers), bis an
sein Lebensende offen für neue Erkenntnisse und bereit zu dadurch bedingten
Kurskorrekturen, wenn es sein muss auch zu Paradigmenwechseln.
***
Literaturverzeichnis
1. Einführung in die Philosophie
Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie
Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie
Morris, Tom: Philosophie für Dummies
Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie
mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, 4 Bd. (antiq.)
2. Altindische und altchinesische Philosophie
Durant, Will: Das Vermächtnis des Ostens (antiq.)
Mylius, Klaus: Geschichte der altindischen Literatur
38
Störig, a.a.O. Erster Teil, Die Weisheit des Ostens, (S.33-126)
Deussen, a.a.O. Band 1
Lao Tse: Tao Te King
3. Griechische und römische Philosophie
Platon: Georgias ; Phaidon ; Phaidros
Aristoteles: Peri Psychäs (Über die Seele)
Aristoteles: Nikomachische Ethik
Seneca: Philosophische Schriften
Seneca: Briefe an Lucillius über Ethik
4. Islamische Scholastik
Ibn Tufail: Hayy Ibn Yaqdhan
Averroes (Ibn Roschd bzw. Ibn Ruschd): Über den Intellekt, herausgegeben von David
Wirmer, 2008 Arabisch (teils Hebräisch) - Lateinisch – Deutsch
5. Humanismus, Renaissance, Barock
Cusanus, Nicolaus: De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit)
Rotterdam, Erasmus von: Lob der Torheit
Bruno, Giordano: Della causa principio ed uno (Von der Ursache, dem Prinzip und dem
Einen)
Spinoza, Baruch de: Theologisch-Politisches Traktat; Ethik, nach geometrischer Methode
dargestellt
6. Aufklärung
Kant, Immanuel: Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft
Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen der Religion
Safranski, Rüdiger: Nietzsche, Eine Biographie seines Denkens
7. Existenzphilosophie (19. - 20. Jh.)
Kierkegaard, Sören: Entweder / Oder
Jaspers, Karl: Der Philosophische Glaube (1948)Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube
angesichts der Offenbarung (1962)
Jaspers, Karl: Chiffren der Transzendenz (auch als Hörbuch -Vorlesungsmitschnitterhältlich)
Heidegger, Martin: Sein und Zeit
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts
Camus, Albert: Der Mythos vom Sisyphos
Lütkehaus, Ludger: Nichts (Zürich 1999, Ffm. 2003)
39
8. Sozialphilosophie / Philosophie der Ethik (20. Jh.)
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische
Zivilisation
Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik, zur Praxis des Prinzips Verantwortung
9. Philosophie der Lebenskunst (20. Jh.)
Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst, Eine Grundlegung
Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, glücklich zu sein
Russel, Bertrand: Eroberung des Glücks,
Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung
Dalai Lama / Cutler, Howard C. : Die Regeln des Glücks
Morris, Tom: Aristoteles auf dem Chefsessel
10. Sonstige Schriften
Die Bibel (AT + NT)
Parlament der Weltreligionen: Erklärung zum Weltethos, Chicago 4.9.1993
Hesse, Hermann: Siddhartha
Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, Kapitel Psychotherapie und Religion
Mitscherlich, Alexander + Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern,
Grundlagen kollektiven Verhaltens
Steiner, George: Errata, Bilanz eines Lebens
Ustinov, Peter: Achtung! Vorurteile (2003)
Ali, Ayaan Hirsi: Ich klage an – Plädoyer für die Befreiung der
muslimischen Frauen (2004)
Yeo, Elisia: Islam`s not her cup of tea, Being an apostatate in Malaysia is no easy
matter; Bankok Post vom 31.12.2005 (Outlook, S. 8; der Fall Kamariah Ali)
Anmerkung
Wenn sich in der Aufstellung keine Werke der Patristik und der Scholastik finden, also
des Zeitraums von etwa 100 bis 1400 - mit Ausnahme der Islamischen Scholastik -, so
liegt das darin begründet, dass die Philosophie dieser Zeit vornehmlich eine AgitpropPhilosophie (von Agitation und Propaganda) war. Beispielhaft nenne ich Augustinus und
Thomas. Aurelius Augustinus (354-430) war sicherlich ein großer Philosoph; jedoch war
sein Anliegen in erster Linie die philosophische Untermauerung des Christentums, das als
rein narrative (auf einer unsystematischen Abfolge von Erzählungen beruhende) Religion
daherbekommt. Thomas von Aquin (1225-1274) war der bedeutendste christliche
Theologielehrer seiner Zeit, ein großer Systematiker und Verfasser zahlreicher
religionsphilosophischer Schriften. Dabei setzte auch er die Philosophie insbesondere als
Werkzeug für christlich-theologische Zwecke ein. Er war allerdings auch geistiger
Wegbereiter der sog. „Hexen“-Verfolgung. Seine Lehren sind für die Kurie in Form des
Neuthomismus immer noch state of the art. Wertschätzung bringe ich allerdings den
beiden großen, in der Quintessenz (Ziffer 6 a, 3. Absatz) genannten arabischen
Philosophen Avicenna und Averroes sowie Ibn Tufail entgegen, die man als frühe
Aufklärer (im Bereich des bis heute unaufgeklärten bzw. sich jeder Aufklärung
widersetzenden Islam) bezeichnen könnte. Manche sehen Averroes als letzten
40
islamischen Philosophen an, weil vom 13. Jh. an freies Denken im Islam nicht mehr
geduldet wurde und auch heute nicht geduldet wird.
Lippstadt, im Februar 2006 (Überarbeitung 17.10.2006 und 10.1.2010)
GISBERT KÖNIG
Anhang: Auszug aus
Georg Steiner
Errata, Bilanz eines Lebens
206
Wie es immer der Fall war, ist die Theodizee die Crux. Wenn Gott ist, weshalb duldet er
die himmelschreienden Schrecken und Ungerechtigkeiten der menschlichen Lage? Er
mag ein bösartiger Potentat sein, der Männer, Frauen und Kinder foltert, demütigt,
verhungern lässt und umbringt »wie müß'ge Knaben Fliegen«. Er mag eine Gottheit mit
beschränkten oder erschöpften Kräften sein. Auch wenn dies der Subtext meiner
literarischen Arbeiten gewesen ist, grenzt die Vorstellung von einem gelähmten oder
machtlosen Gott ans Absurde. Seit undenklichen Zeiten haben Versuche, »Seine Wege
mit dem Menschen zu rechtfertigen», auf das grausame Paradoxon der Freiheit zurück
gegriffen. Dem Menschen muss die Freiheit der Wahl und des Handelns zugestanden
werden, einschließlich der Freiheit, anderen und sich selbst Böses zuzufügen. Wie könnte
es sonst Verdienst und Verantwortlichkeit geben? Es gibt Fabeln der Entschädigung;
ungerechtes leiden soll in Ewigkeit belohnt werden. Keine dieser drei Erzählungen - die
diabolische, die ohnmächtige, die kompensatorische - empfiehlt sich dem Verstand, jede
stellt auf ihre Weise eine Beleidigung für Intelligenz und Moral dar. Die Antwort auf die
Frage, die beim Foltern und Erhängen eines verhungernden Kindes in Auschwitz gestellt
wurde (»Wo ist Gott jetzt:?«, »Gott ist dieses Kind«), ist ein mehr oder weniger
widerliches Beispiel für anthropomorphes Pathos.
Die Argumentation vom Kreuz her, die Lehre von der Sühne durch Opfer und dem vom
Menschen - Abraham und Isaak - auf den christlichen Gottvater und seinen
eingeborenen Sohn übertragenen Sündenbock kann nur die Überzeugten überzeugen.
Überdies war sie eine Argumentation, die der übergroßen Mehrheit der gefallenen
Menschheit außerhalb des erwählten Abendlandes seltsam unzugänglich war. Kein Akt
von übernatürlicher Offenbarung oder Eingreifen, keine Botschaft aus einer Sphäre
jenseits des sterblichen Menschen ist je in einem empirisch oder logisch beweiskräftigen
Untersuchungszusammenhang als etwas anderes erwiesen worden denn als das Produkt
der menschlichen Imagination und des
207
menschlichen Diskurses. Der entscheidende Punkt ist so alt wie der Vorsokratiker
Xenophanes: sollten Rinder einen Gott annehmen (vielleicht tun sie es), dann würde er
Hörner und Hufe haben. Diese Einsicht wiederholt mit einer klaren Wut der Vernunft
41
Hobbes in seinem Leviathan (I, 12): »Männer, Frauen, Vögel, Krokodile, Kälber, Hunde,
Schlangen, Zwiebeln und Lauch wurden zu Göttern gemacht.«
Und die Motive für solch verschwenderische Phantasiebildungen sind auch in keiner
Weise geheimnisvoll. In der menschlichen Psyche gibt es breiten Raum für Infantilismus,
für Irrationalität, für Panik und Erschütterung durch Schuld. Millionen im
wissenschaftlichtechnischen Westen lassen sich in ihren täglichen Angelegenheiten von
Astrologie leiten. Stehen am Dreizehnten des Monats morgens nicht auf, ohne
andeutungsweise zu exorzistischen Maßnahmen Zuflucht zu nehmen. Betrachten
schwarze Katzen als irgendwie höllisch und zittern vor Gewittern. Wir befinden uns
immer noch in der Kinderstube potentieller Evolution. Man sehnt sich nach dem
Kindermädchen und fürchtet es zugleich. Der Gedanke an kosmische Einsamkeit, die
zugegebenermaßen der Intuition zuwiderlaufende Hypothese einer vollkommen
aleatorischen, »sinnlosen« natürlichen Ordnung (»sinnlos« in bezug auf eine Handvoll
von Hominiden in einer zufälligen Ecke einer durchschnittlichen Galaxis) sind für eine
große Mehrheit von uns unerträglich. Wir verlangen nach einem Zeugen, selbst wenn er
hart ins Gericht geht, für unseren kleinen Dreck. In Krankheit, in psychischem oder
materiellem Entsetzen, wenn unsere Kinder tot vor unseren Augen liegen, schreien wir
auf. Dass ein solcher Schrei im Nichts widerhallt, dass er ein völlig natürlicher, ja
therapeutischer Reflex ist, aber nicht mehr, lässt sich fast nicht ertragen. Ohne Frage
bringen der Glaube an die Wiederauferstehung von Elvis Presley oder Gebete an seiner
neonbeleuchteten Grabstätte seinen Gläubigen Tröstung und rosarote Hoffnungen.
Weltlich betrachtet, haben die organisierten Religionen viel zu den Schrecken der
Geschichte beizutragen gehabt. Unzählige
2O8
Generationen, ethnische Gemeinschaften, soziale Gruppen sind im Namen dogmatischer
Ansprüche gejagt, versklavt, massakriert oder zwangsbekehrt worden. Ein
verschlungener, aber unübersehbarer Weg windet sich von den mittelalterlichen
Pogromen bis zu den Todeslagern der Nazis. Der Islam hat seit seinen Anfängen
umgebracht. Es ist eine banale Beobachtung, dass Religionskriege und die Ausrottung
von Häresie mittels Kreuzzügen zu den grausamsten und kostspieligsten gehört haben,
die wir kennen. Gegenwärtig toben, ob in Nordirland oder in Bosnien, im Nahen Osten
oder in Indonesien, religiös-ideologische Konflikte. Der Atheismus kennt keine Ketzer,
keine »heiligen Kriege« (ein obszöner Ausdruck). Nichts aus dem Innern seiner privaten,
nichtinstitutionalisierten Struktur verlangt nach Hass. Von seinem Wesen her braucht er
nicht auf Bekehrung aus zu sein. Solch seltene Beispiele eines »Zwangsatheismus« wie
im stalinistischen Programm sind eine direkte Imitation, eine schwachsinnige Parodie der
Staatskirche. Es lässt sich überdies nicht beweisen, dass das Verhalten des Gläubigen,
der unter dem Druck religiöser Sanktionen und Belohnungen steht, das des Atheisten
oder des agnostischen Humanisten übertrifft. Gier und Heuchelei gedeihen in
Gesellschaften, die von der Synagoge, der Kirche oder der Moschee beherrscht werden.
Anstand und Moral, die man sich selbst auferlegt, die man selbst hervorgebracht hat,
sind auch säkulare Werte. So gibt, ein berühmter Fall, Iwan Karamasow, als er Zeuge
wird, wie Gott nicht eingreift, als ein unschuldiges Kind zu Tode gepeitscht wird (ein
alltägliches, tausendfach vorkommendes Geschehen), Gott seine »Eintrittskarte« zurück.
42
Doch es gibt gewiss nicht die Spur eines Beweises dafür, dass dem Menschen eine
derartige Karte überhaupt ausgestellt wurde.
Das sind klassische Befunde. Der umfassende Charakter, die Verifizierbarkeit und die
prognostische Kraft des Darwinismus haben ihr Gewicht mit in die Waagschale geworfen
(auch wenn es immer noch hartnäckige Unklarheiten gibt). Während das Jahrtausend
seinem Ende zugeht, liefern Kosmologie
209
und Astrophysik immer kohärentere, experimentell immer besser untermauerte Modelle
der Schöpfung. Der Begriff des »Anfangs« gewinnt seine Mathematik. Die Frage, was
»vor« den Nanosekunden des Urknalls kam, ist Un-Sinn. Mit einer Argumentation, die
unheimlich an Augustinus erinnert, postulieren Kosmologen, dass die Zeit selbst erst
zusammen mit ihrem zugehörigen Kosmos ins Sein tritt - und davon gibt es aller
Wahrscheinlichkeit nach eine unbegrenzte Vielzahl, jeder von ihnen mit seinen eigenen
raumzeitlichen Koordinaten, n-dimensionalen »Strings« von Materie und Anti-Materie,
und keiner durch eine besondere Schöpfung privilegiert. Wir hacken nur deshalb auf
dieser Frage nach dem »Davor« herum, weil der allgemeine Ablauf des menschlichen
Gehirns in einem atavistischen Sprachspiel gefangen ist. Lange Zeit nach Kopernikus
halten wir an »Sonnenuntergang« und »Sonnenaufgang« fest. (Die Mondlandungen
hätten die Vernunft dazu veranlassen sollen, von »Erdaufgang« und »Erduntergang« zu
sprechen.)
Die Erzeugung von sich selbst replizierenden Molekülen in vitro und die Manipulation der
DNS zu geplanten sozio-genetischen Zielen — die Auslöschung von Erbkrankheiten, das
Klonen von Armeen - sind in Reichweite. Diese Entwicklungen werden eine gründliche
Revision unseres konzeptuellen Alphabets erforderlich machen. Was jahrtausendelang
die Bausteine aller theologischen und teleologischen Erzählungen waren, das deistische
Postulat eines universellen Entwurfs durch einen höchsten Baumeister, die Zuschreibung
eines persönlichen, einzigartigen Schicksals, das wird jetzt ausgelöscht oder grundlegend
neu gedacht. Was wird der ontologische Status des menschlichen Lebens, der
Persönlichkeit sein, wenn diese im Laboratorium, in der computerisierten Samenbank
kopiert, verbessert und kontrolliert werden?
Das Bewusstsein ist immer noch ein schwer fassbares Problem. Indem sie, vielleicht
ironisch, Anleihen bei einem ausrangierten Vokabular machen, bezeichnen Biochemiker,
Neurophysiologen, Genetiker und klinische Psychologen das
210
Bewusstseinsproblem als den »Heiligen Gral«. Es stellt heutzutage das überragende Ziel
ihrer Suche dar. Dafür wird man Zeit und Genie brauchen. Doch es besteht, so erklärt
ein Francis Crick, keinerlei Anlass dazu, das Problem als unlösbar zu betrachten. In einer
Wendung, deren aufreizende Zweideutigkeit und Arroganz Eingang in die Sprache
gefunden haben, sind die Naturwissenschaften, die »Theoretiker von allem«, bald so
weit, dass sie »den Geist Gottes« (Hawking) kennen. Das heißt, sie werden bald ein
theoretisch-experimentelles Verständnis von dem neurochemischen Organismus haben,
der aus primitivem, zeitweiligem Mangel an einer besseren Erzählung »Gott« erfand.
Noch einmal Hobbes: »Außerdem riefen sie ihre eigenen Verstandeskräfte unter dem
43
Namen der Musen, ihre eigene Unwissenheit unter dem Namen der Fortuna, ihre eigene
Lust unter dem Namen des Cupido, ihre eigene Wut unter dem Namen der Furien, ihre
eigenen Geschlechtsteile unter dem Namen des Priapus an«
Ich dürste danach, mich diesen Klugheiten anzuschließen. Ich bin nicht in der Lage, sie
auf ihrem eigenen ruhigen Terrain zu widerlegen. Sie beinhalten existentielle
Konsequenzen, die mir befreiend erscheinen. Insbesondere hinsichtlich des Todes. In
unserem therapeutischen System verbrauchen die unheilbar Kranken, die Alten einen
immer größeren Teil der Ressourcen, der Zeit und Energie der Jungen. Eine jämmerliche
Gerontokratie ist in Sicht. Man braucht nur die Angst und den Urin in Altenstationen
gerochen oder die blinden Schreie der Alzheimer-Kranken gehört zu haben, um den
entsetzlichen Verfall — er verschlingt nicht nur den Patienten — von künstlich
aufrechterhaltenem Leben zu erkennen. Auf dem Weg über Schmerzen in einen Zustand
des Vegetierens zu treiben heißt, in sich selbst, in anderen den Sinn und den Wert der
Identität zu schänden. Der Atheismus lässt einem selbst die Wahl. Kein transzendenter
Partner ist beteiligt oder ermächtigt. Keine Mystik einer vorbestimmten Festlegung »Gott hat mir das Leben gegeben, und nur er kann entscheiden, wann dieses Geschenk
zurückzugeben ist« - tritt dazwischen. Was gibt es für einen düstereren Fanatismus als
den, diejenigen am Leben zu halten, die Ruhe haben möchten?
Wenn der Augenblick kommt, hoffe ich meinen eigenen Ausweg zu finden.
*****
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