Gisbert König Religionen für mündige Menschen Tz. S. Einleitung 2 Teil 1 Religion der Seele versus Religionen des Ich 3 Religionsbegriff Religion der Seele Religionen des Ich, insbesondere Offenbarungsreligionen Keine Offenbarung der Offenbarungsreligionen 1 2 3-8 9-13 Teil 2 Religionen der Erkenntnis Karl Jaspers Anhang: Der Gottesgedanke Dalai Lama 9 14-19 20-21 22-26 Teil 3 Darstellung der eigenen Position Bestandteile einer Religion Ethische Grundsätze Natürliche Glaubensgrundsätze Übernatürliche Glaubensgrundsätze Einleitung Eigene Glaubensgrundsätze Kein Glaube an die Existenz eines Schöpfergottes Kein Glaube an ein Leben nach dem Tode Spiritismus Übernatürliche Glaubensgrundsätze, Alternative Namensgebung Religionsrating Quintessenz 3 4 4 7 9 12 14 16 27 28 29-30 31-33 34-37 38-40 41 42 43-51 52 53-58 59 16 17 18 22 22 23 24 26 26 27 30 30 33 Literaturverzeichnis 37 Anlage: Georg Steiner zum Problem der Theodizee 40 2 Einleitung "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. ... Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschheit ... gerne zeitlebens unmündig bleibt und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormünder aufzuwerfen. Es ist so bequem unmündig zu sein. ... Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ (Immanuel Kant). Im Umkehrschluss kann man Menschen als mündig bezeichnen, wenn sie bereit sind, immer wieder die Zeit und die Energie aufzubringen, zu den wichtigen Fragen des Lebens durch Denkarbeit und kritische Auseinandersetzung mit den respektablen Auffassungen Anderer eigene Überzeugungen zu erarbeiten und danach ihr Leben auszurichten, auch wenn dieses Mut erfordert. Es gibt Menschen, die zwar im übrigen Leben durchaus autonom handeln, darunter auch Führungspersönlichkeiten, die jedoch in religiöser Hinsicht gedankenlos und unkritisch, nicht selten sogar buchstabengetreu, religiösen Schriften folgen, die vor Jahrtausenden unter völlig anderen gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden und auch damals bereits in erster Linie die persönliche Meinung und die Gedanken ihrer jeweiligen Verfasser wiedergaben, und sich willig von mitunter engstirnigen und rückwärtsgewandten Religionsfunktionären leiten lassen. Die meisten Menschen werden in eine organisierte Religion hineingeboren. Als Kinder stellen sie sie kaum jemals in Frage. Wenn sie aber erwachsen geworden sind, ist es an der Zeit, sich kritisch mit der zunächst reflektionslos übernommenen Religion auseinander zu setzen. Dieses gelingt am besten, wenn man versucht, eine Position außerhalb dieser Religion einzunehmen, sich mit ihr also wie ein unvoreingenommener Außenstehender zu befassen, so wie man es eo ipso mit anderen Religionen und religiösen Vorstellungen macht. Das Ergebnis könnte sein, dass man bei seiner Kindheitsreligion bleibt, entweder in allen Einzelheiten, die die maßgebenden Religionsfunktionäre unterrichten, oder mit individuellen Abwandlungen, dass man zu einer anderen (organisierten) Religion übertritt, ohne oder mit Abwandlungen, oder seine eigene Religion entwickelt. Im erstgenannten Fall (Beibehaltung ohne Änderungen) unterscheidet man sich von den Kindern und den unmündigen Erwachsenen dadurch, dass man nicht aus Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit in der durch die Eltern vorbestimmten Religion verharrt, sondern weil man sich selbst diese Religion neu erarbeitet hat und sich aufgrund dessen voll und bewusst mit ihr identifiziert. Indessen halte ich diesen Fall eher für unwahrscheinlich. Ein mündiger Katholik z. B. würde wahrscheinlich nicht an die „unbefleckte“ Empfängnis und die Himmelfahrt Mariens glauben wollen, desgleichen nicht an die Unfehlbarkeit der Päpste und würde wohl kaum die Einstellung der Kurie zu Fragen der Sexualität und der Geburtenkontrolle übernehmen. Nach Auffassung des Dalai Lama benötigen wir eine Vielzahl von Religionen; im Grunde genommen brauche jeder Mensch seine eigene Religion, und zwar eine solche, die seiner geistigen Veranlagung, seiner natürlichen Neigung und seinem kulturellen Hintergrund am besten entspricht. Auf der gleichen Linie liegt Hermann Hesse. Bei der Suche nach dem für ihn richtigen spirituellen Pfad begegnet Siddhartha mit seinem Freund Govinda Buddha. Nachdem sie 3 ihn gehört haben, reiht sich Govinda in die Schar seiner Anhänger ein. Siddhartha glaubt in Buddhas Lehre einen Widerspruch zu erkennen, der ihn veranlasst, weiterhin nach seinem Weg zu suchen. Buddha verabschiedet ihn mit den Worten: “Mögest du ans Ziel kommen.“ Das Gleiche wünscht Siddharta den Jüngern des Buddha und fügt hinzu: “Nicht steht mir zu, über eines anderen Leben zu urteilen! Einzig für mich, für mich allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen.“ Jahrzehnte später begegnen sich Siddharta und Govinda wieder. Jeder ist seinen Weg gegangen. Siddharta hat sein Ziel gefunden, Govinda (noch) nicht. Er fragt seinen Freund: „Hast du eine Lehre? Hast du einen Glauben oder ein Wissen, dem du folgst, das dir leben und recht tun hilft?“ Siddharta muss ihn enttäuschen: „Ich habe Gedanken gehabt, ja, und Erkenntnisse, je und je. Ich habe manchmal Wissen in mir gefühlt, so wie man Leben in seinem Herzen fühlt. Manche Gedanken waren es, aber schwer wäre es für mich, sie dir mitzuteilen. ... Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.“ Jeder muss also seinen Weg selbst finden, ungeachtet der Tatsache, dass es Menschen gibt, von denen er lernen kann, meist jedoch, ohne von ihnen Unterweisungen zu erhalten. In der folgenden Abhandlung setze ich mich mit verschiedenen Religionen auseinander, und zwar mit der Religion der Seele, den Religionen des Ich (hierzu gehören auch die Offenbarungsreligionen) und den Religionen der Erkenntnis, und entwickle dabei auf philosophischer Grundlage eine Religion für mich selbst. Diese hält die Existenz eines Schöpfergottes eher für unwahrscheinlich. Gleichwohl habe ich mir die Frage gestellt, was ich in Ansehung Gottes glauben würde oder könnte, wenn ich zu einem späteren Zeitpunkt hinsichtlich der Existenz eines Schöpfergottes zu der gegenteiligen Auffassung gelangen sollte. So sind zwei Religionen entstanden, die teilweise, insbesondere in Fragen der Ethik, deckungsgleich sind, sich aber in der Frage der Existenz Gottes und eines Lebens nach dem Tode voneinander unterscheiden. Die Bedeutung dieses zunächst möglicherweise groß erscheinenden Unterschieds relativiert sich, wenn man die Auffassung von Hirsi Ali teilt: “Religion ist die Art, wie wir uns anderen gegenüber verhalten.“ In Teil 1 stelle ich die Religion der Seele den Religionen des Ich gegenüber, in Teil 2 befasse ich mich mit Religionen der (philosophischen) Erkenntnis. In einem dritten Teil entwickle ich unter Bezug auf Gedanken der beiden ersten Teile die erwähnten neuen Religionen. Am Ende folgt ein Literaturverzeichnis. Wer vorab wissen möchte, zu welchen Ergebnissen ich gelangt bin, kann die letzten Seiten (Tz. 59: Quintessenz) zuerst lesen. Teil 1 Religion der Seele (natürliche Religion) versus Religionen des Ich Religionsbegriff (1) Der Begriff Religion kommt vom lateinischen religere, d. h. sorgsam beachten. Was soll sorgsam beachtet werden? Herkömmlicher Weise die Lehren der jeweiligen 4 Religionsstifter oder wesentlichen Veränderer, z. B. Echnaton, Moses, Buddha, Paulus, Mohammed (weiterführend Abschnitt 27). Religion der Seele (2) Nach Bert Hellinger ( „Die Mitte fühlt sich leicht an“, Kapitel Psychotherapie und Religion) geht es bei der Religion darum, die uns umgebende erfahrbare Wirklichkeit zu beachten, die Wirklichkeit wie sie sich zeigt und wie sie sich wandelt mit der Zeit. Diese Wirklichkeit, so Hellinger, berge für uns Geheimnisse, z. B. das Geheimnis des Lebens und Vergehens. In dieser Wirklichkeit sähen wir uns auch von Kräften abhängig, deren Wirken für uns geheimnisvoll bleibt. Im Angesicht solcher Erfahrungen eine Haltung der Ehrfurcht oder der Demut oder der Andacht vor etwas Geheimnisvollem, das man nicht versteht, einzunehmen, bezeichnet Hellinger als „Religion der Seele“. Diese religiöse Haltung sei ohne Anspruch, im Einklang und in Frieden. Sie habe zu tun mit der allen Menschen gemeinsamen Erfahrung der Welt und der Grenzen, die sie uns setzt. Sie sei Zustimmung zu den Grenzen, die uns die erfahrbare Wirklichkeit setzt, ohne sie aufheben oder überschreiten zu wollen. Weil diese religiöse Haltung jedem auf gleiche Weise zugänglich sei, könne man sie auch „Natürliche Religion“ nennen. Deshalb verbinde die Religion der Seele bzw. die Natürliche Religion, wo andere Religionen trennen. Die beschriebene religiöse Haltung sei eine persönliche Leistung. Im Gegensatz zu den anderen Religionen gebe es hier keine Überlegenheit gegenüber den anderen, keine Machtansprüche und keine Propaganda. Hier sei jeder einzeln. Religionen des Ich, insbesondere Offenbarungsreligionen (3) „Religionen des Ich“ nennt Hellinger die Religionen, die versuchen, die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen in den Griff zu bekommen, sie zu beeinflussen und sich dienstbar zu machen, z. B. durch Riten, Opfer, Sühne, Gebet. Zu diesen Religionen rechnet er zunächst die archaischen Religionen, die in einer Zeit entstanden, als der Mensch sich noch in jeder Hinsicht als abhängig erfuhr und dann versuchte, das Unheimliche und Gefährliche mit magischen Mitteln und Riten zu bannen. Aus dieser archaischen Tiefe der Seele komme das Bedürfnis nach Opfer, nach Beschwichtigung, nach Sühne, nach Einflussnahme. Diese archaischen Religionen sind auch heute noch bei bestimmten Naturvölkern anzutreffen, z. B. in Afrika und in Südamerika, teils vermischt mit Elementen der Offenbarungsreligionen. Diese bilden die zweite Gruppe der Religionen des Ich. Auch Ludger Lütkehaus verwendet hierfür diesen Begriff, indem er vom Monotheismus des Ichs spricht ("Nichts", S. 644, 664). Hellinger: „Offenbarungsreligionen sind Religionen, die auf einen Menschen zurückgehen, der anderen gesagt hat, er habe von Gott eine Offenbarung erhalten, und der auffordert, oft unter Androhung der ewigen Verdammnis, seine Offenbarung zu glauben. Die Offenbarungsreligionen - für uns vor allem das Christentum - sind gleichsam der Gipfel einer Religion des Ich. Nicht nur ist der Gott, von dem gesagt wird, er habe sich offenbart, ein Ich, mit allen Eigenschaften eines Ich. Auch der Offenbarer spricht als ein Ich, das von anderen verlangt, dass sie ihr Ich seinem Ich unterwerfen. Doch wenn wir uns den Vorgang auch hier unbefangen anschauen, stellen wir fest, dass der Offenbarer nur von sich redet und der Glaube, den er fordert, letztlich ein Glaube an 5 ihn ist. Damit behauptet er zugleich, dass Gott niemand anderem eine ähnliche Offenbarung zukommen lassen wird, dass alle Anderen daher von einer ähnlichen Offenbarung ausgeschlossen sind, und dass Gott selbst sich dieser Offenbarung für alle Zeiten fügt. Der Offenbarer erhebt sich also durch seine Offenbarung nicht nur über seine Anhänger, sondern auch über den von ihm verkündeten Gott.“ (S. 221 f) ...“Dieser Gott wird ausgestattet mit den Eigenschaften, Absichten und Gefühlen, wie wir sie aus der Erfahrung mit Königen und Herrschern kennen. Daher ist dieser Gott oben und wir sind unten. Daher unterstellen wir ihm, dass er auf seine Ehre bedacht ist und beleidigt werden kann und dass er zu Gericht sitzt, belohnt und bestraft, je nachdem, wie wir uns ihm gegenüber verhalten. Wie ein idealer Herrscher hat er auch gerecht zu sein und wohltätig und uns zu beschützen gegen Unbilden und gegen unsere Feinde. Wie ein König hat auch er einen Hofstaat, die Engel und die Heiligen. Viele hoffen, als seine Auserwählten diesem Hofstaat einmal anzugehören.“ (S. 227) (4) Die Offenbarungsreligionen verbinden mit dem Glauben eine Morallehre, im Christentum insbesondere das Gebot der Nächstenliebe und die auf Moses zurückgehenden Gebote. Hier sei der Hinweis auf Alexander und Margarete Mitscherlich gestattet, die 1967 in ihrem gemeinsamen Buch "Die Unfähigkeit zu Trauern, Grundlagen kollektiven Verhaltens" festgestellt haben, dass es nicht nur eine Moral gibt, sondern viele Moralen und dass die Menschheit sich noch zu keiner Zeit auf eine einheitliche Moral hat verständigen können, nicht einmal auf einzelne Verhaltensweisen, z. B. das Gebot: „Du sollst nicht töten.“ (Selbst die katholische Kirche hat dieses Gebot häufig außer Kraft gesetzt, insbesondere zu Zeiten der Inquisition und des Hexenwahns und bei ihren gewalttätigen Missionierungen in Südamerika.) Dieses sollten auch die Offenbarungsreligionen anerkennen und aufhören, ihre jeweiligen Moralvorstellungen zu propagieren und anderen als überlegen darzustellen. Dieses wäre ein Stück Anerkennung der uns umgebenden Wirklichkeit. (5) Es soll nicht verkannt werden, dass die Religionen des Ich zahlreichen Menschen etwas geben, vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, aber auch Halt und Trost. Für viele ist auch nicht möglich, die angestammte Religion zu verlassen, ohne aus der Familie oder der Volksgruppe, der sie angehören, verstoßen oder isoliert oder sogar umgebracht zu werden (Hinweis auf den Fall Kamariah Ali, einer Lehrerin aus Malaysia, die nicht länger Mohammedanerin sein wollte, obwohl alle Malayen lt. Verfassung von Geburt an Mohammedaner sind sowie den Ende März 2006 durch die Weltpresse gegangenen Fall Abdul Rahman, einem in Deutschland zum Christentum übergetretenen Afghanen, der nach Rückkehr in seine Heimat von einem Schariahgericht vor die Wahl gestellt wurde, entweder zum Islam zurückzukehren oder hingerichtet zu werden!). Darüber hinaus ist für zahlreiche Menschen, vor allem in den Entwicklungsländern, das Leben so beschwerlich und leidvoll, dass sie ohne eine tiefe Gläubigkeit und vor allem ohne den Glauben an ein besseres Jenseits zu Grunde gehen würden. Dieses gilt auch für unterprivilegierte Minderheiten in einigermaßen entwickelten Ländern, z. B. für die Indios in Südamerika, deren Glaube durch eine besonders inbrünstige Hinwendung zur Gottesmutter gekennzeichnet ist. Die Religion der Seele respektiert ihren Glauben und ihr religiöses Leben. Sie erwartet aber von den Religionen des Ich, dass sie sich untereinander und auch die Religion der Seele des Einzelnen respektieren, also auf Machtansprüche und Propaganda (Missionierung) verzichten. 6 Diese Erwartungshaltung in bezug auf die Religionen des Ich dürfte allerdings wenig realistisch sein. Der von Hellinger verlangte „Reinigungsprozess“ dieser Religionen findet jedenfalls nicht generell sondern allenfalls bei einzelnen Mitgliedern dieser Religionen statt. (6) Papst Johannes Paul II. hat einmal dem Buddhismus seine Eigenschaft als Religion abgesprochen, weil ihm der Glaube an einen personifizierten Gott fehle. Nach heftiger Kritik der Buddhisten hat er diese Einschätzung wieder zurückgenommen. Auch die Religion der Seele bzw. die Natürliche Religion ist kein Glaube, erst recht kein Glaube an ein überirdisches Wesen. In seiner Rede in Krakau am 18. August 2002 beklagte der Papst die „Ungläubigkeit in unserer Zeit.“ Mit Glauben dürfte er den Glauben an die Existenz Gottes gemeint haben. Folge der Ungläubigkeit sei „Angst vor der Zukunft, vor Leiden, Leere und Zerstörung.“ Mir erscheint es fraglich, ob die erwähnten Ängste vor gläubigen Katholiken halt machen. Auch solche Menschen werden erfahrungsgemäß von Unglücken, Krankheit und Not, von Naturkatastrophen und Kriegen heimgesucht. Sogar katholische Kirchen bleiben bei solchen Ereignissen nicht verschont, ebenso wenig wie Synagogen und Moscheen. Den einzigen Vorteil des Glaubens sehe ich in der Hoffnung auf ein Jenseits, in dem es keine Angst gibt und in dem man vollkommen glücklich ist, eine Hoffung, die einen die Mühsal des irdischen Lebens besser ertragen lässt, dieses aber nur, wenn der Glaube an ein solches Jenseits unerschütterlich ist. Ein Glaubender sollte sich stets dessen bewusst sein, das sein Glaube nicht auf Wissen beruht und daher auch falsch sein kann, zumal er bei einem Blick in die Welt sieht, dass es noch andere Glaubenslehren gibt und jede von sich selbst lediglich annehmen kann, die richtige zu sein. (7) Die Offenbarungsreligionen stellen ihren Gott dar als eine Persönlichkeit, die nie einen Anfang hatte und nie ein Ende haben wird, die also seit ewigen Zeiten existiert und in alle Ewigkeit existieren wird, zudem als eine Persönlichkeit, die allein Kraft ihres Wollens, gewissermaßen durch Reiben mit einem Seidentuch an einem Zauberstab, das Weltall und später das Leben auf der Erde und vielleicht auch auf anderen Planeten geschaffen hat, eine Persönlichkeit, die allwissend ist in bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die das Leben und die Handlungen eines jeden Lebewesens und sogar die Gedanken der Menschen aller Zeiten registriert und speichert. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Persönlichkeit dem menschlichen Verstand nicht zugänglich ist. Diese Auffassung vertritt auch der mittelalterliche Kirchenlehrer Nicolaus Cusanus (1401-1464). Nach seiner Auffassung kann ein Mensch nicht über den Verstand zum Glauben gelangen. Wer sich auch nur, wenn auch noch zweifelnd, mit dem Glauben befasse, müsse schon vom Bazillus des Glaubens infiziert sein. Daraus folgt, dass kein Mensch sich mit seinem Verstand dafür entscheiden kann, die Lehren einer Religion des Ich zu glauben. Ähnlich hat sich hat sich der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) geäußert: „Es ist ein Sprung, durch den der Einzelne zum Glauben kommt, ein Sprung in den Bereich jenseits aller Vernunft, ins Absurde und Paradoxe. "Ich wage die Behauptung, dass sich die These von Nikolaus Cusanus umkehren lässt: Ein Nichtglaubender kann zwar nicht über den Verstand zum Glauben gelangen, wohl kann ein Glaubender über den Verstand dazu kommen, seinen Glauben aufzugeben. Diejenigen, die sich zu einer der Religionen des Ich bekennen, wurden zum weitaus überwiegenden Teil in diese Religionen hineingeboren. Sie setzen, vielfach unter staatlichem Schutz, Gewohnheiten fort. Ein kleiner Teil mag von der einen dieser 7 Religionen zur anderen übergetreten sein. Dass jemand, der ohne Glauben aufgewachsen ist, später eine der Religionen des Ich annimmt, dürfte eher selten vorkommen.´. (8) Rupert Lay, Jesuit, Hochschullehrer und Autor, beklagte in einem Vortrag, dass kaum ein Christ seine Religion reflektiere, vielmehr fast alle gedankenlos und kritiklos alles nachplapperten, was die religiösen Vorturner ihnen vorsprächen oder vorschrieben. Dieses gilt wohl auch für die Angehörigen der anderen Religionen des Ich. Als ein Beispiel nannte Lay die Bitte des Vater unser: “Führe uns nicht in Versuchung.“ Welch ärmliches Gottesbild spricht hieraus, das Bild eines Gottes, oder ist es eher ein Götze, dem es Spaß macht, die Menschen zu verführen, und den diese immer wieder bitten müssen, solche Späße auf ihre Kosten gefälligst zu unterlassen! Nach Lay handelt es sich hier offenbar um einen Fehler in der Übersetzung aus dem Aramäischen ins Griechische. Die richtige Übersetzung laute etwa: “Und lass uns der Versuchung nicht erliegen“. Dieser Text macht Sinn. 2007 haben die italienischen Bischöfe den Vers geändert; er lautet dort nun (ins Deutsche übersetzt): "Und lass uns nicht der Versuchung anheimfallen." So wird er nunmehr auch im Tessin gebetet. Keine Offenbarung der Offenbarungsreligionen (9) Die Botschaft der Begründer der Offenbarungsreligionen erscheint mir unaufrichtig: Ich bin überzeugt davon, dass sie den von ihnen behaupteten Gott nie gesehen sondern ihn erdacht haben. Sie haben dann Gott in jeder erdenklichen Weise individualisiert und seine Persönlichkeit ausgeschmückt (ein Bild gemacht), ihm einen Lebenslauf gegeben, ein Reich und zahlreiche Diener. Am Ende kreieren sie ein mehr oder weniger umfangreiches Gesetzeswerk, das sie ihrem Gott als seinen Willen unterstellen. Nachdem sie damit fertig sind, „verkaufen“ sie dieses Produkt ihrer eigenen Gedanken ihren Mitmenschen als Offenbarung, wohl aus der Furcht heraus, andernfalls kaum Anhänger gewinnen zu können. Sie behaupten, der von ihnen erdachte Gott sei ihnen, und zwar ihnen allein, leibhaftig erschienen, er (oder sein Erzengel) habe mit ihnen gesprochen, sie unterwiesen und sie beauftragt, diese Lehre zu verbreiten. Während die vom „Offenbarer“ gewonnen Anhänger (lediglich) glauben, ist der Offenbarer der einzige, der über konkretes Wissen verfügt, das Wissen nämlich, dass sich ihm kein höheres Wesen offenbart sondern er alles selbst erdacht hat. Jede Religion – wie könnte es auch anders sein- wurde von einem oder mehreren Menschen erdacht und kann damit ohne irgendwelche Tabuverletzungen geändert, insbesondere veränderten Lebensbedingungen angepasst werden. Die vorstehenden Ausführungen werden nicht dadurch entkräftet, dass Jehova und Allah bereits vor den Offenbarungen Moses` bzw. Mohammeds erdacht waren und als Gottheiten verehrt wurden. Der Glaube der Juden an Jehova vor der Offenbarung durch Moses war so flüchtig, dass sie während Moses` Abwesenheit den Glauben an Jehova aufgaben. Allah führte, bevor ihn Mohammed zum Objekt seiner Offenbarung machte, eher ein Schattendasein in einer kleinen Stammesgemeinschaft. (10) Wenn die behaupteten Offenbarungen wirklich stattgefunden hätten, hätte es im Interesse Gottes gelegen, den Empfängern der Offenbarungen, im wesentlichen Moses, Mohammed und Joseph Smith (Begründer der mormonischen Religion im 19.Jh.), für die Menschen, denen sie die Offenbarungen verkünden sollten, Beweise mitzugeben. So 8 hätte er dem Moses Gesetzestafeln mitgeben können aus einem auf der Erde und auch sonst im Universum nicht vorkommenden Material, graviert in einer auch mit heutiger Technik nicht nachahmbaren Weise. Diesen hätte er die Eigenschaft der Unverlierbarkeit und Unzerstörbarkeit beilegen können. In Anknüpfung an die Darstellung der angeblichen Himmelfahrt Christi im NT, an deren Anschluss ein jeder einen Engel in seiner Sprache reden gehört haben soll, hätten die Tafeln die weitere Eigenschaft haben können, dass sie –auch heute noch- ein jeder in seiner Sprache mit den dazugehörigen Schriftzeichen lesen könnte, eine Kleinigkeit für einen allmächtigen Gott. Moses hat sich nicht einmal bemüht, auch nur den kleinsten Beleg für seine angebliche Gottesbegegnung vorzuweisen, von einem belastbaren Beweis gar nicht zu reden. Er hat die vermeintliche Offenbarung lediglich behauptet und leichtgläubige Anhänger gefunden. Genau so hielt es Mohammed mit seinen angeblichen Offenbarungen durch den Erzengel Gabriel oder Allah selbst, darunter auch Offenbarungen, die allein ihm persönlich zu Gute kamen: „Er verliebte sich in Aischa, die neunjährige Tochter seines besten Freundes. Ihr Vater sagte `Warte doch bitte, bis sie in der Pubertät ist´, doch was geschieht? Er bekommt von Allah die Botschaft, dass sich Aischa für Mohammed bereit machen soll.“ (Ayaan Hirsi Ali, Ich klage an, S. 80) Smith will von einem Engel auf goldenen Tafeln das Buch Mormon überreicht bekommen haben, als letzte und endgültige Offenbarung. Dieses hatte übrigens bereits Mohammed für sich in Anspruch genommen. Unglücklicherweise hat er nach Fertigung einer Übersetzung vom Ägyptischen ins Englische die Tafeln dem Engel wieder zurückgegeben. Er hätte sie ja leicht vorher der Öffentlichkeit präsentieren, sie von Ägyptologen untersuchen lassen und die Rückgabe an den Engel unter Zeugen vornehmen können. Hier wurde eine grandiose Gelegenheit für einen echten Gottesbeweis, dazu noch in der Neuzeit, vertan, zu dumm aber auch. (11) Die Behauptung einer Offenbarung ist also nur ein geschicktes Marketingargument zur besseren Verbreitung der Religionen, die sich die „Offenbarer“ ausgedacht haben. Das selbe gilt für das „Sola-fide-Argument“, wonach nur derjenige die ewige Seligkeit erlangen könne, der exakt das glaubt, was die Begründer der jeweiligen Religionen bzw. die nachfolgenden Funktionäre zu glauben vorgeben. Gute Werke allein reichen nicht aus. Durch Angst Machen sollen also Anhänger bei der Stange gehalten und neue gewonnen werden. Dieses spricht nicht gerade für die Überzeugungskraft dieser Religionen. (12) Die Lehre des „Offenbarers“ muss nicht schlecht sein, sie könnte in ihren grundsätzlichen Aussagen (zufällig) sogar wahr sein. Dennoch bliebe sie mit dem Makel behaftet, dass sie auf unredliche Weise in den Handel gebracht wurde. Offensichtlich messen die heutigen Repräsentanten der Offenbarungsreligionen ihren Lehren aus sich heraus so wenig Überzeugungskraft zu, dass sie deren Zusammenbruch befürchten, wenn sie die beschriebenen zweifelhaften Umstände ihrer Entstehung heute kundtun und eindeutig klarstellen würden, dass ihre Religionen nicht göttlichen sondern menschlichen Ursprungs sind und dass sie demzufolge in jeder Hinsicht abänderbar sind –durch die Repräsentanten dieser Religionen, aber für sich selbst auch durch jeden Menschen, der auf der Suche nach einer ihm gemäßen Religion ist- und vor allem keinen Raum für Orthodoxie und Fundamentalismus bieten. Geschähe dieses aber dennoch und würden die Religionsfunktionäre im Zuge dieses Eingeständnisses auf jede weitere Propaganda (Missionierung) und auch auf jede weitere Machtausübung verzichten, was auch die Abschaffung der sog. Gottesstaaten und die Entfernung ausschließlich religiös- 9 ideologisch begründeter Normen aus den staatlichen Gesetzbüchern beinhaltete, würde die Menschheit m. E. den größten Fortschritt der letzten 3000 Jahre vollziehen. Ich bin mir natürlich darüber im klaren, dass dieses angesichts des Machtstrebens der Funktionäre, der von ihnen verhängten Lese- und Denkverbote und der Unfähigkeit des weitaus überwiegenden Teils der Menschheit zu selbständigem, kritischen Denken niemals geschehen wird. (13) Bertrand Russel (1872-1970), einer der bedeutendsten Philosophen seit Kant, hielt Religion für entbehrlich, ja für ein Übel. Sie sei kennzeichnend für noch nicht ganz erwachsene Menschen (H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer Taschenbuch 2002, S.770). Dem stimme ich zu, allerdings nur im Hinblick auf die Religionen des Ich, nicht für die im folgenden behandelten Religionen der Erkenntnis, in die ich - nach Erweiterungen - auch die Natürliche Religion einordnen werde. Teil 2 Religionen der Erkenntnis Ich nähere mich jetzt der Religion von der Philosophie her und stütze mich dabei auf Gedanken Karl Jaspers’ und des Dalai Lama. Karl Jaspers (1883-1969) Die Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, entnommen dem Buch Karl Jaspers „Einführung in die Philosophie“ (1953) (14) Das aus dem griechischen stammende Wort Philosoph (philosophos) beinhaltet die Worte philos - Freund und sophos – Weisheit, Erkenntnis. Ein Philosoph ist also ein Freund der Weisheit, der sich durch fortwährende und bis zum äußersten gehende Fragestellungen um Erkenntnis bemüht. Philosophie heißt nach Jaspers: auf dem Wege sein. Ihre Fragen seien wesentlicher als ihre Antworten und jede Antwort werde zur neuen Frage (S. 14.) Die Antworten führen nie zu einem „aussagbaren Bewusstsein“. Sie geben nur eine Möglichkeit wieder, stets mit dem Zweifel behaftet. Insofern hat Philosophie auch etwas mit Spekulation zu tun. Dennoch birgt dieses Auf-dem-WegeSein nach Jaspers in sich die Möglichkeit tiefer Befriedigung, ja in hohen Augenblicken einer Vollendung. Diese liege in der geschichtlichen Verwirklichung des Menschseins, dem das Sein selbst aufgeht. „Diese Wirklichkeit in der Situation zu gewinnen, in der jeweils ein Mensch steht, ist der Sinn des Philosophierens“ (S 14). Durch Philosophieren wird nicht mein Wissen sondern mein Selbstbewusstsein anders (S. 36). (15) Jaspers hat, wie z. B. Platon, Aristoteles, Ibn Tufail (1110-1185) und Averroes (1126-1198) einen nicht auf Offenbarungen gegründeten ausgearbeiteten philosophischen Gottesglauben entwickelt, mit dem er sich auch persönlich identifiziert hat. Jaspers` Gottesglaube ist wesentlicher Bestandteil eines umfassenderen philosophischen Glaubens, den er 1948 in seiner Schrift Der philosophische Glaube begründete, 1950 in Radiovorträgen mit dem Thema Einführung in die Philosophie, 1961 in seiner letzten Vorlesung an der Uni Basel mit dem Thema Chiffren der Transzendenz 10 und 1962 in seinem Werk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung erweiterte. Er bringt ihn in den folgenden Sätzen zum Ausdruck (Einführung, S. 83): 1. Gott ist. 2. Wir können in Führung durch Gott leben. 3. Es gibt die unbedingte Forderung im Dasein. 4. Der Mensch ist unvollendet und nicht vollendbar. 5. Die Realität in der Welt hat ein verschwindendes Dasein zwischen Gott und Existenz. Zu 1: „Nur wer von Gott ausgeht, kann ihn suchen. Eine Gewissheit vom Sein Gottes, mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des Philosophierens.“ (Der philosophische Glaube, S. 33) Für Jaspers ist Gott zwar die einzige unvergängliche Wirklichkeit, allerdings unerweisbar. (Einführung, S. 49) Ein Erdenken, was Gott sei, sei unmöglich. (Der philosophische Glaube, S. 34) Daher sei nicht oder nur wie ein Schleier, was immer wir uns in Ansehung Gottes vor Augen stellen. (Einführung, S. 46) Hinweis auf das alttestamentliche „kein Bildnis und kein Gleichnis“. Die gleichwohl im AT zahlreich enthaltenen Bilder, Vorstellungen und geschilderten Begegnungen mit Gott sind für Jaspers lediglich Chiffren der Transzendenz, zwar notwendig als Ausgang für die Suche nach Gott, transzendierend jedoch zu überwinden, um zum reinen Glauben zu gelangen (Vorlesung Chiffren der Transzendenz), in dem Gott nur als „leises Bewusstsein“ gegenwärtig ist, (S. 47) ein Bewusstein um einen jeder Definition sich entziehenden Gott, der alles aus dem Nichts geschaffen habe und alles in seiner Hand halte (S. 38). Der Glaube zieht sich somit für Jaspers auf ein Minimum an der Grenze des Unglaubens zurück. (Der philosophische Glaube, S. 23) Zu 2: Die Führung durch Gott geschehe auf dem Wege über die Freiheit des handeln Könnens, wenn der Mensch Gott höre. Der Glaubende lebe in der ständigen Bereitschaft des Hörens. (S.49) Wodurch hört der Mensch, was Gott will? Wenn in Entscheidungsfragen des Lebenswegs nach langen Zweifeln plötzlich Gewissheit eintrete. Gottes Stimme liege in dem, was dem Menschen aufgehe in Selbstvergewisserung, wenn er aufgeschlossen sei für alles, was aus Überlieferung und Umwelt an ihn herantritt. Der Mensch finde jedoch nie eindeutig und endgültig Gottes Urteil: Niemand wisse in objektiver Garantie, was Gott wolle, daher das Wagnis des Verfehlens. (Der philosophische Glaube, S. 63 f und Einführung, S. 66-68) Psychologisch gesehen sei die Stimme Gottes nur in hohen Augenblicken wahrnehmbar. "Aus ihnen her und zu ihnen hin leben wir“ (S. 69) Zu 3: Hier geht es um Postulate im Hinblick auf unser Verhalten im Leben, auf das, was wir zu tun oder zu unterlassen haben. Im Alltag ist unser Verhalten von Zwecken (Bedingungen) bestimmt, die sich aus unserem Daseinsinteresse ergeben, aber auch von Gehorsam gegenüber Autoritäten. (Einführung, S. 53) „Unbedingte Handlungen [hingegen] geschehen in der Liebe, im Kampf, im Ergreifen hoher Aufgaben. Kennzeichen .. des Unbedingten ist, dass das Handeln gegründet ist auf etwas, dem gegenüber das Leben als Ganzes bedingt und nicht das Letzte ist.“ (Einführung, S. 51) Unbedingtheit ist aus einer Freiheit, die gar nicht anders kann. „Die Unbedingtheit wird .. zeitlich offenbar in der Erfahrung der Grenzsituationen und in der Gefahr des sich untreu 11 Werdens.“ (Einführung, S. 57) Sie ist die Entscheidung zwischen gut und böse. Gut sein heißt, das Leben unter die Bedingung des moralisch Gültigen zu stellen, im Konfliktfall auch gegen eigene Glücks- und Daseinsinteressen. (Einführung, S. 58) Ich weigere mich z. B., auf Befehl zu morden, obwohl ich weiß, dass ich dadurch möglicherweise mein eigenes Leben verwirke. Höchstes moralisches Prinzip ist für Jaspers somit das in der Liebe gründende Prinzip des Guten, das von der Transzendenz (Gott) als „unbedingte Forderung“ an den Menschen gestellt wird, der sich selbst treu bleiben will. Zu 4: Jaspers spricht von der „Brüchigkeit des Menschen im Grunde“, von Ohnmacht, Schwäche und Scheitern. Nehmen wir Gedanken aus der Ausarbeitung der „unbedingten Forderung“ hinzu, könnte man vielleicht sagen, die mangelnde Vollendung des Menschen liege darin, dass er in seiner Entscheidungsfreiheit, die Jaspers als gegeben erachtet, oft genug das Böse wählt, sei es aus Schwäche, Egoismus oder falscher Führung durch Autoritäten, die sich ihrerseits wieder für das Böse entschieden haben. Zu 5: „Zum verschwindenden, zwischen Gott und Existenz sich vollziehendem Weltsein gehört ein Mythos, der – in biblischen Kategorien – die Welt als Erscheinung einer transzendenten Geschichte denkt: Von der Weltschöpfung über den Abfall und dann durch die Schritte des Heilsgeschehens bis zum Weltende und zur Herstellung aller Dinge. Für diesen Mythos ist die Welt nicht aus sich, sondern ein vorübergehendes Dasein im Gang eines überweltlichen Geschehens. Während die Welt etwas Verschwindendes ist, ist die Wirklichkeit in diesem Verschwindenden Gott und die Existenz.“ (Einführung, S. 82) (16) Jaspers: „Keiner dieser fünf Grundsätze ist beweisbar wie ein endliches Wissen von Gegenständen in der Welt. Ihre Wahrheit ist nur „aufweisbar“ durch aufmerksam machen oder „erhellbar“ durch eine Gedankenführung. ... Sie sind nicht als ein Bekenntnis gültig, sondern bleiben trotz der Kraft ihres Geglaubtseins in der Schwebe des Nichtgewusstseins.“ Er warnt davor, dass die Grundsätze durch die Eindeutigkeit der Aussage zu einem Scheinwissen führen könnten. Und weiter: „Wo wir denken, ist sogleich die doppelte Möglichkeit: Wir können das Wahre treffen oder verfehlen“. Für Jaspers ist Glaube kein Besitz sondern ein ständiges Wagnis. Seine Erkenntnis führt ihn dazu, dass er Gott nicht weiß, er sogar nicht einmal weiß, ob er glaubt (S. 49). Er wagt nur zu glauben. (17) Wichtig sind auch die folgenden Ausführungen: "Priester [Jaspers meint damit wohl Funktionäre der Offenbarungsreligionen] erheben .. den Vorwurf der hochmütigen Eigenmächtigkeit des Einzelnen, wenn er sich philosophierend auf Gott bezieht. Sie verlangen Gehorsam gegenüber dem offenbarten Gott. Ihnen ist zu antworten: der philosophierende Einzelne glaubt, wo er aus der Tiefe entschieden ist, Gott zu gehorchen, ohne in objektiver Garantie zu wissen, was Gott will, vielmehr in ständigem Wagnis. Gott wirkt durch freie Entschlüsse der Einzelnen“ (S. 71). „Es gibt eine Ratlosigkeit im Greifen nach dem Halt in vertrauenswürdigen Gesetzen und Befehlen einer Autorität. Es gibt dagegen die sich aufschwingende Energie der 12 Verantwortung des Einzelnen im Hören aus dem Ganzen der Wirklichkeit“ (S. 71). (18) Der vorstehend dargestellte, durch philosophische Erkenntnis gewonnene Glaube ist eine Religion im Sinne der Definition in Textziffer (1). Hier kommt es darauf an, sorgsam auf die Stimme Gottes zu achten, auch wenn man nur in seltenen hohen Augenblicken damit rechnen kann, sie zu vernehmen. Die Religionen der Erkenntnis sind ehrlich und aufrichtig. Jaspers und die anderen in ähnlicher Weise über Gott denkenden Philosophen machen keinen Hehl daraus, dass sie im Irrtum sein könnten und ihr Glaube daher von Zweifeln begleitet wird. Ferner verzichten Sie darauf, sich den Gott ihrer Erkenntnis in Einzelheiten auszumalen, sich ein Bild von ihm zu machen, weil sie einräumen müssen, nichts von ihm zu wissen; er hat sich ihnen ja nicht offenbart. Sie glauben lediglich, das Wirken eines irgendwie gearteten höheren Wesens zu spüren. Wenn man Jaspers gefragt hätte, ob die innere Stimme, die in bestimmten Situationen zu ihm spricht und die er für Gottes Stimme hält, nicht auch die Reflektion seiner eigenen Gedanken im Zusammenwirken mit all dem, was er bisher im Leben erfahren hat und was auf ihn eingewirkt hat, sein könne, würde er wohl antworten: „Dieses könnte so sein“. Mit dieser Frage ist es halt, wie mit allem in der Philosophie: Die gewonnen Erkenntnisse können wahr oder auch falsch sein. (19) Ergänzend weise ich noch darauf hin, dass es keine Äußerung von Jaspers gibt, aus der geschlossen werden könnte, dass er an ein Leben nach dem Tode und ein göttliches Gericht geglaubt hätte, beides alte Fragen der Philosophie. Wie dem auch sei, wichtig ist, dass der Glaube für Jaspers primär dazu diente, hier auf Erden durch ein anderes Selbstbewusstsein zu einer höheren Stufe des Menschseins zu gelangen. Ähnlich verhält es sich beim Buddhismus, den ich ebenfalls zu den Religionen der Erkenntnis zähle, da er, wenigstens in seiner ursprünglichen Form, auf philosophischer Grundlage beruht. Anhang: Der Gottesgedanke (20) Warum hat sich die Menschheit seit jeher mit dem Phänomen Gott befasst? Ich denke aus dem Wunsch heraus, ein Leben in Geborgenheit, Harmonie und frei von Ängsten, Kummer, Leid, Schmerz und Not zu führen. Ein solches Leben kann nur eine mächtige und uns wohl gesonnene Persönlichkeit richten. Die Sehnsucht richtet sich also auf eine solche Persönlichkeit, deren Führung man sich gerne anvertraut, der man aber auch gerne begegnen möchte. Man will sie aufsuchen und sich mit ihr unterhalten können, wie ein Kind mit seinen Eltern oder ein junger Mensch mit einem erfahrenen Lehrer oder älteren Freund. Diese Wünsche finden ihren Niederschlag z. B. in der Geschichte von Adam und Eva im Paradies (vor dem Sündenfall und der Vertreibung). Solche Geschichten, die möglicherweise so oder ähnlich auch in anderen Kulturen überliefert werden, waren stets nur Mythos. Man hat einen Gott erdacht, der sein Reich im Jenseits hat und hat dem Menschen ewiges Leben verliehen, um im Anschluss an ein irdisches nicht den geschilderten Sehnsüchten der Menschen entsprechendes Leben im Jenseits ein glückseliges Leben zu erlangen. Welch schöner Gedanke, wäre da nicht das Damoklesschwert eines längeren Aufenthalts im Fegefeuer oder gar der ewigen Verdammnis. 13 (21) Zum Gottesgedanken hat aber auch der Drang des forschenden Menschen geführt, die Ursprünge des Seins zu erkennen, insbesondere die Ursprünge des Weltalls, der Erde und des Lebens auf dieser Erde. Hilfreich waren dabei die Beobachtungen der Naturwissenschaften und der Archäologie. Auf die entscheidenden Fragen vermochten sie jedoch keine Antwort zu geben, z. B. auf die Frage der Entstehung des Lebens. An der Grenze menschlicher Erkenntnismöglichkeiten gibt es zwei Verhaltensalternativen: 1. Wir akzeptieren, dass unsere Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind und Wesentliches für uns Geheimnis bleibt. Wir akzeptieren das Sein als solches. 2. Wir verlassen den Bereich unserer realen Erkenntnismöglichkeiten und wenden uns der Spekulation zu. Die Religionen des Ich und teilweise die Religionen der Erkenntnis haben von der 2. Alternative Gebrauch gemacht. Alles, was sie sich nicht erklären können, führen sie auf das Wirken eines übernatürlichen Wesens zurück, das sie Gott nennen, dessen Existenz sie aber nicht beweisen können; daher sprechen sie von Glaube (anders der Buddhismus, der aber zumindest in seinem Glauben an die Reinkarnation ebenfalls spekulativ ist). Gott soll alles geschaffen haben, das Universum und auch das Leben. Irgendwann werde er auch alles wieder vernichten. Zu Beginn des JohannesEvangeliums heißt es: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ Dieses soll die endgültige wenn auch nur spekulative Antwort nach den Ursprüngen sein. Diese Antwort kann meinen Erkenntnisdrang nicht befriedigen. Wann war der Anfang und wer hat ihn gesetzt? Was war vorher? Woher kommt dieser Gott? Wer hat sein Leben entstehen lassen? Konsequenter Weise kann man auch hierüber nur spekulieren. Tun wir es doch einmal und sagen, vor diesem Gott müsse es noch einen anderen, höheren Gott gegeben haben, einen Ur-Gott gewissermaßen. Auch wenn man sich noch so viele Ur-, Vor-, oder Übergötter denkt, man kommt in seinen Spekulationen nie an den Anfang, nie zum wirklichen Ursprung allen Seins. Dieser Erkenntnis folgend frage ich mich, welchen Sinn ein Verhalten gemäß Alternative 2 haben soll. Eine Bescheidung auf die Alternative 1 erscheint mir als der richtigere Weg, einen Weg den uns bereits die altindische Philosophie aufgezeigt haben könnte: „Doch wem ist auszuforschen es gelungen, Wer hat , woher die Schöpfung stammt, vernommen? Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen! Wer sagt es also, wo sie hergekommen? Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht, der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht, Der sie gemacht hat oder nicht gemacht, Der weiß es – oder weiß auch er es nicht?“ Aus dem Schöpfungshymnus der Rigveda (ca. 1200 v. Chr.) in der Übersetzung von Paul Deussen 1906, zitiert nach Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 38. 14 Dalai Lama Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Buch Dalai Lama / Howard C. Cutler „Die Regeln des Glücks“ Bastei Lübbe Taschenbuch 6. Auflage Dezember 2002 Ähnliche Gedanken beinhalten auch andere Schriften des Dalai Lama und viele seiner Reden. (22) Beim Glauben lassen sich zwei Kategorien unterscheiden: • der auf die irdischen Gegebenheiten gerichtete Glaube (im weiteren natürlicher Glaube genannt) • der auf das Spirituelle, das Transzendente oder das Übernatürliche gerichtete Glaube (im weiteren übernatürlicher Glaube genannt) Soweit ich weiß, besteht der übernatürliche Glaube des Buddhismus allein in der Lehre der Wiedergeburten. Der Dalai Lama folgt darüber hinaus einer Reihe von natürlichen Glaubensgrundsätzen (Grundüberzeugungen). In dem genannten Werk habe ich davon zehn gefunden: 1. Der eigentliche Sinn unseres Lebens besteht im Streben nach Glück (oder doch wenigstens nach Zufriedenheit). 2. Glück (Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl (tibetisch sem) erlangt werden. „Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte Lebenseinstellung umwandeln“ (S. 23). Glück wird eher durch die eigene Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt (S. 28, 30). Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz (S.41). 3. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart (S. 39). 4. Es gibt eine elementare Milde, Güte und Aufgeschlossenheit der Menschen sowie Gemeinschaftlichkeit unter allen Lebewesen (S. 18). Unsere menschliche Natur ist grundsätzlich freundlich und mitfühlend (S. 57). Wir besitzen auch ein angeborenes Potenzial für Barmherzigkeit (S. 61). 5. Das fundamentale subtile Bewusstsein des Menschen ist nicht von negativen Emotionen getrübt (S. 242). Negative Geisteszustände sind kein unserer Psyche von Natur innewohnender Teil, sondern nur vergängliche Hindernisse, die unseren natürlichen Zustand der Freude und des Glücks hemmen (S. 245). 6. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer besseren geistigen Gesundheit und zu Glück (S. 49). 7. Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu reagieren, dass wir überleben können (S. 53). 15 8. Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und Vorstellungskraft (S.63). 9. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz (S. 141). Unsere Geburt ist eigentlich die Geburt des Leidens (S. 145). Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von Leid zu erlangen (S. 147 f). 10. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans ansehen (S. 161). (23) Der Dalai Lama hält es ganz und gar nicht für erstrebenswert, dass alle Menschen die selbe Religion hätten oder gar alle Buddhisten wären. Da unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Veranlagungen hätten, benötigten wir eine Vielfalt an Religionen. Manchmal habe er den Eindruck, dass 6 Milliarden Menschen auch 6 Milliarden Religionen benötigten. Jeder solle den spirituellen Pfad beschreiten, der seiner geistigen Veranlagung und natürlichen Neigung, seinem Temperament und Glauben, seiner Familie und seinem kulturellen Hintergrund am besten entspricht (S. 293; Texte teilweise schon in der Einleitung zitiert). Durch den engeren Kontakt zu anderen Traditionen und Religionen erkennen wir deren positive Seiten. „Wir können alle an einem Tisch sitzen und uns verschiedene Gerichte nach unserem Geschmack bestellen. Jeder isst etwas anderes, aber niemand streitet sich deswegen“ (S. 202). Der Zweck einer jeden Religion besteht nach der Anschauung des Dalai Lama darin, den Menschen zu nützen (S. 293). Eine ähnliche Auffassung vertrat schon vor 2000 Jahren der römische Schriftsteller Plinius (d. Ä.) in seinem Werk Naturalis historia (II,5,18) : „Deus est mortali iuvare mortalem“, frei übersetzt etwa: „Gott hat den Sterblichen das Leben zu erleichtern“. (24) Glück und Religion, Zitat aus dem Eingangs genannten Buch: „Im Westen wenden sich viele Menschen der Religion als einer Quelle des Glücks zu. Doch der Ansatz des Dalai Lama unterscheidet sich fundamental von dem vieler westlicher Religionen, da er die Vernunft und die Geistesschulung wesentlich stärker betont als den Glauben“ (S. 244 f). (25) Während sich die römische Kirche als Verkünderin der „einen, heiligen und allumfassenden“ Religion ansieht und am liebsten alle Menschen zu Katholiken machen möchte, ist die Auffassung des Dalai Lama von wohltuender Toleranz und Aufgeklärtheit geprägt. Wie bei der Natürlichen Religion sieht er keine Überlegenheit seiner Religion gegenüber anderen, wie er überhaupt im Umgang mit den Mitmenschen die Achtung vor dem anderen hervorhebt. Natürlich gibt es nicht wirklich 6 Milliarden gänzlich verschiedene Religionen, wohl aber unzählige Varianten der gemeinhin bekannten Religionen. Nach seiner Auffassung soll jeder für sich die Religion oder Religionsvariante wählen, von der er glaubt, dass sie ihm am ehesten bei seinem Streben nach einem glücklichen oder wenigstens zufriedenstellenden Leben helfen kann. Wenn z.B. ein Christ ein inniges Verhältnis zur Gottesmutter oder zu anderen Heiligen hat und daraus Trost und Stärkung findet, wäre es sicher nicht im Sinne des Dalai Lama, wenn ein anderer Christ daherkäme und jenem ein paar aus dem Kontext gerissene Bibelstellen um die 16 Ohren schlüge, um ihm rechthaberisch einen Teil der Grundlage seines Glücks unter den Füßen wegzuziehen. Und wenn sich ein Katholik mit bestimmten Glaubensgrundsätzen nicht identifizieren kann, z.B. der Himmelfahrt Mariens oder der Unfehlbarkeit des Papstes, wenn er ex cathedra spricht, und auch den Vorstellungen der Amtskirche in Sachen Sexualität und Geburtenplanung nicht zu folgen vermag, ohne einen Verlust an Glück zu erleiden, soll ihm niemand seine persönliche Religionsvariante streitig machen wollen. Das selbe gilt, wenn sich jemand für eine Religion entscheidet, die ohne einen auf das Transzendente gerichteten Glauben auskommt. (26) Die vom Dalai Lama geforderte Toleranz gegenüber allen möglichen Religionen oder Lebensauffassungen erfährt zumindest für mich ihre Grenze gegenüber Religionen oder Lebensauffassungen, die entweder selbst nicht tolerant sind oder die Anderen, insbesondere anders Denkenden, auch solchen aus den eigenen Reihen, aggressiv gegenübertreten, die Machtansprüche entfalten, sich anderen überlegen fühlen und diese im Hinblick auf ihre vermeintliche Unterlegenheit zu missionieren suchen, womöglich noch mit Feuer und Schwert oder wie bei vielen Sekten mit ausgeklügelter psychologischer Beeinflussung. Eine bloße und auch wechselseitige Unterrichtung über die eigene Religion oder Lebensauffassung ist natürlich nicht nur statthaft sondern auch nützlich. Um mit dem vom Dalai Lama gewählten Bild abzuschließen: Toleranz gegenüber jedem, der mit mir friedlich am Tisch sitzt, nicht gegenüber dem, der mir das von mir gewählte Essen madig machen will oder mir gar seine Suppe ins Gesicht schüttet. Teil 3 Darstellung der eigenen Position Bestandteile einer Religion (27) Der philosophierende Mensch, d. h. der Mensch, der sich um Erkenntnisse in den wichtigen Lebensfragen bemüht, gelangt zu einer Lebensauffassung. Dazu gehören m. E. ethische Grundsätze und Glaubensgrundsätze (oder Überzeugungen), und zwar in dieser Reihenfolge. Religion, wie ich sie mit Hinweis auf Abschnitt 1 definieren möchte, besteht in der sorgfältigen Beachtung der Lebensauffassung; Religion manifestiert sich somit im Handeln. Die Lebensauffassung stellt danach die theoretische Grundlage für die Religion (verstanden als Religionsausübung) dar. Ich denke, dass ich mich insoweit auch in Übereinstimmung mit Christus befinde, der sagte: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ und: „Nicht jeder, der sagt Herr, Herr wird in das Himmelreich eingehen, sondern der, der den Willen Gottes tut“. So auch Nietzsche, der zum echten, ursprünglichen Christentum sagt, dass es in einem Tun, vor allem in einem vieles nicht Tun bestehe und dass irgend ein Glaube, ein für wahr Halten fünften Ranges sei. Im Ergebnis so auch Ayaan Hirsi Ali mit dem bereits in der Einleitung zitierten Ausspruch: „Religion ist die Art, wie wir uns anderen gegenüber verhalten.“ (S. 90) Wie in Abschnitt 22 dargelegt, unterscheide ich zwischen natürlichen und übernatürlichen Glaubenssätzen. 17 Ethische Grundsätze (28) Eine Reihe von Philosophen seit Konfuzius (551-479 v. Chr.) haben mit vergleichbaren Worten die goldene Regel der Ethik aufgestellt, die ich so formulieren möchte: „Verhalte dich anderen Menschen gegenüber so, wie du möchtest, dass sie sich dir gegenüber verhalten.“ Ergänzen möchte ich sie noch um den Satz: „Respektiere andere Lebewesen und die Natur “ und um den Satz: “Verhalte dich so, das du die Lebensgrundlagen und die berechtigten Interessen der künftigen Generationen, soweit möglich, nicht beeinträchtigst “. Dieses Verhalten bedeutet nicht, dass ich meine Wünsche und Bedürfnisse auf andere übertrage, sondern dass ich bemüht bin, die Wünsche und Bedürfnisse des anderen zu erkennen und, soweit sie legitim sind, danach zu handeln. Die goldene Regel betrifft das Verhalten gegenüber anderen. Es gibt aber auch Verpflichtungen gegenüber sich selbst, die man so formulieren könnte: „Liebe dich selbst und trage Sorge für dich.“ Aus den vorstehenden Grundsätzen kann ein Mensch mit Charakter, Weisheit und Verstand m. E. alle Regeln für sein Verhalten (Tun oder Unterlassen) in den meisten Lebenssituationen ableiten. Kant und Jaspers haben als höchstes moralisches Prinzip die "unbedingte Forderung" formuliert, siehe in Abschnitt (15) die Ausführungen zu Ziffer 3. Dieses Prinzip stellt sehr weitgehende Anforderungen an uns. Weitere Ausführungen zu diesem Thema enthält u. a. das Buch Philosophie für Dummies von Tom Morris, Kapitel 9 „Ethische Regeln und moralischer Charakter“. Hingewiesen sei auch auf die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der Weltreligionen vom 4.9.1993. Die Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen ist besonderes Anliegen des aus meiner Heimatstadt Mönchengladbach stammenden Philosophen Hans Jonas (1903-1993) in seinen Werken Das Prinzip Verantwortung und Technik, Medizin und Ethik, zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Es mag Grenzsituationen geben, in denen es schwer fällt, die ethisch/moralisch richtige Entscheidung zu treffen. Ich denke dabei z. B. an die Situation einer vergewaltigten Frau, die vor der Entscheidung einer Abtreibung steht, oder die Situation eines Genforschers, der sich fragt, wo er die Grenze für seine Tätigkeit ziehen soll. Zu dieser Thematik hat sich aus konservativ-katholischer Sicht Robert Spaemann in zahlreichen Veröffentlichungen geäußert. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er die "sittliche Vernunft" zum Maßstab des Verhaltens machen. Die Frage ist nur, auf welche Maßstäbe sich wiederum diese sittliche Vernunft stützen soll. Wilhelm Schmid, von dem im nächsten Abschnitt näher die Rede sein wird, hat als oberstes Prinzip der Kunst des Lebens herausgestellt, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die richtige Wahl zu treffen. Dabei weist er darauf hin, dass wir grundsätzlich für eine Wahl Kriterien brauchen, die Auswahl der Kriterien ihrerseits aber wiederum ein Wahlakt ist, für den wir erneut Kriterien benötigen, ebenso wie für die Auswahl der letztgenannten Kriterien usf. und dass wir dabei irgendwann an den Punkt kommen, wo uns keinerlei Auswahlkriterien 18 mehr zur Verfügung stehen. An diesem Punkt gelte es, allein aus unserem Gefühl für das Richtige oder Falsche heraus eine Basisentscheidung zu treffen. Ich denke, dass der Einzelne in den genannten Grenzsituationen auch nur nach diesem Gefühl entscheiden kann. Natürliche Glaubensgrundsätze (29) Hierunter verstehe ich die auf die irdischen Gegebenheiten gerichteten Überzeugungen. Die in Abschnitt 22 dargestellten Grundüberzeugungen des Dalai Lama sind offenbar Bestandteil der buddhistischen Lebenstechniken. Der erste Satz enthält eine Aussage über den Sinn des Lebens. Die katholische Kirche sieht den Sinn des Lebens ausschließlich in der Erfüllung der Gebote und Verbote Gottes, auch in der demütigen Hinnahme von Leid, das uns Gott schickt. Der Dalai Lama ist mit Aristoteles und anderen Philosophen der Überzeugung, der Sinn bestehe in dem Streben nach Glück oder wenigstens nach Zufriedenheit. Ich möchte, nicht zuletzt wegen der dem deutschen Begriff Sinn anhaftenden Vieldeutigkeit und Unschärfe, die hinter dieser Frage stehende Suche des Menschen etwas anders angehen und dabei zunächst weiter ausholen. Eine der wichtigsten Fragen, mit denen sich die Philosophie seit Schopenhauer beschäftigt, lautet: Warum ist überhaupt etwas (und jemand) und nicht vielmehr nichts (und niemand)? Die Frage nach dem warum ist schlechterdings nicht beantwortbar. Wer eine Antwort sucht, könnte fragen: Wäre es nicht besser, es gäbe nichts als das, was ist? (ausführlich hierzu Ludger Lütkehaus, Nichts) Betrachtet man das ganze Leid und Unrecht dieser Welt, könnte man diese Frage durchaus bejahen (vgl. auch Abschnitt 38, 2. Absatz). In der altgriechischen Midassage verrät ein Halbgott dem König, was die Menschen eigentlich nicht erfahren sollten: „Das Allerbeste für sie wäre nicht geboren worden zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein; das Zweitbeste ... bald zu sterben.“ Nach Nietzsche ist das Leben des Einzelnen wie das Fortleben der Gattung „im Grunde Trieb, Instinkt, Torheit, Grundlosigkeit“ (III 371). Zuvor hatte bereits Schopenhauer von der „Grundlosigkeit des blinden Lebenswillens“ gesprochen. Wie dem auch sei, wir sind jedenfalls in eine höchst unvollkommene Welt hinein geworfen – ohne dass wir vorher hätten gefragt werden können. Manche Philosophen sprechen vom Diktat der Geburt. Selbst wenn wir es als besser ansähen, es gäbe nichts und auch uns nicht, an der Tatsache der Existenz der Welt und unserer Geburt können wir nichts ändern. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir die Aufgabe haben, das Beste aus der gegebenen Situation zu machen. Die Frage lautet, was sollen, müssen oder können wir tun, um zu einem erfüllten, bejahenswerten oder doch wenigstens einem im Großen und Ganzen zufriedenstellenden Leben zu gelangen? Hierzu weist uns die Philosophie, deren eigentlicher Bereich seit jeher die Lehre vom richtigen Leben ist (Theodor W. Adorno, Minima Moralia), den Weg. Nach Sokrates ist das ungeprüfte Leben seinen Preis nicht wert. Daraus ergibt sich das Postulat, das Leben nicht einfach unreflektiert und unbewusst dahin ziehen zu lassen sondern die für uns wichtigen Fragen des Lebens zu prüfen, um schließlich zu einer im Rahmen der gegebenen Bedingungen möglichst weitgehenden autonomen Lebensführung zu gelangen, die auf das formulierte Ziel, so wie das einzelne Individuum es versteht, seinen Lebenshorizont, ausgerichtet ist. Es ist das Anliegen der Philosophie der Lebenskunst, uns bei dieser Arbeit, die wie immer in der Philosophie ein Unterwegssein ist, insbesondere durch theoretische Reflektion über die Bedingungen und Möglichkeiten eines gekonnten Lebensvollzugs zu unterstützen. 19 Wilhelm Schmid hat es in den 90-ger Jahren des 20. Jh. unternommen, die Philosophie der Lebenskunst unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen in der freien Welt neu zu begründen. Seine Arbeiten sind zusammengefasst in dem verdienstvollen Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft „Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung“, 1998, 6. Auflage 2000, 460 Seiten Text und ca. 100 Seiten Anmerkungen und Literaturverzeichnis. Dabei verzichtet Schmid bewusst auf eine inhaltliche Festlegung der Lebenskunst, die dem Einzelnen überlassen bleiben muss. Nach Schmid ist es zielführend, das Bejahenswerte im Leben zu suchen, aber auch das Leben bejahenswerter zu machen, und hierzu eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am Leben mit Anderen, für die man Sorge zu tragen hat, und an den Verhältnissen, die dieses unser Leben bedingen, zu leisten (S. 170). Ein erfülltes Leben besteht nicht nur aus Glücksmomenten sondern auch aus Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind, Widerständen, Komplikationen, Entbehrungen und Konflikten, die ausgefochten oder ausgehalten werden (S. 171). Weitere Ausführungen würden den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. (30) Nun komme ich zu den übrigen Grundüberzeugungen des Dalai Lama, die ich zur Vermeidung des Rückblätterns hier noch einmal in der Reihenfolge meiner Stellungnahme wiedergebe: Zu den Aussagen 2, 3, 6, 9 und 10 2. Glück (Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl (tibetisch sem) erlangt werden. „Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte Lebenseinstellung umwandeln“. Glück wird eher durch die eigene Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt. Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz. 3. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart. 6. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer besseren geistigen Gesundheit und zu Glück. 9. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz. Unsere Geburt ist eigentlich die Geburt des Leidens. Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von Leid zu erlangen. 10. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans ansehen. Diese Aussagen kann ich ohne Weiteres akzeptieren. An die Aussage 7 "Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu reagieren, dass wir überleben können." möchte ich gerne glauben, weil sie uns die Zuversicht gibt, auch in schwierigen Lebenssituationen nicht unterzugehen. Daher wage ich, an die Richtigkeit dieser Annahme zu glauben. Aussage 8 20 "Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und Vorstellungskraft." ergänze ich dahingehend, dass Konflikte häufig durch den uns von der Natur mitgegebenen Aggressionstrieb verursacht werden. Es wäre schön, wenn auch die Aussage 4 wahr wäre. "Es gibt eine elementare Milde, Güte und Aufgeschlossenheit der Menschen sowie Gemeinschaftlichkeit unter allen Lebewesen. Unsere menschliche Natur ist grundsätzlich freundlich und mitfühlend. Wir besitzen auch ein angeborenes Potenzial für Barmherzigkeit." Indessen möchte ich mich lieber nicht darauf verlassen, dass mir andere Menschen bei entsprechenden Gelegenheiten stets mit Aufgeschlossenheit, Güte, Milde oder Barmherzigkeit begegnen. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch über gute und schlechte Anlagen verfügt, dass er altruistisch und egoistisch, rechtschaffen und betrügerisch, liebevoll und grausam handeln kann. Daraus folgt, dass man zum eigenen Schutz stets auf der Hut sein sollte. Nicht beurteilen kann ich die Aussage 5. "Das fundamentale subtile Bewusstsein des Menschen ist nicht von negativen Emotionen getrübt. Negative Geisteszustände sind kein unserer Psyche von Natur innewohnender Teil, sondern nur vergängliche Hindernisse, die unseren natürlichen Zustand der Freude und des Glücks hemmen. Die wiedergegebenen Überzeugungen des Dalai Lama beschränken sich auf den nach einem Lebenssinn suchenden Menschen und seine Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen. Sie stellen kein alle denkbaren Wissensgebiete umfassendes Weltbild dar. Diese Beschränkung halte ich jedoch, wenn es um eine Lebensauffassung als Grundlage einer Religion geht, für gerechtfertigt. Menschen haben eine Vielzahl von Überzeugungen, ohne dass sie ad hoc in der Lage wären, sie vollständig zu katalogisieren. Mit Sicherheit habe auch ich noch weitere Überzeugungen in dem Bereich, auf den ich mich hier beschränken will, ohne sie hier und jetzt erschöpfend aufführen zu können. (30a) Nachstehend nochmals zusammenfassend die hier abgehandelten natürlichen Glaubensgrundsätze: 1. In diese Welt und dieses Leben durch fremde Entscheidung (die unserer Eltern) hineingeworfen, ist es angesagt, das Beste aus der Situation zu machen, indem wir uns unser ganzes Leben (omnia vita) um einen gekonnten Lebensvollzug bemühen (vivere discimus), das Bejahenswerte im Leben suchen, aber auch das Leben bejahenswerter zu machen suchen, und hierzu eine Arbeit an uns selbst, am eigenen Leben, am Leben mit Anderen, für die wir Sorge zu tragen haben, und an den Verhältnissen, die dieses unser Leben bedingen, zu leisten. Ein erfülltes Leben 21 besteht nicht nur aus Glücksmomenten sondern auch aus Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind, Widerständen, Komplikationen, Entbehrungen und Konflikten, die ausgefochten oder ausgehalten werden. 2. Glück (Lebensbejahung, Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl erlangt werden. Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte Lebenseinstellung umwandeln. Glück wird eher durch die eigene Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt. Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz. 3. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer besseren geistigen Gesundheit und zu Glück. 4. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart. 5. Der Mensch verfügt über gute und schlechte Anlagen, er kann altruistisch und egoistisch, milde und hartherzig, rechtschaffen und betrügerisch, liebevoll und grausam handeln. Daraus folgt, dass man zum eigenen Schutz stets auf der Hut sein sollte. 6. Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und Vorstellungskraft - aber auch durch den uns von der Natur mitgegebenen Aggressionstrieb. 7. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz. Unsere Geburt ist eigentlich die Geburt des Leidens. Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von Leid zu erlangen oder Leid erträglich zu machen. 8. Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu reagieren, dass wir überleben können. 9. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans ansehen. 22 Übernatürliche Glaubensgrundsätze Einleitung (31) Hierbei handelt es sich um Überzeugungen, die sich auf die unsichtbare Welt oder das Transzendente beziehen. Hierzu finden sich z. B. folgende Aussagen: 1. Es existiert ein Schöpfergott 2. Es gibt ein Leben nach dem Tod 3. Es gibt im Jenseits einen Pool menschlichen Lebens; die Seele eines jeden Menschen geht aus diesem Pool hervor und kehrt nach seinem Tod wieder dorthin zurück und vereint sich mit der Substanz, aus der neues menschliches Leben entsteht (Präexistenz der Seele, Reinkarnation, Seelenwanderung) Es finden sich aber auch die gegenteiligen Aussagen: es gibt keinen Schöpfergott und kein Leben vor oder nach dem irdischen. (32) Philosophische Aussagen sind immer nur Annahmen oder Hypothesen. Jaspers hat eindringlich darauf hingewiesen, dass die Bestimmtheit der Aussagen nicht über ihren Charakter als Annahmen täuschen dürfe, dass sie wahr oder unwahr (richtig oder falsch) sein können und stets mit dem Zweifel behaftet sind. Hiervon ausgenommen sind lediglich stark eingeschränkte Aussagen in bezug auf das natürliche Leben, deren Aussagewert aber ebenfalls stark eingeschränkt, um nicht zu sagen trivial ist. Warum wir trotzdem philosophieren sollen, hat Sokrates mit dem schon zitierten Satz gesagt: „Das ungeprüfte Leben ist seinen Preis nicht wert.“ Sokrates prüfte die wichtigen Fragen des Lebens und kam dabei zu dem zunächst ernüchternden Ergebnis, dass er wohl nichts Bedeutendes wisse. Ich hatte bereits Karl Jaspers mit den Worten zitiert, dass Philosophie nicht zu Wissen führt. Er spricht vielmehr von erworbenem Nichtwissen, eine sehr interessante Formulierung wie ich finde. Jaspers befindet sich damit im Einklang mit dem berühmten alt-chinesischen Philosophen Laotse (6. Jh. v. Chr.), der in seinem immer noch in vielen Sprachen aufgelegten Vermächtnis Tao Te King in Kap. 71 sagt: “Nichtwissen ist wahres Wissen“. Dieses Nichtwissen unterscheidet sich substanziell gewaltig von dem Nichtwissen des „Toren“ [vgl. das hervorragend neu übersetzte, witzig-ironische, aber auch hintergründig philosophische Traktat Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam (1469-1536)]. Der Tor nimmt das Leben wie es kommt, er geht lieber ins Wirtshaus oder buhlt mit schönen Frauen als die Abende oder gar Nächte mit Philosophieren zu vergeuden. Er macht sich keinen Kopp, Probleme hält er sich vom Leib. Beide, der Tor und der Philosoph, wissen nichts. Der Tor hat das Leben nicht geprüft, er ist in den wichtigen Lebensfragen ein Ignorant, er könnte bei einer Diskussion nicht mitreden. Anders der Philosoph: er hat sich mit der Materie befasst, er ist im Thema. Dass er am Ende zu nicht beweisbaren und von Zweifeln begleiteten Überzeugungen gelangt oder gar eine Frage unentschieden lässt, ficht ihn nicht an: er hat das Leben geprüft, er kann nunmehr bewusst leben, sich Lebensziele setzen, sein Leben auf diese Ziele ausrichten und damit seinem Leben eine höhere Wertigkeit verleihen. (33) Stellen wir uns zwei philosophierende Menschen vor. Der eine gelangt zu der Aussage, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, der andere zu der gegenteiligen Aussage. Diese beiden Positionen erscheinen auf den ersten Blick zu 100% 23 gegensätzlich. Wenn beide Philosophen ihren jeweiligen Aussagen eine 60 %ige Wahrscheinlichkeit beimessen, liegen sie in ihren Bewertungen allerdings nur um 20 % auseinander. Bei dieser Situation würden sie sich wohl kaum wegen ihrer unterschiedlichen Überzeugungen ernsthaft in die Haare geraten. Jeder würde den anderen respektieren. Mit Jaspers würde möglicherweise jeder von ihnen sagen, dass er nicht sicher sei, ob er seine Aussage wirklich glaube, dass er lediglich zu glauben wage. Gleichwohl fließt das Wagnis des Glaubens an die Richtigkeit der jeweiligen Aussage in die Lebensauffassung des einzelnen ein. Dieses kann auch bei im übrigen, insbesondere hinsichtlich der ethischen Grundsätze, gleicher Lebensauffassung in Grenzsituationen zu einem anderen Verhalten führen. Derjenige, der sich entschieden hat, nicht an ein Leben nach dem Tod zu glauben, hängt möglicherweise mehr an seinem (irdischen) Leben als der andere, der nach seiner Überzeugung ja noch ein zweites erstrebenswerteres weil vollkommen glückseliges Leben hat. Letzterer könnte wegen dieser Überzeugung z. B. eher bereit sein, sich einer riskanten Operation zu unterziehen oder als Freiwilliger an einem Verteidigungskrieg teilzunehmen oder sein Leben für einen nahestehenden Menschen zu opfern. Eigene Glaubensgrundsätze (34) Welche Überzeugungen im Bereich des Übernatürlichen habe ich mir zu eigen gemacht? Ich habe mich nicht dazu entschließen können, an die Richtigkeit irgendeiner der in Abschnitt 31 wiedergegebenen drei Aussagen zu glauben. Zur Begründung führe ich zunächst an, dass unserer Beobachtung nur die sichtbare Welt zugänglich ist. Über die Frage, ob es daneben noch eine unsichtbare gibt, können wir nur spekulieren. Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, warum ich an die Existenz einer unsichtbaren Welt glauben und mir diese dann noch in einer Reihe von Einzelheiten ausschmücken soll. (35) Martin Heidegger (1889-1976) unterscheidet zwischen dem Seienden und dem Sein, durch das alles Seiende erst ein Seiendes ist. Dieses Sein war bereits vor dem Urknall, wenn diese Theorie der Naturwissenschaftler richtig ist, und wird auch nach der in etlichen Milliarden Jahren zu erwartenden Implosion des Weltalls sein. Heidegger denkt sich dieses Sein als etwas Ungegenständliches und Unpersonifiziertes. Dem schließe ich mich an. Da ich nicht an einen Schöpfergott glaube, akzeptiere ich, dass das Entstehen des Seienden und damit auch des menschlichen Lebens für mich ein Geheimnis bleibt. (36) Die Entscheidung, in das Leben auf diesem Planeten einzutreten, haben unsere Eltern für uns getroffen und damit meines Erachtens eine kaum tragbare Verantwortung übernommen, können sie uns doch kein Leben frei von Angst und Leid garantieren. In diese Welt hineingeworfen (Heidegger spricht vom existenziellen Wurf ins Ungewisse), sind wir auf uns nahestehende Menschen, in erster Linie aber auf uns selbst gestellt. Wir können nicht erwarten, dass eine überirdische, uns wohlgesonnene Macht unseren Lebensweg begleitet und uns beschützt und auch nicht, dass es für uns ein glückseliges Leben nach dem Tode gibt. Vor unserer Zeugung gab es uns nicht und nach unserem Tod werden wir nicht mehr sein. 24 (37) George Steiner, weltweit tätiger Dozent für philosophische Hermeneutik, Schriftsteller und Heidegger-Interpret führte in seiner Rede in der Paulskirche am 25.5.2003 anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an ihn, die ich im Fernsehen verfolgte und die in der FAZ vom 31.5.2003 abgedruckt wurde, folgendes aus: „Der Mensch ist ins Leben geworfen, um Heideggers gewaltigen Ausdruck zu benützen. Für diese Geworfenheit gibt es kein Warum, keine grundsätzliche Erklärung. Man kommt blind oder taub oder von genetischer Krankheit schon im Voraus verurteilt in die Existenz. Man ist schön wie Apoll oder hässlich wie Sokrates. Einer wird im Wohlstand, in der Kultur, in der Sicherheit zur Welt kommen, der andere in einem von Hunger oder Aids verwüsteten afrikanischen oder asiatischen Hinterland. Der eine hat Genie, der andere verbringt seine Tage in sturer Dummheit oder Hilflosigkeit. ... Geworfenheit ist ein unergründliches Würfelspiel. ... Es gibt keine mögliche Erklärung für die Lotterie, das Monte Carlo der Geworfenheit. Dies bedeutet, dass wir alle Gäste des Lebens sind. Das Sein ist unser Gastgeber. ... Leben heißt, eine willkürliche Gabe in Empfang nehmen.“ Gabe kommt von geben. Das Leben ist uns gegeben, willkürlich bedeutet, dass wir keine Wahlmöglichkeit hatten. Hätte ein weiser Gott uns nicht über das Leben, das uns auf diesem Planeten erwartet, ein Leben mit glücklichen Umständen aber auch mit Leid, Schmerz, Not, Ungerechtigkeit und Grausamkeit aufgeklärt und dann uns die Wahl überlassen, in dieses Leben einzutreten oder nicht? Von den in Abschnitt 31 aufgeführten Aussagen will ich in den Abschnitten 38 bis 41 auf die beiden ersten näher eingehen (Gott, Leben nach dem Tode). Kein Glaube an die Existenz eines Schöpfergottes (38) Eine Person soll das Weltall und das Leben auf Erden aus dem Nichts erschaffen haben. Dieser Person werden weitere unglaubliche Eigenschaften beigemessen: Sie sei in der Lage, das Leben aller Menschen zu kontrollieren, alle ihre Handlungen wahrzunehmen und im Gedächtnis zu behalten. Sie verstehe alle Sprachen und Dialekte und könne sogar Gedanken lesen, und zwar gleichzeitig die Gedanken vieler Milliarden Menschen und auch diese speichern, um sie zusammen mit den gespeicherten Handlungen jedem einzelnen Menschen nach seinem irdischen Tod in einem göttliche Gericht vorhalten zu können. Eine Person mit derartigen Fähigkeiten vermag ich mir nur schwer vorzustellen. Es gibt aber noch einen anderen Umstand, der mir den Glauben an einen Schöpfergott erschwert: die Unvollkommenheit der Schöpfung und das Negative (das Schlechte und Böse) in der Welt. Für ein überirdisches Wesen mit den beschriebenen Eigenschaften wäre es doch ein Leichtes gewesen, eine vollkommene und heile Welt zu schaffen, statt einer Welt, in der jedenfalls die meisten Lebewesen mit der Angst leben müssen, von anderen gefressen, umgebracht, bedroht, ausgebeutet, beraubt, übervorteilt oder in anderer Weise schlecht behandelt zu werden. Es geht hier um das Problem der Theodizee. Dieses hat Georg Steiner im letzten Kapitel seines 1999 in deutsch erschienenen Werks „Errata, Bilanz eines Lebens“ treffend dargestellt. Die Seiten 206 bis 211 oben sind als Anlage beigefügt. 25 Für mich ist wie für Steiner und viele andere Denker die völlig verunglückte Schöpfung mit kaum beschreibbarem Leid und Unrecht und der Gedanke an einen allmächtigen und allgütigen Gott schlichtweg unvereinbar. Statt mir einen unfähigen oder gar bösartigen Gott vorzustellen, habe ich mich für die Hypothese „Gott ist nicht“ entschieden und befinde mich damit in Übereinstimmung mit Nietzsche: „Gott ist eine viel zu extreme Hypothese“ (XII 212 ff). Natürlich bin ich mir bewusst, dass viele Menschen an einen Schöpfergott glauben. Man kann immer wieder beobachten, dass die Menschen vorwiegend das glauben, was sie glauben möchten. Gewiss gibt es viele, die sich in der Vorstellung eines allmächtigen Schöpfergottes, der sie leitet und beschützt und ihnen in einem späteren Leben vollkommene Glückseligkeit verspricht, geborgen fühlen, also an solch einen Gott gerne glauben möchten und dann auch an ihn glauben. (39) Ein Hinweis auf die Entstehung des Glaubens der Juden an ihren Gott: Ursprünglich hatten die Juden (wie übrigens alle archaischen Völker) mehrere Götter; Jehova war nur einer von ihnen. Sie haben sich dann entschlossen, ihn als alleinigen Gott anzuerkennen, allerdings nicht ohne Gegenleistung: Er sollte sie zu seinem auserwählten Volk machen und zu ihnen und nur zu ihnen stehen. Der vielgepriesene Pakt war ein also Geschäft: Do ut des. So schnell und unter solchen Umständen wurde der Schöpfergott, an den auch die Christen glauben, geschaffen. (40) Wenn ich der Annahme, dass kein Schöpfergott existiert, eine höhere Wahrscheinlichkeit beimesse als der gegenteiligen Annahme, schließe ich damit die Möglichkeit der Existenz Gottes nicht aus. Daher muss ich ihn, seine Existenz unterstellt, auch ontologisch einordnen können. Das Alte Testament weist den Weg: Es lässt Jehova zu Moses sagen: „Ich bin der Seiende.“ Existiert Gott, ist er zweifellos das höchste Seiende, das alles andere Seiende geschaffen hat, wenn auch nicht aus dem nichts, sondern durch Umschaffung aus schon immer vorhandenen kleinsten Bausteinen. Als seiende Entität kann er nicht das Sein selbst sein, wie die Scholastiker annahmen; ich würde sagen, er ist (von Ewigkeit zu Ewigkeit) mit dem Sein. Seit Menschengedenken ist der Mensch auf der Suche nach dem Höchsten. In dem bereits am Ende des Abschnitts 21 auszugsweise wiedergegebenen etwa 3200 Jahre alten Schöpfungshymnus der Rigveda, heißt es: Damals war nicht das Nicht-Sein noch das Sein, kein Luftraum.., kein Himmel..., nicht Tod... noch Unsterblichkeit, nicht Nacht, nicht Tag. Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit das Eine, außer dem kein anderes war. Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden als der Erkenntnis Samenkorn die Liebe. Des Daseins Wurzelung im Nicht-Sein fanden die Weisen forschend in des Herzens Triebe. Auch einige Philosophen unseres Kulturkreises haben in späteren Jahrtausenden den Begriff der oder das Eine für den Urgrund des Lebensstroms verwendet. Lao Tse spricht in seiner ebenfalls bereits genannten Schrift Tao Te King vom Tao: 26 Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao, der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name. Das Unnennbare ist das ewig Wirkliche,... das Tor zu allem Verstehen. ..... Es ist verborgen und doch immer da. Ich weiß nicht, wer es hervorbrachte. Es ist älter als Gott. .... Bevor noch Zeit und Raum bestanden, bestand das Tao schon. Es liegt jenseits von Sein und Nicht-Sein. Woher ich weiß, dass dieses zutrifft? Ich schaue in mich hinein und sehe es. Statt des In-Sich-Hineinschauens verwendet Jaspers das Bild des Hörens aus dem Ganzen der Wirklichkeit. Angesichts dessen, dass unseren Sinnen nur die hier wahrnehmbare Welt offen steht, können wir meines Erachtens mit Blick auf eine angenommene unsichtbare Welt seriöser Weise allenfalls von einem ahnenden Erfassen des Höchsten und des daraus hervorgegangenen Lebensstroms sprechen, zu dem auch die Liebe und der Herzen Triebe (Rigveda) gehören. Auch Schiller spricht in seiner Ode an die Freude von diesem Ahnen. Es versteht sich, dass das Ergebnis des ahnenden Erfassens des Unbegreiflichen nichts konkret Greifbares, bildhaft Vorstellbares, Mitteilbares sein und natürlich niemals zu einer Lehre führen kann. Es kann äußerstenfalls zu einem leisen Bewusstsein führen, wie Jaspers es ausgedrückt hat. Kein Glaube an ein Leben nach dem Tod (41) Von allen Argumenten gegen ein Leben nach dem Tod überzeugt mich am meisten die Tatsache, dass bisher noch nie beweisbar oder zumindest glaubhaft davon berichtet wurde, dass ein Verstorbener einem Lebenden erschienen und ihm Einblick in sein neues Leben gewährt habe. Kritiker halten dagegen, die Toten hätten Besseres zu tun (keine Zeit), ein schwaches Verlegenheitsargument, finde ich. Wenn es ein solches Leben gibt, werden nach meinem irdischen Tod meine Familienmitglieder die ersten Lebenden sein, die hiervon aus erster Hand alles Wissenswerte erfahren werden. Wer an ein Leben nach dem Tode glaubt, glaubt in der Regel an ein ewiges Leben, für mich eher ein Alptraum. Tausend Jahre, vielleicht auch ein Bisschen mehr, ließe ich mir schon gefallen, um das Universum zu durchsteifen und all die Erkenntnisse zu gewinnen, die zu erlangen uns auf Erden nicht möglich war. Auch die Kommunikation mit anderen Geistern und interspirituelle Liebe, falls es so etwas geben sollte, könnte ein Zeit lang interessant und lebenserfüllend sein. Aber irgend wann, nach hunderttausend oder Millionen Jahren kennt man alles, hat alles zur Neige genossen und begehrt nichts mehr; es wird unsterblich langweilig, Ähnlich ergeht es ja auch dem aristotelischen Gott, dessen einzige Beschäftigung es ist, sich selbst zu denken. Spiritismus (42) Für manche Menschen gehören zu den übernatürlichen Glaubensgrundsätzen auch solche aus dem Bereich des Spiritismus. Sie mögen z. B. glauben, dass es über Entfernungen hinweg geistige Verbindungen zu anderen Menschen gibt, dass es Menschen gibt, die die Fähigkeit besitzen, aus der Ferne Krankheiten eines ihnen bis 27 dahin unbekannten Menschen zu erkennen und Linderung zu schicken (Telepathie). Es wird berichtet von Menschen, die das künftige Schicksal anderer zutreffend vorausgesagt oder die den Aufenthaltsort eines Vermissten „gesehen“ haben, von Müttern, die den Tod ihrer Söhne im Krieg gespürt haben genau zu der Stunde, in der sie fielen. Sogar bei Tieren will man Ähnliches beobachtet haben: Ein Hund fing genau in der Minute an zu heulen, als sein Herr im Krankenhaus verstarb. Naturvölker berichten gar von geistigen Verbindungen zu den Ahnen. In diesem Bereich habe ich kaum Erfahrungen, so dass ich hier auch keine Glaubenssätze entwickelt habe. Übernatürliche Glaubensgrundsätze, Alternative (43) Wenn ich auch an der Existenz eines Schöpfergottes und an der Unsterblichkeit des Menschen eher zweifle, muss ich doch diese Möglichkeiten in Rechnung stellen. Daher stelle ich die Frage, zu welchen Glaubensgrundsätzen ich gelangen würde, wenn ich, der ich mich ja immer noch auf dem Wege sehe, einmal zu der Auffassung gelangen würde, dass der Aussage „Gott ist“ eine höhere Wahrscheinlichkeit beizumessen wäre als der gegenteiligen Aussage. Statt dessen könnte ich auch die Frage stellen, welche Glaubensgrundsätze ein moderner, aufgeklärter, zu selbständigem Denken bereiter und befähigter Mensch entwickeln könnte, der entsprechend dem Postulat des Dalai Lama eine seiner kulturellen Herkunft und seiner Individualität entsprechende Religion anstrebt und dabei von der Existenz eines Schöpfergottes ausgehen möchte, ohne eine der zu ganz anderen Zeiten und unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstandenen Offenbarungsreligionen mit den sie begleitenden Machtansprüchen und Aggressionen, Mythen und teilweise infantilen Vorstellungen zu übernehmen. (44) Bei den Überlegungen zu dieser Frage halte ich die Gottesvorstellungen von Karl Jaspers für den geeigneten Ansatz, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Jaspers räumt (wohltuend) ein, dass jede philosophische Erkenntnis, auch und insbesondere jede, die sich auf eine unserer sinnlichen Wahrnehmung verschlossene unsichtbare Welt bezieht, auch unrichtig sein könnte, 2. Da wir somit nach seiner Auffassung Gott nicht wissen können, rät er dazu, sich kein Bild von ihm zu machen, also auf die Entwicklung detailreicher Vorstellungen von Gott zu verzichten, 3. Jaspers glaubt nicht, dass Gott sich jemals irgendeinem Menschen offenbart hat. Wir können uns also Gott nur denkend nähern, und dieses auch nur in engen Grenzen. Somit übernehme ich (unter dem Aspekt der eingangs genannten Fragestellung) zunächst die nachstehenden jasperschen Aussagen: 1. Gott ist. 2. Nichts, was ist, ist ohne ihn. 3. Wir können in Führung durch Gott leben; er teilt sich uns, jedenfalls in besonderen Lebenssituationen, über unsere innere Stimme mit. 4. Gott ist nicht, was auch immer wir uns vor Augen stellen. 28 Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Jaspers sich in seinen Schriften, soweit ersichtlich, nicht zu der Frage eines Lebens nach dem irdischen und der Frage eines göttlichen Gerichts geäußert hat. Es ist nicht anzunehmen, dass Jaspers über diese Fragen nicht nachgedacht hat, handelt es sich doch um alte philosophische Fragestellungen, mit denen sich auch Plato, von Jaspers über alles geschätzt, befasst hat. Daher ist anzunehmen, dass Jaspers sich mit Bedacht auf die vorgenannten Aussagen beschränkt hat. Vielleicht wollte er auch –wie Plato- seine geheimsten Gedanken keinem Buch anvertrauen. Gleichwohl möchte ich den Versuch unternehmen, den Aussagen Jaspers` Aussagen zu einem Leben nach dem Tode und zu einem göttlichen Gericht hinzuzufügen. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Bejahung eines göttlichen Gerichts die Annahme einer menschlichen Seele voraussetzt, die nach dem Tode des Körpers jedenfalls noch ein Zeit lang, vielleicht auch in Ewigkeit weiterlebt. In gleicher Weise müsste man davon ausgehen, dass sich Gott – im Gegensatz zu der Gottesvorstellung eines Aristoteles- für den Menschen interessiert und einen bestimmten Willen in Bezug auf die Lebensführung der Menschen hat, der für die Menschen auch erkennbar ist, da er sich sonst nicht vor seinem Gericht verantworten könnte, d. h. es müssten auch Aussagen zum Willen Gottes gemacht werden, wohlgemerkt zum Willen eines denkend angenommenen, nicht eines offenbarten Gottes. Zudem halte ich es für erforderlich, auch auf die Frage einzugehen, ob es vorstellbar ist, dass der Mensch Gottes Willen beeinflussen kann. (45) Folgende weitere Glaubenssätze lassen sich aufstellen: 5. 6. 7. 8. 9. Der Mensch verfügt außer seinem Körper über eine immaterielle Seele. Gott erschafft die Seele eines jeden Menschen mit seiner Geburt. Die Seele stirbt nicht mit dem Körper. Es gibt ein göttliches Gericht. Die Seele geht nach Verantwortung vor dem göttlichen Gericht in ein Leben vollkommener Harmonie ein. 10. Der Mensch hat keinen Einfluss auf den Willen Gottes. (46) Der Begriff der Seele in dem hier verwendeten Sinn ist ein rein religiöser. Er bezeichnet das eigentliche ego des Menschen, das in der Zeit des irdischen Lebens mit dem Körper verbunden ist und anschließend als geistiges Wesen weiterlebt. Unter denjenigen, die die Existenz einer Seele bejahen, gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen darüber, wann die Seele entsteht. So gibt es z. B. den Glauben an die Präexistenz der Seele und die Seelenwanderung. Manche glauben auch, dass nicht nur Menschen sondern auch Tiere und sogar Pflanzen eine Seele haben. Die abrahamischen Offenbarungsreligionen glauben dagegen, dass nur Menschen beseelt sind und dass jeder Mensch über eine individuelle Seele verfügt, die von Gott geschaffen wird, wobei der genaue Zeitpunkt im Unklaren bleibt. Ist es der Zeitpunkt der Befruchtung oder der der Geburt oder ein Zeitpunkt dazwischen? Ich würde mich für den Zeitpunkt der Geburt (des ersten Atemzuges) entscheiden. Ebenso bleibt unklar, welches das erste Lebewesen in der Kette der Vorfahren des Homo sapiens sapiens war, dem diese Religionen eine Seele zugestehen wollen. Alle diese Religionen glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Demgegenüber bleibt in der Aussage 7 offen, ob die Seele ewig lebt oder ob auch für sie irgendwann einmal Ende ist. Sie beinhaltet jedenfalls ein Leben nach dem Tode; hierauf komme ich nach Beleuchtung des 8. Glaubensgrundsatzes zurück. 29 (47) Bevor ich zu einem göttlichen Gericht komme, ist, wie dargelegt, zu ergründen, welchen Willen in Bezug auf das menschliche Verhalten man einem von uns gedachten Gott unterstellen könnte. Ich denke hier in erster Linie an die bereits behandelten ethischen Grundsätze. Danach könnte der Wille Gottes in dem Postulat bestehen, uns Gedanken über ethisch einwandfreies Verhalten zu machen, d. h. eine eigene Ethik zu entwickeln oder nach Prüfung ethische Grundsätze anderer zu übernehmen und danach zu leben. Da es aber durchaus unterschiedliche ethische Auffassungen geben kann, würde die Seele eines jeden Menschen bei einem göttlichen Gericht danach beurteilt, ob sie der von ihr für richtig gehaltenen Ethik gefolgt ist. Das würde zu dem absonderlichen Ergebnis führen, dass der eine Mensch für eine bestimmte Handlung verurteilt werden könnte, ein anderer für die selbe Handlung nicht. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit als die, dass jeder Mensch, der Gott denkt, seine Vorstellungen über das richtige menschliche Verhalten auf Gott überträgt, dieses deswegen, weil, wie Jaspers es ausdrückte, niemand in objektiver Garantie weiß, was Gott will. (Hier wird das Dilemma des Glaubens an einen Schöpfergott, den sich der menschliche Geist erschafft, besonders deutlich.) (48) Wie soll man sich das göttliche Gericht vorstellen? Mit Sicherheit nicht in der Art eines menschlichen Gerichts wie die Offenbarungsreligionen es tun. Die Art wie Menschen seit jeher Gericht halten, ist schon für diese, gemessen an ihrem Verstand, auf den sie sich so viel einbilden, ein Armutszeugnis erster Kategorie, ist ihnen bisher doch kaum etwas anderes eingefallen, als auf ein tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten mit der Knüppel-aus-dem-Sack-Methode zu reagieren. Eine derartige Veranstaltung kann einem weit über den Menschen stehenden Gott ganz offensichtlich nicht als Vorbild dienen. Insofern kann man die Vorstellungen der Offenbarungsreligionen über das göttliche Gericht nur als infantil bezeichnen, wie übrigens viele andere Vorstellungen dieser Religionen ebenfalls. In Anlehnung an Jaspers würde ich auch hier sagen: „Das göttliche Gericht ist nicht, was auch immer wir uns vor Augen stellen.“ (49) Es bleibt die Frage, wie unsere Seele nach dem Tod und nach dem Gang durch das göttliche Gericht lebt. Die meisten Menschen haben in ihrem irdischen Leben von anderen Menschen Leid und Unrecht erfahren, viele haben anderen Leid und Unrecht zugefügt. Menschen haben andere Menschen geliebt, wieder andere gehasst. Das Leben nach dem Tod sollte schon ein besseres Leben sein als hier, vor allem ein Leben ohne Zorn oder gar Hass auf andere Seelen, denen man dort begegnen mag, andererseits auch ohne ein permanent schlechtes Gewissen gegenüber denen, denen gegenüber man sich auf Erden stets oder in einzelnen Fällen verwerflich verhalten hat. Schafft Gott hier einen Ausgleich, der dazu führt, dass alle in vollständiger Harmonie miteinander leben? Man mag es hoffen, aber wie will er das hinbekommen? Man könnte z.B. daran denken, dass er unsere Erinnerung an das irdische Leben auslöscht oder sie so modifiziert, dass wir keine belastenden Erinnerungen mehr haben. (50) Viele stellen sich vor, im Jenseits geliebten Menschen wiederzubegegnen, jedoch ohne Eifersucht. Hierzu ein einfaches Beispiel: Eine Frau verliert in jungen Jahren ihren geliebten Ehemann. Später verliebt und verheiratet sie sich erneut. Im Jenseits trifft sie beide Männer wieder. Dort kann es ja wohl nicht sein, dass die beiden Männer sich 30 ihretwegen in die Haare geraten. Auch in solchen Situationen ist das Eingreifen Gottes vonnöten, um negative Empfindungen erst gar nicht entstehen zu lassen. Wie das Leben der Seelen im einzelnen verläuft, nachdem sie sich für ihr Verhalten im irdischen Leben vor Gott verantwortet haben, und wie Gott die Harmonie (die tranquilitas animae, um mit Seneca zu sprechen) herstellt, dazu würde ich wieder in Anlehnung an Jaspers sagen: „Das Leben nach dem Tode und dem göttlichen Gericht ist nicht, was immer wir uns vor Augen stellen.“ Es bleibt jedoch die Aussage eines Lebens in vollständiger Harmonie. (51) Vom Jenseits wieder zurück zum irdischen Leben. Der 10. Glaubensgrundsatz schließt aus, dass die hier vorgetragene Religion in die Niederungen einer Religion des Ich abgleitet. Gott weiß, was er will und handelt danach. Er hat den vollen Durchblick, begeht keine Denkfehler, übersieht nichts bei seinen Entscheidungen. Es gibt nichts, auf das wir ihn aufmerksam machen müssten. Unsere Wünsche kennt er im Voraus. Aus all diesen Gründen sind Sühne, Opfer und Gebet obsolet, jedenfalls zur Beeinflussung seines Willens. Gebete sind aber auch als Lobpreisungen obsolet. Gott kennt seine Größe besser als wir, er benötigt keine Streicheleinheiten seitens seiner Geschöpfe. Namensgebung (52) Mit den vorstehenden Ausführungen habe ich meine Lebensauffassung als Grundlage meiner Religion dargestellt. Da philosophisch begründet zähle ich sie zu den Religionen der Erkenntnis. Wenn ich ihr einen Namen geben sollte (der ersten Alternative, die nicht von der Existenz eines Gottes ausgeht), würde ich sie Natürliche Religion nennen, zum einen weil sie das, was Hellinger als natürliche Religion bezeichnet, als einen der Bausteine und Denkansätze beinhaltet, zum anderen weil sich die Goldene Regel als Fundament meiner ethischen Grundsätze ebenfalls aus allgemeinen menschlichen Erfahrungen ergibt und weil auch das Streben nach einem bejahenswerten Leben als etwas Natürliches betrachtet werden kann. Für diese Namensgebung spricht ferner, dass bei der hier als Grundlage der Religion vorgetragenen Lebensauffassung in Ermangelung eines Schöpfergottes die Natur die höchste Gewalt darstellt, die alle Entwicklungen steuert. Religionsrating (53) Meine Definition des Begriffs Religion bringt es mit sich, dass Religionen bewertet werden müssen. Sie können gut oder schlecht sein. Sie müssen sich unter ethischen Gesichtspunkten einem Rating unterwerfen. Hierzu ein Beispiel: Die Lebensauffassung eines angenommenen Menschen umfasse folgende Grundsätze: Übernatürliche Glaubensgrundsätze Gott liebt starke Menschen. Schwachen Menschen hat er die Aufgabe zugewiesen, den starken zu dienen. Natürliche Glaubensgrundsätze Der Sinn des Lebens besteht darin, nach Stärke, Macht und Besitztümern zu streben. Schwächere wollen unterworfen und ausgebeutet werden. 31 Ethische Grundsätze Jedes Mittel, das der Erreichung des beschriebenen Lebensziels dient, ist legitim, auch Gewalt, Lug und Betrug Wenn dieser Mensch diese Grundsätze praktiziert, ist auch er religiös in dem von mir definierten Sinn. Natürlich handelt es sich um eine absolut destruktive Religion. Sie würde somit ein denkbar schlechtes Rating erfahren. (54) Betrachten wir doch einmal unter diesem Blickwinkel einige der sogenannten „großen Weltreligionen“. Das Kasten(un)wesen des Hinduismus, der nach der Definition Hellingers ebenfalls unter die Religionen des Ich einzureihen ist, weist ähnlich destruktive Züge auf wie die zuletzt skizzierte Religion. Pervers auch der Brauch der Witwenverbrennungen. Die meisten bekannten Religionen waren in ihrer Geschichte absolut intolerant und aggressiv und sind es teilweise heute noch. Der erste Völkermord der Geschichte wird im Alten Testament berichtet und wurde von den Juden verübt, dazu noch an einem ihnen freundlich gesonnen Volk, das zum Judentum übertreten wollte. Christen sind ausgezogen, um Mohammedaner zu vernichten (Kreuzzüge) und vielleicht auch umgekehrt, und zwar aus voller religiöser Überzeugung. Verschiedene Glaubensrichtungen innerhalb des Christentums und des Islam haben sich gegenseitig umgebracht, wiederum aus religiöser Überzeugung. Die Missionierungen beider Religionen verliefen nicht selten blutig: wer nicht glauben wollte, wurde ermordet. Selbst kleinste Abweichungen von der offiziellen Glaubenslehre wurden mit schlimmsten Folterungen und häufig mit Verbrennung bei lebendigem Leibe „bestraft“ (Inquisition). Wiederum glaubten die Machthaber innerhalb der katholischen Kirche, die Folterer und Henker und auch häufig die den Prozeduren beiwohnenden einfachen Gläubigen, dass hiermit in besonderer Weise der Wille ihres Gottes - in diesem Fall wäre der Ausdruck Götze wohl richtiger - erfüllt werde. Die von der römischen Kirche über lange Zeiträume betriebene sog. „Hexen“-Verfolgung mit unbeschreiblich grausamen und langanhaltenden Folterungen völlig unschuldiger Menschen liegt auf der selben Ebene. Die Religion deren, die in diese schlimmen Verbrechen verstrickt waren oder sie guthießen, kann nur auf der untersten Stufe aller schlechten Religionen angesiedelt werden. Es darf daran erinnert werden, dass die katholische Kirche sich von all diesen Verbrechen bisher kaum distanziert hat: kein dafür verantwortlicher Papst, Bischoff, Abt oder Inquisitor wurde posthum exkommuniziert, kein Verurteilter rehabilitiert. Die spanischen Bischöfe verteidigen heute noch die Ermordung von Millionen Indios als der Sache des Glaubens dienlich. Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch Martin Luther die sog. „Hexen“-Verfolgung guthieß und dass seine Anhänger sich mit großem religiösen Eifer an den kaum beschreibbaren Grausamkeiten gegenüber ihren Mitmenschen beteiligten, auch hier also ein vernichtendes Rating. Das Gleiche gilt für Calvin. Andere grausame „Strafen“ für tatsächliche oder vermeintliche Regelverstöße, wie sie Inhalt der islamischen Sharia sind, und ähnliche Praktiken der Juden im Altertum liegen auf der selben Linie. (55) Wir können aber auch einen Blick in die Gegenwart werfen. Wie wir aus dem im Jahr 2002 gedrehten Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ wissen, beendete die katholische Kirche die Sklaverei erst 1996 mit der letzten Schließung der Magdalenenheime in Irland. Statt den noch lebenden Opfern sofort für die jahrelang 32 erlittenen Peinigungen und Demütigungen großzügige Entschädigungen anzubieten, versuchte der Nachfolger der Großinquisitoren, der bayerische Kardinal Ratzinger, der heutige Papst, den auf recherchierten Tatsachen beruhenden Film verbieten zu lassen! Im Frühjahr 2003 ging durch die Weltpresse, dass in Südamerika ein 9-jähriges Mädchen exkommuniziert worden ist, weil es mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen nach einer Vergewaltigung eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Wiederum waren es die selbstgerechten spanischen Bischöfe, die diese Maßnahme guthießen. Der damalige Papst, hat nicht nur nichts dagegen unternommen, sondern die Exkommunikation gebilligt. (Seine erwachsenen polnischen Landsleute, die regelmäßig in Deutschland Autos stehlen, dürfen dagegen Mitglieder der Kirche bleiben, desgleichen Bischöfe und andere Kleriker, die sich des Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht haben.) (56) Alle Offenbarungsreligionen konnten offenbar mühelos die massenweise Versklavung von Mitmenschen in ihre Religionen integrieren. „Gottes eigenes Volk“, die ach so christlichen US-Amerikaner, hatten ebenso wenig religiöse Bedenken, sich einen ganzen Kontinent unter den Nagel zu reißen, indem sie Millionen Indianer umbrachten und die verbliebenen (bis heute) entrechteten und den Kontinent anschließend von Negersklaven urbar machen zu lassen. Ein Bekannter, der in Florida eine Wohnung besitzt, erzählte mir von einer eifrig religiösen Amerikanerin, die sogar auf ihrer Internetseite Propaganda für Christus betreibt, aber die Straßenseite wechselt, wenn ihr ein Schwarzer entgegenkommt. Bleiben wir bei den Amis. Sich Christen nennende Führungskräfte amerikanischer global agierender Unternehmen können es anscheinend gut mit ihrer Religion vereinbaren, wenn sie durch Mordtrupps große Gebiete des brasilianischen Urwalds „indianerfrei“ machen lassen, weil die brasilianische Regierung nur Land, auf dem keine Indianerstämme ansässig sind, an ausländische Unternehmen verkauft. Sie haben auch keine religiösen Bedenken, in Mittel- und Südamerika Bananen und andere Früchte anzubauen und dabei in Massen Pestizide zu verwenden, die in allen zivilisierten Staaten längst verboten sind, und die einheimischen Arbeiter völlig ohne Masken und Schutzkleidung arbeiten lassen, mit der Folge, dass sie nach 5 Jahren Arbeit für einen Hungerlohn gesundheitlich für den Rest ihres Lebens ruiniert sind. Die Mitglieder aller amerikanischen Regierungen des vorigen Jahrhunderts, die bei jeder Gelegenheit Gott im Mund führten, hatten keine religiöse Bedenken, die übelsten Diktatoren in Mittel- und Südamerika zu unterstützen, wenn sie nur bereitwillig ihr Land und ihre Bewohner der Ausbeutung durch US-Konzerne zur Verfügung stellten. Wurde einmal eine demokratische Regierung gewählt, die im Interesse ihres Landes und ihrer Bevölkerung tätig sein wollte, wie in Chile (Alliende), destabilisierte man mit viel Geld das Land und ließ den Präsidenten und führende Mitglieder der neuen Regierung binnen kürzester Zeit durch den CIA umbringen. (57) In Saudi-Arabien und anderen islamischen „Gottesstaaten“ erhält ein vergewaltigtes Mädchen von Religionspolizisten 180 Peitschenhiebe, weil es Geschlechtsverkehr vor der Ehe hatte (Hirsi Ali, S. 90). Im Jemen wurde sogar eine 13jährige, die von drei jungen Männern überfallen und vergewaltigt wurde, gesteinigt. Das gleiche Schicksal erwartet in den meisten mohammedanischen Staaten alle Frauen, die sich außerhalb der Ehe einem Mann in Liebe hingeben, also von ihrem Recht der sexuellen Selbstbestimmung Gebrauch machen. Ebenfalls aus religiösen Gründen schlagen mohemmedanische Männer ihre Frauen und Töchter; letztere werden oft in einer Zwangsheirat der permaneneten Vergewaltigung durch einen ihr fremden und ungeliebten Mann ausgesetzt. Hirsi Ali: Ich klage an. Theo van Gogh: Submission (Drehbuch Hirsi Ali). 33 Wenn Religion die Art ist, wie wir uns anderen gegenüber verhalten, liegt das Rating für diese Religion auf der Hand: abartig, menschenunwürdig. (58) Ich gehe davon aus, dass es zu allen Zeiten und in den verschiedensten Ländern auch Angehörige der vorstehend kritisierten Religionen gegeben hat und auch heute gibt, die in ihrer praktischen Lebensführung hohe ethische Grundsätze wie z. B. Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, Toleranz, Milde, Güte und Wahrhaftigkeit beachtet und verabscheuungswürdige Grundsätze ihrer Religionen gemieden haben. Das Religionsrating betrifft zum einen die Qualität einer bestimmten Religionslehre, zum anderen die Verhaltensweise des Einzelnen : die Religion (das Verhalten) des einen kann ein gutes Rating erfahren, die Religion eines anderen der selben Religionslehre angehörenden, und zwar eines aus religiöser Überzeugung so handelnden Menschen, ein vernichtendes. Quintessenz (59) Zum Schluss möchte ich meine wichtigsten Gedanken wie folgt zusammenfassen: 1. Bestandteile einer Religion Grundlage einer Religion, wie ich sie verstehe, sind ethische Grundsätze, natürliche Glaubensgrundsätze und übernatürliche Glaubensgrundsätze. Die ethischen Vorstellungen verschiedener Menschen können weit auseinander gehen. Bei seinen Glaubensgrundsätzen sollte jeder ins Kalkül stellen, dass sie auch falsch sein könnten (keine Orthodoxie). 2. Meine Position Im Bereich der Ethik halte ich die „Goldene Regel“ in der im Abschnitt 28 dargestellten erweiterten Fassung und die "unbedingten Forderung" im Sinne Kants und Jaspers` für richtungweisende Prinzipien. Bei den natürlichen Glaubensgrundsätzen gehe ich von der Geworfenheit des Menschen aus. Ich glaube, dass wir im eigenen Interesse die Aufgabe haben, das Beste aus der jeweils gegebenen Situation zu machen, mit dem Ziel, zu einem bejahenswerten Leben zu gelangen. Im übrigen folge ich einigen der Grundüberzeugungen des Dalai Lama, wie in Abschnitt 30 dargestellt. Im übernatürlichen Bereich glaube ich lediglich, dass Kräfte auf uns einwirken, die für uns geheimnisvoll bleiben. Insbesondere glaube ich nicht an eine unsterbliche Seele des Menschen. Zur Gottesfrage die folgenden Ziffern 3 und 4. Für mich ist die Religion reine Privatsache. Natürlich kann man mit anderen darüber sprechen, allerdings ohne Missionierungsabsicht. Jeder möge seine eigenen religiösen Vorstellungen haben und danach leben, ohne sie demonstrativ in die Öffentlichkeit zu tragen. Religion ist für mich demzufolge keine soziale Veranstaltung! Hier ist jeder einzeln (Hesse, Jaspers, Hellinger). 34 3. Keine Existenz eines offenbarten Gottes Wenn es einen Schöpfergott gibt, gibt es ihn nur als gedachten nicht als offenbarten Gott. Wer auch immer behautet, ihm sei ein übernatürliches Wesen erschienen und habe sich ihm als Schöpfergott offenbart, ohne hierfür Beweise oder wenigstens eine Reihe nachprüfbarer Anhaltspunkte vorzulegen, ist in meinen Augen schlichtweg ein Scharlatan. Gäbe es einen offenbarten Gott und wäre sein Interesse an den Menschen so groß wie von den Offenbarungsreligionen behauptet wird („er schuf den Menschen nach seinem Bilde“), würde er mit den Menschen regelmäßig kommunizieren so, wie er es nach der biblischen Schöpfungsgeschichte mit den ersten Menschen tat oder wie dem NT zufolge Engel nach der Himmelfahrt Christi zu den versammelten Menschen sprachen, wobei jeder die Engel in seiner Sprache vernahm. In seiner Allmacht wäre es Gott, wenn es ihn mit den Eigenschaften gäbe, die die Offenbarungsreligionen ihm andichten, ein Leichtes, Wege zur gleichzeitigen Kommunikation mit Milliarden Menschen zu finden. Er würde sich jedenfalls nicht damit begnügen nur einmal in der Menschheitsgeschichte einem einzelnen Menschen zu erscheinen. Die Offenbarungsreligionen folgen teilweise recht naiven Vorstellungen, treten rechthaberisch, intolerant und aggressiv auf und haben im Laufe ihrer Geschichte eine grässliche Blutspur hinterlassen. Zudem übertreffen die von ihnen erfundenen Strafen in einem jenseitigen Leben an Grausamkeit alle denkbaren irdischen Verbrechen, indem sie insbesondere den sog. Ungläubigen das ewige Feuer androhen. Das bedeutet, dass die Betroffenen nicht wie bei einer irdischen Verbrennung auf dem Scheiterhaufen nach kurzer Zeit mit einem Ende ihrer entsetzlichen Qualen rechnen könnten, sondern diese Abermilliarden Jahre zu ertragen hätten. Fazit: Religionen, die von der Existenz eines offenbarten Gottes ausgehen, ohne für die behauptete Offenbarung auch nur den geringsten Beweis vorweisen zu können, sich ihren Gott in vielen Einzelheiten als ein menschenähnliches Lebewesen ausmalen und dann auch noch vorgeben, seinen Willen in allen möglichen Verästelungen zu kennen, sind für mich als Lehre nicht ernsthaft diskutierbar. Was den Einzelnen und sein Verhalten anbetrifft, verweise ich auf Abschnitt 58. 4. Mögliche Existenz eines gedachten Gottes Von den überlieferten Anfängen der Philosophie bis in die heutige Zeit hat es zahlreiche Philosophen gegeben, die sich in ihrem Bemühen um Erkenntnis auch mit der Frage befasst haben, ob es jenseits der uns sichtbaren Welt noch eine andere und dort eine Kraft geben könne, die die sichtbare Welt hervorgebracht hat. Nicht wenige dieser Denker haben diese Frage bejaht und in die Form einer philosophischen Aussage gekleidet, die in der kürzesten Form lautet: „Gott ist“. Zusätzlich kann man zu einigen wenigen weiteren Aussagen gelangen, wie sie in Abschnitten 44 und 45 entwickelt wurden, allerdings mit der größten Behutsamkeit und unter Verzicht detailreiche Ausmalungen, da man sich bereits mit der Grundaussage Gott ist auf dünnem Eis befindet. Wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein, dass alle Aussagen nur Hypothesen sind, die richtig oder falsch sein können. 35 Wie Jaspers das Wagnis einzugehen, an diese Hypothesen zu glauben und auch immer wieder in sich hinein zu horchen, ob man Gottes Stimme vernimmt, um sich von ihr leiten zu lassen, ist nach meinem Urteil eine vollkommen akzeptable und hoch stehende religiöse Haltung. 5. Hoch stehende Religionen auch ohne Gottesvorstellung möglich „Religion ohne Gott“ titelte der Stern in Heft 47/2004.über den Buddhismus. Und weiter: „Diese Religion kennt keinen Schöpfer ... lehrt aber höchsten Respekt vor jedem Lebewesen. Philosophische Kraft und Friedfertigkeit machen den Buddhismus auch für Menschen in westlichen Ländern zunehmend attraktiv.“ Die ursprüngliche, reine Lehre Buddhas sei „eigentlich“ ein Paradox: eine Religion ohne den Glauben an einen höheren Geist oder ein göttliches Gebot, ohne verbindliche Glaubensregeln, ohne Organisation und ohne Priester. „Buddhismus ist tiefe Frömmigkeit auf der Basis hoher Philosophie – und für die meisten Frommen viel zu anspruchsvoll.“ Außer dem Buddhismus, den es übrigens, wie alle anderen Religionen, in vielen Varianten gibt, sind natürlich auch andere Religionen ohne Gottesvorstellung möglich. Wir erinnern uns an den Ausspruch des Dalai Lama, dass im Grunde jeder Mensch seine eigene Religion haben müsste. Die von mir in in dieser Arbeit vorgestellte Natürliche Religion mit ihren Glaubens- und ethischen Grundsätzen, die teilweise vom Buddhismus übernommen wurden, gehört ebenfalls in die Kategorie dieser Religionen. Auch Peter Ustinov vertritt in seinem Buch „Achtung! Vorurteile“ die Auffassung, man könne in seinem Inneren ein sehr religiöser Mensch sein, ohne an einen Gott zu glauben. Die Verehrung eines entrückten Gottes habe die Menschen auch nie überzeugt. Daher hätten sie sich ein Bild von ihm zu machen versucht. So wie sie Tiere sprechen ließen, um sie sich näher zu bringen, hätten sie ihrem Gott eine menschliche Gestalt angedichtet (S. 231 f). 6. Warum Dominanz der Religionen des Ich? Wie in Abschnitt 3 ausgeführt, versteht Hellinger unter den Religionen des Ich solche, die an eine höhere für uns unsichtbare Macht oder Mächte und die Fähigkeit der Menschen glauben, diese durch Opfer , Sühne, Gebet u. ä. in einer für uns positiven Weise beeinflussen zu können. Zu diesen Religionen gehören insbesondere der Hinduismus und die abrahamischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam). Es gibt aber auch Varianten (besser Abarten) des Buddhismus, die Buddha, weitab seiner Lehre, zu Gott erheben, an den man sich mit seinen Anliegen wenden kann, und die sich, vergleichbar mit dem Islam, ein Jenseits mit vielen Freuden ausmalen, z. B. köstliche Speisen und Jungfrauen, deren Jungfräulichkeit sich jede Nacht erneuert. Wo solche Vorstellungen um sich greifen oder sich der Buddhismus, wie in Sri Lanka und Thailand, mit dem Animismus (Geisterglauben) vermischt, kippt er und wird in diesen Abarten ebenfalls zu einer Religion des Ich. Ähnliche Entwicklungen hat es auch im Taoismus gegeben. Dieser ist heute aufgegangen im „Chinesischen Universalismus“, einer Mischung aus Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus und archaischen Volksreligionen mit 72 Göttern, von denen jeder für bestimmte Anliegen der Menschen zuständig ist, ähnlich wie die Heiligen im Katholizismus. 36 Wie ist es zu erklären, dass die meisten Menschen, die einigermaßen ernsthaft als religiös betrachtet werden können, sich zu solchen Religionen bekennen, Religionen, bei denen es sich – im Lichte analysierenden Verstandes - ganz offensichtlich um von Menschenhand gefertigte Konglomerate aus Mythen, Wunschvorstellungen, naiven Phantasien, Geiser- und Dämonenglauben und archaischen Lebensvorstellungen handelt, vielfach in Verbindung mit Regelwerken und Mechanismen, die den Religionsfunktionären Geltung und Macht über viele Menschen sichern, Macht, die sich nicht selten auf Leib und Leben der betreffenden Religionsangehörigen erstreckt und darüber hinaus auch noch auf das Schicksal in einem angenommenen jenseitigen Leben („Wem Ihr die Sünden behalten werdet, dem sind sie behalten“, er kommt also in die „Hölle“)? a) Religionen der Erkenntnis zu anspruchsvoll für die breite Masse „Für die meisten Frommen viel zu anspruchsvoll“, schreibt der Stern über den Buddhismus. Dieses gilt in gleicher Weise für die anderen Religionen der Erkenntnis. Die einfachen Menschen wollen Götter, und zwar solche zum Anfassen und zum Anbeten. Sie wollen auch Wunder erleben (oder wenigstens von solchen hören), und sie wollen Zeremonien, Mysterien und das ganze Brimborium, mit dem die Religionen des Ich sich umgeben. Einer der großen arabischen Philosophen des Mittelalters, Ibn Roschd, latinisiert Averroes (1126-1198), verstand das Verhältnis von Philosophie und Religion so, „dass die höhere und reine Wahrheit, die der Philosoph in seiner Philosophie erkennt, in der Religion in einer bildhaften Einkleidung erscheint, die dem schwachen Verstand der Menge angepasst ist“ (Störig, S. 279). Im gleichen Sinne hatte sich bereits 1100 Jahre früher Seneca geäußert. Nietzsche formulierte, Religion sei Platonismus für`s Volk. Averroes selbst, obwohl dem Islam zugehörig, glaubte wie sein hoch geschätztes Vorbild Aristoteles und sein großer Vorgänger Ibn Sina, latinisiert Avicenna (980-1037), an einen gedachten Gott; Allah war die bildhafte Einkleidung für die Menge. Die einfachen Menschen brauchen Bilder, um das Leben zu verstehen. Die aus philosophischen Reflektionen gewonnenen Religionen erreichen die Köpfe einer geistigen Aristokratie (Stern), nicht die Herzen der Frommen. Daher gilt: Die Verbreitung einer Religion steht im reziproken Verhältnis zu ihren intellektellen Anforderungen. b) Herdentrieb, gesellschaftliche Zwänge Wie in Abschnitt 5 dargelegt, vermitteln die Religionen des Ich dem Einzelnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer meist großen Gruppe und auch Halt und Trost. Viele ziehen die Behaglichkeit der Herde und ein beschauliches Leben einem autonom gestalteten vor, bei dem man ja von seinen Geistesgaben regen Gebrauch machen müsste. Im Übrigen ist es für viele nicht möglich, die angestammte Religion zu verlassen, ohne aus Familie und Volk verstoßen oder gar getötet zu werden. c) Gefährlichkeit unabhängigen Denkens Nicht an die Meinung der Mächtigen angepasstes Denken war schon immer gefährlich. Sokrates wurde 400 v.Chr. zum Tode verurteilt, Aristoteles und Averroes wurden gegen Ende ihres Lebens verbannt, Giordano Bruno 1600 in Rom von der katholischen Kirche 37 öffentlich bei lebendigem Leibe verbrannt. Kant konnte von Glück sagen, dass er nach dem Erscheinen seines Buches "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von seinem nur mit schwachen Verstand ausgestatteten König lediglich eine Verwarnung erhielt, in der er „bei Vermeidung höchster Ungnade und unfehlbar unangenehmer Verfügungen“ aufgefordert wurde, nicht „weiterhin Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums zu entstellen und herabzuwürdigen“. Albert Einstein wurde nach seiner Emigrierung in die USA permanent vom FBI überwacht. d) Keine Zeit für Reflektionen, Trägheit Für mich erstaunlich ist, dass nicht wenige erwachsene Menschen mit hohem Intellekt, die in einer Gesellschaft mit Religionsfreiheit und Toleranz leben, sich gleichwohl zu einer Religion des Ich bekennen, in die sie hineingeboren wurden. Einem dieser Menschen habe ich den Entwurf dieser Abhandlung zum Lesen gegeben. Nach der Lektüre sagte er mir, er habe in seinem bisherigen Leben noch keine Zeit gefunden, sich mit den von mir untersuchten Fragen auseinander zu setzen und auch nicht, die hier zitierten Schriftsteller zu lesen. „Ich arbeite 60 Stunden pro Woche in meinem Beruf, die Familie kommt bereits zu kurz, woher soll ich die Zeit hierzu nehmen?“ Auf Grund einer gewissen Trägheit und Bequemlichkeit stellt er die angestammte Religion nicht in Frage. Er folgt weder dem Postulat Senecas, sich neben der beruflichen Betätigung auch genügend Zeit für die Philosophie (und die Künste) zu nehmen, noch oder nur in Teilbereichen dem sokratischen Postulat, das Leben zu prüfen, wozu für mich auch gehört, den ganzen Schutt, den in unserer Kindheit Elternhaus, Schule, Kirche, Staat und interessierte Organisationen auf unsere Seele gehäuft haben, im Erwachsenenalter Schicht um Schicht abzutragen, um zur reinen und höheren Wahrheit zu gelangen, wie Averroes sich ausdrückt. Natürlich gibt es keine absolute Wahrheit (Hinweis auf Sokrates und Jaspers), wohl aber höhere Erkenntnisse, die ich mir erarbeite und an die ich zu glauben wage und nach denen ich mein Leben einstweilen ausrichte, einstweilen deswegen, weil der philosophierende Mensch immer auf dem Wege ist (Jaspers), bis an sein Lebensende offen für neue Erkenntnisse und bereit zu dadurch bedingten Kurskorrekturen, wenn es sein muss auch zu Paradigmenwechseln. *** Literaturverzeichnis 1. Einführung in die Philosophie Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie Morris, Tom: Philosophie für Dummies Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, 4 Bd. (antiq.) 2. Altindische und altchinesische Philosophie Durant, Will: Das Vermächtnis des Ostens (antiq.) Mylius, Klaus: Geschichte der altindischen Literatur 38 Störig, a.a.O. Erster Teil, Die Weisheit des Ostens, (S.33-126) Deussen, a.a.O. Band 1 Lao Tse: Tao Te King 3. Griechische und römische Philosophie Platon: Georgias ; Phaidon ; Phaidros Aristoteles: Peri Psychäs (Über die Seele) Aristoteles: Nikomachische Ethik Seneca: Philosophische Schriften Seneca: Briefe an Lucillius über Ethik 4. Islamische Scholastik Ibn Tufail: Hayy Ibn Yaqdhan Averroes (Ibn Roschd bzw. Ibn Ruschd): Über den Intellekt, herausgegeben von David Wirmer, 2008 Arabisch (teils Hebräisch) - Lateinisch – Deutsch 5. Humanismus, Renaissance, Barock Cusanus, Nicolaus: De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit) Rotterdam, Erasmus von: Lob der Torheit Bruno, Giordano: Della causa principio ed uno (Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen) Spinoza, Baruch de: Theologisch-Politisches Traktat; Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt 6. Aufklärung Kant, Immanuel: Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Feuerbach, Ludwig: Das Wesen der Religion Safranski, Rüdiger: Nietzsche, Eine Biographie seines Denkens 7. Existenzphilosophie (19. - 20. Jh.) Kierkegaard, Sören: Entweder / Oder Jaspers, Karl: Der Philosophische Glaube (1948)Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) Jaspers, Karl: Chiffren der Transzendenz (auch als Hörbuch -Vorlesungsmitschnitterhältlich) Heidegger, Martin: Sein und Zeit Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts Camus, Albert: Der Mythos vom Sisyphos Lütkehaus, Ludger: Nichts (Zürich 1999, Ffm. 2003) 39 8. Sozialphilosophie / Philosophie der Ethik (20. Jh.) Adorno, Theodor W.: Minima Moralia Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik, zur Praxis des Prinzips Verantwortung 9. Philosophie der Lebenskunst (20. Jh.) Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst, Eine Grundlegung Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, glücklich zu sein Russel, Bertrand: Eroberung des Glücks, Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung Dalai Lama / Cutler, Howard C. : Die Regeln des Glücks Morris, Tom: Aristoteles auf dem Chefsessel 10. Sonstige Schriften Die Bibel (AT + NT) Parlament der Weltreligionen: Erklärung zum Weltethos, Chicago 4.9.1993 Hesse, Hermann: Siddhartha Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, Kapitel Psychotherapie und Religion Mitscherlich, Alexander + Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, Grundlagen kollektiven Verhaltens Steiner, George: Errata, Bilanz eines Lebens Ustinov, Peter: Achtung! Vorurteile (2003) Ali, Ayaan Hirsi: Ich klage an – Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen (2004) Yeo, Elisia: Islam`s not her cup of tea, Being an apostatate in Malaysia is no easy matter; Bankok Post vom 31.12.2005 (Outlook, S. 8; der Fall Kamariah Ali) Anmerkung Wenn sich in der Aufstellung keine Werke der Patristik und der Scholastik finden, also des Zeitraums von etwa 100 bis 1400 - mit Ausnahme der Islamischen Scholastik -, so liegt das darin begründet, dass die Philosophie dieser Zeit vornehmlich eine AgitpropPhilosophie (von Agitation und Propaganda) war. Beispielhaft nenne ich Augustinus und Thomas. Aurelius Augustinus (354-430) war sicherlich ein großer Philosoph; jedoch war sein Anliegen in erster Linie die philosophische Untermauerung des Christentums, das als rein narrative (auf einer unsystematischen Abfolge von Erzählungen beruhende) Religion daherbekommt. Thomas von Aquin (1225-1274) war der bedeutendste christliche Theologielehrer seiner Zeit, ein großer Systematiker und Verfasser zahlreicher religionsphilosophischer Schriften. Dabei setzte auch er die Philosophie insbesondere als Werkzeug für christlich-theologische Zwecke ein. Er war allerdings auch geistiger Wegbereiter der sog. „Hexen“-Verfolgung. Seine Lehren sind für die Kurie in Form des Neuthomismus immer noch state of the art. Wertschätzung bringe ich allerdings den beiden großen, in der Quintessenz (Ziffer 6 a, 3. Absatz) genannten arabischen Philosophen Avicenna und Averroes sowie Ibn Tufail entgegen, die man als frühe Aufklärer (im Bereich des bis heute unaufgeklärten bzw. sich jeder Aufklärung widersetzenden Islam) bezeichnen könnte. Manche sehen Averroes als letzten 40 islamischen Philosophen an, weil vom 13. Jh. an freies Denken im Islam nicht mehr geduldet wurde und auch heute nicht geduldet wird. Lippstadt, im Februar 2006 (Überarbeitung 17.10.2006 und 10.1.2010) GISBERT KÖNIG Anhang: Auszug aus Georg Steiner Errata, Bilanz eines Lebens 206 Wie es immer der Fall war, ist die Theodizee die Crux. Wenn Gott ist, weshalb duldet er die himmelschreienden Schrecken und Ungerechtigkeiten der menschlichen Lage? Er mag ein bösartiger Potentat sein, der Männer, Frauen und Kinder foltert, demütigt, verhungern lässt und umbringt »wie müß'ge Knaben Fliegen«. Er mag eine Gottheit mit beschränkten oder erschöpften Kräften sein. Auch wenn dies der Subtext meiner literarischen Arbeiten gewesen ist, grenzt die Vorstellung von einem gelähmten oder machtlosen Gott ans Absurde. Seit undenklichen Zeiten haben Versuche, »Seine Wege mit dem Menschen zu rechtfertigen», auf das grausame Paradoxon der Freiheit zurück gegriffen. Dem Menschen muss die Freiheit der Wahl und des Handelns zugestanden werden, einschließlich der Freiheit, anderen und sich selbst Böses zuzufügen. Wie könnte es sonst Verdienst und Verantwortlichkeit geben? Es gibt Fabeln der Entschädigung; ungerechtes leiden soll in Ewigkeit belohnt werden. Keine dieser drei Erzählungen - die diabolische, die ohnmächtige, die kompensatorische - empfiehlt sich dem Verstand, jede stellt auf ihre Weise eine Beleidigung für Intelligenz und Moral dar. Die Antwort auf die Frage, die beim Foltern und Erhängen eines verhungernden Kindes in Auschwitz gestellt wurde (»Wo ist Gott jetzt:?«, »Gott ist dieses Kind«), ist ein mehr oder weniger widerliches Beispiel für anthropomorphes Pathos. Die Argumentation vom Kreuz her, die Lehre von der Sühne durch Opfer und dem vom Menschen - Abraham und Isaak - auf den christlichen Gottvater und seinen eingeborenen Sohn übertragenen Sündenbock kann nur die Überzeugten überzeugen. Überdies war sie eine Argumentation, die der übergroßen Mehrheit der gefallenen Menschheit außerhalb des erwählten Abendlandes seltsam unzugänglich war. Kein Akt von übernatürlicher Offenbarung oder Eingreifen, keine Botschaft aus einer Sphäre jenseits des sterblichen Menschen ist je in einem empirisch oder logisch beweiskräftigen Untersuchungszusammenhang als etwas anderes erwiesen worden denn als das Produkt der menschlichen Imagination und des 207 menschlichen Diskurses. Der entscheidende Punkt ist so alt wie der Vorsokratiker Xenophanes: sollten Rinder einen Gott annehmen (vielleicht tun sie es), dann würde er Hörner und Hufe haben. Diese Einsicht wiederholt mit einer klaren Wut der Vernunft 41 Hobbes in seinem Leviathan (I, 12): »Männer, Frauen, Vögel, Krokodile, Kälber, Hunde, Schlangen, Zwiebeln und Lauch wurden zu Göttern gemacht.« Und die Motive für solch verschwenderische Phantasiebildungen sind auch in keiner Weise geheimnisvoll. In der menschlichen Psyche gibt es breiten Raum für Infantilismus, für Irrationalität, für Panik und Erschütterung durch Schuld. Millionen im wissenschaftlichtechnischen Westen lassen sich in ihren täglichen Angelegenheiten von Astrologie leiten. Stehen am Dreizehnten des Monats morgens nicht auf, ohne andeutungsweise zu exorzistischen Maßnahmen Zuflucht zu nehmen. Betrachten schwarze Katzen als irgendwie höllisch und zittern vor Gewittern. Wir befinden uns immer noch in der Kinderstube potentieller Evolution. Man sehnt sich nach dem Kindermädchen und fürchtet es zugleich. Der Gedanke an kosmische Einsamkeit, die zugegebenermaßen der Intuition zuwiderlaufende Hypothese einer vollkommen aleatorischen, »sinnlosen« natürlichen Ordnung (»sinnlos« in bezug auf eine Handvoll von Hominiden in einer zufälligen Ecke einer durchschnittlichen Galaxis) sind für eine große Mehrheit von uns unerträglich. Wir verlangen nach einem Zeugen, selbst wenn er hart ins Gericht geht, für unseren kleinen Dreck. In Krankheit, in psychischem oder materiellem Entsetzen, wenn unsere Kinder tot vor unseren Augen liegen, schreien wir auf. Dass ein solcher Schrei im Nichts widerhallt, dass er ein völlig natürlicher, ja therapeutischer Reflex ist, aber nicht mehr, lässt sich fast nicht ertragen. Ohne Frage bringen der Glaube an die Wiederauferstehung von Elvis Presley oder Gebete an seiner neonbeleuchteten Grabstätte seinen Gläubigen Tröstung und rosarote Hoffnungen. Weltlich betrachtet, haben die organisierten Religionen viel zu den Schrecken der Geschichte beizutragen gehabt. Unzählige 2O8 Generationen, ethnische Gemeinschaften, soziale Gruppen sind im Namen dogmatischer Ansprüche gejagt, versklavt, massakriert oder zwangsbekehrt worden. Ein verschlungener, aber unübersehbarer Weg windet sich von den mittelalterlichen Pogromen bis zu den Todeslagern der Nazis. Der Islam hat seit seinen Anfängen umgebracht. Es ist eine banale Beobachtung, dass Religionskriege und die Ausrottung von Häresie mittels Kreuzzügen zu den grausamsten und kostspieligsten gehört haben, die wir kennen. Gegenwärtig toben, ob in Nordirland oder in Bosnien, im Nahen Osten oder in Indonesien, religiös-ideologische Konflikte. Der Atheismus kennt keine Ketzer, keine »heiligen Kriege« (ein obszöner Ausdruck). Nichts aus dem Innern seiner privaten, nichtinstitutionalisierten Struktur verlangt nach Hass. Von seinem Wesen her braucht er nicht auf Bekehrung aus zu sein. Solch seltene Beispiele eines »Zwangsatheismus« wie im stalinistischen Programm sind eine direkte Imitation, eine schwachsinnige Parodie der Staatskirche. Es lässt sich überdies nicht beweisen, dass das Verhalten des Gläubigen, der unter dem Druck religiöser Sanktionen und Belohnungen steht, das des Atheisten oder des agnostischen Humanisten übertrifft. Gier und Heuchelei gedeihen in Gesellschaften, die von der Synagoge, der Kirche oder der Moschee beherrscht werden. Anstand und Moral, die man sich selbst auferlegt, die man selbst hervorgebracht hat, sind auch säkulare Werte. So gibt, ein berühmter Fall, Iwan Karamasow, als er Zeuge wird, wie Gott nicht eingreift, als ein unschuldiges Kind zu Tode gepeitscht wird (ein alltägliches, tausendfach vorkommendes Geschehen), Gott seine »Eintrittskarte« zurück. 42 Doch es gibt gewiss nicht die Spur eines Beweises dafür, dass dem Menschen eine derartige Karte überhaupt ausgestellt wurde. Das sind klassische Befunde. Der umfassende Charakter, die Verifizierbarkeit und die prognostische Kraft des Darwinismus haben ihr Gewicht mit in die Waagschale geworfen (auch wenn es immer noch hartnäckige Unklarheiten gibt). Während das Jahrtausend seinem Ende zugeht, liefern Kosmologie 209 und Astrophysik immer kohärentere, experimentell immer besser untermauerte Modelle der Schöpfung. Der Begriff des »Anfangs« gewinnt seine Mathematik. Die Frage, was »vor« den Nanosekunden des Urknalls kam, ist Un-Sinn. Mit einer Argumentation, die unheimlich an Augustinus erinnert, postulieren Kosmologen, dass die Zeit selbst erst zusammen mit ihrem zugehörigen Kosmos ins Sein tritt - und davon gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach eine unbegrenzte Vielzahl, jeder von ihnen mit seinen eigenen raumzeitlichen Koordinaten, n-dimensionalen »Strings« von Materie und Anti-Materie, und keiner durch eine besondere Schöpfung privilegiert. Wir hacken nur deshalb auf dieser Frage nach dem »Davor« herum, weil der allgemeine Ablauf des menschlichen Gehirns in einem atavistischen Sprachspiel gefangen ist. Lange Zeit nach Kopernikus halten wir an »Sonnenuntergang« und »Sonnenaufgang« fest. (Die Mondlandungen hätten die Vernunft dazu veranlassen sollen, von »Erdaufgang« und »Erduntergang« zu sprechen.) Die Erzeugung von sich selbst replizierenden Molekülen in vitro und die Manipulation der DNS zu geplanten sozio-genetischen Zielen — die Auslöschung von Erbkrankheiten, das Klonen von Armeen - sind in Reichweite. Diese Entwicklungen werden eine gründliche Revision unseres konzeptuellen Alphabets erforderlich machen. Was jahrtausendelang die Bausteine aller theologischen und teleologischen Erzählungen waren, das deistische Postulat eines universellen Entwurfs durch einen höchsten Baumeister, die Zuschreibung eines persönlichen, einzigartigen Schicksals, das wird jetzt ausgelöscht oder grundlegend neu gedacht. Was wird der ontologische Status des menschlichen Lebens, der Persönlichkeit sein, wenn diese im Laboratorium, in der computerisierten Samenbank kopiert, verbessert und kontrolliert werden? Das Bewusstsein ist immer noch ein schwer fassbares Problem. Indem sie, vielleicht ironisch, Anleihen bei einem ausrangierten Vokabular machen, bezeichnen Biochemiker, Neurophysiologen, Genetiker und klinische Psychologen das 210 Bewusstseinsproblem als den »Heiligen Gral«. Es stellt heutzutage das überragende Ziel ihrer Suche dar. Dafür wird man Zeit und Genie brauchen. Doch es besteht, so erklärt ein Francis Crick, keinerlei Anlass dazu, das Problem als unlösbar zu betrachten. In einer Wendung, deren aufreizende Zweideutigkeit und Arroganz Eingang in die Sprache gefunden haben, sind die Naturwissenschaften, die »Theoretiker von allem«, bald so weit, dass sie »den Geist Gottes« (Hawking) kennen. Das heißt, sie werden bald ein theoretisch-experimentelles Verständnis von dem neurochemischen Organismus haben, der aus primitivem, zeitweiligem Mangel an einer besseren Erzählung »Gott« erfand. Noch einmal Hobbes: »Außerdem riefen sie ihre eigenen Verstandeskräfte unter dem 43 Namen der Musen, ihre eigene Unwissenheit unter dem Namen der Fortuna, ihre eigene Lust unter dem Namen des Cupido, ihre eigene Wut unter dem Namen der Furien, ihre eigenen Geschlechtsteile unter dem Namen des Priapus an« Ich dürste danach, mich diesen Klugheiten anzuschließen. Ich bin nicht in der Lage, sie auf ihrem eigenen ruhigen Terrain zu widerlegen. Sie beinhalten existentielle Konsequenzen, die mir befreiend erscheinen. Insbesondere hinsichtlich des Todes. In unserem therapeutischen System verbrauchen die unheilbar Kranken, die Alten einen immer größeren Teil der Ressourcen, der Zeit und Energie der Jungen. Eine jämmerliche Gerontokratie ist in Sicht. Man braucht nur die Angst und den Urin in Altenstationen gerochen oder die blinden Schreie der Alzheimer-Kranken gehört zu haben, um den entsetzlichen Verfall — er verschlingt nicht nur den Patienten — von künstlich aufrechterhaltenem Leben zu erkennen. Auf dem Weg über Schmerzen in einen Zustand des Vegetierens zu treiben heißt, in sich selbst, in anderen den Sinn und den Wert der Identität zu schänden. Der Atheismus lässt einem selbst die Wahl. Kein transzendenter Partner ist beteiligt oder ermächtigt. Keine Mystik einer vorbestimmten Festlegung »Gott hat mir das Leben gegeben, und nur er kann entscheiden, wann dieses Geschenk zurückzugeben ist« - tritt dazwischen. Was gibt es für einen düstereren Fanatismus als den, diejenigen am Leben zu halten, die Ruhe haben möchten? Wenn der Augenblick kommt, hoffe ich meinen eigenen Ausweg zu finden. *****