Wintersemester 2008/2009 EINFÜHRUNG IN DIE SPRACHWISSENSCHAFT 11. Vorlesung Soziolinguistik Thesen der Vorlesung 1. Pragmatische Wende und Entstehung der Soziolinguistik 2. Aus den Anfängen der Soziolinguistik: B. Bernstein, W. Labov 3. Soziolinguistische Fragestellungen 4. Grundbegriffe der Soziolinguistik: "Varietätenlinguistik" Sprachgemeinschaft Sprachverhalten Stildifferenzierung (Soziolekt, Dialekt, Umgangssprache, Idiolekt, Standardsprache) 5. Inner- und außersprachliche Parameter der soziolinguistischen Betrachtungsweise Ziel der Vorlesung: Bekanntmachung und Erläuterung einzelner soziolinguistischer Begriffe im Kontext anderer einführender sprach-wissenschaftlicher Disziplinen 1. Pragmatische Wende und Entstehung der Soziolinguistik 1968 - politischer Wandel, Politisierung und Kristallisierung des gesell-schaftlichen und wissenschaftlichen Lebens und Formulierung neuer An-forderung an die Relevanz der Forschungstätigkeit und der Forschungs-ergebnisse, speziell in den sog. Geisteswissenschaften. Die soziale Einbindung von Sprache wird zum Thema der Forschung. die Ausbildung eines eigenständigen Begriffsapparats und Ausarbeitung neuer (soziolinguistischer) Fragestellungen, die auf dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft beruhten. Pragmatisierung - Abwendung von den systemlinguistischen Fragestellungen und Zuwendung zum konkreten sozial bedingten Sprachgebrauch (Sieh These 3!) 2. Aus den Anfängen der Soziolinguistik: B. Bernstein, W. Labov Basil BERNSTEIN und seine DEFIZITTHEORIE (60er Jahre des 20. Jh.; So-ziologe; seine Hypothese = Grundhypothese der Soziolinguistik: Unterschiede im Sprachgebrauch sind durch die sozioökonomische Schichtung der jeweiligen Sprachgemeinschaft bedingt. Es entwickeln sich in Abhängigkeit von sozioökonomischen Verhältnissen unterschiedliche Formen des sprachlichen Verhaltens. Der Hauptunterschied liegt zwischen der kultivierten und reich bearbeiteten (elaborierten nach B. B.) Sprache der Ober- und Mittelschicht und dem beschränkten (restringierten) Sprachgebrauch der Unterschicht. Nach B. B. sondert sich die Sprache der Ober- und Mittelschicht von der der Unterschicht ab in der Explizitheit (Reichtum des Wortschatzes, Varianz der Wortschatzes, Verwendung von Nebensätzen usw.) grammatischen Korrektheit und in der logischen (inhaltlichen und argumentativen) Strukturiertheit Unterschiedliche Herkunft, unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontext, sowie unterschiedliche Sozialisationssituationen, in denen sich Kinder die Mutter-sprache aneignen, erlauben die Zusammenhänge zwischen dem sprachlichen Verhalten und dem sozialen Status aufzustellen. Der kultivierte (elaborierte) Kod betrachtet man als dem restringierten überlegen, was letztendlich dazu führt, dass die Angehörigen der Unterschicht auch wegen ihres sprachlichen Verhaltens geringere Berufs- und Aufstiegschancen haben bzw. die Kinder der Unterschicht geringere Schulerfolge aufweisen. Kompensatorischer Sprachunterricht - in den USA organisiert und auch in den kommunistischen Ländern, diese Förderungsprogramme mißlangen jedoch. Viel zu künstlich! Differenztheorie (Differenzhypothese) W. Labow - Kritik an der Defizittheorie Bei der Auswertung der gewonnenen Untersuchungsdaten erhob er mehrere Einwände gegen die Methodik der Untersuchung als auch gegen die Deutung der Ergebnisse. Die Probleme formulierte er dann folgendermaßen: (Kritik an Methode Bernsteins) 1. die nicht geläufige Testsituation beeinträchtigt die verbalen Reaktionen der Kinder, bei den Kindern der Unterschicht um so stärker (Warum?) 2. die Gewohnheiten der Mittelschicht werden als Kriterium bei der Auswertung akzeptiert, zweifelhafte Begründung 3. in Zusammenhang gebracht wurden die grammatische Korrektheit bzw. Unkorrektheit und ethnische Zugehörigkeit sowie logische (kognitive) Ana-lysefähigkeit 4. Erhebung bestimmter Sprachformen und - gewohnheiten der Mittelschicht zur Kommunikationsnorm. Unakzeptabel!! Aus mehreren Gründen, unter ihnen sind auch politische, ideo-logische und legislative Gründe zu nennen, wurde das nicht nur von Labow ab-gelehnt. Die Prämisse der Differenztheorie ging davon aus, dass die für unterschiedliche soziale Sprechergruppen typischen Sprachge-brauchsformen funktional analysiert werden sollten, ob sie funk-tional äquivalent sind. (Dieser funktionale Aspekt gilt auch in der modernen Soziolinguistik.) Die Betrachtung der konkreten Sprachrealität schließt jedoch die mit verschiedenen sprachlichen Äußerungen immer auch mitwirkende und registrierte soziale Wertungen nicht aus. (d. h. Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht bzw. Berufsgruppe.) Die Forderung, dass man jeden Sprechakt danach bewertet, ob die jeweilige gewählte Sprachform "situationsgemäss, funktional und kommunikativ-adäquat verwendet wird", ist eine Illusion, weil die Entscheidungen über die kommunikative Adäquatheit einer Äußerung doch (auch) an sozialen Normen gemessen werden, deren Ausbildung und Akzeptanz auch mit der sozialen Macht zusammenhängt und deshalb nicht absolut objektiv sein kann. Und insofern müssen wir auch in der Differenztheorie von Sprachbarrieren (zugegeben: unterschiedlichster Art) sprechen. GRUNDBEGRIFFE DER MODERNEN SOZIOLINGUISTIK Im Zentrum der modernen Soziolinguistik stehen die Fragen nach dem Einfluß sozialer Faktoren auf die Sprache bzw. auf das Sprachverhalten der untersuchten Sprecher. Unter ´sozial´ verstehen wir bestimmte Lebensweisen, charakteristische Erfahrungskomplexe, charakteristische kommunikative Umgangsformen. Aber auch psychologische, biologische, demographische, territoriale, biographische und andere Faktoren werden dabei berücksichtigt. VARIETÄT - der Begriff bezieht sich auf durch aussersprachliche Faktoren definierbare und eindeutig abgrenzbare Sprachformen, die sich als Summe spezifischer charakteristischer Merkmale und Eigenheiten beschreiben läßt. Die charakteristischen Merkmale beziehen sich auf phonologisch-phonetische, lexikalische, grammatische und stilistische Besonderheiten. Nachbarbegriffe: Soziolekt, Dialekt, Umgangssprache, Standardsprache, Idiolekt SPRACHGEMEINSCHAFT - unter diesem Begriff wird eine in erster Linie geographisch bestimmte Gruppierung verstanden, sekundär auch Gruppen von Sprechern, die sich über die Existenz eines spezialen sozialen Netzes abgrenzen lassen. (z. B. Bewohner eines Vorortviertels oder Angehörige einer bestimmten Jugendgruppe) SCHICHT - verschiedene nach bestimmten Kriterien ermittelten Ebenen eines Ganzen; für die Soziolinguistik handelt es sich um Erfassung des schichtspezi-fischen Sprachverhaltens ALTER - der Einfluß des Alters auf das Sprachverhalten von Sprechern GESCHLECHT - nicht nur als biologischer, sondern auch sozialer Parameter GESCHLECHTSSPEZIFISCHES SPRACHVERHALTEN - Einfluß der tra-ditionellen Geschlechtsrollenbilder auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern SOZIALE ROLLE - die Menge derjenigen Erwartungen, die sich an das Ver-halten der betreffenden Person bzw. der betreffenden Schicht in einer gegebe-nen Situation richten. In diesem Zusammenhang sprechen wir von einem Rol-lenverhalten. Wenn der Brautvater keinen Toast auf das Brautpaar ausbringt, so haben wir es mit einer Form von Normverstoß zu tun. SITUATION - die Schnittstelle verschiedener relevanter (meistens aktueller) außersprachlicher Parameter SPRACHFORMENWECHSEL - der Wechsel von einer Sprachform zur einer anderen, von einer Sprachvarietät in eine andere (Sprachformenwechsel von Standarddeutsch zu Dialekt; Puertorikanische Einwanderer in N.Y. usw.) Es handelt sich um zwei eindeutig voneinander abgrenzbare Formen/ Varietäten. PSYCHOLINGUISTIK Die sprachliche Fertigkeit manifestiert sich bei den Menschen als erworbenes sprachliches Können, die Psycholinguistik befasst sich mit der Erforschung und Beschreibung spezifischer psychischer Strukturen und Prozesse, die bei der Ausbildung, Aneignung und dem Gebrauch des sprachlichen Könnens (der Sprachkompetenz) mitwirken. Spracherwerbsforschung - Wie wird die Sprache erworben? Sprachwissensforschung - Wie ist das Sprachwissen im Gedächtnis gespeichert. Sprachwissen und Weltwissen Sprachprozessforschung - die psychischen Prozesse, die dem rezeptivem und produktivem Sprachgebrauch im Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen zugrundeliegen. Erhebung und Auswertung der Sprachdaten