alltagauf - Arbeiten und Leben

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G. Günter Voß
(April 2000)
Alltag.
Annäherungen an eine diffuse Kategorie1
Der folgende Text ist eine gekürzte aber um zusätzliche Literatur erweiterte Fassung
des Beitrages gleichen Titels in Voß, G./Holly, W./Boehnke, K. (Hg.)(2000): Neue
Medien im Alltag. Begriffsbestimmungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes.
Opladen: Leske + Budrich. Er bietet einen sehr gerafften Einblick in die
sozialwissenschaftliche Alltagsforschung mit dem Ziel einer „Annäherung“ an den
Begriff „Alltag“ einschließlich einer keineswegs vollständigen aber doch
umfangreichen Bibliographie zum Thema, die als Einstieg in den Bereich nützlich
sein kann.
„Was ich so jeden Tag mache? Warum interessieren Sie sich denn dafür? Das ist
doch langweilig, das kennt man doch!“ So reagieren nicht selten Befragte, wenn man
sich im Rahmen empirischer Untersuchungen für ihren Alltag interessiert. Fragt man
trotzdem weiter, zeigt sich oft schnell, daß es (für beide Seiten) durchaus eine
Menge keineswegs langweiliger und überhaupt nicht selbstverständlicher
Sachverhalte zu entdecken gibt.
1Ich
danke Eva Scheder-Voß für ihre redaktionelle Unterstützung.
1
Ähnlich
erging
es
vor
ungefähr
30
Jahren
vielen
Human-
und
Sozialwissenschaftlern: sie entdeckten, daß eine überaus reichhaltige und
bedeutungsvolle Ebene der jeweiligen Forschungsgegenstände kaum (zumindest
nicht systematisch) beachtet worden war. Was das tagtägliche Einerlei des Lebens
und Arbeitens von konkreten Menschen „wirklich“ ausmacht, war entweder
übersehen oder zumindest als wenig relevant erachtet und nicht gezielt erforscht
worden. Es wäre eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung wert, zu
ergründen, warum dieses systematische Desiderat ab Anfang der siebziger Jahre
erkannte wurde, mit der Folge, daß dann ein bis heute anhaltender Boom von
Arbeiten zum „Alltag“ in vielen Wissenschaftsbereichen (Soziologie, Psychologie,
Geschichts-, Kultur- und Sprachwissenschaft, Volkskunde, Ethnologie der
Europäischen Kulturen) entstand.1 Die alltägliche Verwendung von Technik und
insbesondere von technischen Informations- und Kommunikationmitteln ist dabei
einer der jüngsten und stark expandierenden Forschungsstränge.
(...)
Begonnen wird der Beitrag mit der Frage, welche Konnotationen mit „Alltag“ im
Gegenstandsfeld selber, also im „Alltag“, verbunden sind, um daraus (..) Schlüsse
für ein differenzierteres Begriffsverständnis zu ziehen (1.). Es folgen ein Exkurs zur
Struktur vorliegender theoretischer Grundpositionen der Alltagsforschung mit einer
Synopse zu drei der Kategorie „Alltag“ verwandten Konkurrenz-Begriffen sowie
Hinweise auf Felder der empirischen Alltagsforschung (2.) (...).
Alltag im Alltag: Bedeutungsdimensionen von „Alltag“ im täglichen
Erleben
1Vgl.
aus der kaum zu überschauenden Zahl und Vielfalt von Arbeiten beispielhaft folgende kleine Auswahl
von Überblickstexten und Veröffentlichungen von allgemeinerer Bedeutung, mit einer (dem Fachgebiet des
Autors geschuldeten) besonderer Konzentration auf i.w.S. sozialwissenschaftliche Arbeiten: Alheit 1983,
Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, Barthes 1964, Bergmann 1981, Dewe/Ferchhoff 1984, Douglas
1970, Douglas ed. 1973, Elias 1978, Fischer-Rosenthal 1995, Fuller 1983, Gil 1999, Greverus 1978,
Hammerich/Klein 1978, Kursbuch 41 1975, Lipp 1993, Maffesoli 1989, Newman 1997, Prodoehl 1983, Saurma
1984, Scherr 1991, Schwendter 1996, Soeffner Hg. 1988, Soeffner 1989, Thun 1980, Voß 1991; siehe auch die
bis 1997 erschiene Zeitschrift „Der Alltag“ (Rutschky Hg.).
2
Starten wir also mit einer fiktiven, phänomenologisch inspirierten Spurensuche nach
Bedeutungsfeldern von „Alltag“ im tagtäglichen Leben1. Damit soll ein Feld von
Relevanzen und Bedeutungen geöffnet werden, um es dann vor dem Hintergrund
der Forschungsinteressen der Projektgruppe zu fokussieren. Dies schließt nicht
zuletzt an eine unten (3.) noch näher zu begründende methodische Entscheidung
der Forschergruppe an, nicht (primär) Perspektiven „von außen“ an die
Gegenstände heranzutragen, sondern diese (zumindest auch) aus dem
Gegenstandsfeld heraus und mit dessen je eigener „Perspektive“ zu entwickeln.
Drei Ebenen der tagtäglichen Bedeutung von „Alltag“ lassen sich unterscheiden:
(1.) Zum einen und primär zeichnet sich „Alltag“ durch einen spezifischen
Handlungsmodus aus:
Es geht um „werktägliches“, „normales“ oder „gewöhnliches“ Tun, im Kontrast zu
fest-, feier- oder sonntäglichem Handeln und damit auch in Absetzung zu
außergewöhnlichen und überhöhten Handlungen. Dabei ist jedoch immer klar, daß
es natürlich auch einen Alltag und eine Normalität des „Festlichen“ und
„Feiertäglichen“ gibt, zum Beispiel das Alltagshandeln der Sonn- und Feiertage.
Nicht einfach zu entscheiden ist, ob damit der „Alltag“ - was naheliegend wäre - das
eher „Unbedeutsame“ und „Unspektakuläre“ gegenüber dem „Drängenden“ und
„Wichtigen“ meint, weil auch die Normalität des Tagtäglichen ihre je spezifischen
Bedeutsamkeiten und Vordringlichkeiten kennt.
„Alltag“ zielt zudem eher auf das „Gewohnte“ und „Übliche“ im Sinne des
„alltäglichen Trotts“ und damit der „Routine“ gegenüber dem Herausragenden,
Besonderen und gezielt Gestalteten (in positiver und negativer Hinsicht) - auch wenn
jedem die kleinen Highlights oder Krisen und Katastrophen des Alltags bekannt sind,
die im gewisser Hinsicht das „Salz“ in der grauen „Tagessuppe“ sind.
Damit wird auch deutlich, daß es im „Alltag“ weniger um das hoch reflexiv
kontrollierte Tun geht, sondern eher um teilbewußte, wenn nicht gar unbewußte
Tätigkeiten („Alltags-Verhalten“), zumindest jedoch um Aktivitäten mit verringerter
Aufmerksamkeitsintensität. Aber auch dabei bestätigen natürlich die Ausnahmen der
durchaus Konzentration und Aufmerksamkeit erfordernden Sondersituationen im
Tagestrott die Regel.
Sicherlich meint „Alltag“ eher das „konkrete“, das „praktische“ oder „pragmatische“
1Siehe
ähnlich Elias 1978 und dann in Fortsetzung Bergmann 1981; vgl. auch Kirchhöfer in diesem
Band.
3
Tun als die Reflexion und Abstraktion - auch wenn natürlich der Alltag voll ist von
deutenden Tätigkeiten und kein Handeln ohne zumindest latenten Sinn auskommt.
Damit ist eigentlich schon gesagt, daß der „graue Alltag“ vorrangig mit Tun und
äußerer Aktivität verbunden wird und weniger mit Passivität und Ruhen oder
gezielter innerer Reflexion und Denktätigkeit - auch wenn jedem im Alltag Phasen
der „Langweile“, des „Wartens“, des Sinnierens und Räsonierens und natürlich der
Entspannung und Rekreation bekannt sind.
(2.) Werden wir einen Schritt abstrakter, wird deutlich, daß „Alltag“ zum zweiten
immer auch einen spezifischen Sozialmodus enthält und gesellschaftliche Distinktion
sowie eine soziale Inklusion und Exklusion bewirkt:
„Alltag“, das sind „Wir“, d.h. die, die man „kennt“ , die eigentlich immer „da“ sind und
„dazu gehören“; und es sind erst einmal nicht die „Anderen“, die „Fremden“ und erst
recht nicht die „Auffälligen“, „Absonderlichen“ und „Gefährlichen“. Jeder weiß damit
aber auch um die spezifischen Ausgrenzungen, Absonderungen, Diskriminierungen
und Stigmatisierungen von Menschen, die fast jeden Alltag kennzeichnen.
Natürlich sind es die uns ständig begleitenden und vertrauten Kooperanden, die wir
für die „normalen Leute“ in unserem „Alltag“ halten, während sowohl die „da oben“
(die jeweils „Bessergestellten“) als auch die „da unten“ (die jeweils „ärmeren Leute“)
nicht zum normalen „Alltag“ gehören. Trotzdem sind die, die nicht unserer jeweiligen
„Schicht“ angehören natürlich ständig präsent, kreuzen immer wieder im Alltag
unsere Wege und ermöglichen genau dadurch, die eigene Gruppe und damit uns
selber immer wieder als normal und vertraut zu bestätigen.
Schließlich ist klar, daß der „Alltag“ eher das „Reich der Notwendigkeit“ oder auch
die Sphäre der relativen „Einfachheit“ bzw. des jeweils „Hinreichenden“ ist, oder
auch nur desjenigen, mit dem man sich ausreichend „arrangiert“ hat. Außeralltäglich
sind dagegen immer die, die im Vergleich zu uns in Luxus und Überfluß leben, sowie
die, die (aus der jeweiligen Sicht gesehen) „weniger“ haben und sind, ein deutlich
noch „einfacheres“ Leben führen, vielleicht sogar vergleichsweise relativ „elend“ vor
sich hin vegetieren. Deren alltägliche Existenz bestätigt aber genau dadurch noch
einmal die relative „Schlichtheit“ und normale „Angemessenheit“ unserer je eigenen
Lebensweise.
(3.) Auf noch allgemeinerer Ebene zeigt sich schließlich drittens ein für den Alltag
typischer allgemeiner Modus des Welterlebens:
„Alltag“ ist erst einmal „alles“, was zu unserem Leben „dazu gehört“; es ist die fiktive
4
Gesamtheit
und
Ganzheit
unseres
Lebensrahmens,
eben
unserer
„Welt“.
Spezifische Sonder- und Teilwelten des Lebens und Erlebens (Religion, Traum,
Wissenschaft usw.) oder der Welt herausragender Ereignisse (Hochzeiten,
Geburten, Trennungen, Todesfälle, Glücks- und Katastrophenereignisse,
Prosperitätsphasen und Kriege usw.) haben zwar ihren je eigenen Alltag (und ihre
Alltagsexperten) , aber es ist nicht unser normaler „Alltag“.
Alltag ist „hic et nunc“. Er ist das „Hier“, das was „präsent“ und direkt erreichbar ist,
oder er ist die Welt des (nach Heidegger) selbstverständlich „Zuhandenen“. Was
räumlich getrennt, also „da“ oder „dort“ ist, ist nicht unser jeweiliger Alltag - auch
wenn wir uns vielleicht problemlos dorthin begeben können, aber dann wandert
unser „Alltag“ und damit unser „Hier“ mit und an jenen neuen Ort. Analog ist auch
das „Jetzt“, die jeweilige „Gegenwart“ (auch wenn sie immer ihre „Dauer“ hat) unser
Alltagsrahmen, von dem sich das, „was war“, „sein wird“ oder „sein soll“ abhebt.
Wobei natürlich jedem die Transitorität des Alltags (und damit die Prägung durch das
Vergehen und Werden) bewußt ist, da wir - ohne daß wir aktiv in der Zeit reisen
müßten - unvermeidlich eine „Vergangenheit“ und (hoffentlich) „Zukunft“ haben.
Trotz der Einschränkungen bleibt der Alltag notorisch erst einmal das „Hier und
Jetzt“ und je genauer wir hinschauen, um so schmaler erscheint diese Sphäre. Der
„Alltag“ wird dann fast zum raum-zeitlich idealisierten Punkt, in dem sich die Wege
von und zu den Orten sowie das Bisherige und Zukünftige schneiden, oder an dem
aus dem „Woher“ das „Wohin“ und dem „Soeben“ das „Demnächst“ wird - eigentlich
ein Nichts und eben doch „Alles“.
Alltag ist unaufhebbar „wirklich“ und es gibt nichts, was mehr „Realität“ hätte, was
wirklich „wirklicher“ wäre - er ist „die“ Realität als solche. Andere Erlebenszustände,
„Traum“ und „Phantasie“, „Rausch“ und „Ekstase“, „Wahn“ und „Fiktion“, „Lüge“ und
„Virtualität“ usw. sind wichtige Momente im Alltag, aber sie sind nicht der „Alltag“. Sie
gewinnen ihre Besonderheit gerade durch die Absetzung vom Alltag, und umgekehrt
erhält dieser seinen Realitätscharakter dadurch, daß er sich von den
Sonderzuständen abgrenzen oder zumindest abschatten kann. Dazu gehört auch,
daß Alltag zwar verdammter „Ernst“, aber trotzdem nur von mittlerer „Relevanz ist,
von dem sich andere Erlebnisrelevanzen Gott sei dank (die drängende Not, die
unmittelbare Bedürftigkeit, die Brutalität der Gefahr) oder bedauerlicherweise („Spiel“
und „Spaß“, „Entspannung“ und „Genuß“, „Lust“ und „Laune“) deutlich
unterscheiden.
Zusammengefaßt benennt „Alltag“ also einen vielleicht nicht immer sehr deutlichen,
aber offensichtlich praktisch je spezifischen und jedem völlig selbstverständlich
5
bekannten Modus des Handelns und Deutens, der sozialen Verortung und des
allgemeinen Welterlebens bzw. der Existenzialerfahrung. Das Thema „Alltag“ nimmt
diese Modi nicht nur auf, sondern greift sie heraus aus einem potentiell breiten
Spektrum anderer Modi: dem Anderen, Besonderen, Spektakulären usw. All dies ist
der Verweisungshorizont (oder der „Hintergrund“), vor dem er (als „Gestalt“) erst
seine Dignität erhält. Das Besondere des Modus „Alltag“ ist dabei die „Nähe“ zum
Einzelnen - nicht unbedingt zur „Subjektivität“ oder „Individualität“ im philosophisch
allgemeinen Sinne, sondern tatsächlich die Nähe zum konkreten einzelnen Akteur.
Damit geht es fast schon um einen außerwissenschaftlichen Gegenstand, denn das
scientifische Bemühen gilt je eigentlich nicht dem Besonderen und Einzelnen,
sondern dem Allgemeinen und der Abstraktion. Es geht damit um das paradoxe Ziel,
im Besonderen und Einzelnen etwas spezifisch Allgemeines zu entdecken, was der
sich sonst oft vorschnell vom „Alltag“ abhebenden Wissenschaft entgeht, Ziel ist
sozusagen das Handeln (und Deuten) „des“ konkreten Menschen und nicht eines je
spezifischen konkreten Menschen. Es geht um „sein“ Tun, „seinen“ Ort in der
Gesellschaft, „sein“ Erleben der Welt und seiner selbst. Gegenstand ist dabei weder
sein „Inneres“ (Traum, Phantasie, Unbewußtes usw.), noch das, was auf der
anderen Seite die Welt seiner unmittelbaren Reichweite und Relevanz überschreitet.
Gegenstand ist vielmehr genau die prekäre Sphäre dazwischen, die aber immer auf
das Jenseitige (im Inneren sowie im Entfernten) verweist. „Alltag“, wie ihn dann die
Forschergruppe zum Thema macht, ist schließlich das, was wirklich „wirklich“ und
insoweit auf ganz unspektakuläre Weise tatsächlich unmittelbar „relevant“ ist, so wie
„es einfach ist“ - also nicht, wie man es sich auch vorstellen könnte, wie es
manchmal auch anders (früher, zukünftig, in besonderen Momenten, an anderen
Orten, in anderen Sozialzusammenhängen) ist oder wie es andere (Fremde,
Experten, Wissenschaftler, Priester) sehen und bewerten. Alltag ist der Modus, der
so selbstverständlich und unmittelbar ist, daß er (vielleicht genau deswegen) den
Betreffenden selber meist nicht ohne weiteres zugänglich ist, von daher jedoch ein
wichtiges Objekt wissenschaftlicher (und vielleicht auch persönlicher) Aufklärung und
Untersuchung darstellt. „Alltag“ ist das, was fraglos real und wichtig ist, aber
deswegen oft unhinterfragbar und unwichtig erscheint, jedoch zu spannenden
Fragen einlädt.
2. Alltag in der Wissenschaft: Konzepte, Begriffe, Forschungsfelder
2.1 Konzepte
Die vor etlichen Jahren in vielen Disziplinen entstandene Alltagsforschung konnte
6
zwar auf Vorläufer zurückgreifen1, bildete dann aber doch ein Spektrum
eigenständiger konzeptioneller Zugänge aus. Dies soll hier nicht umfassend referiert
werden (vgl. auch Kirchhöfer in diesem Band und die in FN 1 erwähnten Texte). Es
soll im folgenden allein darum gehen, das Feld der vorliegenden Konzepte für die
Zwecke der Forschergruppe grob zu strukturieren und mit einigen beispielhaften
Bezügen zu illustrieren, um daraus weitere Orientierungen für eine gemeinsame
Perspektive zu ermitteln.
In Übereinstimmung mit gängigen Unterscheidungen können zwei Felder etablierter
Konzepte gegenüberstellt werden (vgl. für eine ähnliche Unterscheidung Jurczyk
2000), von denen man dann eine dritte, in gewisser Weise vermittelnde, Position
abheben kann:
(1.) Konzepte, die man als sozial-objektivistisch bezeichnen kann, betrachten „Alltag“
als eine Sozialsphäre mit objektiv gegebener und eindeutig benennbarer eigener
gesellschaftlicher Logik. Es ist zwar kein Zufall, fällt aber trotzdem auf, daß hier
ausschließlich materialistische bzw. im weiteren Sinne marxistische Ansätze zu
finden sind, während sich etwa der lange Zeit sehr einflußreiche
Strukturfunktionalismus (Parsons, Merton u.a.) nicht systematisch mit dem Thema
befaßt hat. Es handelt sich dabei jedoch um Ansätze, die im Spektrum sich auf Marx
beziehender Konzeptionen eher Randpositionen einnehmen oder innovative
Perspektiven kultivieren. Der klassische Marxismus hat traditionell nur die Arbeitsund Produktionsverhältnisse im Auge und beachtet (wenn überhaupt) das konkrete
alltägliche, insbesondere das außerbetriebliche Leben („Reproduktion“) als
systematisch nachgeordnete und davon „abgeleitete“ Sphären von Gesellschaft und
persönlichem Leben. Hier dagegen werden (oft unter Bezug auf Gramcsi, vgl. Kebir
1991) die Sphären der Privatheit, der „reproduktiven“ Arbeiten im Haushalt und bei
der Erziehung, der Freizeit und des Konsums, des alltäglichen Kulturlebens, der
außerbetrieblichen politischen Aktivitäten usw. als sozial bedeutsam und gerade für
die Analyse moderner kapitalistischer Gesellschaften unverzichtbar angesehen.
Besonders erwähnenswert sind die auf die Budapester Praxisphilosophie in der
Folge von Georg Lukacs zurückgehende Perspektive (insbes. Heller 1978), die vom
strukturalistischen Marxismus in Frankreich geprägte „Kritik“ des durch die
kapitalistische Entwicklung zunehmend in seiner Ganzheitlichkeit zerstörten
„Alltagslebens“ (Lefèbvre 1975, Kleinspehn 1975) und das deutsche Projekt
Klassenanalyse, das sich vor allem mit dem Alltags-Bewußtsein und in Bezug darauf
1Als
Vorläufer einer Alltagsforschung können die Psychologie von Freud 1970 und Adler 1978, die
klassischen Arbeiten der Phänomenologie, v.a. Husserl insbes. 1976, Heidegger 1979 und Schütz
1971 u. 1974, oder die frühen Arbeiten der Chicago Schule der Soziologie (s.u.) gelten..
7
mit dem Freizeit- und Konsumverhalten im Alltag der Arbeitschaft beschäftigt hat
(z.B. Herkommer u.a. 1984).
(2.) Klassische Domäne der Alltagsforschung sind jedoch subjektiv-interpretative
Ansätze. Diese sich meist auf die philosophische (Husserl, insbes. 1976, Heidegger,
insbes. 1979) und soziologische (Schütz, insbes. 1971, 1974; s. auch
Sprondel/Grathoff Hg. 1979) Phänomenologie zurückbeziehende Position sieht
Alltag als spezifische Handlungs-, Wissens- und Sinnsphäre, oft auch nur als
spezifischen Modus von (interaktivem) Handeln, Denken und Deuten an. Hier steht,
ganz anders als im ersten Feld von Ansätzen, das einzelne „Subjekt“ als im Alltag
handelndes und vor allem als deutendes, symbol- und sinnverwendendes Wesen im
Vordergrund - auch wenn genaugenommen nicht konkrete Individuen, sondern
sozial generalisierte Strukturen und Mechanismen von Handeln und Interaktion
sowie Deuten und Wissen im Alltag den Gegenstand bilden. Eine zentrale
grundlagentheoretische
Bedeutung
haben
die
im
engeren
Sinne
sozialphänomenologische, oft auf die Kategorie der „Lebenswelt“ fokussierte
Soziologie nach Schütz (z.B. Berger/Luckmann 1973, Grathoff 1989, Luckmann
1980, Soeffner 1989, Hitzler 1988) sowie der eher in Weberianischer Tradition und
im Einflußfeld des amerikanischen Pragmatismus sowie der sogenannten „ChicagoSchule“ der Soziologie stehende Symbolische Interaktionismus (Mead v.a. 1973,
Blumer, z.B. 1969, Douglas 1970, Goffmann, zentral 1977). Der Chicago-School
kommt jedoch in zweifacher Hinsicht eine Sonderstellung zu, da aus ihr zum einen
schon Jahrzehnte vor dem Alltags-Boom der 70er Jahre eine große Zahl empirischer
Studien zur Alltagssituation verschiedenster Gruppen hervorgegangen ist (z.B.
Anderson 1923, Cerry 1932, Cotrell 1940, Sutherland 1937, Thomas 1931, Whyte
1955, Wirth 1927, vgl. auch die Überblicke von Bulmer 1984, Harvey 1987, Lindner
1990, Smith 1988), und in ihr zum anderen eine charakteristische
Forschungsausrichtung entwickelt wurde, die nahezu theorielos, aber mit einem auf
genaues ethnographisches Beobachten und Beschreiben ausgerichteten
Forschungsstil (Bohnsack u.a 1998), die soziale Mikro-Situation und das Handeln
von begrenzten Gruppen in ihren konkreten Alltagskontexten hoch differenziert
empirisch erfaßt hat. Eine besondere Rolle nimmt auch die auf den durch Weber und
Schütz sowie die amerikanische Ethnologie und Kulturanthropologie beeinflußten
Garfinkel zurückgehende Ethnomethodologie ein. Ihre Domaine sind weniger sozial
großflächige Strukturen von Deuten und Wissen als unmittelbar praktische Verfahren
oder Praktiken der symbol- und sprachbasierten innersubjektiven Konstruktion von
Sozialzusammenhängen,
interaktiven
Bezugnahmen
und
vor
allem
Realitätsversicherungen im konkreten Alltag (vgl. u.a. Douglas ed. 1973, Garfinkel
1967, 1981, Cicourel 1975, siehe auch die Überblicke z.B. von Weingarten u.a. Hg.
8
1976, Livingston 1987, Patzelt 1987, Turner ed. 1974).
(3.) Eine dritte und in gewisser Weise vermittelnde Position nimmt eine kleine Zahl
von eher neueren Konzepten ein, die gezielt versuchen, vor allem am praktischen
Handeln der Subjekte im Alltag (und nicht primär an Wissens- und Sinnstrukturen
bzw. komplementären Symbolisierungs- und Deutungspraktiken) anzusetzen und
dabei aber systematisch den Bezug zu „objektiven“ sozialen Randbedingungen und
insbesondere auch zu gesamtgesellschaftlichen Strukturen zu erhalten. Solchen
subjekt- oder tätigkeitsorientierten Positionen ist eine Betonung des pragmatischen
Handelns im Alltag in aktiver „Auseinandersetzung“ mit und insoweit schließlich
praktischer „Aneignung“ (vgl. kurz Fischer-Rosenthal 1995) von den Handelnden
objektiv vorgegebenen, auf objektive gesellschaftliche Strukturen zurückgehenden
Ressourcen wie Zwängen gemeinsam. In Deutschland kann hier (um nur zwei
wichtige Beispiele aus der Soziologie i.e.S. zu nennen) zum einen auf die aus der
Kulturwissenschaft der ehemaligen DDR hervorgegangene, sich an der
kulturhistorischen Schule der sowjetrussischen Psychologie und Sprachforschung
(Wygotski z.B. 1977, Leontev z.B. 1973, 1982 u. Leontev u.a. 1984) sowie partiell an
der sog. kritischen Psychologie (Holzkamp grundlegend 1982) und damit letztlich an
Momenten der Theorie von Marx orientierende Lebensweiseforschung (Institut für
marxistische Studien Hg. 1988, Lüedtke 1978, Maase 1984, 1988 u. 1990, Dölling
1986) verwiesen werden. Eine andere Position nimmt das aus der sogenannten
Münchener Subjektorientierten Arbeits- und Berufssoziologie (vgl. Bolte/Treutner Hg.
1983, Voß/Pongratz Hg.1997) hervorgegangene, sich sowohl an Weber wie am
frühen Marx orientierende Konzept der Alltägliche Lebensführung ein (Voß 1991,
Jurczy/Rerrich 1993, Projektgruppe 1995). Eine solche Perspektive findet sich bei
genauerem Hinsehen in vielen Disziplinen und zumindest in Teilaspekten (mehr oder
weniger explizit) in weiteren Konzepten unterschiedlichster Provenienz; beispielhaft
erwähnt werden kann etwa das stark kulturtheoretisch ausgerichtete
Handlungsmodell von de Certeau (1988; s. zu Certeau Silverstone 1998, Poster
1992) oder die sich auf ein Bild des Menschen als „aktiv realitätsverarbeitendes
Subjekt“ stützende Sozialisationstheorie von Hurrelmann (1986). In gewisser Weise
kann hier auch die aus einem undogmatischen Marxismus in England
hervorgegangene Tradition der Cultural Studies (vgl. die immer wieder als Klassiker
der CS genannten Texte von Hoggart 1957, Thompson 1987 und Williams 1961 u.
1971 sowie als Einstieg und Überblick Grossberg/Nelson/Treichler eds. 1992,
Grossberg 1994, Kramer 1997, Lindner 1994, Lutter/Reisenleitner 1998 und insbes.
auch die aktuellen deutschen Textzusammenstellungen von Bromley u.a. Hg. 1999
und Engelmann Hg. 1999, s. auch Hepp 1998, 1999, Hepp/Winter 1999) verortet
werden, die
mit einer Kombination von sozial- und kulturwissenschaftlicher
9
Orientierung die alltägliche (Populär-) Kultur, genauer: die im Alltag (v.a. der unteren
Schichten) wirksamen kulturellen Aneignungspraktiken empirisch untersucht und
konzeptionell in ihren Besonderheiten zu fassen versucht.
Dreierlei Schlußfolgerungen sind aus dieser Gegenüberstellung für den Alltagsbegriff
der Forschergruppe festzuhalten:
Eine im engeren Sinne sozial-objektivistische, auf die Analyse der Strukturmomente
und -bedingungen von gesamtgesellschaftlichen Teilsphären bezogene Sicht und
Fragestellung verfolgt keines der beteiligten Projekte. Allen ist (mehr oder weniger)
eher eine Orientierung am praktischen „Umgang“ von Handelnden mit neuen Medien
in spezifischen sozialen Teilsituationen gemein. Gleichwohl werden überall Aspekte
der neuen Techniken und die gesellschaftlichen Faktoren ihrer Entstehung, ihres
Einsatzes und ihrer sozialen Folgen als zu beachtende „objektive“ gesellschaftliche
Bedingungen ihrer Wirkung im jeweils untersuchten Bereich angesehen und müssen
von daher in einen entsprechenden Alltagsbegriff eingehen.
Auch wenn der „Umgang“ von handelnden „Subjekten“ mit den ins Auge gefaßten
Techniken ein wichtige Leitlinie darstellt, geht es auf der anderen Seite nirgends
primär um „subjektive“ Momente im engeren Sinne der je persönlichen (oder auch
diskursiv sozial vermittelten) sinnhaften Deutungen und Bedeutungen. Solches spielt
zwar durchweg eine wichtige Rolle und wird von daher bei fast allen Projekten in der
einen oder anderen Weise zum Thema, wenn nach dem „Alltag“ der neuen Medien
gefragt wird. Im Vordergrund stehen aber objektive Formen des tagtäglichen
„praktischen“ Umgangs Betroffener mit dem Gegenstand Technik.
Dies zusammengenommen ergibt, daß die oben beschriebene dritte Perspektive auf
eine praktisch tätige „Auseinandersetzung“ mit und damit auch „Aneignung“ von
Neuen Medien dem Verständnis von „Alltag“ in der Forschung am nächsten kommt.
Gleichwohl ist keines der beschriebenen (oder auch potentiell anderen) Konzepte als
solches in unveränderter Weise geeignet, ein verbindliches Rahmenkonzept für alle
Projekte zu liefern.
2.2. Konkurrenzbegriffe
Das Thema „Alltag“ wird in verschiedenen Disziplinen und Forschungsfeldern seit
einigen Jahren zunehmend explizit untersucht, es war und ist aber auch Gegenstand
von Arbeiten, die eher indirekt auf das tägliche Leben eingehen. Es sollen hier
exemplarisch drei Begriffe vorgestellt werden, die eher vermittelt eine Perspektive
10
auf den Gegenstand „Alltag“ öffnen und daher nicht selten in das Feld der
Alltagsforschung eingereiht werden. Es wird sich jedoch zeigen, daß keiner der
Begriffe, zumindest nicht im jeweils engeren kategorialen Verständnis, dem nahe
kommt, was in der Forschergruppe dem Gegenstand „Alltag“ entspricht:
(1.) Berühmt und theoriegeschichtlich am ältesten ist die philosophische Kategorie
der „Lebenswelt“. Sie geht auf Husserl (1976) zurück und meint dort tiefliegende
(letztlich transzendentale) kulturelle und individual-existenzielle Sinnstrukturen
(Fuller 1983, Gurwitsch 1970, Landgrebe 1977, Lippitz 1978, Matthiesen 1983 u.
1991, Waldenfels 1985, 1978 u. 1989, Welter 1986). Die soziologische Rezeption
durch Schütz (explizit in Schütz/Luckmann 1979 u. 1984, indirekt auch in Schütz
1971, 1974, sie auch Grathoff 1978, Srubar 1988, Weltz 1996; speziell zur sog.
Lebensweltlichen Ethnographie u.a. Honer 1993, s. auch unten 2.3/1) verbindet die
Kategorie dann nicht selten mit der Frage nach dem „Alltag“, hebt dabei jedoch das
enge Verständnis Husserls auf, auch wenn weiterhin basale Sinnstrukturen (jetzt im
Alltagserleben von Menschen) Thema bleiben (vgl. zusammenfassend Voß 1991:
113ff). Habermas (1981, s. auch Mathiesen 1983) verwendet „Lebenswelt“ danach in
noch einmal ganz anderem Verständis an zentraler Stelle seines Werks als
Gegenkonzept zum „System“ (der Handlungsmodus und die Sozialsphäre der
„Instrumentalität“ in Wirtschaft und staatlicher Administration), um damit den Modus
der „kommunikativen“ (nicht „instrumentellen“) Fundierung und Sicherung
unmittelbarer Sozialität in der Gesellschaft zu benennen. „Alltag“ im praktischpragmatischen Sinne eines Zusammenhangs der tagtäglichen Aktivitäten von
Handelnden, wie sie die Forschergruppe im Auge hat, ist hier jedoch letztlich nicht
das Thema.
(2.)
Traditionsreich
ist
auch
die
Kategorie
des
„Lebensstils“.
Sie
geht
theoriegeschichtlich im wesentlichen auf die sehr unterschiedlichen Arbeiten und
Begriffsverwendungen von Alfred Adler (1978), Max Weber (v.a. 1972), Georg
Simmel (1989) und Throrstein Veblen (1972) zurück (vgl. als Überblick u.a.
Band/Müller 1984, Hartmann 1999, Müller 1989, 1992, Schwenk Hg. 1995, Werner
1997). Lange Zeit nur wenig in der Forschung beachtet, entwickelte sich die
Kategorie in den achtziger Jahren zum Leitbegriff eines umfangreichen Strangs von
Untersuchungen vor allem in der sozialstrukturanalytisch ausgerichteten Soziologie
(vgl. als Überblick z.B. Schwenk 1995, Berger/Hradil 1990), zum Teil auch in
Verbindung mit konzeptionellen Weiterenwicklungen v.a. bei Bourdieu (insbes. 1982,
dort mit Bezug auf die Kategorie des „Habitus“), Vester (u.a. in 1995), Schulze
(1992) oder Lüdtke (1989). Ohne Zweifel geht es der Lebensstilforschung um
Aspekte des Lebens von Personen und Gruppen, die eine Nähe zu deren
11
praktischen alltäglichen Leben haben; insoweit ist es nicht unzulässig, diese
Forschungsrichtung (wie es teilweise geschieht) dem Themenfeld „Alltag“
zuzurechnen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß mit „Lebensstil“ in der
Regel zwei Engführungen verbunden sind, die die Kategorie (zumindest für das
Anliegen der Forschergruppe) nur wenig hilfreich für ein Verständnis des praktischen
Handelns im Alltag erscheinen läßt: „Lebensstil“ wird zum einen fast durchgängig in
der neueren Forschung für die Sozialstrukturanalyse im engeren Sinne und damit für
die
Bestimmung
der
Lebenssituation
sozialer
Großgruppen
im
gesamtgesellschaftlichen Gefüge verwendet; die konkrete alltägliche Lebenspraxis
(und schon gar nicht die kleiner Gruppen oder gar Einzelner) ist hier kein Thema.
Zudem wird sich mit „Lebensstil“ (aus eben jenen sozialstrukturanalytischen
Interessen heraus) zwar auf die Praxis von Handelnden (bzw. von sozialen
Großgruppen) bezogen, dabei steht jedoch meist die jeweilige (alltags-) kulturelle
Gesamtcharakteristik der Aktivitäten („Stil“) mit der Funktion einer aktiven
symbolischen Selbstidentifikation („Expression“), Stabilisierung („Integration“) und
der Abgrenzung von anderen („Distinktion“) als kulturelle Praxis („Stilisierung“ des
Alltags) im Vordergrund des Interesses. Solches mag an einzelnen Stellen mit
Interessen von Projekten der Forschergruppe konvergieren, trifft aber nicht im Kern
das, was hier meist als „Alltag“ verstanden werden soll.
(3.) Ebenfalls theoriegeschichtlich nicht neu, aber erst in den letzten Jahren wieder
beachtet: die Kategorie „Lebensführung“. Sie geht auf Max Weber zurück (u.a.
1972), der sie (in wenig präziser Abgrenzung) an zentraler Stelle seines Werkes
neben dem bevorzugt rezipierten Begriff „Lebensstil“ verwendet (Abel/Cockerham
1993). „Lebensführung“ wird in den letzten Jahren v.a. in Absetzung vom oben
angedeuteten engen Begriffsverständnis des Lebens-Stils verwendet, um (wie bei
den Zielen der Forschergruppe) eine gezieltere Thematisierung des realen Alltags
und der Praxis konkret Handelnder zu ermöglichen. Breit ausgearbeitet und in
Forschungen umgesetzt wurde die Kategorie im Umfeld der Münchener
Subjektorientierten Soziologie (vgl. insbes. Behringer 1998, Dunkel 1994,
Jurczyk/Rerrich 1993, Kudera/Voß 2000, Projektgruppe 1995, Voß 1991, s. auch
www.lebensführung.de), wobei speziell auf die alltagsorganisatorischen Leistungen
und Methoden der zeitlichen, räumlichen, sozialen, sinnhaften usw. Koordination von
Tätigkeiten in den verschiedenen für eine Person relevanten Alltagssphären (Arbeit,
Familie, Freizeit usw,) geachtet wird. Stärker in Verbindung mit der Frage nach
biographischen Einbindungen und Ausrichtungen des Alltags wird die Kategorie bei
Untersuchungen verwendet, die aus dem Umfeld des Deutschen Jugendinstituts
stammen (Brock 1991, Vetter Hg. 1991). Auch außerhalb der beiden Gruppen
erweist sich die Kategorie inzwischen sowohl theoretisch als auch für auf das
12
alltägliche „Arbeiten und Leben“ verschiedener Populationen gerichtete empirische
Arbeiten als anregende Perspektive (vgl. z.B. Jürgens/Reineke 1998,
Hielscher/Hildebrandt 1999, Kirchhöfer 1998, Laubach 1999, Weihrich 1995, 1998).
Besonders erwähnt werden kann die sehr dezidierte psychologische Rezeption der
Kategorie von Klaus Holzkamp kurz vor seinem Tod (1995). Wie schon angedeutet
kann die Lebensführungsperspektive interessante konzeptionelle Leitlinien für die
Arbeiten und das Interesse der Forschergruppe in Richtung auf den „Alltag“ in der
Verwendung neuer Medien bieten. Die Konzepte im engeren Sinne ihrer jeweiligen
theoretischen Anlage sind jedoch zu spezifisch ausgerichtet, um für die Gruppe als
ganzes ein Rahmenkonzept bilden zu können.
2.3. Forschungsfelder
Neben vorliegenden konzeptionellen Beiträgen ist das Thema „Alltag“ wesentlich
breiter und intensiver im Rahmen von eng problembezogenen (und dabei i.d.R. im
weiteren Sinne empirischen) Forschungen aller Art aufgegriffen und bearbeitet
worden. Dabei werden zum Teil die erwähnten (und andere) Alltags-Konzepte
angewendet, gelegentlich aber auch nur partiell (wenn nicht gar eklektizistisch)
übertragen. Oft wird aber auch mit eigenen Modellierungen und in weiten Bereichen
streng genommen sogar ohne weitergehende konzeptionelle Basis gearbeitet. Dies
ist nicht untypisch für eine gegenstandsnahe Forschungspraxis und muß erst einmal
keinen weitergehenden Mangel der damit generierten Befunde bedeuten.
Methodisch sind derartige Forschungen nahezu ausnahmslos an eher „offenen“ oder
„weichen“ empirischen Verfahren orientiert, die sich dem weiteren Feld der sich
gerade mit der Alltagsforschung überhaupt erst in den Sozialwissenschaften
etablierenden „qualitiativen“ oder (so die im angelsächsischen Raum mit leicht
anderen Konnotationen teilweise bevorzugte Bezeichnung) „ethnographischen“
Sozialforschung zurechnen lassen1.
Im folgenden kann das große Feld der derart pragmatisch mit „Alltag“ befaßten
Forschung nicht angemessen dargestellt werden. Gleichwohl soll eine auf zentrale
Stichworte bezogene (und ausführlich bibliographisch unterfütterte) Synopse
andeuten, aus welchen Feldern sich eine Forschergruppe, die den „Alltag“ zum
Thema hat, mit Einzelerkenntnissen, konzeptionellen Momenten und methodischen
Anregungen „bedienen“ kann.
1Vgl
aus der inzwischen kaum mehr zu überschauenden Literatur zum Überblick u.a. Bohnsack 1993, Denzin
1992, Denzin/Lincoln eds. 1994, Flick 1995, Flick u.a. Hg. 1995, Girtler 1984, Hopf/Weingarten 1974, Lamnek
1993, Spöhring 1989, Strauss 1991, Strauss/Corbin 1996, Witzel 1982.
13
Es lassen sich drei Felder von Forschungen unterscheiden:
(1.) In den Sozialwissenschaften finden sich zum Teil schon seit Jahren und daher
inzwischen nicht selten sehr zahlreiche Forschungen zu Alltagsfragen vor allem zu
den Themenbereichen:

Arbeits-Alltag
z.B. Becker-Schmidt u.a. 1982 u. 1983, Behr 2000, Birke/Schwartz 1994, Burawoy 1979,
Cottrell 1940, Dilcher 1992, Dunkel 1994, Green 2000, Geschka 1997, Getschmann Hg.
1998, Girtler 1980, Huang 1994, Knorr-Cetina 1984, Kotthoff/Reindl 1990, Latour/Woolgar
1986, Lichte 1978, Lüedtke Hg. 1991, Reichertz 1991, Reichertz/Schroer 1992, Rosner u.a.
1996, Srübing 1983, Staute 1997, Theriault 1996

Alltagssprache, Alltagskommunikation
z.B. Arbeitsgruppe 1973 u. 1976, Bergmann 1981 u. 1987, Cicourel 1975, Goffmann 1981,
19891, 1994, Kallmeyer 1988 u. 1994ff, Kepperl 1994

Alltagsinteraktion, Alltagshandeln
z.B. Arbeitsgruppe 1973 u. 1976, Esser 1991, Fuhrer 1990, Garfinkel 1967, 1981, Goffmann
1959, 1971, 1974, 1977, 1981, 1991, 1994, McCall/Simmons 1974, Ressel 1996, Soeffner
1989, 1992, 1998, Turner 1989

Alltagsbewußtsein, Alltagswissen, Alltagsrationalität, Alltagskultur
z.B. Arbeitsgruppe 1973 u. 1976, Hack 1972, Janshen 1980, Lehmann 1992, Leithäuser
1981, Schulze 1988, Soeffner Hg. 1988; Wagner 1994, s. auch die sog. Cultural Studies: s.
unter 3

Arbeitslosen-Alltag
Barwenski-Fäh 1990, Biermann u.a. 1985, Guggemos 1989, Heinemeier 1992, Hornstein u.a.
1986, Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, Kirchler 1985, Kronauer u.a. 1993, Luedtke 1998,
Morgenroth 1990, Rumpeltes 1982, Sinfield 1970

Kinder-, Schüler- und Jugendalltag, Familien- und Frauen-Alltag
z.B. Blättl-Mink 1998, Dannenbeck u.a. 1995, Dilcher 1995, Dörr 1992, Egelbert 1986, Fach
1994, Frieben-Blum u.a. 2000, Geiling-Maul u.a. 1992, Joris/Witzig 1994, Hemmerich 1994,
Jurczyk 1994a u. b, Hoppe 1993, Kaufmann 1995b, Kaufmann 1998, Kirchhöfer 1998, Lenz
1986, Meyer 1998, Meyer/Schulze 1993, Pasquale 1998, Peters 1998, Petzold 2000, Pross
1975, Rabe-Kleberg/Zeiher 1984, Rocksloh-Papendieck 1995, Schötz 1997, Silberzahn-Jandt
1991, Unger 1999, Urdze/Rerrich 1981, Wendet 1992, Zeiher 1988, 1993, 1995 u. 2000,
Zeiher/Zeiher 1990, 1993 u. 1994

Lifestyle, Outfit, Wohnen, Konsum im Alltag
z.B. Becker/Nowak 1982, Hartmann 1999, Herlyn u.a. 1994, Hölscher 1998, Keim 1999,
Mackay ed. 1992, Selle 1993, Selle/Bocke 1986, Spiegel Verlag 1986, Ward 1997

Institutionen-Alltag
z.B. Behr 2000, Burawoy 1979, Getschmann Hg 1998, Goffmann 1972, Götz 1997, Grunow
1978, Hrdlicka 1992, Knorr-Cetina, 1984, Latour/Woolgar 1986, Lichte 1978, Sofsky 1993,
Staute 1997

Ethnographie alltäglicher Sonderwelten und Sondergruppen
z.B. Anderson 1937, Bourdieu 1977, Cerry 1933, Fröhlich/Mörth Hg. 1998, Gahleitner 1996,
Girtler 1980, 1985 u. 1998, Grathoff 1986, Hildenbrand 1983, Hitzler 1988, Kaufmann 1995a,
Kudera/Voß Hg. 1996, Knoblauch 1991, Nickel 1999, Schaffer 1993, Sutherland 1937, Verk
1994, Weltz 1991, Whyte 1955, Wirth 1927; s. speziell zur sog. „Lebensweltlichen
Ethnographie“ Honer 1993, 1996 u. 1999

Fest und Feier im Alltag
z..B. Gebhard 197, Marquart 1989, Martin 1973, Münster/Thuswaldner 1989.

Technik und Medien im Alltag
z.B. Bausinger 1983, Beck 1997, Binder 1999, Bühl Hg. 1999, Diskowski u.a. 1989, Dörr
1992, Eurich/Würzberg 1980, Flick 1996, Glatzer u.a. 1991 u. 1998, Hampel u.a. 1991,
Hennen 1992, Hepp 1998 u. 1999, Hepp/Winter 1999, Höflich 1995, Hörning 1997,
Hörning/Dollhausen 1997, Joerges Hg. 1988, Kleemann/Voß 1999, Leithäuser u.a. 1995,
Lenk/Ropohl 1978, Leu 1993, Lutz 1989, Lutz Hg. 1989, Meyer/Schulz 1993 u. 1994 ,
14
Meyer/Schulze/Müller 1997, Mettler-Meiboom/Bauhardt Hg. 1993, Mollenkopf u.a. 1989,
Petzold 2000, Pross/Rath Hg. 1983, Rammert Hg. 1990, Rammert u.a. 1991, Ruppert 1993,
Sackmann/Weymann 1994, Schneider 1994, Silberzahn-Jandt 1991, Thomas 1995,
Voß/Holly/Boehnke (Hg.) 2000, Wagner 1991, Zapf 1989.
(2.) Neben den seit langem großflächig bearbeiteten Themenfeldern entwickeln sich
in jüngster Zeit sozialwissenschaftliche Forschungsgebiete im Zusammenhang mit
„Alltag“, die oft innovative theoretische Perspektiven öffnen, so etwa zu den
Themenfeldern:

Alltags-Dinge, Alltags-Design, Alltags-Ästhetik
z.B. Baudrillard 1991, Csikszentmihalyi/Rochberg-Halton 1989, Cohen 1998, Flaig u.a. 1993,
Habermas 1999, Hartmann/Haubl 2000, Hauser 1994, Heubach 1996, Hörning 1989,
Köstlin/Bausinger Hg. 1983, Keim 1999, Norman 1998, Ruppert 1993, Selle/Boehe 1986,
Selle 1993

Alltags-Moral, alltägliche Lebenskunst
z.B. Baltes 1993, Barth 1998, Laubach 1999, Nussbaum 1999, Sabini/Silver 1982, Schmidt
1998, Seidel 1999, Stehr 1998, Zoll 1993

Körper- und Ernährung im Alltag
z.B. Barlösius 1997, 1999, Featherstone u.a. eds. 1991, Grimm 1997, Kaufmann 1995a,
Leidner 1993, Lupton 1996, Mellor 19997, Mennell u.a. 1992, Netleton/Watson 1998,
Prahl/Setzwein 1999, Setzwein 1997, Schilling 1993, Turner 1996

Ökologie im Alltag
z.B. Littig 1995, Naess 1998, Poferl u.a. 1997, Preisendörfer 1999, Preuss 1993, Reusswig
1994

Zeit im Alltag
z.B. Bauer 2000, Beck 1994, Dollase u.a. 1998, Garhammer 1994 u. 1999, Fock 1995, Gräbe
Hg. 1992, Hörning 1997, Jurczyk 1994a, b u. 2000, Levine 1998, Projektgruppe 1995, RabeKleberg/Zeiher 1984, Rammstedt 1975, Schaffer 1993, Schlote 1996, Wotschak 1997. Sie
speziell zu Methoden und Befunden der (schon länger etablierten und z. Zt. wieder verstärkt
beachteten) „Zeitbudget“-Forschung z.B. Aas 1978, Andorka 1987, Blass 1980, Converse
1968, Garhammer 1998, Harvey u.a. 1984, Rosenbladt 1964, Scheuch 1977, Statistisches
Bundesamt 1995, Wotschak 1997.
(3.) Nicht vergessen werden sollen schließlich wissenschaftliche Konzeptbereiche
bzw. Forschungstraditionen in Disziplinen außerhalb der i.e.S. Sozialwissenschaften
bzw. in Grenzgebieten, in denen explizit Forschungen zum Thema „Alltag“ oder
indirekt zu Aspekten von Alltag in Gesellschaften betrieben werden. Hier nur eine
kleine Auswahl:

Ethnologie, Sozialanthropologie, Kulturanthropologie
z.B. Fröhlich/Mörth Hg. 1998, Greverus 1978, Helmers Hg. 1993

Hausarbeits- und Haushaltsforschung, Ökotrophologie, Haushaltsökonomie
z.B. Becker/Becker 1998, Dörr 1996, Glatzer 1991 u. 1998, Gräbe 1998, Kaufmann 1998,
Maier 1997, Meyer 1993, Nippert-Eng 1996, Peters 1998, Schweitzer 1988, 1991 u. 1993,
Seel 1991, Silberzahn-Jandt 1991, Wagner 1991

Geschichtswissenschaft
z.B. Andersen 1997, Ariès/Duby Hg. 1991, Berliner Geschichtswerkstatt Hg. 1994, Borst
1983, Braudel 1985, Ginzburg 1979, Hagemann 1990, Hauser 1994, Jacobeit/Jacobeit
1986/95, Knoch Hg. 1989, Lüdtke Hg. 1989, Lüdtke 1993, LeRoy Ladurie 1983, Mooser
1984, Praschl-Bilcher 1995, Reulecke/Weber Hg. 1978, Ruppert Hg. 1993, Schulze Hg. 1994,
Schwendter 1996, Wette Hg. 1992; speziell zur „Oral History“ Lüedtke Hg. 1991, Niethammer
1980; spezielle zu der v.a. auf Braudel zurückgehenden Annales-Schule Middell/Sammler Hg.
15
1994

Völker- und Volkskunde, Europäische Ethnologie
vgl. als Überblick Kaschuba 1999, insbes. 115ff, ansonsten z.B. Dornheim 1983, Hauser
1994, Köstlin/Bausinger Hg. 1983, Lipp 1993, Martin 1973, Münster/Thuswaldner 1989

Kulturwissenschaft
z.B. Barth 1998, vgl. speziell zu den oben schon erwähnten Cultural Studies die „Klassiker“
von Hoggart 1957, Thompson 1987 und Williams 1961 u. 1971 sowie
Grossberg/Nelson/Treichler eds. 1992, Grossberg 1994, Kramer 1997, Lindner 1994,
Lutter/Reisenleitner 1998 und die aktuellen deutschen Textzusammenstellungen von Bromley
u.a. Hg. 1999 und Engelmann Hg. 1999, s. auch Hepp 1998, 1999, Hepp/Winter 1999

Psychologie
Fitzek/Schulte Hg. 1993, Fuhrer 1990, Hilger 1999, Holzkamp 1995, Jaeggi 1989, Neisser
1976, Wagner 1994

Sozialgeographie, Zeitgeographie
z.B. Blass 1980, Chapin 1968, 1974, 1978, Cullen 1978, Dangschatt 1982,
Grundmann/Hölscher 1984, Hägerstrand 1975, Nickel 1999, Klingbeil 1978, Parkes/Thrift
1980, Thrift 1977 u. 1996

Sprach- und Kommunikationswissenschaft
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