Die Professionstheorie im Weiteren Wenn hier von den Ausgangsbedingungen Sozialer Arbeit, der Gleichzeitigkeit von Therapieleistung und Konsensbeschaffung, die Rede ist, so muss betont werden, dass damit nur ein sehr oberflächlicher Blick auf die Professionstheorie geworfen wird. Professionen sind durch viele weitere Merkmale gekennzeichnet, von denen einige hier nur kurz angedeutet werden sollen: - Professionsautonomie bedeutet, dass das professionelle Handeln von immanenten Angemessenheitskriterien gesteuert wird. Jemand, der nicht zur Profession gehört, kann keinen Einfluss auf das „richtige“ fachliche Handeln ausüben. - Problemlösungstyp: Gleichzeitigkeit von theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen und der Besonderheit des Einzelfalles. Professionelles Handeln ist folglich nicht standardisierbar. - Die Autonomie der Lebenspraxis der Adressaten bleibt grundsätzlich gewahrt. Sozialarbeiter greifen nur in Ausnahmefällen direkt in das Leben ihrer Adressaten ein. Sie leisten Hilfe zur Selbsthilfe. - Zwang zur aktiven Gestaltung der Berufsrolle: Sozialarbeiter wissen, was Sozialarbeit ist und handeln professionsgesteuert, nicht organisationsgesteuert. - Höhersymbolischer Sinnbezirk: Wissenschaft, Fachsprache, Rituale, Kleidung, usw. - Paradoxien professionellen Handelns: Unüberwindbare Widersprüche, die sich zwangsläufig aus dem professionellen Handeln ergeben. - Stellvertretende Deutung und spezifisches Fallverstehen. Professionelle besitzen eine bestimmte „Kunst“ im Verstehen ihrer Adressaten. Die Ergebnisse des Verstehens teilen sie den Adressaten mit. Sie handeln aber nicht für diese, sondern deuten nur. Mandat und Lizenz Neben den hier nur kurz angerissenen Themen muss an dieser Stelle noch ein besonders relevanter Problembereich angesprochen werden, der im Bereich der Behandlung suchtkranker und psychisch kranker Menschen von hoher Bedeutung ist. Professionelle benötigen für ihr Handeln eine Lizenz und ein Mandat. Beim Arzt gestaltet sich dieses Verhältnis relativ einfach: Die Lizenz erhält er durch seine Ausbildung und seine Approbation. Bei den Sozialarbeitern ist das ähnlich. Mit dem Diplom, der staatlichen Anerkennung und der Anstellung erhalten Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen die Lizenz, in einem bestimmten Bereich sozialarbeiterisch zu handeln. Mit dem Mandat ist es etwas schwieriger. Der Patient erteilt dem Arzt das Mandat, in einem bestimmten, begrenzten Ausschnitt für ihn zu handeln (also seine Bauchschmerzen zu behandeln). Wer aber erteilt dem Sozialarbeiter sein Mandat. Kommt der suchtkranke- oder psychisch kranke Mensch tatsächlich in die Beratungsstelle und erteil dem Sozialarbeiter das Mandat, in einem begrenzten Bereich für ihn tätig zu werden? Während der Therapiewelle in der Sozialen Arbeit1 hat man so gedacht. Man hat nur diejenigen behandelt, die aufgrund ihres Leidensdruckes den Professionellen ein Mandat gegeben haben. Die anderen hatten noch nicht genügend Leidensdruck. Die Praxis der letzten dreißig Jahre hat uns jedoch gezeigt, dass der motivierte suchtkranke Klient eher der Ausnahmefall ist. In der heutigen Sozialarbeit werden häufig die Begriffe Dienstleitung und Kunde verwendet. Wenn wir uns fragen, wer ist der Kunde der Sozialarbeit eigentlich, müssen wir auch die Frage danach stellen, wer die Leistungen des Sozialarbeiters bezahlt. So können wir bald feststellen, dass in den meisten Fällen die Leistungen nicht vom Klienten selbst bezahlt werden, so wie es der Patient in der Arztpraxis über seine Krankenversicherung tut, sondern es gibt in der Regel zunächst staatlich geförderte Programme, die meistens gesetzlich abgesichert sind (SGB mit BSHG und KJHG usw.). In diesen Fällen würde dann also der Staat als Kunde gelten, der dem Sozialarbeiter ein Mandat erteilt, denn er bezahlt ja die Leistungen. Tatsächlich kann man genau dieses Mandantenverhältnis in der Praxis der Suchtkrankenhilfe gut nachvollziehen. Der gesamte niederschwellige Bereich wird als nachgehende Arbeit bezeichnet. Sozialarbeiter als Streetworker oder in den Beratungsstellen haben den Auftrag, Kontakt zu suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen herzustellen. Die besondere professionelle Kompetenz der Sozialarbeiter besteht nun darin, dieses gesellschaftliche Mandat in ein persönliches Mandat durch den Klienten zu wandeln. Dies nannte man in der Vergangenheit „Motivationsarbeit“. Wenn dies glückt, ändert sich in manchen Fällen auch die Finanzierungsgrundlage von den Sozialhilfeträgern zu den Renten- oder Krankenversicherern. In den Beratungsstellen findet man also ein gesellschaftliches Mandat im Bereich der gesamten niederschwelligen und nachgehenden Arbeit sowie in der allgemeinen Beratungsarbeit bis zur Therapievermittlung. Bei den sozialpsychiatrischen Diensten ist dies noch deutlicher, sie suchen die als psychisch auffällig gemeldeten Mitbürger in deren Wohnungen auf. Sie kritisierten sogar lange Jahre die „Komm-Struktur“ der Suchtberatung mit dem Argument, dass dadurch nur der weitaus geringere Teil der Betroffenen erreicht werden würde. Diejenigen Klienten, die nicht in der Lage wären, einen Hilfewunsch zu artikulieren, würden von den hochschwellig arbeitenden Beratungsstellen nicht erreicht, argumentierten die sozialpsychiatrischen Dienste. Bei vielen Suchtberatungsstellen hat dadurch ein Umdenken stattgefunden und es wurden Konzepte von nachgehender und aufsuchender Sozialer Arbeit entwickelt. Das persönliche Mandat erhält die Sozialarbeiterin dann, wenn es ihr gelungen ist, ihren Klienten in das Programm „ambulante Reha“ überzuleiten und eine konkrete Einzelfallfinanzierung zu erreichen. Natürlich versucht auch der Streetworker auf der „Platte“ bereits ein persönliches Mandat zu erringen, was auch in vielen Fällen gelingt. Die besondere professionelle Kompetenz der Sozialarbeiter liegt folglich in ihrer Fähigkeit, Klienten dazu zu bewegen, sich auf eine persönliche Beziehung zu ihnen einzulassen, obwohl zunächst nur ein gesellschaftliches Mandat bestand. So wirkt auch hier Konsensbeschaffung und Therapieleistung zusammen, indem Sozialarbeiter im Sinne des gesellschaftlichen Normenkonsens gleichsam um einen Therapieauftrag durch ihre Klientel werben. Ein eindeutiges persönliches Mandat ist erst gegeben, wenn sich der Klient in eine ambulante Psychotherapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten begibt. In der Suchthilfe und der Psychiatrie schwingt überall noch das gesellschaftliche Mandat mit, folglich findet in diesen beiden Bereichen grundsätzlich ein Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Konsensbeschaffung und Therapieleistung statt. 1 Die Zeit zwischen etwa 1974 und 1989 wird als „Psychoboom“ in der Sozialarbeit bezeichnet. (vergl. Schülein, Joh. - Psychoanalyse und Psychoboom, in: Psyche 1978)