Professionelle Sozialarbeit in der Suchtkrankenhilfe (von Andreas Knoll) Was ist Sozialarbeit? Sozialarbeiter und Sozialpädagogen haben oft Schwierigkeiten ihr fachliches Handeln theoretisch zu beschreiben. Auf Fragen nach einer Sozialarbeitstheorie hört man häufig allgemeine Aussagen wie: „ich habe einen systemischen Ansatz, irgendwie tiefenpsychologisch und kommunikationstheoretisch, klientenzetrierte Gesprächsführung oder Gestalttherapie“ usw. Diese Definitionen führen aber allzuhäufig zu keinem klaren Bild über das berufliche Handeln dieser Disziplin weil es keine Sozialarbeitstheorien sind. Wir wissen, dass Sozialarbeiter ein Studium absolviert haben müssen, bevor sie praktisch tätig werden. Zu einem Studium gehört die Wissenschaft. Demzufolge müßte es folglich auch eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit1 geben. Diese Wissenschaft etabliert sich jedoch nur mühselig. Als im Jahre 1971 die Fachhochschulen für Sozialarbeit entstanden sind, hielten verschiedene Wissenschaftsdisziplinen in diese neu errichteten Einrichtungen Einzug und definierten die Sozialarbeit aus der Perspektive ihrer jeweiligen Fachrichtung. So konnte es kommen, dass sozialarbeiterische Forschung und Theorieentwicklung im Wesentlichen durch andere Disziplinen betrieben wird, nämlich von Psychologen, Medizinern, Soziologen, Juristen, Politologen usw. Sozialarbeiter die selbst forschen und aus den Ergebnissen ihrer Forschung Theorien bilden bleiben bis heute die Ausnahme. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind folglich Praktiker geblieben, die irgendwie eine besondere Praxis ausüben. Was nun den Kern dieser besonderen Praxis ausmacht ist allerdings schwer zu definieren und man gewinnt den Eindruck, dass diese Praktiker keiner expliziten Theorie folgend handeln. Es scheint so als würde diese Berufsgruppe eher eine implizite Theorie besitzen, der sie intutiv folgt. Damit ist die Sozialarbeit allerdings ausgesprochen erfolgreich. Schließlich ist es diejenige Berufsgruppe, die sich in den letzten 30 Jahren quantitativ am stärksten ausgebreitet hat. Seit 1992 gibt es mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen als Ärzte und Apotheker. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tun dieser Berufsgruppe hat in den letzten dreißig Jahren zu einer Kontroverse zwischen zwei Hauptströmungen der Theoriebildung geführt. Die eine Strömung versucht Soziale Arbeit als Teildisziplin der Erziehungswissenschaften zu definieren und weist der Pädagogik die Rolle einer Leitwissenschaft zu. Die Gegenströmung versucht auf der Basis älterer Fürsorgetheorien eine eigene Sozialarbeitswissenschaft zu entwickeln. Während der erziehungswissenschaftliche Ansatz zunächst die Sozialpädagogik beeinflusste, fand die sozialarbeitswissenschaftliche Richtung stärkere Resonanz bei der Sozialarbeit. Heute, im Jahr 2001, kann man erkennen, dass die Vertreter der pädagogischen Richtung eine starke universitäre Basis besitzen und hier ganz deutlich die Diplom-Pädagogik prägen. Der sozialarbeitswissenschaftliche Ansatz hingegen konnte sich stärker an den Fachhochschulen und in der Praxis behaupten. In aller jüngster Zeit ist es um diese Kontroverse jedoch etwas stiller geworden. Dies geht einher mit einer Internationalisierung und Vereinheitlichung der Studienrichtungen Sozialarbeit und Sozialpädagogik zum gemeinsamen Studium „Soziale Arbeit“ an den Fachhochschulen. Das Ziel dieser Bemühungen ist es, zu internationalen Bachelorund Masters-Abschlüssen zu kommen. Unterhalb dieser wissenschaftlichen Debatten kommt es nun zu einer dritten Strömung sozialarbeiterischer Theoriebildung. Diese Strömung versucht die Soziale Arbeit als sozialwissenschaftliche Profession zu begreifen, deren Kernaktivitäten es herauszufinden und zu definieren gilt. Diese Professionstheorie ist bereits schon einmal, ende der siebziger Jahre aufgetaucht, jedoch damals nur zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sozialarbeit letztendlich nicht professionalisierbar sei und ihr daher bestenfalls der Status einer „SemiProfession“ zukäme. Der Grund dafür wurde hauptsächlich darin gesehen, dass die Soziale Arbeit gleichzeitig einem gesellschaftlichen und einem persönlichen Auftrage folgend handelt. Man nannte das das „Doppelte Mandat“ der Sozialarbeit. Viele Sozialarbeiter in den achtziger Jahren versuchten diesem Dilemma zu entgehen, indem sie hofften, über eine Therapeutisierung sich Professionalisieren zu können. In vielen Fällen ist dieses „Aufstiegsprojekt“ fehlgeschlagen. Im Bereich Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie konnte ein Erfolg gefeiert werden. Im Bereich der Suchtkrankenhilfe ist es zu Problemen gekommen, die dazu geführt haben, daß die Kostenträger (VDR) vermehrt die Anforderungen an die fachlichen Standarts zu formulieren begannen. Die Psychotherapeutisierung der Sozialen Arbeit hat für den Beruf nur kleine Teilerfolge gebracht, so dass man in großen Bereichen ein Fehlschlagen der ersten Professionalisierungsdebatte konstatieren muss. Soziale Arbeit als Profession Die reaktualisierte Professionstheorie der neunziger Jahre nun kommt zu dem Ergebnis, das Soziale Arbeit sich in einem Prozess der Professionalisierung befindet und gegenwärtig den Status einer „bescheidenen Profession“2 einnimmt. Dieser Status besitzt allerdings großes Entwicklungspotential, weil die Soziale Arbeit durch ihre doppelte Perspektive – Individuum und Gesellschaft – die Paradigmengrenzen der „stolzen 1 2 Soziale Arbeit ist heute die gängige Sammelbezeichnung für Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Dabei ist auf die Großscheibung von „Sozial“ zu achten. Schütze, F. - Sozialarbeit als bescheidene Profession – in: Dewe/Ferchhoff/Radtke, Erziehen als Profession (Opladen, 1992) 1 Professionen“3 überschreitet und dadurch zu völlig neuen Problembehandlungsdimensionen kommen kann, wo die klassischen Professionen scheitern. Die Behandlung suchtkranker Menschen ist ein solcher Fall. Hier scheiterte die „stolze Profession Arzt“ zunächst an ihren Paradigmengrenzen, weil es nur in Ausnahmefällen zu einem tragfähigen Arbeitsbündnis kommt. (Psychosomatik, Forensik, Kinder- und Jugendpsychiatrie weisen ähnliche Probleme auf). Die Professionstheorie versucht nun zu verstehen, wieso unsere Gesellschaft den Bedarf nach dem beruflichen Handeln der Sozialen Arbeit entwickeln mußte und woraus genau dieses Handeln besteht. Dazu bedient sie sich einem Verfahren der qualitativen Sozialforschung welches „grounded theory“ 4 genannt wird. Durch systematische und qualitative Analyse des praktischen Handelns der Sozialarbeiter wird deren Tätigkeit zunächst beschrieben und dann abstrahiert. So kommt man zu einer in Praxis gegründeten Theorie, also einer „grounded theory“. Diese Theorien sind dann also nicht mehr Gedankengebäude, die die Praktikerinnen als abgehobene Konzepte erleben, sondern die Sozialarbeiter und Sozialpädagogen finden eine allgemeinverständliche Abstraktion ihres eigenen Handelns vor. Diese wissenschaftlichen Theorien sind dann auch lehrbar, also kognitiv vermittelbar und überprüfbar. Es entsteht somit eine Theorie aus der Praxis für die Praxis und den Berufsnachwuchs. Noch besser: es kann auch Anderen erklärt werden, was Sozialarbeit eigentlich ist und warum sie für die Gesellschaft von Wert ist. Die stolzen Professionen. Der reformulierte Professionalisierungsbegriff versteht unter einer Profession etwas anderes als ein nur auf Expertentum gegründetes spezialisiertes Wissen. Dieser hier verwendete Professionsbegriff geht vielmehr davon aus, daß professionalisierte Tätigkeit auf gesellschaftliche Handlungsprobleme antwortet. Die drei gesellschaftlichen Problemdimensionen auf die geantwortet wird, kann man als Therapieleistung, Konsensbeschaffung und Wahrheitsfindung bezeichnen, auf die die gesellschaftlich legitimierten Professionen entsprechend ihrer Handlungslogik reagieren. So gesehen stellen die Bereiche der Medizin und der Therapie, der Rechtspflege, der Theologie mit Wissenschaft und Kunst die gesellschaftlichen Handlungsproblemfelder dar, auf die die Professionen, entsprechend ihrer jeweils ausgebildeten Handlungslogik, stellvertretend für die Alltagspraxis, eingehen. Die Professionen haben sich mit der Entstehung der Arbeitsteilung im Zuge der Sesshafterdung der Menschen entwickelt. In den sich herausbildenden Gemeinwesen wurde die Arbeit zunächst zwischen Produktion, Verteilung und Verteidigung aufgeteilt. Landwirtschaft und Handwerk, Handel und Militär waren somit die Ausgangspunkte der Arbeitsteilung. Bald mußten aber diese Gemeinwesen feststellen, dass es auch Spezialprobleme gab, die von den bestehenden Berufen nicht gelöst werden konnten. Diese hatten etwas mit Fragen nach dem Sinn (oder Gott), Steitereien untereinander und Krankheiten zu tun. Es bildeten sich Experten für Spiritualität, Heilkunde und Streitschlichtung heraus. Diese Experten genossen bald hohes Ansehen, weil sie elemtare gesellschaftliche Handlungsprobleme behandeln konnten. Sie wurden von den Produktions- Handels- und Militäraufgaben freigestellt und leisteten fortan Dienst am Gemeinwohl. Daraus entstanden die Professionen Arzt, Richter, Pfarrer, die von Schütze als stolze Professionen bezeichnet wurden. Im Laufe der Geschichte entstanden nach und nach immer weitere Berufe, die auch auf gesellschaftliche Handlungsprobleme antworteten und ebenfalls eine besonderen Status anstrebten. Diese Berufe orientierten sich nun zum Zwecke der Professionalisierung an den stolzen Professionen und strebten deren Handlungsfeld nach. Dadurch grenzten sich die gesellschaftlichen Handlungsproblemfelder mehr und mehr voneinander ab. Der Arzt findet sich im Handlungsfeld „Therapieleistung“ und ist somit dem hilfesuchendem Individuum verpflichtet. Der Richter findet sich im Handlungsfeld „Konsensbeschaffung“. Er ist somit dem Gemeinwohl verpflichtet und veranlasst die Individuen zur Einhaltung des ausgehandelten Normenkonsenses. Der Priester schließlich war der Frage nach dem Sinn und der Transzendenz verpflichtet, es suchte für die Gesellschaft nach der Wahrheit. Die neu entstehenden Berufe orientierten sich nun an den drei gesellschaftlichen Handlungsproblemfeldern Therapieleistung, Konsensbeschaffung, Wahrheitsfindung. Wenn sie in einem dieser Felder Aufnahme fanden hatten sie auch den Status Profession. Bei der Therapieleistung kamen zu den Ärzten schnell die Apotheker hinzu, viel später die Heilpratiker und ersts seit sehr kurzer Zeit die approbierten Psychologen (Sozialarbeiter hier teilweise). Auf dem Feld der Konsensbeschaffung fanden sich neben den Richtern bald die Anwälte, in unserer Zeit auch die Steuerberater. Das Feld der Wahrheitsfindung wird den Theologen, Pfarrern, Pristern und Philosophen seit der Rainnecance von der Naturwissenschaft streitig gemacht. Die Kunst würde man auch hier hinzurechnen. In jüngerer Zeit habe z.B. die Journalisten es geschafft sich ebenfalls hier zu etablieren. Die „bescheidene Profession“ Wie ist vor diesem Hintergrund der Professionalisierungsprozess von Sozialarbeit/Sozialpädagogik zu verstehen? 3 4 Arzt, Richter, Pfarrer sind die Prototypen der „solzen Professionen“. Strauss, Anselm - Grundlagen qualitativer Sozialforschung – Datenanalyse und Theorie bildung in der empirischen soziologischen Forschung (München, 1991) 2 Wir wissen, dass dieser Beruf seit 1971 als Hochschulstudium existiert. Aus den Arbeitsmarktdaten können wir entnehmen, dass dieser Beruf die höchsten Zuwachszahlen aller Berufe hatte. Folglich kann auf einen hohen gesellschaftlichen Handlungsbedarf nach den Tätigkeiten dieser Berufsgruppe geschlossen werden. Ein gesellschaftlicher Handlungsbedarf nach beruflichen Spezialaufgaben und eine akademische Grundlage werden als Ausgangspositionen für eine Professionalisierung angesehen. Um sich in eines der gesellschaftlichen Handlungsproblemfelder einzuordnen, muß das Handeln der Berufsgruppe gemäß den Handlungsproblemfelder definiert werden. In den siebziger Jahren versuchten viele Angehörige der Berufsgruppe Sozialarbeit/Sozialpädagogik sich im Handlungsfeld Therapieleistung zu verorten. Da dies nur in einigen wenigen Bereichen geglückt ist, sprach man von einer mißlungenen Professionalisierungsdebatte, die bestenfalls zur „Semi-Profession“ geführt hat. Dadurch, dass sich diese semiprofessionellen Sozialarbeiter weniger an ihrer akademischen Grundausbildung orientierten, sondern sich vielmehr entsprechend den Anforderungen ihrers Arbeitsfeldes definierten, bezeichneten sie sich vermehrt als Stationstherapeuten, Suchttherapeuten, Gruppentherapeuten, Altentherapeuten, Schuldnerberater usw. Infolgedessen erlitten diese Sozialarbeiter tatsächlich aber eher ein Deprofessionalisierung denn eine Professionalisierung. Schließlich übten viele dieser Sozialarbeitet und Sozialarbeiterinnen tatsächlich die gleichen Tätigkeiten aus, die auch ein Psychologe ausübte, sie waren aber keine Psychologen. Die neue professionstheoretische Ausgangsfrage müsste also lauten: Was ist den Sozialarbeitern, die als Suchttherapeuten und als Schuldnerberater tätig sind, gemeinsam; was unterscheidet die Sozialarbeiter/Sozialpädagogen von den anderen dort versammelten Berufsgruppen, und wie läßt sich aus diesen Erkenntnissen eventuell der spezielle gesellschaftliche Handlungsbedarf dieser Berufsgruppe ableiten? Sozialarbeit findet sich in außerordentlich vielen Arbeitsfeldern wieder. Um nur einige aufzuzählen: Jugendamt – Vorschulerziehung – Altenarbeit – Suchtkrankenhilfe – Psychiatrie – Schwangerschaftkonfliktberatung – Bewährungshilfe – Krankenhaussozialdienst – Sozialamt – Gefängnis – Erziehungs- Ehe- u. Lebensberatung – Management- und Organasitionsberatung usw., usw. In all diesen Arbeitsfeldern treffen wir auf eine Gemeisamkeit, die uns Schwierigkeiten für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit macht: Überall scheinen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen gleichzeitig zweier Sphären gesellschaftlicher Handlungsproblemfelder verpflichtet zu sein. Das Handeln dieser Berufsgruppe ist gleichzeitig dem Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft verpflichtet. Folglich besteht Sozialarbeit aus Konsensbeschaffung und Therapieleistung gleichermaßen. Dies kommt am besten im Arbeitsbereich der Bewährungshilfe zum Ausdruck. Der Begriff beinhaltet gleichermaßen die Dimensionen Konsensbeschaffung (=Bewährung) und Therapieleistung (=Hilfe). In der Suchtkrankenhilfe konnte die Sozialarbeit sich in den vergangenen dreißig Jahren vermutlich deshalb so erfolgreich etablieren, weil gerade das Krankheitsbild Sucht oftmals nur zu behandeln ist, wenn beide Dimensionen zusammenkommen. Sowohl die traditionelle Psychiatrie als auch die Psychoanalyse sind zunächst mit ihren Versuchen Sucht, im Sinne des klassisch medizinischen Behandlungsverständnisses, zu behandeln gescheitert. Die therapeutischen Wohngemeinschaften und die Fachkliniken für Suchtkranke haben die rein medizinischen Paradigmengrenzen überschritten, indem sie die Patienten zur Einhaltung eines Normenkonsenses veranlaßt haben, der in Allgemeinkrankenhäusern völlig undenkbar wäre. Mit den Haus- und Therapieordnungen strukturieren Suchtkliniken ein therapeutisches Millieu welches Therapieleistungen mit suchtkranken Menschen überhaupt erst möglich macht, weil den Patienten im Grunde genommen ein Normensystem aufgezwungen wird. Sozialarbeiter hatten in der Vergangenheit maßgeblichen Anteil an der Etablierung solcher Normen- und Regelsysteme in dessen Rahmen sich heute Suchttherapie abspielt. In der Abbildung 1 ist dieses profesionstheoretische Verständnis Sozialer Arbeit dargestellt. Mit der Überschreitung der Paradigmengrenzen herkömmlichen Professionsverständnisses generiert sich in der Sozialarbeit folglich ein völlig neuer Professionstypus, welcher offensichtlich in unserer heutigen gesellschaftlichen Entwicklungsphase von großer Bedeutung zu sein scheint. 3 Die reaktualisierte Professionsdiskussion Therapieleistung Arzt Konsensbeschaffung Richter Wahrheitsfindung Pfarrer, Wissenschaftl. Gleichzeitigkeit von Konsensbeschaffung und Therapieleistung = Sozialarbeit Organisationsformen Einzelfallhilfe – Gruppenarbeit - Gemeinwesenarbeit Handlungsmethoden Sozialer Arbeit z.B systemische-, psychoanalytische-, klientenzentriertegestalttherapeutische- usw. Handlungsmethoden Forschungsmethoden Theorie + Praxis + Ethik Qualitative und quantitative Sozialforschung Forschungspraxis z.B. Institutionsanalyse Sozialtherapie Einzelne – Gruppen - Institutionen - Gemeinwesen Sozialtherapie als allgemeines Handlungskonzept Psychiatrie Sozialtherapie als spezifisches Behandlungskonzept (quasi Psychotherapie) Sozialtherapie als spezielles Beeinflussungskonzept sozialer Strukturen Zielgruppen Suchtkrankenhilfe Jugendhilfe Altenhilfe Abbildung 1 zeigt die Ausgangssituation der Sozialarbeit, die durch die Zusammenführung von Therapieleistung und Konsensbeschaffung gekennzeichnet ist. Diese theoretische Ausgangsgröße bestimmt die darunter liegenden Ebenen. Zunächst erscheinen die Organisationsformen der Sozialarbeit Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. In allen drei Organisationsformen geht es um das Spannungsverhältnis von Gesellschaftlichkeit und Individualität. Beispiel Gruppendynamik: In der Gruppendynamik geht es darum, die Interaktion der Gruppenmitglieder zu Feedbackprozessen anzuregen, die dem einzelnen Mitglied Rückmeldungen, Verständnis und Konfrontation zu seinem Verhalten geben. Die sich dadurch entfaltenden Selbsterfahrungseffekte sind von hohem therapeutischen Wert (=Therapieleistung). Gleichzeitig handeln die Gruppenmitglieder Normen, Werte und Rollen aus, die zu einem Miteinander der Gruppe führen sollen. Die sich dadurch entfaltenden Gruppenprozesse führen günstigenfalls zu einer erhöhten Kreativität und Effektivität der Gruppe. Es findet eine Institutionalisierung 4 statt, die als Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten in Lerngruppen und Arbeitsteams gewertet werden kann (= Förderung des Normenkonsens). Die nächste Ebene definiert die Handlungsmethoden, die die Organisationsformen Sozialer Arbeit steuern. Psychoanalytische, gestalttherapeutische oder systemische Handlungsmethoden stehen in den Organisationsformen Sozialer Arbeit wieder im Dienste der Gleichzeitigkeit von Therapieleistung und Konsensbeschaffung. Beispiel Psychoanalyse: Psychoanalytisch ausgedrückt besagt dieses: Fokus der Sozialarbeit ist das Über-Ich. Im Über-Ich repräsentiert sich das Regel und Normenverständnis des Individuums. Es kann nach der einen Seite rigide und strafend sein und nach der anderen Seite grenzenlos. Konsensbeschaffung und Therapieleistung bedeutet in diesem Falle aber auch die gleichzeitige Reflexion des individuellen und des gesellschaftlichen Über-Ichs. Das individuelle Über-ich beschreiben wir im Geiste der Psychoanalyse als innerseelische Struktur, das gesellschaftliche Über-Ich präsentiert sich uns in den Institutionen. Alle Handlungsmethoden Sozialer Arbeit sind so darauf hin zu überprüfen inwieweit sie die Anforderungen zwischen Therapie und Normenkonsens erfüllen können, d.h. es werden Institutions- und Über-Ich-Strukturen reflektiert. Letztendes bedeutet das auch, einer alten und immerwährenden Forderung der Sozialarbeit Rechnung zu tragen, auch gesellschaftsverändernd zu arbeiten. Der gesellschaftsverändernd Anspruch der Sozialarbeit bezieht sich aber nicht mehr auf „weltrevolutionäre Visionen“ sondern auf konkrete Institutionsveränderungen, im Rahmen eines sozialtherapeutischen Gesamtkonzeptes. Die Handlungsmethoden werden folglich auf der nächsten Ebene im Rahmen eines Gesamtkonzeptes „Sozialtherapie“ wieder wirksam5. Die Professionstheorie im Weiteren Wenn hier von den Ausgangsbedingungen Sozialer Arbeit, der Gleichzeitigkeit von Therapieleistung und Konsensbeschaffung, die Rede ist, so muß betont werden, dass damit nur ein sehr oberflächlicher Blick auf die Professionstheorie geworfen wird. Professionen sind durch viele weitere Merkmale gekennzeichnet, die hier nur kurz angedeutet werden sollen: - Professionsautonomie beutet, dass das professionelle Handeln nur von immanenten Angemesseheitskriterien gesteuert wird (Jemand der nicht zur Profession gehört kann keinen Einfluss auf das „richtige“ fachliche Handeln ausüben). - Problemlösungstyp:Gleichzeitigkeit von theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen und der Besonderheit des Einzelfalles (professionelles Handeln ist folglich nicht standardisierbar). - Die Autonomie der Lebenspraxis der Adressaten bleibt grundsätzlich gewahrt. - Zwang zur aktiven Gestaltung der Berufsrolle (Sozialarbeiter wissen was Sozialarbeit ist und handeln professionsgesteuert, nicht organisationsgesteuert) - Höhersymbolischer Sinnbezirk (Wissenschaft, Fachsprache, Kleidung, usw.) - Paradoxien professionellen Handelns (unüberwinbare Widersprüche die sich zwangsläufig aus dem professionellen Handeln ergeben). - Stellvertretende Deutung und spezifisches Fallverstehen. Mandat und Lizenz Neben den hier nur kurz angerissenen Themen muß an dieser Stelle noch ein besonders relevanter Problembereich angesprochen werden, der gerade im Bereich der Behandlung von suchtkranken Menschen von hoher Bedeutung ist. Professionelle benötigen für ihr Handeln eine Lizens und ein Mandat. Beim Arztberuf gestaltet sich dieses Verhältnis relativ einfach: Die Lizens erhält der Arzt durch seine Ausbildung und seine Approbation. Bei den Sozialarbeitern ist das ähnlich. Mit dem Diplom, der staatlichen Anerkennung und der Anstellung erhalten Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen die Lizens in einem bestimmten Bereich sozialarbeiterisch zu handeln. Mit dem Mandat ist es etwas schwieriger. Der Patient erteilt dem Arzt das Mandat, in einem bestimmten, begrenzten Ausschnitt für ihn zu handeln (also seine Bauchschmerzen zu behandeln). Wer aber erteilt dem Sozialarbeiter sein Mandat. Kommt der suchtkranke Mensch tatsächlich in die Beratungsstelle und erteil dem Sozialarbeiter das Mandat in einem begrenzeten Bereich für ihn tätig zu werden? Während der Therapiewelle in der Sozialen Arbeit6 hat man so gedacht. Man hat nur diejenigen behandelt, die aufgrund ihres Leidesdruckes den Professionellen ein Mandat gegeben haben. Die anderen hatten noch nicht genügend Leidesdruck. Die Praxis der letzten dreißig Jahre hat uns jedoch gezeigt, dass der motivierte suchtkranke Patient eher der Ausnahmefall ist. In der heutigen Sozialarbeit werden häufig die Begriffe Dienstleitung und Kunde verwendet. Wenn wir uns fragen, wer ist der Kunde der Sozialarbeit eigentlich, müssen wir auch die Frage danach stellen, wer die Leistungen des Sozialarbeiters bezahlt. So können wir bald feststellen, dass in den meisten Fällen die 5 6 Zur Sozialtherapie: siehe weiter unten Die Zeit zwischen etwa 1974 und 1989 wird als „Psychoboom“ in der Sozialarbeit bezeichnet. 5 Leistungen nicht vom Klienten selbst bezahlt werden, so wie es der Patient in der Arztpraxis über seine Krankenversicherung tut, sonder es gibt in der Regel zunächst staatlich geförderte Programme, die meistens gesetzlich abgesichert sind (SGB mit BSHG und KJHG usw.). In diesen Fällen würde dann also der Staat als Kunde gelten, der dem Sozialarbeiter ein Mandat erteilt, denn er bezahlt ja die Leistungen. Tatsächlich kann man genau dieses Mandantenverhältnis in der Praxis der Suchtkrankenhilfe gut nachvollziehen. Der gesamte niederschwellige Bereich wird als nachgehende Arbeit bezeichnet. Sozialarbeiter als Streetworker oder in den Beratungsstellen haben den Auftrag Kontakt zu suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen herzustellen. Die besondere professionelle Kompetenz der Sozialarbeiter besteht nun darin, dieses gesellschaftliche Mandat in ein persönliches Mandat durch den klienten zu wandeln. Dies nannte man in der Vergangenheit „Motivationsarbeit“. Wenn dies glückt ändert sich auch die Finanzierungsgrundlage von den Sozialhilfeträgern zu den Renten- oder Krankenversicherern. In den Beratungsstellen findet man also ein gesellschaftliches Mandat im Bereich der gesamten niederschwelligen und nachgehenden Arbeit sowie in der allgemeinen Beratungsarbeit bis zur Therapievermittlung. Das persönliche Mandat hat die Sozialarbeiterin dann wenn es ihr gelungen ist ihren Klienten in das Programm „ambulante Reha“ überzuleiten und eine konkrete Einzelfallfinanzierung zu erreichen. Natürlich versucht auch der Streetworker auf der „Platte“ bereits ein persönliches Mandat zu erringen, was auch in vielen Fällen gelingt. Die besondere professionelle Kompetenz der Sozialarbeiter liegt folglich in ihrer Fähigkeit, Klienten dazu zu bewegen sich auf eine persönliche Beziehung zu ihnen einzulassen, obwohl zunächst nur ein gesellschaftliches Mandat bestand. So wirkt auch hier Konsensbeschaffung und Therapieleistung zusammen, indem Sozialarbeiter im Sinne des gesellschaftlichen Normenkonsens gleichsam um einen Therapieauftrag durch ihre Klientel werben. Ein eindeutiges persönliches Mandat ist erst gegeben, wenn sich der klient in eine ambulante Psychotherapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten begeben würde. In der Suchthilfe schwingt überall noch das gesellschaftliche Mandat mit, folglich ist Suchthilfe grundsätzlich Konsensbeschaffung und Therapieleistung gleichzeitig. 6