Einführung in die Methoden der Sozialarbeit - Dr. A. Knoll - SoSe 2012 GANZHEITLICHE SOZIALARBEIT Wenn man die Geschichte der Sozialarbeit verfolgt, stellt man unweigerlich fest, daß überall dort, wo versucht wurde Theorie- und Methodenentwicklung zur Sozialen Arbeit zu betreiben, implizit oder explizit ganzheitliche Gedanken eingeführt wurden. Dies läßt sich bis an den Anfang unseres Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Sozialarbeit ist jedoch nie als Miturheberin solch fundamentaler Erkenntnisse gesehen worden, die heute im Zuge der ökologischen Krise zunehmend an Bedeutung gewinnen. Auf der Suche nach einem eigenständigen Methodenkonzept für die Soziale Arbeit Zusammenfassend ist die Entwicklung der Sozialarbeit durch folgende verschiedenen Phasen gekennzeichnet: Die Phase der "klassischen Fürsorge"(1) wurde in Deutschland hauptsächlich von Alice Salomon geprägt und gelangte in den zwanziger Jahren zu einem Höhepunkt. Es handelte sich dabei um eine pragmatische, sozialpolitisch engagierte "Armenfürsorge", die nahezu ausschließlich von Frauen ausgeübt wurde. Teile dieser Frauen, insbesondere Alice Salomon, erkannten den sozialpolitischen Kontext und strebten nach einer eigenen Wissenschaftlichkeit. In der nationalsozialistischen Zeit wurden diese Ansätze zerschlagen und die Wohlfahrtspflege wurde weitestgehend gleichgeschaltet. Die Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre kann man als die Phase der "klassischen, amerikanischen Methoden" bezeichnen. Diese Phase ist durch Handlungsprinzipien gekennzeichnet, die im Schnittpunkt der amerikanischen Wert- und Gesellschaftsvorstellungen lagen, wie Menschenrechte, liberal-demokratisches Gesellschaftsbild und jüdisch-christliches Erbe. Die Zeit zwischen 1968 und 1975 nennen wir gemeinhin die "Phase der Methodenkritik". Sozialwissenschaftler nehmen das Feld sozialer Arbeit in den kritischen Blick und bescheinigen ihr weitestgehende Unwissenschaftlichkeit. Die Methodenentwicklung wurde allgemein abgelehnt, weil Methoden den "Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit" verschleiern (Hollstein, a.a.O.). Der wesentliche Fortschritt aus der kritischen Phase bestand darin, daß sie den teilweise unkritischen Optimismus und Fortschrittsglauben aus den fünfziger Jahren überwinden half und endlich wieder das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und Gesellschaft thematisierte. In der darauf folgenden Phase des "Psychobooms" eigneten sich Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen vielfältige Methoden aus der Psychotherapie an. Die Methoden, die Sozialarbeiter von anderen Disziplinen empfingen, wurden häufig eklektizistisch aneinandergereiht und kaum in ein sozialarbeiterisches Gesamtkonzept integriert. Einhergehend mit dem Zeitgeist entdeckten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mehr und mehr die eigene Person, Selbsterfahrung und Eigentherapie gewannen an Bedeutung. Unglücklicherweise lösten die verschiedenen Phasen einander dergestalt ab, daß man von den jeweilig neuen theoretischen Ansätzen und deren Richtigkeit dermaßen überzeugt war, daß man allzu oft alles was vorausgegangen war, als falsch ansah. So wird man heute kaum einem in klientenzentrierter Gesprächsführung ausgebildeten Kollegen vermitteln können, daß das Casework eine große Errungenschaft war und der Sozialarbeit einen wesentlichen Impuls zur Entwicklung eines eigenen Berufsbild gab. Eines bleibt allerdings während aller Phasen der sozialarbeiterischen Entwicklungsgeschichte mehr oder weniger zentraler Bestandteil der Überlegungen und Werthaltungen. Es ist der seit den Anfängen der Sozialarbeit immer wieder formulierte Anspruch auf Ganzheitlichkeit; auf Betrachtung des ganzen Menschen in der Gesellschaft. 1 Geisel / Leschmann, a.a.O. - S. 1 Während der Phase der Methodenkritik stieß man hier auf Probleme, da die Versuche Soziale Arbeit zu verwissenschaftlichen, zunächst häufig zu monokausalen Erklärungsmustern führte. Die Praxis bewies jedoch nicht selten die Begrenztheit von monokausalen Ansätzen. Und so kommen wir gerade heute dahin, daß wieder von Vielen ein ganzheitlich-ökologisches Paradigma im Sinne von Capra(2) gefordert wird. Damit schließt sich nun der Kreis zu den Anfängen der Sozialarbeit, die ein ganzheitliches Menschenbild als grundlegende Werthaltung verstanden wissen will. Bei der oben beschriebenen historischen Entwicklung bin ich nicht auf die objektiven Ursachen, also die sozial- und gesellschaftspolitische Entwicklungen in den siebziger Jahren eingegangen. Im Laufe der siebziger Jahre haben sich gravierende Veränderungen vollzogen, die die Handlungsspielräume Sozialer Arbeit deutlich beschnitten haben und ihren Ausdruck in einer verstärkten Normierung und Institutionalisierung auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens fanden. Auf diese gesellschaftspolitischen Fragestellungen gehe ich an dieser Stelle deshalb nicht ein, weil die Diskussionen und Analysen hierzu ausführlich und umfangreich sind. Das Anliegen dieser Arbeit zielt in erster Linie auf Handlungskonzepte und Veränderungsstrategien. Ganzheitliche Ansätze in der Sozialarbeit Obwohl Ganzheitlichkeit als Anspruch von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern immer wieder, schon seit Alice Salomons Zeiten gefordert wurde, hat die Entwicklung eines diesbezüglichen wissenschaftlichen Ansatzes bis in jüngster Zeit auf sich warten lassen. Ein Hauptgrund dafür mag darin liegen, daß der Begriff der "Ganzheitlichkeit" mit dem klassischen Wissenschaftlichen Paradigma schlecht zu greifen ist, und daß die Sozialarbeiter ihrerseits in den siebziger Jahren sehr um Wissenschaftlichkeit bemüht waren. Erst die Systemperspektiven aus der Soziologie und in deren Gefolge die systemische Familientherapie als Handlungsmethode haben der Sozialen Arbeit einen Weg zu einem wissenschaftlichen Ganzheitsbegriff gewiesen. Ganzheitlichkeit war bis dahin von den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen häufig als etwas idealistisch, schwärmerisch und metaphysisches belächelt worden. Darüber hinaus wurde die Idee der Ganzheit verfemt, weil sie häufig mit dem Denken aus dem Nationalsozialismus assoziiert wurde (z. B. das Volksganze geht vor das Einzelschicksal). Mit dem ökologischen Denken bekam der Ganzheitsgedanke wieder einen aktuellen Stellenwert. Das führte dazu, daß zu Beginn der achtziger Jahre die ersten ganzheitlich-ökologischen Konzepte für die Sozialarbeit entworfen wurden. Germain und Gittermann führen mit ihrem "Live-Modell" in einen ökologischen Ansatz praktischer Sozialarbeit ein.(3) Sie entwerfen damit ein integriertes Konzept, das die ökologische Beziehung zwischen Mensch und Umwelt in den Blick nimmt. Umwelt meint in diesem Modell hauptsächlich die sozialen und materiellen Bedingungen, die Menschen vorfinden oder in die sie hineingeraten. Aus dieser Sicht bilden Mensch und Umwelt ein System; Störungen können von beiden Seiten kommen. Von der deutschsprachigen Sozialarbeit wird anerkannt, daß Germain und Gittermann ein brauchbares Methodenkonzept liefern, das der Sozialen Arbeit auf der Mikro-Ebene eine hilfreiche Handlungspraxis geben kann. Hier wird erstmals der ursprüngliche Anspruch der Sozialarbeit, nämlich lebensumweltorientiert zu arbeiten, in einem anspruchsvollen Gesamtrahmen dargestellt. Es gelingt den Autoren auch, ein integratives Konzept von Techniken zu entwickeln, in dem sie beispielsweise Verbalisierung von Gefühlen, Psychodrama, Genogramm, Ökoplan, Soziometrie und Verhandlungstechniken in einen praktischen Bezug stellen. (2) (3) Capra, Friedjof - Wendezeit, München, 1988 Germain, C. B. / Gittermann, A. - Praktische Sozialarbeit - Das "Live-Modell" an der Sozialen Arbeit, Stuttgart, 1983 Einführung in die Methoden der Sozialarbeit - Dr. A. Knoll - SoSe 2012 Die zentrale Kritik an Germain und Gitterman zielt wiederum auf die gleichen Schwächen, die auch frühere amerikanische Konzepte aufwiesen. Es handelt sich wieder um einen rein funktionalistischen Ansatz, der die gesellschaftliche Machtverteilung kaum hinterfragt. Es wird nicht gesehen, daß die "Starrheit" der Institutionen auch auf einen Konflikt zurückzuführen ist, der davon bestimmt wird, daß bestimmte gesellschaftliche Gruppen von sozialen Problemen profitieren, unter denen andere Gruppen und Individuen leiden. Einen der profiliertesten Ansätze systemisch-ganzheitlicher Sozialarbeit im deutschsprachigen Raum liefert Silvia Staub-Bernasconi, die resümiert: "dass ich in der Sozialen Arbeit durchaus ein Potential sehe, die gesellschaftlich wie akademisch vorgeschriebene, ja erzwungene Atomisierung des Wissens und Könnens exemplarisch zu überwinden. Ihre Praktiker wie AusbilderInnen müßten sich zur Vorstellung durchringen, daß die sogenannte Komplexität und Diffusität ihres Gegenstandes als auch die fast unübersehbare Aufgabenfülle keine Schwäche und Verlegenheit, sondern eine Stärke der Sozialen Arbeit ist. Sie könnte zur Herausforderung werden, das, wovon heute viele reden, nämlich die Notwendigkeit, interdisziplinären, systemischen Denkens und konzertierten Arbeitens, nicht nur für ökologische, sondern auch für soziale Problematiken (...) ernsthaft auszuprobieren."(4) Strukturierung und Differenzierung des ganzheitlichen Ansatzes Für die folgenden Überlegungen erscheint es mir an dieser Stelle wichtig zu werden, einige Begriffe zu klären. Die Unklarheit der Begriffe hat in den klassischen oder amerikanischen Methoden zu viel Verwirrung geführt, so daß man heute dahin gekommen ist, die "Methoden", Einzelhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit nur noch als "Arbeitsformen" zu verstehen.(5) Für das Konzept von "Integrativer Sozialarbeit" möchte ich eine Systematik vorschlagen, die die formalen Begriffsbestimmungen von Geißler und Hege aufgreift. Zunächst einmal ist es jedoch nötig eine Abgrenzung von zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Methodenbegriffen zu schaffen. Erkenntnisleitende Methoden sind wissenschaftliche Forschungsmethoden. Handlungsleitende Methoden sind die Anwendung von Wissenschaft in der Praxis. EXKURS: Methodentheoretische Erörterung Laut Brockhaus kommt der Begriff "Methode" aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie, "ein nach Sache und Ziel planmäßiges (methodisches) Verfahren". Unter Methode verstehen wir "die Kunstfertigkeit einer Technik zur Lösung prakt. und theoret. Aufgaben (...), speziell das Charakteristikum wissenschaftlichen Vorgehens." Entsprechend geht die Methodenlehre (Methodologie) als Teil der Logik jeder Wissenschaft voraus; sie bildet das Kernstück der modernen Wissenschaftstheorie. Darüber hinaus haben die Einzelwissenschaften ihre eigentümlichen Methoden entwickelt, insbesondere solche der Forschung und solche der Darstellung (Lehre). Die Hauptstücke der klassischen und moderne Methodologie bilden die Lehre von der Definition und vom Beweis, allgemein: die Lehre von der Begriffsbildung und von den Begründungsverfahren."(6) Erkenntnis- und handlungsleitende Methoden Eine grobe Unterteilung der Methoden ist nach ihren Aufgaben möglich. Methoden können zur Lösung praktischer und theoretischer Aufgaben dienen. Praktische Aufgaben werden mit Hilfe handlungsleitender Methoden gelöst. Wissenschaftlich sind handlungsleitende Methoden dann, wenn sie die Erkenntnisse der Forschung in der Praxis umsetzen. Die systematische Reflexion dieser Praxis wird dann wieder Erkenntniswissenschaft, wenn dadurch Theorien generiert werden. (4) (5) (6) Staub-Bernasconi, a.a.O. S. 58/59 Brack, Ruth in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge - S. 577 Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt, 1986 vergl. Brockhaus, 1971 - S. 479 3 Theoretische Aufgaben werden durch erkenntnisleitende Methoden gelöst. Handlungsleitende Methoden in der Sozialarbeit sind im Gegensatz zu erkenntnisleitenden Methoden in den klassischen Naturwissenschaften direkt mit dem Anwender (Sozialarbeiter, Therapeut) verbunden. Eine klare Trennung von handlungsleitenden- und erkenntnisleitenden Methoden ist somit nicht möglich, man kann jedoch von einem fließenden Übergang sprechen. Kennzeichnend für erkenntnisleitende Methoden sind dabei: - Objektivität - Reproduzierbarkeit - Falsifizierbarkeit - Zuverlässigkeit - - - - Glaubwürdigkeit Allgemeingültigkeit - Eindeutigkeit - Exaktheit - - - - - Demgegenüber sind für handlungsleitende Methoden zusätzlich kennzeichnend: - Einfühlungsvermögen - - Begriffsunsicherheit - verborgene Variablen - - Irrelevanz von Experimenten - Unbeweisbarkeit von Theorien - - Kultureller Relativismus - Arbeitsfeldbezogenheit Verbindung zwischen Beobachter und Untersuchungsgegenstand - Einsatz der eigenen Person - (7) Allerdings führt die Entwicklung in den neueren Naturwissenschaften nun auch zunehmend dazu, daß die Kennzeichen der handlungsleitenden Methoden für die Erkenntniswissenschaften wachsend an Bedeutung gewinnen, wie z.B. die Quantentheorie oder die Theorien zur Berechnung komplexer Systeme (Chaosforschung) so eindrucksvoll belegen. Erkenntnisleitende und praktische Methoden können sich durchdringen, reine Wissenschaftlichkeit ohne Verzerrungen durch die unterschiedlichsten Praxiseinflüsse ist jedoch nur möglich bei stringenter Einhaltung der wissenschaftlichen Methodik, wie es unter Laborbedingungen vorstellbar ist. Hielte sich jedoch Praxis streng an die erkenntniswissenschaftliche Methodologie, müßte sie ihre Klientel an die Methode anpassen, also vom Alltag entfremden. Von daher sind handlungsleitende Methoden von Alltäglichkeit und Zeitgeist geprägt und auch stetigen Veränderungen bzw. Fortentwicklungen unterworfen. Am Beispiel der Gruppendynamik läßt sich das gut verdeutlichen: Gruppendynamik ist: 1. Das Teilgebiet der erkenntniskritischen, empirischen Sozialforschung, das das Wissen über die soziale Einheit der Gruppe, ihre Entwicklung, ihre Beziehung zu anderen Gruppen, Organisationen und dem sozialen Umfeld umfaßt. 2. Angewandte Gruppendynamik ist die spezifische Praxis absichtsvollen, durch Theorie und Forschung abgesicherten Handelns, in und mit Gruppen, die durch Verbesserung der Selbstund Fremdwahrnehmung die soziale Kompetenz erhöhen, das Verständnis für psychosoziale Phänomene vertiefen und angemessene Verhaltensweisen festigen will(8). Wenn ich im weiteren den Begriff Methode verwende, meine ich damit Handlungsmethoden im Sinne des Beispiels der "angewandten Gruppendynamik". Geißler und Hege haben sich in ihrer Systematik für eine formale Begriffsbestimmung von "Konzept Methode - Verfahren" entschieden, um eine "integrative Betrachtung von Zielen, Inhalten und Methoden herzustellen"(9). Konzept wird als Handlungsmodell verstanden, in welchem Ziele, Inhalte, Methoden und Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden. Das Konzept, welches ich im Folgenden darstelle, entwickelte ich aus den anthropologischen Konzepten der Ganzheit des Menschen, von der Begegnung zwischen Menschen und dem Eingebundensein in den Lebensraum. Ausgangspunkt ist folgende anthropologische Grundformel: (7) (8) (9) vergl. Ziman, John Wie zuverlässig ist wissenschaftliche Erkenntnis?, S. 130 ff Nellessen, Lothar in: Deutscher Verein, a.a.O. - S. 379 Geißler, Karlheinz a. / Hege, Marianne - Konzepte sozialpädagogischen Handeln, Weinheim u. Basel, 1988 - S. 22 Einführung in die Methoden der Sozialarbeit - Dr. A. Knoll - SoSe 2012 "Der Mensch ist ein Leib-Seele-Geist-Subjekt, in seinem sozialen und ökologischen Umfeld, mit dem er in einem unlösbaren Verbund steht. In Interaktion mit diesem Umfeld gewinnt es seine Identität"(10). "Methoden sind - formal betrachtet - (konstitutive) Teilaspekte von Konzepten. Die Methode ist ein vorausgedachter Plan der Vorgehensweise"(11). Aus dem Konzept der Ganzheitlichkeit leite ich die Gestalt-Methode als zentralen Bestandteil eines integrativen Methodenansatzes ab. Verfahren sind Einzelelemente von Methoden. Man kann hier auch von Techniken sprechen. In einem ganzheitlich-integrativen Ansatz können Techniken nicht unabhängig vom Konzept angewandt werden. Während der Phase des Psychobooms geschah dies leider häufig dergestalt, daß Techniken aus der Gestalttherapie eingesetzt wurden, ohne daß vorher eine ernsthafte und fundierte inhaltliche Analyse auf der Grundlage der Konzepte erfolgt war. Hierbei kommt es dann wieder sehr schnell zu Sozial- oder Psychotechnologien, die den Menschen zum Objekt der jeweiligen Technologie machen und ihn dadurch entfremden. Techniken aus Gestalttherapie und anderen psychotherapeutischen Verfahren, müssen sich im Rahmen der Sozialarbeit an deren komplexen Problemfeldern orientieren und somit häufig in dem Sinne modifiziert werden, daß eine einseitig psychotherapeutische Perspektive zu Gunsten einer psychosozialen Gesamtschau überwunden wird. Das Konzept der Ganzheitlichkeit Im Zuge der Ökologiebewegung ist das Konzept der Ganzheitlichkeit wieder zu neuem Ansehen gekommen. Lange Zeit war der Ganzheitsbegriff aus dem wissenschaftlichen Denken ausgeschlossen und sogar verfemt. Im gleichen Maße wie die Sozialarbeit als unwissenschaftlich betrachtet wurde, war die Idee von der Ganzheitlichkeit aus dem wissenschaftlichen Denken ausgeschlossen. Dies war so lange der Fall, wie der Positivismus in der Wissenschaftstheorie unangefochten blieb. Heute nennen sich Strömungen ganzheitlich, die im weitesten Sinne mit der Ökologiebewegung zusammenhängen. Diese Strömungen finden wir in der Heilkunde, in Medizin oder Psychotherapie, in der Philosophie und in Weltanschauungen, die sich selbst als Kritik an den bestehenden akademischen Disziplinen verstehen. Gemeinsam ist allen ganzheitlichen Ansätzen das Bestreben, die zerbrochenen Zusammenhänge von Natur und Gesellschaft, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft wieder herzustellen. Eine ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit geht von der Erkenntnis aus, daß alle Phänomene, seien sie physikalischer-, biologischer-, psychischer-, kultureller- oder gesellschaftlicher Art, miteinander verbunden sind und aufeinander einwirken. In der heutigen Psychotherapie und Medizin wird die Wechselwirkung von Körper und Geist zunehmend mit einbezogen. Die Gestalttherapie geht noch darüber hinaus, indem ihr Ganzheitsbegriff die soziale Verbundenheit sieht. Die Gefahren des Ganzheitsbegriffs sind dort zu sehen, wo er allzuleicht von metaphysischen, ideologischen und pseudowissenschaftlichen Disziplinen besetzt werden kann. Dies geschah einst durch die Nationalsozialisten und ist heute auch wieder bei verschiedenen Abkömmlingen der "NewAge-Bewegung" zu erkennen. Der profilierteste Vertreter dieser Bewegung, Friedjof Capra, legt uns allerdings einen ernstzunehmenden Ansatz vor, in dem er die Welt als komplexes Gewebe beschreibt. Er beschreibt ein Netzwerk, in dem alle biologischen, psychischen, gesellschaftlichen und ökologischen Phänomene voneinander abhängen. Er verbindet die Quantentheorie der neuen Physik mit östlicher Mystik, die psychosomatische Medizin mit Wachstums-, Wirtschafts- und Ökologiekrisen unserer heutigen (10) (11) Petzold, Hilarion G. / Sieper, Johanna Quellen und Konzepte integrativer Agogik in: Petzold / Brown - Gestaltpädagogik, München, 1977 - S. 25 Geißler / Hege, a.a.O. - S. 25 5 Zivilisation und leitet daraus die Forderung nach einem neuen wissenschaftlichen Paradigma ab, in der Hoffnung mit dem "Paradigmawechsel" die ökologische Weltkrise zu überwinden.(12) Capra seinerseits wurde in seinem Denken entscheidend von Gregory Bateson, dem Schöpfer des "Double-Bind"-Begriffes geprägt. Das Denken von Bateson reicht weit über seinen psychiatrischpsychotherapeutischen Bereich hinaus: "Er darf als Mitbegründer und -entwickler der ökologischen oder besser: ökosystemischen Sicht der Lebensprozesse gelten. Heute ist es schon fast ein Gemeinplatz zu sagen: das Überleben der Menschheit wird davon abhängen, ob, wieweit und wann sie sich solche Sicht zu eigen macht. (...) Das schließt für Bateson auch die Korrektur jener beiden Verstehensansätze ein, die das geistige Klima unserer heutigen Welt überwiegend zu bestimmen scheinen - des psychoanalytischen und des marxistischen Ansatzes."(13) In der Praxis der Sozialen Arbeit hat sich seit Mitte der siebziger Jahre mehr und mehr ein familientherapeutischer Ansatz etabliert. Dieser Ansatz überwindet das klassische medizinische Krankheitsmodell und überschreitet in Diagnostik und Therapie die Grenzen des Einzelindividuums. Stattdessen steht die Familie als Ganzheit, bzw. System in der Klientenrolle, während der Einzelne lediglich als Symptomträger gesehen wird(14). Louis Lowy hat erkannt, daß systemtheoretische Ansätze in der Sozialen Arbeit bereits seit den fünfziger Jahren bekannt waren. "Seither fand die Systemtheorie (Theorie sozialer Systeme) eine fast universelle Anerkennung als bedeutende basis-theoretische Formulierung von SA/SP. Sie ermöglicht die Erfassung von >Problem Person und Situation< als Gestalt des sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Geschehens und gestattet, Zusammenhänge von Struktur und Prozeß wie auch von deren Veränderung zu erkennen und zu konzipieren."(15) (12) (13) (14) (15) Capra, a.a.O. - S. 15 - 48 Stierlin, Helm in: Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - S. 7, Frankfurt, 1988 vergl. Wnuk-Gnete, Gisal /Wnuk, Werner - Fortbildung in Familientherapie in: Neue Praxis, Sonderheft 1978, Sozialarbeit und Therapie und: Ridder, Paul - Liebe als Steuerungssprache Ein Beitrag zur familientherapeutischen Umorientierung - Neue Praxis, a.a.O. Lowy, Louis Sozialarbeit / Sozialpädagogik als Wissenschaft im angloamerikanischen und deutschsprachigen Raum - S. 99 f, Freiburg, 1983