Melbourne 12.7.2014 Ungleichheiten im Gesundheitsbereich und Benachteiligungen für Individuen und Gemeinschaften (Addressing health inequalities and disadvantage for individuals and communities) Gesundheit ist ein universelles Menschenrecht. Artikel 25 (1) der Menschenrechtsdeklaration lautet: “Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität,...“ (www.un.org) Die Gesundheit des Menschen ist laut Weltgesundheitsorganisation WHO „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ („Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“)1 Für die Praxis der Sozialarbeit kann diese Definition, die eine Utopie beschreibt, als Wegweiser, Ziel oder Orientierung dienen. Sie kann nicht den Anspruch der Erreichbarkeit stellen und sollte durch weitere Beschreibungen, die einen Kontext zu Handlungsfeldern der Sozialarbeit berücksichtigen, ergänzt werden. Talcott Parsons beschreibt Gesundheit als den „Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eine Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben für die es sozialisiert worden ist.“ Die Pflegewissenschaftlerin Monika Krohwinkel sieht Gesundheit und Krankheit als dynamische Prozesse, deren Fähigkeiten und Defizite genutzt werden sollten. Reinhard Lay formuliert: „Gesundheit bedeutet eine zufriedenstellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens.“2 Eine weitere Definition für Gesundheit bietet der Sozial- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann: „Gesundheit ist der Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet.“3 1 Verfassung der WHO Reinhard Lay: Ethik in der Pflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft, zweite Aufl., Hannover 2012 3 Klaus Hurrelmann: Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Bern, 2010; Huber; 2 Gerade die Definition von Hurrelmann weist auf mehrere Aspekte hin, die für Sozialarbeit relevant sind und sie wirft auch Fragen auf, wenn die Gültigkeit seiner Aussagen in einen Zusammenhang mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen in unterschiedlichen globalen Regionen gestellt wird. Diese Fragen entstehen, wenn der scheinbar neutrale Terminus von den „jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen“ in Bezug zu den realen Lebensverhältnissen von Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften und unterschiedlichen Regionen gebracht wird. Lebensbedingungen werden von Ideologie und Religion, von Reichtum und Armut, vom Zugang zu Ressourcen, von historisch und kulturell unterschiedlich geprägten Gesellschaftssystemen, vom Verhältnis der Geschlechter, vom Umgang mit Minderheiten, von Exklusion und Inklusion, von Alter, sexueller Orientierung, einem durch Gewalt oder Krieg bestimmten Umfeld und vielen weiteren Faktoren beeinflusst. Gesehen werden sollte auch, dass der Einfluss des europäischen und nordamerikanischen Lebensmodells zu einer starken Betonung des Individuums führt. Dies hat nicht die gleiche Gültigkeit in anderen globalen Regionen, in denen der Wert der Gemeinschaft, der Familie, der lokalen Gesellschaft anders eingestuft wird. Gesundheit ist daher keine statische Beschreibung. Sie ist veränderbar – aus medizinischer Sicht durch Heilkunst und präventiven Maßnahmen, in der Sozialarbeit durch Interventionen auf den Ebenen der – auch präventiven – Arbeit mit Individuen, mit Gruppen und im gesellschaftlichen Kontext. Sozialarbeit – als Menschenrechtsprofession – kann diese verschiedenen Definitionen daher auch als Liste grundlegender Risikofaktoren lesen oder als Beschreibung von Aufgaben. Frühe Wegbereiterinnen der Sozialarbeit erkannten die gegenseitigen Auswirkungen von persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren der Gesundheitsgefährdung und entwickelten adäquate Hilfeansätze. Ich möchte dazu zwei herausragende historische Persönlichkeiten, Jane Addams und Mary Richmond nennen. Jane Addams richtete in der Einzelfallhilfe (case work) den Fokus auf das Zusammenspiel von fallspezifischen Ursachen und Auswirkungen sozialer Probleme. In ihrem Bemühen, dem Individuum die effizienteste Hilfe zukommen zu lassen entwickelte sie aber auch kreative Lösungen, die in der Bekämpfung von Problemursachen über den Einzelfall hinausgingen und zu Aktivitäten auf der Ebene des Gemeinwesens führten. Bekannt dafür ist folgende Geschichte: In ihrer Krankenstation in Chicago gab es einen massiven Anstieg von hygienebedingten Erkrankungen, die Sterblichkeitsrate war eine der höchsten in der Stadt. Es war ihr klar, dass eine Veränderung nur möglich sein konnte, wenn Sauberkeit und Hygiene in den Lebensräumen ihrer Klientel verbessert wurden. Es gelang ihr, von der Stadtverwaltung als "Müll-Inspektorin" ernannt zu werden. Sie mobilisierte in der Nachbarschaft eine Gruppe von Frauen, denen sie den Zusammenhang von Dreck und Krankheitsrisiko verdeutlichte und die mit ihr den Müllwägen bis zu den Deponien folgten und dafür sorgten, dass tatsächlich der gesamte Abfall aus den Straßen und Mülltonnen aufgesammelt wurde. Innerhalb weniger Jahre sank die Sterblichkeitsrate in ihrem Distrikt auf eine der niedrigsten in der Stadt. Mary Richmond, von Addams als Leitfigur der "Radikalen" tituliert, wäre wohl kaum den Müllwägen gefolgt. Ihre Arbeiten zur Weiterentwicklung der Einzelfallhilfe erweiterten die Perspektive und konzentrierten sich auf das Wechselspiel in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Daraus entwickelte sie als Lösungsansatz die Forderung nach strukturellen Reformen des Wohlfahrtssystems und der staatlichen Institutionen.4 Diese unterschiedlichen Ansätze prägen auch heute noch die Bandbreite der Sozialarbeit, wenngleich sie viel weniger als Widerspruch gesehen werden. Letztlich stimmten auch Jane Addams und Mary Richmond darin überein, dass Gesellschaft und Individuum sich in konstanter Interaktion befinden. Für die Sozialarbeit als Ganzes, nicht nur für die Ausbildung, besteht auch heute noch die Herausforderung, diese Dualität wahrzunehmen und in das Denken und Handeln zu integrieren. Auf beiden Seiten, in der Betrachtung des Individuums und dem Verständnis gesellschaftlicher Rahmenbedingungen kam es seit Richmond und Addams und den Anfängen der professionellen Sozialarbeit zu vielfältigen und maßgeblichen Weiterentwicklungen, die das Methodenspektrum der Sozialarbeit veränderten. Neue Theorien zur Persönlichkeitsentwicklung hatten prägenden Einfluss in der Einzelfallhilfe ebenso wie politische Ereignisse und Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts zu einem neuen Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung und sozialer Verpflichtung geführt hatten. Ein Vergleich der Sozialgesetze zwischen dem Beginn des 20. Jahrhunderts und heute in den westlichen Industrienationen macht die enormen Veränderungen deutlich. Der geschichtliche Rückblick macht vor allem eines sehr deutlich: Der Beruf Sozialarbeit entstand vor mehr als 100 Jahren in enger Beziehung zu gesundheitlichen Herausforderungen und in Ergänzung zu medizinischen Aufgaben. Die Folgen des ersten Weltkriegs waren in Europa nicht nur millionenfacher Tod, verheerende Zerstörungen und ein Zerfall der politischen Ordnung. Armut, Hunger, Mangelerscheinungen und Tuberkulose prägten den Alltag vieler Menschen. Die Notwendigkeit der Versorgung verwaister Kinder führte in Ländern wie Deutschland und Österreich zur Entstehung erster staatlicher Verwaltungseinheiten im Sozialbereich, verbunden mit der dafür erforderlichen Gesetzgebung. Erste Formen der Ausbildungen waren strukturell in die Ausbildung medizinischer Berufe eingebettet. Die Entwicklung zu einem eigenständigen Profil des Berufs Sozialarbeiter bis zur Gegenwart geschah auch durch eine zunehmende Abgrenzung zu medizinischen Berufen, nicht aber zu Tätigkeiten, die im Kontext der Gesundheitsförderung auch weiter einen wichtigen Schwerpunkt bildeten. Ein Beispiel dafür ist die Betreuung von HIV infizierten und an Aids erkrankten Menschen. Zusätzlich zu medizinischer Versorgung sind Sozialarbeiter tätig, wenn es um die Probleme im beruflichen oder familiären Umfeld geht. Sozialarbeiter sind involviert in Aufklärungsaktionen und Präventionskampagnen. Ebenso unterstützen Sozialarbeiter bei der Sicherstellung der materiellen Hilfen und klären mögliche Ansprüche auf Versorgungsleistungen. Im Bereich der palliativen Medizin (Palliative Care) gilt der Grundsatz: „High person – low technology“. Das Menschliche tritt in den Vordergrund, das medizinisch mit viel technischem Aufwand Machbare in den Hintergrund. Die Betreuung der Patienten wird von einem multiprofessionellen Team geleistet, das auch Sozialarbeit als gleichwertigen und eigenständigen Ansatz beinhaltet. Sozialarbeiter übernehmen umfangreiche Beratungstätigkeiten auch für Angehörige und bieten ihre Hilfe dem ganzen familialen System. Kranksein bedeutet nicht nur eine Beeinträchtigung des persönlichen Wohlbefindens und der individuellen Leistungsfähigkeit, sondern auch den Verlust der sozialen Rolle, 4 Katherine A. Kendall, "Social Work Education - Its Origins in Europe" , Alexandria, VA 2000 und darüber hinaus vor allem eine existentielle Bedrohung infolge Einkommensminderung oder gar Einkommensverlust. Eine schwere Erkrankung oder Verletzung, chronische Erkrankungen sowie dauerhafte Spätfolgen verursachen soziale Probleme für Erkrankte und Verletzte, aber auch für Angehörige. Fast immer sind zweierlei Bürokratien zuständig, fast immer stehen in Not Geratene zwischen Gesundheits- und Sozialbürokratie. In ihrer Durchsetzungskraft beeinträchtigte Menschen, vor allem also Alte und Behinderte, können ihre Ansprüche nur schwer geltend machen und benötigen daher angemessene Unterstützung. Sozialarbeit im Gesundheitsbereich ist aber auch einem starken Veränderungsdruck unterworfen. Stand noch vor wenigen Jahren die umfassende psychosoziale und persönliche Betreuung der Patienten im Vordergrund, muss die Sozialarbeit heute helfen, möglichst frühzeitig Patienten aus Akutkrankenhäusern in die weiterführende Versorgung zu vermitteln. Hintergrund dieser Veränderung sind betriebswirtschaftliche benchmarks. Die Folge für die Sozialarbeit ist die Konzentration auf Tätigkeiten, die als „Entlassungsmanagement“ bzw. „Schnittstellenmanagement“ bezeichnet werden und deren Ziel einerseits die rasche Überstellung in weniger kostenintensive Betreuung ist, andererseits die Aktivierung sozialer Dienstleistungen außerhalb der staatlichen Budgets für Gesundheit. Dies muss nicht zwangsläufig zu einer Verschlechterung der Hilfen führen, sicher ist jedoch auch, dass administrative Arbeiten zu Lasten der persönlichen Beziehungsarbeit zwischen Patient und Sozialarbeiter führen. Als Praktiker der Sozialarbeit kann ich Ihnen keine eigenen wissenschaftlichen Forschungsprojekte oder Untersuchungen anbieten. Ich kann aber Beobachtungen und Einschätzungen mit Ihnen teilen, die ich mir in den vergangenen 38 Jahren meiner beruflichen Tätigkeit erworben habe. Spannend waren und sind dabei für mich auch die Unterschiede, denn nach vielen Jahren als Sozialarbeiter in Österreich, einem der reichsten Länder mit einem Gesundheitssystem, dessen Leistungen auf hohem Niveau jedem Bürger zur Verfügung stehen und einem Netzwerk an Sozialleistungen, das existenzsichernd funktioniert habe ich die letzten 10 Jahren überwiegend in Rumänien und Bulgarien, den beiden ärmsten Ländern in der Europäischen Union gearbeitet. Der Unterschied liegt nicht nur bei den Durchschnittseinkommen zwischen diesen Ländern. Auch wenn sich in Österreich seit der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre die Bedrohung durch Armut für einen größeren Teil der Bevölkerung verschärft hat und die globale Entwicklung voranschreitet, dass Reiche reicher und Arme ärmer werden, sind durch die Strukturen des Sozialstaats die grundlegenden Unterstützungen gesichert. Dies gilt für ein Land wie Rumänien nur sehr eingeschränkt. Das allgegenwärtige Problem der Korruption und eine erstaunlich inkompetente öffentliche Verwaltung lassen die Folgen der wirtschaftlichen Probleme gerade für ärmere Schichten sehr schmerzhaft werden. Wenn aber die Grundleistungen eines Gesundheitssystems nicht ausreichend sind und elementare Dienstleistungen zusätzlich bezahlt werden müssen, führt dies zu einer automatischen Ausgrenzung jener Bevölkerungsgruppen, die derartige Zahlungen nicht leisten können. Unter unzureichenden Grundleistungen des öffentlichen Gesundheitssystems sind beispielsweise ausreichende Verpflegung, Ausstattung der Krankenhausbetten mit Bettwäsche, aber auch medizinische Behandlungen zu verstehen, die trotz bestehender staatlicher Krankenversicherung ohne Aufzahlung nicht gewährleistet sind. Eine besondere Gefahr für das Gesundheitssystem ist die Migration qualifizierter Fachkräfte von ärmeren Ländern in reichere Länder. Nach dem EU-Beitritt von Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Estland, Lettland und Litauen im Jahr 2004 haben viele Krankenschwestern und Ärzte diese Länder verlassen. Das Problem ist nicht nur der Verlust von dringend benötigtem Personal in den Herkunftsländern. Die andere Seite der Medaille ist, dass diese Menschen zum Teil unter ihrem Ausbildungslevel eingesetzt werden - beispielsweise als Krankenschwester statt als Ärztin. In den Herkunftsländern werden Fachkräfte teuer ausgebildet, deren Fähigkeiten dann nicht genützt werden. Dazu ein Beispiel: Im Februar 2011 eskalierte die Situation in Tschechien. Jeder Fünfte der rund 20.000 in tschechischen Krankenhäusern beschäftigten Ärzte hatte seine Kündigung eingereicht und die Auswanderung in ein westliches Nachbarland, überwiegend nach Deutschland, vorbereitet. Da bereits im Jahr davor ca. 700 Stellen für Ärzte in Krankenhäusern nicht besetzt werden konnten, hätte diese Abwanderung zum Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in Tschechien geführt. Mit einer Erhöhung der Gehälter für Ärzte um 20 % konnte das Ärgste verhindert werden. Mittelfristig wurde das Problem aber nicht gelöst, denn der Einkommensunterschied zwischen Tschechien und Deutschland besteht weiterhin und wenn ich als Arzt in westeuropäischen Ländern ein Vielfaches an Einkommen erreichen kann, werde ich jede Gelegenheit nutzen. Für Länder wie Bulgarien und Rumänien stellt sich die Situation noch dramatischer dar. Die folgenden Zahlen beziehen sich auf das Bruttoeinkommen (vor Abzug der Steuern und Sozialabgaben) von Ärzten am Beginn ihrer beruflichen Karriere in europäischen Ländern: Bulgarien Rumänien Slowenien Deutschland, Frankreich, Italien Dänemark 310 370 1.000 3.900 – 4.500 8.300 Krankenpfleger oder Diplomierte Krankenschwester erhalten als Einstiegsgehalt in Österreich oder Deutschland zwischen 1.400 und 2.600 Euro. Aus welchem Grund sollte eine bulgarische Ärztin nicht einen Job als Krankenpflegerin in einem deutschen Krankenhaus annehmen, wenn sich ihr Einkommen dadurch verfünffacht? Eine besondere Herausforderung für das Sozialsystem vieler Länder ist die Pflege alter Menschen. Auch dieser Arbeitsmarkt ist geprägt von Migration der Pflegekräfte aus wirtschaftlich schwächeren Ländern. In Österreich fehlen tausende Fachkräfte für Altenpflege. In den östlichen Nachbarländern wird intensive Anwerbung betrieben. Dabei wird keine Rücksicht darauf genommen, ob diese Menschen als Arbeitskraft in ihren Heimatländern benötigt werden oder ob die Auslandstätigkeit negative Auswirkungen auf ihre Familien hat. Sehen wir kurz auf Länder außerhalb Europas: Die gegenwärtige Finanz-und Wirtschaftskrise hat einerseits schwerwiegende Folgen für die Anbieter von sozialen Dienstleistungen, andererseits werden dadurch Ungleichheiten im Gesundheitsbereich verschärft. Die Krise begann mit dem Zusammenbruch des Immobilienmarkts in den Vereinigten Staaten. Es ist daher wenig überraschend, dass in den meisten westlichen Ländern auch ein Anstieg der Obdachlosigkeit zu beobachten ist. Wohnungslosigkeit hat verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit. Obwohl effiziente sozialarbeiterische Hilfen für wohnungslose Menschen entwickelt und angeboten werden, treten in mehreren amerikanischen Bundesstaaten nun auf lokaler Ebene Gesetze in Kraft, durch die Obdachlose mit Zwang vertrieben werden können. Statt der Bekämpfung von Armut wird ein Kampf gegen die Armen geführt. Sozialarbeiter müssen Widerstand dagegen leisten jene zum Sündenbock zu machen, die am schlimmsten betroffen sind und die am meisten unter den Folgen einer Krise leiden, die durch die grenzenlose Gier einer Gruppe von asozialen Glücksrittern verursacht wurde. Ein anderes Beispiel, das mir australische Kolleginnen erzählten: „Ein spezifischer Aspekt für Ungleichheiten im Gesundheitsbereich in Australien besteht darin, dass wir in vielen Gemeinschaften der Aboriginal an behandelbaren Krankheiten leiden, weil es keinen Zugang zu Ärzten oder Medikamenten gibt. Ein Beispiel dafür ist Skabies, das einfach zu behandeln wäre. In kalten Nächten fehlen den Menschen Decken, um sich warm zu halten. Sie schlafen daher in engem Körperkontakt mit ihren Hunden und infizieren sich. Die Lösung wäre einfach: Decken, um sie warm zu halten und Bereitstellung von Medikamenten bei Infektion; aber auch Information über das Problem und wie Medizin anzuwenden ist. Wenn das nicht geschieht, kann die Konsequenz in Nierenversagen bestehen. Wegen dieses Problems werden Aboriginal Kinder aus ihren Familien genommen. Decken und Medikamente – Hilfe für Aboriginal in dieser Form kann Krankheiten und Fremdunterbringung von Kindern verhindern.“ Ich erhielt diese Geschichte von einer Mitarbeiterin der “National Coalition of Aboriginal and Torres Strait Islander Social Workers” mit der Aufforderung: “Bitte helfen Sie uns, die Menschen dort mit Decken und Medikamenten zu versorgen und so unsere Arbeit fortsetzen zu können“. Sie alle sind eingeladen sich zu beteiligen. Während der Kaffeepause nach diesem Vortrag und in der Mittagspause können Sie am Stand der IFSW in der Ausstellungshalle spenden. Sie können helfen – heute und hier! Als berufspolitisch engagierter Sozialarbeiter richtet sich mein Interesse natürlich auch auf die sozialpolitischen Rahmenbedingungen und daraus ergeben sich Forderungen und Vorschläge, die ich gerne mit Ihnen diskutiere. In weiterer Folge werde ich mich mehrfach auf die Arbeit von Richard Wilkinson und Kate Pickett beziehen, die ihre Arbeit unter dem Titel „The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Always Do Better“ veröffentlichten (Deutsche Ausgabe: „Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“, ISBN 978-3-942048-09-5). Richard Wilkinson hielt dazu auch bei der europäischen ENSACT Konferenz 2011 in Brüssel einen ausgezeichneten Vortrag. Die Folien stammen von seiner Organisation „The Equality Trust“. Eine der zentralen Aussagen aus den Forschungsarbeiten von Wilkinson und Pickett ist: „Overall levels of health are far worse in more economically unequal societies.“ Vergleiche zeigen, dass generell ökonomische schwächere Länder gegenüber ökonomisch starken Ländern keine schlechteren Eckdaten zu spezifischen Gesundheitsbereichen zeigen, wenn innerhalb dieser Gesellschaften ein geringerer Unterschied zwischen armen und reichen Bevölkerungsgruppen besteht. Diese Aussagen werden durch Untersuchungen zu den folgenden Themen untermauert: • Physische Gesundheit und Lebenserwartung • Fettleibigkeit • Mentale Gesundheit • Kindersterblichkeit Physische Gesundheit und Lebenserwartung In ärmeren Ländern steigt die Lebenserwartung am Anfang der wirtschaftlichen Entwicklung an. Sobald diese Länder einen Bereich mittlerer Einkommen erreicht haben flacht die Kurve ab. Eine weitere Verbesserung der Einkommen hat keinen Einfluss mehr auf die Lebenserwartung. Weitere Steigerungen der Lebenserwartung, ca 2 Jahre im Rhythmus von 10 Jahren, sind unabhängig von der durchschnittlichen Einkommenssituation und betreffen in gleichem Ausmaß ärmere und reichere Länder. Einen wesentlich stärkeren Einfluss auf Gesundheit und soziale Probleme hat das Ausmaß der Ungleichheit der Einkommen innerhalb eines Landes. Dies wird in der nachfolgenden Grafik eindrucksvoll dargestellt. Dabei verwenden Wilkinson und Pickett einen Index aus sozialen Problemen und Gesundheitsfaktoren. In weiterer Folge möchte ich auf einige Detailergebnisse zu den Gesundheitsproblemen eingehen. Die beiden folgenden Darstellungen zeigen einerseits den Zusammenhang zwischen Ungleichheit der Einkommensverteilung und dem Wohlergehen von Kindern, andererseits, dass das absolute nationale Einkommen pro Kopf kaum relevant ist. Die Erhebung von Daten zur psychischen Gesundheit sind schwierig, da das Verständnis von „Normalität“ und die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten stark durch die unterschiedlichen Kulturen einzelner Länder geprägt ist. 1998 gründete die World Health Organisation das World Mental Health Survey Consortium. Dadurch konnten in einer größeren Zahl von Ländern Erhebungen mit den gleichen Fragestellungen durchgeführt werden, bzw. waren diese Erhebungen mit nationalen Untersuchungen in einigen Ländern (Australien, Kanada und Großbritannien) vergleichbar. Das Ergebnis der Relation zu ungleicher Einkommensverteilung innerhalb der untersuchten Länder ist markant: Ein vergleichbares Bild ergibt sich bei der Untersuchung zum Thema Drogenkonsum. Die Basisdaten entstammen dem vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) jährlich veröffentlichten Welt-Drogen-Report. Auch hier wieder eine klare Tendenz zu höherem Drogenkonsum in Ländern mit hoher Ungleichheit. Ein Gradmesser für das Niveau der Gesundheitssysteme in unterschiedlichen Ländern ist der Vergleich der Säuglingssterblichkeit. Auch hier sprechen die Ergebnisse für sich und werden von Wilkinson und Pickett folgendermaßen kommentiert: „There is evidence to suggest that in developed countries, reduction of income inequality is likely to be more effective in lowering infant mortality rates than further increases in GNP per head would be. However, in developing countries a substantial reduction in infant mortality rate may be achievable by decreasing income inequality or increasing GNP per head.“ Armut und Ungleichheit korrelieren insoweit, als materielle Armut in Gesellschaften mit großen Einkommensunterschieden sich gravierender auf verschiedene soziale und gesundheitliche Probleme auswirkt. Dabei haben sich Symptome in den letzten Jahrzehnten verändert, in reichen Gesellschaften teilweise ins Gegenteil verkehrt. Ein typisches Beispiel dafür ist Fettleibigkeit. In entwickelten Ländern konnte Hunger und Unterernährung als Armutssymptom weitgehend reduziert werden. Klassische Armut ist hingegen in Form der „working poor“ zunehmend anzutreffen. Es steht zwar ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit zur Verfügung, das aber nicht für die Deckung grundlegender Lebensbedürfnisse reicht. Menschen in dieser Lebenssituation sind gezwungen, ihre begrenzten finanziellen Ressourcen so zu verwenden, dass durch den Kauf minderer Qualität Kosten reduziert werden. Bei der Ernährung führt dies zum Konsum von Fast-Food oder Fertignahrung, die nur noch in der Mikrowelle zubereitet werden muss. Fettleibigkeit hat neben psychischen Auswirkungen für die Betroffenen und, gerade bei Kindern und Jugendlichen, häufiger sozialer Ausgrenzung auch gravierende gesundheitliche Risiken. Dazu zählen Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Herz- Kreislauf-, Gallenblasenerkrankungen und einige Formen von Krebs. Durch die massive Zunahme der Fettleibigkeit gerade bei Kindern und Jugendlichen könnte erstmalig der Effekt eintreten, dass sich die generelle Lebenserwartung in entwickelten Ländern verringert. Ungleichheiten im Gesundheitswesen sind ein Symptom für ungleiche Gesellschaften, für ungleichen Zugang zu Ressourcen. Die Herausforderung für SozialarbeiterInnen besteht darin, in der direkten Arbeit mit KlientInnen Lösungen angesichts dieser Ungleichheit zu finden und zugleich den gesamten Zusammenhang der Benachteiligungen zu erkennen und zu thematisieren. Moderne Konzepte praktischer Sozialarbeit basieren auf systemischen Theorien, Methoden und Haltungen. Auch im Bereich des Handlungsfelds Gesundheit hat dieser Wandel stattgefunden. Im Vordergrund steht die Arbeit an Lösungen und die Aktivierung aller möglichen und erreichbaren Ressourcen. Das gilt für die Arbeit mit Individuen, mit Familien, mit Gruppen und mit communities. Sozialarbeit hat sich auch innerhalb des Gesundheitssystems als eigenständige Profession entwickelt. Durch eine generalistische Ausbildung als Basisqualifikation ist Sozialarbeit innerhalb multiprofessioneller Teams dafür prädestiniert, als Koordinator zu wirken. Gehen wir zurück zu den eingangs zitierten Definitionen für Gesundheit: Körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen formuliert die WHO ein hohes Ziel. Maßstab ist auch die Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden. Ein kurzer Blick auf den ersten Satz unsere Definition für Sozialarbeit: „The social work profession promotes social change, problem solving in human relationships and the empowerment and liberation of people to enhance well-being.“ Wenn wir health inequalities and disadvantage for individuals and cummunities als aktuelle Herausforderung in der Sozialarbeit erkennen, müssen wir uns vor allem mit Ungleichheiten in Gesellschaften auseinandersetzen. Das letzte Jahrhundert hat Verbesserung bei den Problemen von Armut, Ungleichheit oder sozialer Ausgrenzung gebracht. Seit einigen Jahren sind wir als Folge der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise aber erneut von einer massiven Verschlechterung der sozialen Unterstützungssysteme bedroht und betroffen. Die Zerstörung der lebenserhaltenden Umwelt durch global agierende Konzerne ist ebenso eine Gefahr wie die Kürzung der staatlichen Budgets für soziale Bereiche. Es scheint, als hätten unsere Regierungen nichts aus dieser Krise gelernt. Die derzeit in Verhandlungen befindlichen Abkommen TTIP und TISA („Transatlantic Trade and Investment Partnership“ und „Trade in Services Agreement“) sind ein Frontalangriff auf demokratische Strukturen und Rechtsstaatlichkeit. Ihr einziger Zweck ist die Maximierung von wirtschaftlichem Profit. Diese Abkommen werden die sozialen Standards in vielen Ländern senken. Diese Abkommen werden Staaten unter Druck setzen, ihre Sozial- und Gesundheitssysteme stärker zu ökonomisieren. Diese Abkommen werden Lebensqualität und individuelle Freiheiten einschränken. Diese Abkommen werden zu mehr Ungleichheit in Gesellschaften führen. Die Ziele dieser Abkommen stehen in völligem Widerspruch zu den Zielen und Werten von Sozialarbeit. Die größte Herausforderung für Sozialarbeiter ist es daher zu erkennen, dass neben dem Engagement für den einzelnen Klienten auch Einsatz für die Rahmenbedingungen essentiell ist. Dies kann nicht von „Einzelkämpfern“ geleistet werden. Dafür stehen die nationalen und internationalen Verbände der Sozialarbeit als Vertreter der Berufsgruppe bei internationalen Organisationen in Verantwortung. Als Praktiker der Sozialarbeit werde ich öfter von KollegInnen gefragt, welchen Wert es haben kann zu internationalen Konferenzen wie dieser zu fahren. Das sind die Veranstaltungen, der Ort, wo Sie ihre Denkansätze erweitern können. Sie können Ideen austauschen, von Modellen und den Erfahrungen anderer PraktikerInnen aus der ganzen Welt lernen. Hier diskutieren wir Strategien und akkordieren die Aktivitäten der Berufsverbände um soziale Gerechtigkeit zu fördern und Ungleichheiten zu bekämpfen. Erzählen Sie das Ihren KollegInnen, wenn Sie von diesem Kongress nach Hause fahren und ermuntern Sie sie, den Blick über den Tellerrand zu wagen und sich in Ihrem Verband zu engagieren. [email protected]