10-Prof-sozSeminarpapier - Supervision

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Die professionelle Sozialtherapie der Sozialen Arbeit1
-mit einem Beispiel aus der Suchtkrankentherapie –
- von Andreas Knoll
1.
Die Ausgangslage
2.
Was ist Sozialarbeit
2.1 Soziale Arbeit als Profession
2.1.1
Die „stolzen Professionen“
2.1.2
Die „bescheidene Profession“
2.1.3
Abbildung 1
2.1.4
Beispiel Gruppendynamik
2.1.5
Beispiel Psychoanalyse
2.1.6
Beispiel Institutionen
2.1.7
Profession im Weiteren
2.1.7.1 Mandat und Lizenz
3.
Was ist Sucht?
3.1 Persönlichkeitstheorien
3.2 Gesellschaftstheorien
4.
5.
5.1
6.
6.1
Was ist Therapie?
Was ist Suchttherapie?
Stationäre Entwöhnungsbehandlung
Was ist Sozialtherapie?
Sozialtherapie als allgemeines
Handlungskonzept
6.2 Sozialtherapie als spezifisches Behandlungskonzept
6.3 Sozialtherapie als spezielles Beeinflussungskonzept sozialer Strukturen
7. Zielgruppen
8. „Wahrheitsfindung“ (Forschung)
9. Fazit
10. Zum Autor
11. Literaturangaben
1. Die Ausgangslage
Der Sozialtherapiebegriff ist vielschichtig und erscheint Vielen nebulös.
Er wird von Psychologen anders verstanden als von Soziologen und Pädagogen. Manchmal erscheint die Sozialtherapie wie eine Psychotherapie für Arme, ein anderes Mal wirkt sie wie ein Instrument zur Gesellschaftsveränderung. Da sich dieser Spannungsbogen von Außenstehenden, und besonders
von Juristen und Politikern, nur schwer fassen lässt, scheinen es die Verfasser
der Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) für nötig erachtet zu haben,
in ihrem Verordnungstext den Begriff „Sozialtherapie“ oder „Soziotherapie“
eigens zu definieren2.
Es scheint so zu sein, dass es der Sozialen Arbeit noch nicht gelungen ist,
eine eigenständiges Verständnis von Sozialtherapie zu formulieren und zu
etablieren. Dies könnte dazu geführt haben, dass die Sozialen Arbeit bis heute eine alte Forderung aus der Psychiatrie-Enquête nicht erfüllt hat. Dieser
Forderung zufolge ist die Sozialarbeit/Sozialpädagogik dazu aufgefordert,
"neue Inhalte und Zielbestimmungen (zu definieren) und den Nachweis einer
auf einer entsprechenden Aus- und Weiterbildung basierenden Kompetenz"
zu erbringen.3 Die Sozialtherapie könnte möglicherweise ein solchermaßen
gesuchter neuer Inhalt sozialarbeiterischen Handelns in der Psychiatrie sein.
Es fehlt jedoch offensichtlich noch immer der Nachweis der Sozialarbeiterschaft, besonders kompetente Sozialtherapie zu beherrschen. Dieser fehlende
Nachweis könnte auch der Grund dafür sein, dass die Verfasser der PsychPV
sich bei der Verwendung der Begriffe Soziotherapie und Sozialtherapie dazu
veranlasst sahen, diesen Begriff in einer Fußnote zu definieren.
Meine Forschungen in der in der Psychiatrie4 haben ergeben, dass die Soziale Arbeit im untersuchten Psychiatrischen Krankenhaus nicht auf der Basis
einer expliziten Sozialarbeitstheorie handelt. Diese Berufsgruppe handelt
vielmehr hauptsächlich einer impliziten Theorie folgend. Dieses Handeln erfolgt intuitiv und praxisbezogen. Mit diesem intuitiv-praxisbezogenen Han1
2
3
4
Soziale Arbeit ist heute die gängige Sammelbezeichnung für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (FH). Dabei ist auf die Großschreibung von „Sozial“ zu achten.
"Als Soziotherapie werden in diesem Zusammenhang alle handlungsorientierten Einfluß-nahmen auf die Wechselwirkungen zwischen der Erkrankung des Patienten und seinem sozialen Umfeld verstanden." (Wienberg, 1991, S.56, S.57, S.58, S.59 und im Text zu
den Einzelbegründungen, S.71, hier heißt es dann allerdings Sozialtherapie)
BMJFFG - BT-Drucksache 7/4200, S.294 f.
Knoll, Andreas Sozialarbeit in der Psychiatrie – Von der Fürsorge zur Sozialtherapie –
Opladen 2000
1
deln hat sich die Soziale Arbeit allerdings sehr erfolgreich in der Psychiatrie
etabliert, obwohl die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen das besonderer
ihres professionellen Handelns kaum benennen können. Der Erfolg der Sozialen Arbeit wird durch die massive Expansion dieser Berufsgruppe in der
Psychiatrie deutlich. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es in der stationären
Pflichtversorgung von psychiatrisch erkrankten Menschen einen PatientenSozialarbeiter-Schlüssel von etwa 23 zu 1. Außerdem ist es der Sozialen Arbeit gelungen, durch die PsychPV exklusiv mit der Sozialtherapie beauftragt
zu werden. Keine andere Berufsgruppe wird in der Verordnung mit Sozialtherapie in Zusammenhang gebracht. Die komplementäre Psychiatrie (Heime, Beratungsstellen, ambulante und betreute Wohnformen usw.) werden
heute eindeutig von der Sozialen Arbeit dominiert.
In der Praxis jedoch wird der Sozialarbeiter-Patienten-Schlüssel beständig
zu Ungunsten der Sozialen Arbeit verändert. Außerdem nehmen alle anderen
Berufsgruppen Zugriff auf die Sozialtherapie. Es gibt heute wohl kaum noch
eine Berufsgruppe die nicht von sich behauptet ebenfalls sozialtherapeutisch
zu arbeiten. Auch im komplementären Bereich sind andere Berufsgruppen
auf dem Vormarsch.
Für die Soziale Arbeit kommt es nun darauf an, ihren impliziten Wissensbestand explizit zu machen. Das bedeutet sie muss einen Nachweis und eine
Begründung ihres professionellen Handelns erbringen. Erst eine theoretische
Abstraktion des praktischen Handelns dieser Berufsgruppe kann deren Handeln für andere transparent und verständlich machen. Dann, wenn andere verstehen was professionelle Soziale Arbeit besonderes leistet, kann der sozialtherapeutischen Sozialarbeit die Anerkennung zukommen, die sie aufgrund
ihrer praktischen Leistungen verdient. Deshalb muss man sich zunächst einmal klar machen, was Sozialarbeit eigentlich ist.
2. Was ist Sozialarbeit?
Sozialarbeiter und Sozialpädagogen haben oft Schwierigkeiten, ihr fachliches Handeln theoretisch zu beschreiben. Auf Fragen nach einer Sozialarbeitstheorie hört man häufig allgemeine Aussagen wie: „Ich habe einen systemischen Ansatz, irgendwie tiefenpsychologisch und kommunikationstheoretisch, klientenzentrierte Gesprächsführung oder Gestalttherapie“ usw. Diese
Definitionen führen aber allzu häufig zu keinem klaren Bild über das berufliche Handeln dieser Disziplin, weil es keine Sozialarbeitstheorien sind.
Wir wissen, dass Sozialarbeiter ein Studium absolviert haben müssen, bevor sie praktisch tätig werden. Zu einem Studium gehört die Wissenschaft.
Demzufolge müsste es auch eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit geben.
Diese Wissenschaft etabliert sich jedoch nur mühselig.
Als im Jahre 1971 die Fachhochschulen für Sozialwesen entstanden sind,
hielten verschiedene Wissenschaftsdisziplinen in diese neu errichteten Einrichtungen Einzug und definierten die Sozialarbeit aus der Perspektive ihrer
jeweiligen Fachrichtung. So konnte es kommen, dass sozialarbeiterische Forschung und Theorieentwicklung im Wesentlichen durch andere Disziplinen
betrieben wird, nämlich von Psychologen, Medizinern, Soziologen, Juristen,
Politologen usw. Sozialarbeiter, die selbst forschen und aus den Ergebnissen
ihrer Forschung Theorien bilden, bleiben bis heute die Ausnahme. Sozialarbeiter/innen sind folglich Praktiker geblieben, die irgendwie eine besondere
Praxis ausüben. Was nun den Kern dieser besonderen Praxis ausmacht, ist
schwer zu definieren, und man gewinnt den Eindruck, dass diese Praktiker
keiner expliziten Theorie folgend handeln. Es scheint so, als würde diese Berufsgruppe eher eine implizite Theorie besitzen, der sie intuitiv folgt. Damit
ist die Sozialarbeit allerdings ausgesprochen erfolgreich. Schließlich ist es
diejenige Berufsgruppe, die sich in den letzten 30 Jahren quantitativ am
stärksten ausgebreitet hat. Seit 1992 gibt es mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen als Ärzte und Apotheker 5.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tun dieser Berufsgruppe hat in den letzten dreißig Jahren zu einer Kontroverse zwischen zwei
Hauptströmungen der Theoriebildung geführt. Die eine Strömung versucht
Soziale Arbeit als Teildisziplin der Erziehungswissenschaften zu definieren
und weist der Pädagogik die Rolle einer Leitwissenschaft zu. Die Gegen5
2
siehe: Uni, Bundesanstalt für Arbeit, (Nürnberg, Oktober 1992)
strömung versucht auf der Basis älterer Fürsorgetheorien eine eigene Sozialarbeitswissenschaft zu entwickeln. Während der erziehungswissenschaftliche
Ansatz zunächst die Sozialpädagogik beeinflusste, fand die sozialarbeitswissenschaftliche Richtung stärkere Resonanz bei der Sozialarbeit. Heute, im
Jahr 2001, kann man erkennen, dass die Vertreter der pädagogischen Richtung eine starke universitäre Basis besitzen und hier ganz deutlich die Diplom-Pädagogik prägen. Der sozialarbeitswissenschaftliche Ansatz hingegen
konnte sich stärker an den Fachhochschulen und in der Praxis behaupten.6 In
allerjüngster Zeit ist es um diese Kontroverse jedoch etwas stiller geworden.
Dies geht einher mit einer Internationalisierung und Vereinheitlichung der
Studienrichtungen Sozialarbeit und Sozialpädagogik zum gemeinsamen Studium „Soziale Arbeit“ an den Fachhochschulen. Das Ziel dieser Bemühungen
ist es, zu internationalen Bachelor- und Masters-Abschlüssen zu kommen.
Unterhalb dieser wissenschaftlichen Debatten kommt es nun zu einer dritten Strömung sozialarbeiterischer Theoriebildung. Diese Strömung versucht,
die Soziale Arbeit als sozialwissenschaftliche Profession zu begreifen, deren
Kernaktivitäten es herauszufinden und zu definieren gilt. Diese Professionstheorie ist bereits schon einmal, Ende der siebziger Jahre aufgetaucht, jedoch
damals nur zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sozialarbeit letztendlich
nicht professionalisierbar sei und ihr daher bestenfalls der Status einer „SemiProfession“ zukäme. Der Grund dafür wurde hauptsächlich darin gesehen,
dass die Soziale Arbeit gleichzeitig einem gesellschaftlichen und einem persönlichen Auftrage folgend handelt. Man nannte das das „Doppelte Mandat“
der Sozialarbeit. Viele Sozialarbeiter in den achtziger Jahren versuchten diesem Dilemma zu entgehen, indem sie hofften, über eine Therapeutisierung
sich professionalisieren zu können. In vielen Fällen ist dieses „Aufstiegsprojekt“ fehlgeschlagen. Im Bereich Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
konnte ein Erfolg gefeiert werden. Im Bereich der Suchtkrankenhilfe ist es zu
Problemen gekommen, die dazu geführt haben, dass die Kostenträger (VDR)
vermehrt die Anforderungen an die fachlichen Standards zu formulieren begannen.7
Die Psychotherapeutisierung der Sozialen Arbeit hat für den Beruf nur
kleine Teilerfolge gebracht, so dass man in großen Bereichen ein Fehlschlagen der ersten Professionalisierungsdebatte konstatieren muss. Dennoch muss
auch heute noch festgestellt werden, dass die wissenschaftlichen Diskurse zur
Sozialen Arbeit der (Fach)-Hochschulen von den Praktikern vor Ort kaum
wahrgenommen werden. Eine empirische Untersuchung bei allen Sozialarbeitern (N = 53) der Suchtkrankenhilfe der Stadt Bochum hat ergeben, dass
nur 7 Befragte Aussagen über eine Sozialarbeitstheorie machen konnten. Davon standen 6 Interviewte der prozessual-systemischen Sozialarbeitstheorie
von Staub-Bernasconi8 nahe, ein Befragter nannte eine Professionstheorie 9. In
ihrer Praxis jedoch verfügen 45 der Befragten über eine methodische Weiterbildung, wovon eine Zusatzausbildung in Sozialtherapie mit zwanzig Nennungen deutlich überwiegt.10 Diese Situation wird aber von den Wissenschaftlern, die ihren Blick forschend auf die Soziale Arbeit werfen kaum zur
Kenntnis genommen. Und so kann man sich kaum des Eindruckes erwehren,
dass die seit 1971 einsetzende Theorie-Praxis-Kluft weiterhin besteht. Der
Grund scheint darin zu liegen, dass nur selten Sozialarbeiter selbst forschen
und lehren, sondern andere Disziplinen sich dieses Feldes ermächtigt haben.
2.1 Soziale Arbeit als Profession
Die reaktualisierte Professionstheorie der neunziger Jahre nun kommt zu
dem Ergebnis, dass Soziale Arbeit sich in einem Prozess der Professionalisierung befindet und gegenwärtig den Status einer „bescheidenen Profession“11
6
7
8
9
10
11
Vergl.: Engelke, Ernst, Soziale Arbeit als Wissenschaft, Freiburg, 1993
Scheipers, Regina - Die Standards der Renten- und Krankenversicherungsträger, in:
Scheiblich, W. (Hrsg): Sucht aus der Sicht psychotherapeutischer Schulen, Freiburg, 1994
Staub-Bernasconi, Silvia – Soziale Arbeit als eine besondere Art des Umgangs mit Menschen, Dingen und Ideen, in: SozialArbeit 10/1986
Gildemeister, R. – Neuere Aspekte der Professionalisierungsdebatte in: Neue Praxis, 3/1992
Walter, Karolin –Qualifizierungsdruck in der Sozialen Arbeit durch die Rentenversicherungsträger – Unveröffentlichte Diplomarbeit an der EFH-RWL, Bochum, 6/2001
Schütze, F. - Sozialarbeit als bescheidene Profession – in: Dewe/Ferchhoff/Radtke,
Erziehen als Profession (Opladen, 1992)
3
einnimmt. Dieser Status besitzt allerdings großes Entwicklungspotential, weil
die Soziale Arbeit durch ihre doppelte Perspektive – Individuum und Gesellschaft – die Paradigmengrenzen der „stolzen Professionen“ 12 überschreitet
und dadurch zu völlig neuen Problembehandlungsdimensionen kommen
kann, wo die klassischen Professionen scheitern. Die Behandlung suchtkranker Menschen ist ein solcher Fall. Hier scheiterte die „stolze Profession Arzt“
zunächst an ihren Paradigmengrenzen, weil es nur in Ausnahmefällen zu einem tragfähigen Arbeitsbündnis kommt. (Psychosomatik, Forensik, Kinderund Jugendpsychiatrie weisen ähnliche Probleme auf).
Die Professionstheorie versucht nun zu verstehen, wieso unsere Gesellschaft den Bedarf nach dem beruflichen Handeln der Sozialen Arbeit entwickeln musste und woraus genau dieses Handeln besteht. Dazu bedient sie sich
einem Verfahren der qualitativen Sozialforschung, welches „grounded theory“13 genannt wird. Durch systematische und qualitative Analyse des praktischen Handelns der Sozialarbeiter wird deren Tätigkeit zunächst beschrieben
und dann abstrahiert. So kommt man zu einer in Praxis gegründeten Theorie,
also einer „grounded theory“. Diese Theorien sind dann also nicht mehr Gedankengebäude, die die Praktikerinnen als abgehobene Konzepte erleben,
sondern die Sozialarbeiter und Sozialpädagogen finden eine allgemeinverständliche Abstraktion ihres eigenen Handelns vor. Diese wissenschaftlichen Theorien sind dann auch lehrbar, also kognitiv vermittelbar und überprüfbar. Es entsteht somit eine Theorie aus der Praxis für die Praxis und den
Berufsnachwuchs. Noch besser: es kann auch Anderen erklärt werden, was
Sozialarbeit eigentlich ist und warum sie für die Gesellschaft von Wert ist.
2.1.1 Die stolzen Professionen
Der reformulierte Professionalisierungsbegriff versteht unter einer Profession etwas anderes als ein nur auf Expertentum gegründetes spezialisiertes
Wissen. Dieser hier verwendete Professionsbegriff geht vielmehr davon aus,
dass professionalisierte Tätigkeit auf gesellschaftliche Handlungsprobleme
antwortet. Die drei gesellschaftlichen Problemdimensionen auf die geantwortet wird, kann man als Therapieleistung, Konsensbeschaffung und Wahrheitsfindung bezeichnen, auf die die gesellschaftlich legitimierten Professionen entsprechend ihrer Handlungslogik reagieren. So gesehen, stellen die Bereiche der Medizin und der Therapie, der Rechtspflege, der Theologie mit
Wissenschaft und Kunst die gesellschaftlichen Handlungsproblemfelder dar,
auf die die Professionen, entsprechend ihrer jeweils ausgebildeten Handlungslogik, stellvertretend für die Alltagspraxis, eingehen.
Die Professionen haben sich mit der Entstehung der Arbeitsteilung im
Zuge der Sesshaftwerdung der Menschen entwickelt. In den sich herausbildenden Gemeinwesen wurde die Arbeit zunächst zwischen Produktion, Verteilung und Verteidigung aufgeteilt. Landwirtschaft und Handwerk, Handel
und Militär waren somit die Ausgangspunkte der Arbeitsteilung. Bald mussten aber diese Gemeinwesen feststellen, dass es auch Spezialprobleme gab,
die von den bestehenden Berufen nicht gelöst werden konnten. Diese hatten
etwas mit Fragen nach dem Sinn (oder Gott), Streitereien untereinander und
Krankheiten zu tun. Es bildeten sich Experten für Spiritualität, Heilkunde und
Streitschlichtung heraus. Diese Experten genossen bald hohes Ansehen, weil
sie elementare gesellschaftliche Handlungsprobleme behandeln konnten. Sie
wurden von den Produktions-, Handels- und Militäraufgaben freigestellt und
leisteten fortan Dienst am Gemeinwohl. Daraus entstanden die Professionen
Arzt, Richter, Pfarrer, die von Schütze als stolze Professionen bezeichnet
wurden. Im Laufe der Geschichte entstanden nach und nach immer weitere
Berufe, die auch auf gesellschaftliche Handlungsprobleme antworteten und
ebenfalls einen besonderen Status anstrebten. Diese Berufe orientierten sich
zum Zwecke der Professionalisierung an den stolzen Professionen und strebten deren Handlungsfeld nach. Dadurch grenzten sich die gesellschaftlichen
Handlungsproblemfelder mehr und mehr voneinander ab. Der Arzt findet
sich im Handlungsfeld „Therapieleistung“ und ist somit dem hilfesuchenden
Individuum verpflichtet. Der Richter ist im Handlungsfeld „Konsensbeschaf12
13
4
Arzt, Richter, Pfarrer sind die Prototypen der „stolzen Professionen“.
Strauss, Anselm - Grundlagen qualitativer Sozialforschung – Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung (München, 1991)
fung“. Er ist somit dem Gemeinwohl verpflichtet und veranlasst die Individuen zur Einhaltung des ausgehandelten Normenkonsenses. Der Priester
schließlich war der Frage nach dem Sinn und der Transzendenz verpflichtet,
er suchte für die Gesellschaft nach der Wahrheit. Die neu entstehenden Berufe orientierten sich nun an den drei gesellschaftlichen Handlungsproblemfeldern Therapieleistung, Konsensbeschaffung, Wahrheitsfindung. Wenn sie
in einem dieser Felder Aufnahme fanden, hatten sie auch den Status Profession. Bei der Therapieleistung kamen zu den Ärzten schnell die Apotheker hinzu, viel später die Heilpraktiker und erst seit sehr kurzer Zeit die approbierten
Psychologen (Sozialarbeiter hier als Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten). Auf dem Feld der Konsensbeschaffung fanden sich neben den Richtern bald die Anwälte, in unserer Zeit auch die Steuerberater. Das Feld der
Wahrheitsfindung wird den Theologen, Pfarrern, Priestern und Philosophen
seit der Renaissance von der Naturwissenschaft streitig gemacht. Die Kunst
würde man auch hier hinzurechnen. In jüngerer Zeit haben z. B. die Journalisten es geschafft, sich ebenfalls hier zu etablieren.
2.1.2 Die „bescheidene Profession“
Wie ist vor diesem Hintergrund der Professionalisierungsprozess von Sozialarbeit/Sozialpädagogik zu verstehen? Wir wissen, dass dieser Beruf seit
1971 als Hochschulstudium existiert. Aus den Arbeitsmarktdaten können wir
entnehmen, dass dieser Beruf die höchsten Zuwachszahlen aller Berufe hatte.
Folglich kann auf einen hohen gesellschaftlichen Handlungsbedarf nach den
Tätigkeiten dieser Berufsgruppe geschlossen werden. Ein gesellschaftlicher
Handlungsbedarf nach beruflichen Spezialaufgaben und eine akademische
Grundlage werden als Ausgangspositionen für eine Professionalisierung angesehen. Um sich in eines der gesellschaftlichen Handlungsproblemfelder
einzuordnen, muss das Handeln der Berufsgruppe gemäß der Handlungsproblemfelder definiert werden. In den siebziger Jahren versuchten viele Angehörige der Berufsgruppe Sozialarbeit/Sozialpädagogik, sich im Handlungsfeld
Therapieleistung zu verorten. Da dies nur in einigen wenigen Bereichen geglückt ist, sprach man von einer misslungenen Professionalisierungsdebatte,
die bestenfalls zur „Semi-Profession“ geführt hat. Dadurch, dass sich diese
semiprofessionellen Sozialarbeiter weniger an ihrer akademischen Grundausbildung orientierten, sondern sich vielmehr entsprechend den Anforderungen
ihres Arbeitsfeldes definierten, bezeichneten sie sich vermehrt als Stationstherapeuten, Suchttherapeuten, Gruppentherapeuten, Altentherapeuten,
Schuldnerberater usw. Infolgedessen erlitten diese Sozialarbeiter tatsächlich
aber eher eine Deprofessionalisierung denn eine Professionalisierung.
Schließlich übten viele dieser Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen tatsächlich die gleichen Tätigkeiten aus, die auch ein Psychologe ausübte, sie waren
aber keine Psychologen. Die neue professionstheoretische Ausgangsfrage
müsste also lauten: Was ist den Sozialarbeitern, die als Suchttherapeuten und
als Schuldnerberater tätig sind, gemeinsam? Was unterscheidet die Sozialarbeiter/Sozialpädagogen von den anderen dort versammelten Berufsgruppen,
und wie lässt sich aus diesen Erkenntnissen eventuell der spezielle gesellschaftliche Handlungsbedarf dieser Berufsgruppe ableiten?
Sozialarbeit findet sich in außerordentlich vielen Arbeitsfeldern wieder.
Um nur Einige aufzuzählen: Jugendamt – Vorschulerziehung – Altenarbeit –
Suchtkrankenhilfe – Psychiatrie – Schwangerschaftskonfliktberatung – Bewährungshilfe – Krankenhaussozialdienst – Sozialamt – Gefängnis – Erziehungs-, Ehe- u. Lebensberatung – Management- und Organisationsberatung
usw. In all diesen Arbeitsfeldern treffen wir auf eine Gemeinsamkeit, die uns
Schwierigkeiten für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit macht:
Überall scheinen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen gleichzeitig zweier
Sphären gesellschaftlicher Handlungsproblemfelder verpflichtet zu sein. Das
Handeln dieser Berufsgruppe ist gleichzeitig dem Wohl des Einzelnen und
der Gesellschaft verpflichtet. Folglich besteht Sozialarbeit aus Konsensbeschaffung und Therapieleistung gleichermaßen. Dies kommt am besten im
Arbeitsbereich der Bewährungshilfe zum Ausdruck. Der Begriff beinhaltet
gleichermaßen die Dimensionen Konsensbeschaffung (=Bewährung) und
Therapieleistung (=Hilfe).
5
In der Suchtkrankenhilfe konnte die Sozialarbeit sich in den vergangenen
dreißig Jahren vermutlich deshalb so erfolgreich etablieren, weil gerade das
Krankheitsbild Sucht oftmals nur zu behandeln ist, wenn beide Dimensionen
zusammenkommen. Sowohl die traditionelle Psychiatrie als auch die Psychoanalyse sind zunächst mit ihren Versuchen, Sucht im Sinne des klassisch medizinischen Behandlungsverständnisses zu behandeln, gescheitert. Die therapeutischen Wohngemeinschaften und die Fachkliniken für Suchtkranke haben die rein medizinischen Paradigmengrenzen überschritten, indem sie die
Patienten zur Einhaltung eines Normenkonsenses veranlasst haben, der in
Allgemeinkrankenhäusern völlig undenkbar wäre. Mit den Haus- und Therapieordnungen strukturieren Suchtkliniken ein therapeutisches Milieu, welches Therapieleistungen mit suchtkranken Menschen überhaupt erst möglich
macht, weil den Patienten im Grunde genommen ein Normensystem aufgezwungen wird. Sozialarbeiter hatten in der Vergangenheit maßgeblichen Anteil an der Etablierung solcher Normen- und Regelsysteme, in deren Rahmen
sich heute Suchttherapie abspielt. Dies gilt in abgewandelter Form heute auch
für die stationäre Psychiatrie. Auch hier werden soziale Milieus installiert,
die als Regelsysteme das Miteinander der Patienten vereinfachen und selbst
therapeutisch wirken. Allerdings scheint es heute so, als sei gerade in der Behandlung von suchtkranken Menschen dieses sozialtherapeutische Konzept
am weitesten entwickelt.
In jüngster Zeit werden die Erfahrungen, die in der Suchtkrankenhilfe
gewonnen wurden auch auf andere Felder Sozialer Arbeit angewendet. Hier
bietet sich das große Feld der Jugendhilfe an. Die steigende Zahl schwerst
vernachlässigter, verwahrloster und misshandeltet Kinder und Jugendlicher
führte dazu, dass die moderne Heimerziehung auf der einen Seite und die
Kinder und Jugendpsychiatrie auf der anderen Seite an ihre Grenzen stößt.
Folge davon ist, dass sich viele Praktiker wieder geschlossene Heime für
stark dissoziale und mehrfach gefährdete Jugendlich wünschen. Einige neuere Jugendhilfeeinrichtungen machen sich heute die Erfahrungen aus der
Suchtbehandlung zu nutze und zwingen den Kindern und Jugendlichen
gleichsam ein Regelsystem auf in dessen Rahmen sie ihnen Verständnis und
Zuwendung zu teil werden lassen. Hierdurch kann man dann auf geschlossene Heime verzichten, weil die Gleichzeitigkeit von Therapieleistung und
Konsensbeschaffung einen geschützten und kontrollierten Rahmen erlaubt.
In der Abbildung 1 ist dieses professionstheoretische Verständnis Sozialer
Arbeit dargestellt. Mit der Überschreitung der Paradigmengrenzen herkömmlichen Professionsverständnisses generiert sich in der Sozialarbeit folglich ein
völlig neuer Professionstypus, welcher in unserer heutigen gesellschaftlichen
Entwicklungsphase von großer Bedeutung zu sein scheint. Die Abbildung
zeigt die Ausgangssituation der Sozialarbeit, die durch die Zusammenführung von Therapieleistung und Konsensbeschaffung gekennzeichnet ist. Diese theoretische Ausgangsgröße bestimmt die darunter liegenden Ebenen. Zunächst erscheinen die Organisationsformen der Sozialarbeit Einzelfallhilfe,
Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. In allen drei Organisationsformen
geht es um das Spannungsverhältnis von Gesellschaftlichkeit und Individualität.ec
6
Die reaktualisierte Professionsdiskussion
Therapieleistung
Arzt
Konsensbeschaffung
Richter
Wahrheitsfindung
Pfarrer, Wissenschaftl.
Gleichzeitigkeit
von Konsensbeschaffung
und Therapieleistung
ist Sozialarbeit
Organisationsformen
Einzelfallhilfe – Gruppenarbeit –
Gemeinwesenarbeit
Forschungs—
methoden
Handlungsmethoden
Sozialer Arbeit
z.B. systemische-, psychoanalytische-, klientenzentrierte- gestalttherapeutische- usw.
Handlungsmethoden
Qualitative und quantitative Sozialforschung
Forschungspraxis
z.B. Institutionsanalyse
Sozialtherapie
Einzelne – Gruppen - Institutionen – Gemeinwesen
Sozialtherapie
als allgemeines
Handlungskonzept
Sozialtherapie
als spezifisches
Behandlungskonzept
(quasi Psychoth.)
Sozialtherapie
als spezielles Beeinflussungskonzept
sozialer Strukturen
Zielgruppen
Psychiatrie
Suchtkranke
Jugendhilfe
Altenhilfe
Die Abbildung zeigt zunächst die drei gesellschaftlichen Handlungsproblemfelder mit ihren stolzen Professionen Arzt, Richter, Pfarrer. Aus den
beiden Handlungsfeldern Therapieleistung und Konsensbeschaffung entsteht
nun als völlig neuer Professionstyp die Soziale Arbeit. Es scheint so, als sei
in den westlichen Gesellschaftsordnungen eine Situation eingetreten, in der
der Bedarf nach einer Profession entstanden ist, die die Grenzen zwischen
dem rechtlich-administrativen und dem therapeutischen Denken überwindet.
Die sich so verstehende Sozialarbeit setzt diese Ausgangskonzeption in ihren
klassischen Organisationsformen Einzelhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit um. Dazu bedient sie sich der Handlungsmethoden der Sozialen
Arbeit, die hier beispielhaft als systemische, psychoanalytische, klientenzentrierte und humanistische Handlungsmethoden ausgewiesen wurden 14.
Psychoanalytische, gestalttherapeutische oder systemische Handlungsmethoden stehen in den Organisationsformen Sozialer Arbeit wieder im Dienste der
14
Die Methoden der Sozialarbeit wurden in den letzten dreißig Jahren viel diskutiert. Es gibt
immer wieder Versuche, diese neu zu definieren und zu ordnen. Neuerdings unterscheidet
Galuske in klientenbezogene u. professionsbezogene Konzepte und Methoden. Neben vielen
anderen Methoden ordnet er z.B. Einzelfallhilfe und Gemeinwesenarbeit den personenbezogenen Konzepten zu. Supervision und Sozialmanagement werden als professionsbezogene
Methoden betrachtet. (Galuske, M., Methoden d. Sozialen Arbeit, Weinheim 1998, S. 151ff).
Ich orientiere mich hier jedoch am „Klassiker“ von Geißler und Hege, deren Systematik von
Konzept – Methode – Verfahren mir nach wie vor plausibel erscheint. (Geißler/Hege, Konzepte sozialpädagogischen Handelns, München, Wien, Baltimore 1981, 2. Auflage).
7
Gleichzeitigkeit von Therapieleistung und Konsensbeschaffung. In einem
Gesamtkonzept der Sozialtherapie finden diese Methoden dann ebenfalls ihre
Umsetzung (Siehe hierzu weiter unten im Text zur Sozialtherapie).
Dieses Professionsverständnis kann sowohl an Hand der Gruppendynamik als auch der Psychoanalyse erläutert werden.
2.1.4
Beispiel Gruppendynamik:
In der Gruppendynamik geht es darum, die Interaktion der Gruppenmitglieder zu Feedbackprozessen anzuregen, die dem einzelnen Mitglied Rückmeldungen, Verständnis und Konfrontation zu seinem Verhalten geben. Die
sich dadurch entfaltenden Selbsterfahrungseffekte sind von hohem therapeutischen Wert (=Therapieleistung). Gleichzeitig handeln die Gruppenmitglieder Normen, Werte und Rollen aus, die zu einem Miteinander der Gruppe
führen sollen. Die sich dadurch entfaltenden Gruppenprozesse führen günstigen falls zu einer erhöhten Kreativität und Effektivität der Gruppe. Es findet
eine Institutionalisierung statt, die als Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten in Lerngruppen und Arbeitsteams gewertet werden kann (= Förderung des
Normenkonsens).
2.1.5
Beispiel Psychoanalyse:
Psychoanalytisch ausgedrückt besagt dieser Ausgangspunkt professioneller Sozialer Arbeit folgendes: Fokus der Sozialarbeit ist das Über-Ich. Im
Über-Ich repräsentiert sich das Regel- und Normenverständnis des Individuums. Es kann nach der einen Seite rigide und strafend sein und nach der anderen Seite grenzenlos.
„Das Über-Ich beeinflusst das Triebleben wie auch die Ich-Funktionen.
Es steht im Zusammenhang mit der Erziehung der Eltern und auch der Lehrer (auch die Berufsausbildung prägt nochmals wirksame Über-Ich-Inhalte)
und mit der Gesellschaftsordnung. Es wirkt als eine Art Regulativ zwischen
Innen- und Außenwelt. Es setzt sich zusammen aus Wünschen und Idealbildungen, anerkannten Verhaltensnormen und Werturteilen, Identifikationen
oder Nachahmungen, aus Vorstellungen und Affekten. Es straft, es lobt, es
macht Gewissensregungen und begründet Selbstbeobachtungen, es reguliert
das Selbstbewusstsein, wie auch viele Handlungen. Es schafft die Gewohnheiten von Haltungen und Verhaltensweisen eines Charakters. Große Teile
des Über-Ichs bleiben unbewusst. Doch von diesen unbewussten Anteilen des
Über-Ichs werden unsere Sitten und Gebräuche gesteuert, die Tabus einer
Gesellschaft wie ihre Erziehungsmethoden.“15
Es scheint so, als sei die „Therapie des Über-Ichs“ bisher vernachlässigt
worden. Sozialtherapie trägt aber schon begrifflich das Verhältnis und die
Dynamik von Außen- (=Sozial) und Innenwelt (=Therapie) in sich. So gesehen zielt auch Konsensbeschaffung auf die Außenwelt und Therapieleistung
auf die Innenwelt. Die Menschen, die die Hilfen der Sozialarbeit benötigen,
brauchen Unterstützung im Durchschauen von Regelsystemen, weil ihnen ihr
Über-Ich hier vermutlich zu wenig zur Verfügung stellt. Da sind auf der einen Seite die banalen Amtgeschäfte zu erledigen, bei denen ein Antragssteller nicht die richtigen Formulare und Wege kennt. Da sind aber auch andererseits die vielen psychisch kranken Menschen, denen gleichsam ein „HilfsÜber-Ich“ zur Seite gestellt wird, wie das Konzept „betreutes Wohnen für
Psychisch Kranke“ eindrucksvoll unter Beweiß stellt.
2.1.6 Beispiel: Institutionen
Institutionen gelten als das „gesellschaftliche Über-Ich“. Sie sind Regelund Normensysteme, die das Zusammenleben der Menschen ermöglichen,
ohne dass diese beständig darüber nachdenken müssen. Sie besitzen Selbstverständlichkeitscharakter, und sie wirken hauptsächlich unbewusst.
Konsensbeschaffung und Therapieleistung bedeutet für die Sozialarbeit
folglich auch die gleichzeitige Reflexion des individuellen und des gesellschaftlichen Über-Ichs. Das individuelle Über-Ich beschreiben wir im Geiste
15
8
Eicke, Dieter – Das Über-Ich, eine Instanz, richtunggebend für unser Handeln, in Eicke, D.
(Hrsg.) – Tiefenpsychologie, Band 1, S.493, Weinheim und Basel, 1982
der Psychoanalyse als innerseelische Struktur, das gesellschaftliche Über-Ich
präsentiert sich uns in den Institutionen. Alle Handlungsmethoden Sozialer
Arbeit sind so daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie die Anforderungen
zwischen Therapieleistung und Normenkonsens erfüllen können, d. h. es
werden Institutions- und Über-Ich-Strukturen reflektiert, mit dem Ziel der
Veränderung, individueller und institutioneller Beschaffenheiten.
Letzt Endes bedeutet das auch, einer alten und immerwährenden Forderung der Sozialarbeit Rechnung zu tragen, auch gesellschaftsverändernd zu
arbeiten. Der gesellschaftsverändernde Anspruch der Sozialarbeit bezieht
sich aber nicht mehr auf „weltrevolutionäre Visionen“, sondern auf konkrete
Institutionsveränderungen im Rahmen eines sozialtherapeutischen Gesamtkonzeptes. Die Handlungsmethoden werden folglich auf der nächsten Ebene
im Rahmen eines Gesamtkonzeptes „Sozialtherapie“ wieder wirksam 16.
2.1.7 Die Professionstheorie im Weiteren
Wenn hier von den Ausgangsbedingungen Sozialer Arbeit, der Gleichzeitigkeit von Therapieleistung und Konsensbeschaffung, die Rede ist, so muss
betont werden, dass damit nur ein sehr oberflächlicher Blick auf die Professionstheorie geworfen wird. Professionen sind durch viele weitere Merkmale
gekennzeichnet, von denen einige hier nur kurz angedeutet werden sollen:
- Professionsautonomie bedeutet, dass das professionelle Handeln
von immanenten Angemessenheitskriterien gesteuert wird. Jemand, der
nicht zur Profession gehört, kann keinen Einfluss auf das „richtige“
fachliche Handeln ausüben.
- Problemlösungstyp: Gleichzeitigkeit von theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen und der Besonderheit des Einzelfalles. Professionelles Handeln ist folglich nicht standardisierbar.
- Die Autonomie der Lebenspraxis der Adressaten bleibt grundsätzlich gewahrt. Sozialarbeiter greifen nur in Ausnahmefällen direkt in das
Leben ihrer Adressaten ein. Sie leisten Hilfe zur Selbsthilfe.
- Zwang zur aktiven Gestaltung der Berufsrolle: Sozialarbeiter wissen, was Sozialarbeit ist und handeln professionsgesteuert, nicht organisationsgesteuert.
- Höhersymbolischer Sinnbezirk: Wissenschaft, Fachsprache, Rituale, Kleidung, usw.
- Paradoxien professionellen Handelns: Unüberwindbare Widersprüche, die sich zwangsläufig aus dem professionellen Handeln ergeben.
- Stellvertretende Deutung und spezifisches Fallverstehen.
Professionelle besitzen eine bestimmte „Kunst“ im Verstehen ihrer Adressaten. Die Ergebnisse des Verstehens teilen sie den Adressaten mit.
Sie handeln aber nicht für diese, sondern deuten nur.
2.1.7.1 Mandat und Lizenz
Neben den hier nur kurz angerissenen Themen muss an dieser Stelle noch
ein besonders relevanter Problembereich angesprochen werden, der im Bereich der Behandlung suchtkranker und psychisch kranker Menschen von hoher Bedeutung ist. Professionelle benötigen für ihr Handeln eine Lizenz und
ein Mandat. Beim Arzt gestaltet sich dieses Verhältnis relativ einfach: Die
Lizenz erhält er durch seine Ausbildung und seine Approbation. Bei den Sozialarbeitern ist das ähnlich. Mit dem Diplom, der staatlichen Anerkennung
und der Anstellung erhalten Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen die
Lizenz, in einem bestimmten Bereich sozialarbeiterisch zu handeln.
Mit dem Mandat ist es etwas schwieriger. Der Patient erteilt dem Arzt das
Mandat, in einem bestimmten, begrenzten Ausschnitt für ihn zu handeln (also
seine Bauchschmerzen zu behandeln). Wer aber erteilt dem Sozialarbeiter
sein Mandat. Kommt der suchtkranke- oder psychisch kranke Mensch tatsächlich in die Beratungsstelle und erteil dem Sozialarbeiter das Mandat, in
einem begrenzten Bereich für ihn tätig zu werden? Während der Therapiewelle in der Sozialen Arbeit17 hat man so gedacht. Man hat nur diejenigen be16
17
Zur Sozialtherapie: siehe weiter unten
Die Zeit zwischen etwa 1974 und 1989 wird als „Psychoboom“ in der Sozialarbeit bezeichnet.
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handelt, die aufgrund ihres Leidensdruckes den Professionellen ein Mandat
gegeben haben. Die anderen hatten noch nicht genügend Leidensdruck. Die
Praxis der letzten dreißig Jahre hat uns jedoch gezeigt, dass der motivierte
suchtkranke Klient eher der Ausnahmefall ist.
In der heutigen Sozialarbeit werden häufig die Begriffe Dienstleitung und
Kunde verwendet. Wenn wir uns fragen, wer ist der Kunde der Sozialarbeit
eigentlich, müssen wir auch die Frage danach stellen, wer die Leistungen des
Sozialarbeiters bezahlt. So können wir bald feststellen, dass in den meisten
Fällen die Leistungen nicht vom Klienten selbst bezahlt werden, so wie es
der Patient in der Arztpraxis über seine Krankenversicherung tut, sondern es
gibt in der Regel zunächst staatlich geförderte Programme, die meistens gesetzlich abgesichert sind (SGB mit BSHG und KJHG usw.). In diesen Fällen
würde dann also der Staat als Kunde gelten, der dem Sozialarbeiter ein Mandat erteilt, denn er bezahlt ja die Leistungen. Tatsächlich kann man genau
dieses Mandantenverhältnis in der Praxis der Suchtkrankenhilfe gut nachvollziehen. Der gesamte niederschwellige Bereich wird als nachgehende Arbeit bezeichnet. Sozialarbeiter als Streetworker oder in den Beratungsstellen
haben den Auftrag, Kontakt zu suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen
herzustellen. Die besondere professionelle Kompetenz der Sozialarbeiter
besteht nun darin, dieses gesellschaftliche Mandat in ein persönliches
Mandat durch den Klienten zu wandeln. Dies nannte man in der Vergangenheit „Motivationsarbeit“. Wenn dies glückt, ändert sich in manchen Fällen auch die Finanzierungsgrundlage von den Sozialhilfeträgern zu den Renten- oder Krankenversicherern. In den Beratungsstellen findet man also ein
gesellschaftliches Mandat im Bereich der gesamten niederschwelligen und
nachgehenden Arbeit sowie in der allgemeinen Beratungsarbeit bis zur Therapievermittlung. Bei den sozialpsychiatrischen Diensten ist dies noch deutlicher, sie suchen die als psychisch auffällig gemeldeten Mitbürger in deren
Wohnungen auf. Sie kritisierten sogar lange Jahre die „Komm-Struktur“ der
Suchtberatung mit dem Argument, dass dadurch nur der weitaus geringere
Teil der Betroffenen erreicht werden würde. Diejenigen Klienten, die nicht in
der Lage wären, einen Hilfewunsch zu artikulieren, würden von den hochschwellig arbeitenden Beratungsstellen nicht erreicht, argumentierten die sozialpsychiatrischen Dienste. Bei vielen Suchtberatungsstellen hat dadurch ein
Umdenken stattgefunden und es wurden Konzepte von nachgehender und
aufsuchender Sozialer Arbeit entwickelt.
Das persönliche Mandat erhält die Sozialarbeiterin dann, wenn es ihr gelungen ist, ihren Klienten in das Programm „ambulante Reha“ überzuleiten
und eine konkrete Einzelfallfinanzierung zu erreichen. Natürlich versucht
auch der Streetworker auf der „Platte“ bereits ein persönliches Mandat zu erringen, was auch in vielen Fällen gelingt. Die besondere professionelle
Kompetenz der Sozialarbeiter liegt folglich in ihrer Fähigkeit, Klienten dazu zu bewegen, sich auf eine persönliche Beziehung zu ihnen einzulassen,
obwohl zunächst nur ein gesellschaftliches Mandat bestand. So wirkt auch
hier Konsensbeschaffung und Therapieleistung zusammen, indem Sozialarbeiter im Sinne des gesellschaftlichen Normenkonsens gleichsam um einen
Therapieauftrag durch ihre Klientel werben. Ein eindeutiges persönliches
Mandat ist erst gegeben, wenn sich der Klient in eine ambulante Psychotherapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten begibt. In der Suchthilfe
und der Psychiatrie schwingt überall noch das gesellschaftliche Mandat mit,
folglich findet in diesen beiden Bereichen grundsätzlich ein Arbeiten im
Spannungsfeld zwischen Konsensbeschaffung und Therapieleistung statt.
(vergl. Schülein, Joh. - Psychoanalyse und Psychoboom, in: Psyche 1978)
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