Die Rolle der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft | S C H W E R P U N K T Das dritte Mandat Eine menschengerechte Gesellschaft bedarf der Sichtweise der Sozialen Arbeit Text: Beat Schmocker Die Soziale Arbeit dürfte in der Gesellschaft eine bedeutendere Rolle spielen, als sie es aktuell tut. Mit ihrer Sichtweise auf die Dinge, präzise artikuliert, liessen sich Antworten auf drängende soziale Fragen finden. Der Berufskodex (BK) Soziale Arbeit Schweiz bietet einen Denkrahmen, der dies vorbereiten hilft. Dessen Kern ist das Tripelmandat der Sozialen Arbeit. Der soziologische Diskurs zur Mandatsfrage der Sozialen Arbeit kreiste noch bis vor Kurzem hauptsächlich um die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion. Danach hätte sie sich auf das Doppelmandat von «Hilfe und Kontrolle» hin auszurichten: Hilfe für die Menschen, die innerhalb des sozialen Gefüges Unterstützung brauchen, und Kontrolle derselben, damit die Hilfe effizient wirkt und die Gesellschaft reibungslos funktionieren kann. Denn von der «funktionalen Inklusionsfähigkeit» der Individuen hänge die «Funktionalität» der Gesellschaft ab, weswegen es notwendig sei, «Adressaten» zu Anpassungsleistungen an die Bedingungen der modernen Gesellschaft zu befähigen (Bommes & Scherr, 2000: 145). Nach dieser Denkweise definiert die «Gesellschaft» Bedarfe und stellt entspre- Soziale Arbeit muss sich einbringen und kommt nicht umhin, sich auch in politisch zu realisierenden Projekten zu engagieren chende Mittel bereit. Im Gegenzug darf sie betroffene Menschen auf ihre Unterstützungswürdigkeit oder -berechtigung hin kontrollieren. Der Sozialen Arbeit käme die Aufgabe zu, zugestandene Mittel nach den vorherrschenden sozial- oder finanzpolitischen Kriterien an die von ihr kontrollierten Menschen zu verteilen. Da dieses seitens der Gesellschaft legitimierte «Doppelmandat» schon sehr alt ist (es geht auf das 18. Jahrhundert zurück), wird es auch als das «erste Mandat» der Sozialen Arbeit bezeichnet (Schmocker, 2011: 47). Bis es zu einem seitens der Klientel legitimierten Mandat – dem «zweiten Mandat» der Sozialen Arbeit – kam, bedurfte es dreihundert Jahre gesellschaftlicher Entwicklung in der Armutsbewältigung und einer emanzipatorischen Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert.1 Mit der ökonomistischen Wende seit den 1980er-Jahren zwar zu- Beat Schmocker, Sozialarbeiter/Sozialwissenschaftler, ist Professor an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und Präsident der Kommission Berufsethik von AvenirSocial. nehmend ausgeblendet, hätte sich die Soziale Arbeit danach auf die berechtigten Ansprüche bedürftiger Menschen (vulnerable people) auszurichten: Sie hätte sich um die legitimen Bedarfe der Menschen zu kümmern und in divergierenden Interessenlagen zwischen Individuen und Gemeinschaft zu vermitteln. Diese «humane» Aufgabenstellung (im Gegensatz zur «gesellschaftlichen» des ersten Mandats) basiert auf der Einsicht, dass die von Not, Mangel oder Ungerechtigkeit betroffenen Menschen selbst am besten wüssten, was sie brauchen, um ihre Situation verändern zu können. So würde der unbedingte Bedarf nicht in der Logik von Organisationen des Sozialwesens oder der gerade herrschenden Sozialpolitik definiert, sondern von den «bedürftigen» Menschen selbst. Bedürfnisse statt Bedarfe Auch wenn das zweite Mandat wichtiger erscheinen mag als das erste, sind beide Vorstellungen nicht ganz befriedigend.2 Das ist einer der Gründe dafür, ein drittes Mandat für die Soziale Arbeit zu postulieren, das von ihrem gegenstandstheoretisch und moralphilosophisch begründeten Menschen- und Gesellschaftsbild ausgeht. Nach diesem stehen weder Bedarfe noch legitime Wünsche im Vordergrund, sondern menschliche Bedürfnisse3. Menschen sind Mitglieder von sozialen Systemen, letztlich der Gesellschaft, weil sie (bio-psycho-soziale) Organismen sind und (wie alle Organismen) Bedürfnisse zu befriedigen haben, ihre Bedürfnisspannungen jedoch nur innerhalb von So­ zialstrukturen und sozialen Systemen – nur als Menschin-Gesellschaft – abbauen können. Das ist das Spezifische am Menschsein. Jeder Mensch ist so grundsätzlich auf andere Menschen angewiesen und darauf, dass die von ­i hnen (und ihm selbst mit-)gebildeten Interaktions- und Posi­tionsstrukturen bedürfnisgerecht ausgestaltet sind. Das «soziale Problem», die praktische Aufgabe, vor der alle Menschen stehen, besteht folglich darin, dass sie für solcherart menschengerecht konstruierte Sozialstrukturen und soziale (inklusive kulturelle, ökonomische oder politische) Systeme permanent sorgen müssen. Sie müssen ihre sozialen Umfelder, in die sie eingebunden sind, ungehindert so mitgestalten können, dass diese den ständig notwendigen Abbau von Bedürfnisspannungen ermöglichen. (BK 4 & BK 7.1) Die Funktion der Sozialen Arbeit bezieht sich folglich auf die spezifische menschliche Handlungsfähigkeit des Lösens sozialer Probleme, d.h. die zweckdienliche Mitgestaltung sozialer Umfelder (BK 7.2). Wenn diese Handlungskompetenz bei bestimmten Menschen nicht, noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist, sei es, weil sie vorüber­ gehend oder andauernd nicht über die notwendigen Möglichkeiten verfügen, sei es, weil sie vor strukturell verbauten oder verwehrten Verwirklichungschancen stehen, dann hat sich Soziale Arbeit um deren (Wieder-)Her­ stellung zu kümmern (Sozialisation und Integration: BK 5.2–5.6) oder/und die Realisierung von menschen- und Nr. 12_Dezember 2014 | SozialAktuell 17 S C H W E R P U N K T | Die Rolle der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft sozialgerechten Strukturen voranzubringen (Kohäsion: BK 5.7–5.9). Hierin liegt denn auch der spezifische Beitrag der So­zialen Arbeit an die Entwicklung der Gesellschaft. Menschenwürde und Gerechtigkeit Diese (hier nur skizzierte) gegenstandstheoretische Begründung des dritten Mandats bedarf zwingend einer entsprechenden moralphilosophischen Absicherung. Im Zentrum der Berufsethik Sozialer Arbeit steht denn auch der Sollens-Imperativ, für soziale Gerechtigkeit mit zu sorgen und auf der unbedingten Einhaltung der Menschenrechte zu bestehen (BK 7.3). Denn «gut» ist eine Gesellschaft aus ihrer Sicht, wenn sie Realisierungschancen für menschenund bedürfnisgerechte Kooperationsgemeinschaften ermöglicht. Grundlage für diese ethische Basis Sozialer Arbeit ist einerseits ein («relationales») Konzept der «Menschenwürde»4 und andererseits ein (ebenfalls «relationales») Konzept sozialer Gerechtigkeit5. So argumentiert wird klar, dass sich Soziale Arbeit einbringen muss und nicht umhinkommt, sich auch in politisch zu realisierenden Projekten zu engagieren. Die moralische Aufgabe der Professionellen besteht dort mindestens darin, «die berechtigten Anliegen der KlientInnen und die Erfordernisse von Professionalität an den Arbeitgeber und die Behörden heranzutragen, und die dadurch entstehenden Konflikte ­einer­seits als zu ihrer Rolle gehörend zu behandeln, andererseits auch mit professionellen Mitteln zu bearbeiten» (Obrecht, 2005: 161). Das dritte Mandat der Sozialen Arbeit ist somit ein «Tripelmandat»6, das sich (1) aus ihrem gegenstandstheoreti- 18 SozialAktuell | Nr. 12_Dezember 2014 schen und (2) moralphilosophischen Wissen zusammensetzt und (3) auf den Prinzipien der Menschen- und Sozialrechte gründet, welche die professionsunabhängige Legitimationsbasis für die vom professionellen Wissen abhängige Argumentation bilden. Wer mit dem dritten Mandat öffentlich argumentiert, rückt «selbstbestimmt» die Handlungsverantwortungen der Sozialen Arbeit gegenüber der Klientel, der Gesellschaft sowie der eigenen Profession in den Vordergrund. So geraten auch wieder Aspekte wie «Vermögen» oder «Kompetenz» (im Sinne von Fähigkeiten aufgrund von Sachverstand, Fertigkeiten aufgrund von methodisch angeleitetem Können und Berechtigung aufgrund aufgetragener Pflichten) in die öffentlichen Debatten. Und so werden z. B. privatisierte Nöte wieder differenziert beim Namen genannt und sichtbar gemacht. Oder es werden die Neuverteilung der Arbeit oder die Einführung bedürfnisgerechter Grundeinkommen fachlich begründet. Oder Soziale Arbeit könnte sich dafür einsetzen, «dass die Wirtschaft nicht nur die Wirtschaftlichkeit des Sozialwesens einfordern kann, ohne sich der Forderung nach der Sozialverträglichkeit der Wirtschaft zu stellen» (Staub-Bernasconi, 2007: 310). Klare Stellungnahmen als Beitrag Das dritte Mandat7 ist ein Auftrag an die Soziale Arbeit und ein Angebot bzw. ein Beitrag an die Gesellschaft zugleich. Selbstverständlich ist die Sichtweise der Sozialen Arbeit nicht die einzig wahre, aber sie würde in der Gesellschaft fehlen, würden Professionelle der Sozialen Arbeit sie nicht prominent einbringen. Die präzise und deutlich Die Rolle der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft | S C H W E R P U N K T wahrnehmbare Artikulation ihrer Sichtweise sowie das Einstehen für deren Umsetzung steigert nicht nur ihre Qualität, sondern leistet der Gesellschaft auch gute Dienste. Der Kodex Soziale Arbeit Schweiz stellt dazu exemplarisch dar, wie Professionelle mit moralischer Kompetenz über das professionelle Handlungsverständnis der Sozialen Arbeit gegenüber all ihren Verantwortungsbereichen Auskunft geben können, z. B. –– über die Notwendigkeit, Menschenrechte zugunsten der KlientInnen (BK 12) und soziale Gerechtigkeit gegenüber der Gesellschaft einzufordern (BK 14), oder –– über die Pflicht zur interprofessionellen Kooperation und fachlichen Sorgfalt gegenüber FachkollegInnen (BK 16) sowie zur Weiterentwicklung des Diskurses und Wissens innerhalb der eigenen Profession (BK 15) oder –– über die Sorgfalt bezüglich ­Effektivität und ­L oyalität den Anstellungsträgern und den eigenen Organisationen gegenüber (BK 13) und –– nicht zuletzt bezüglich Weiterentwicklung der beruf­ lichen Integrität, Identität und Leistungsfähigkeit der eigenen Person (BK 11). Ich danke Sarah Maria Lohr für ihre wertvollen Hinweise und ihre Unterstützung. Literatur AvenirSocial (2010). Berufs-Kodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die P­ raxis der Professionellen. Bern: AvenirSocial. Bommes, Michael & Scherr, Albert (2000). Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim: ­J uventa. Obrecht, Werner (2006). Interprofessionelle Kooperation als professionelle Methode. In: Schmocker, Beat (Hrsg.). Liebe, Macht und Erkenntnis. Luzern/Freiburg i.Br.: interact & Lambertus. Schmocker, Beat (2011). Soziale Arbeit und ihre Ethik in der Praxis. Bern: AvenirSocial. Staub-Bernasconi, Silvia (2007). Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Bern: Haupt UTB. Fussnoten 1 D ies begann in den 1950er-Jahren z. B. in der Medizin etwa damit, dass erste Mütter sich dem Diktat des ihre Kinder impfen-lassen-Müssens wiedersetzten. 2 Staub-Bernasconi (2007: 126 f.) plädiert für die Zusammenschau beider Perspektiven. Eine elaborierte Theorie Sozialer Arbeit brauche sowohl die gesellschaftsbezogene Makro­ perspektive als auch die individuumsbezogene Mikroperspektive, unter der Voraussetzung allerdings, dass keine der beiden die je andere dominiere. Nur beide «Blickrichtungen» zusammen – von der Gesellschaft «abwärts» Richtung Individuum (erstes Mandat) und von den Individuen «aufwärts» Richtung Gesellschaft (zweites Mandat) – führten zu adäquaten Lösungen von Handlungsproblemen und -entscheidungen in der Praxis ­S ozialer Arbeit. 3 E s ist hier klar zwischen dem Term «Bedürfnis» und dem Term «Bedarf» zu unterscheiden. Der Unterschied liegt auf einen kurzen Nenner gebracht darin, dass ein Bedürfnis bzw. Bedürfnisse (organismische) Werte (also: angestrebte Zustände von Organismen) und ein Bedarf bzw. Bedarfe (gesellschaftliche) Normen (also: von sozialen AkteurInnen akzeptierte Vorstellungen über die Regelungen der Befriedigung der unterschiedlich elastischen Bedürfnisse innerhalb einer Gesellschaft) sind. Der Plural von «Bedarf» ist also nicht «Bedürfnisse», sondern «Bedarfe». 4 D ie Menschenwürde «relational» zu verstehen, heisst, vor allem die Qualität der Beziehungen der Menschen untereinander zu sehen und die Frage, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sich gegenseitig behandeln, mit dem Kriterium der moralischen Pflicht, einander gegenseitig zum Recht auf das Leben zu verhelfen, zu bewerten. Nach diesem Verständnis ist «Menschenwürde» kein «attributives» Konzept und die Würde nicht etwas, was ein Mensch besitzt oder eben nicht und was man (wer auch immer) ihm verleihen oder eben auch wieder wegnehmen könnte. 5 S oziale Gerechtigkeit wird hier als eine kooperative Handlungsweise, welche behindernde Sozialstrukturen zu verändern vermag, verstanden. Gerecht geht es zwischen den Menschen zu, wenn sie im Umgang miteinander dafür sorgen, dass es dem andern gut geht. Ein ­g utes Leben führen heisst folglich gerecht handeln. Und ob es ein ­«richtiges» Handeln (bzw. ein «gutes» Leben) ist, kann immer nur in einzelnen konkreten Situationen auf der Grundlage einer Theorie des ko­o perativen Handelns entschieden werden. 6 D ie Einführung des Begriffes «Tripel-Mandat» geht auf Silvia StaubBernasconi zurück, nach der sich das dreiteilige «dritte Mandat» der Sozialen Arbeit aus ihrem gegenstandstheoretischen (inklusive handlungstheoretischen) Wissen (1), aus ihrer ethischen Basis (insb. WerteWissen und Berufskodex) (2) sowie den Menschenrechten als Legitimationsbasis (3) zusammensetzt (2007: 200). Es geht also von einer allgemeinsten «objektiven» Basis (3) aus, von wo aus die Soziale ­A rbeit ihre kollegiale Beratung (2) und ihre kollegiale Selbstkontrolle (1) legitimiert. 7 D en Begriff «Mandat» muss man übrigens nicht so verstehen, wie ihn die Advokaten verstehen. «Mandat» ist ein zusammengesetztes Kunstwort aus manus = die Hand und dare = geben; es bedeutet wörtlich übersetzt also schlicht: die Hand geben. Und für die Soziale Arbeit heisst das wohl auf alle Seiten hin, aber immer im Interesse der Klientel «die Hand reichen», «vermitteln», «inter-venieren» (also dazwischen-­t reten), Brücken bauen. Nr. 12_Dezember 2014 | SozialAktuell 19