- Universität Bremen

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Hinweis: Dieser Text hat noch immer den Charakter einer Materialsammlung. In
einigen Bereichen ist er durch die neue Weltwirtschaftskrise überholt bzw.
ergänzungsbedürftig. Eine Neufassung ist in Arbeit und soll bis Ende 2009 fertig gestellt
werden. Die Drucklegung ist für Anfang 2010 vorgesehen. Eine Kurzfassung des
überarbeiteten Texts ist ebenfalls geplant.
Ökonomisches Orientierungswissen
zum Verständnis aktueller wirtschaftstheoretischer und
wirtschaftspolitischer Debatten
aus Wissensbeständen der akademischen Wirtschaftswissenschaft
ausgewählt und kommentiert von Prof. Dr. Gerhard Leithäuser (Universität
Bremen, Akademie für Arbeit und Politik Bremen)
i
Ökonomisches Orientierungswissen
Gliederung
A) Vorbemerkung
S.
5
1) Was hat es mit dem ökonomischen Orientierungswissen
auf sich?
2) Ökonomisches Orientierungswissen als Beitrag zur Aufklärung
und zur Emanzipation
3) Ein kurzer Blick auf den gegenwärtigen Zustand
der Wirtschaftswissenschaft
S. 5
4) Anmerkungen zur Gliederung
S. 8
5) Didaktische Hinweise
S. 10
B) Gesamtwirtschaftliche Grundmuster
1) Orientierungshilfen für den langen Marsch zur
wirtschaftlichen Wirklichkeit
2) Ein Beispiel für einen Gesamtzusammenhang aus
der evolutorischen Ökonomik
3) Allgemeines Gleichgewicht und Kapitalkreisläufe als
Abbildungen von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen
4) Wachstum ohne Grenzen?
5) Unvollständige Reproduktion in entwickelten kapitalistischen
Marktwirtschaften
6) Zyklische Bewegungen der wirtschaftlichen Aktivität
7) Krise, Prosperität, Depression und Stagnation
8) Staatstätigkeit: vom absolutistischen zum bürgerlichen Staat?
9) Staatsfunktionen
10) Wirtschaftspolitik
11) Vom Budgetdefizit zur Staatsschuld und ihren
wirtschaftlichen Wirkungen
12) Entweder Inflation oder Arbeitslosigkeit: die Phillipskurve
und die „natürliche“ Arbeitslosigkeit
13) Wechselkursregime und Währungspolitik
14) Zentren und Peripherien der wirtschaftlichen Entwicklung
15) Macht und ökonomisches Gesetz – ökonomisches Gesetz
als Macht
16) Zur Entwicklungslogik kapitalistischer Marktwirtschaften
17) Einige Zwischenergebnisse
S.
13
S. 13
S. 44
S. 47
S. 56
S.
S.
S.
S.
S.
S.
59
60
63
64
66
68
S. 74
S. 76
S. 79
S. 91
S. 93
S. 96
S. 98
ii
C) Zur Funktionsweise einzelner Märkte
1) Angebot und Nachfrage auf Gütermärkten
2) Ist der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere?
3) Ein globalisierter Arbeitsmarkt: Schiffsbesatzungen
4) Zur Steuerungsfunktion von Finanzmärkten
5) Eingeschränkte Effizienz in kapitalistischen Marktwirtschaften
6) Emissionshandel und saubere Luft
D) Einzelwirtschaftliche Grundmuster
1) Die Produktion: Perspektiven der akademischen
Wirtschaftswissenschaft
2) Marktform und Wettbewerbsstrategie
3) Von der einzelwirtschaftlichen Betrachtung zurück zur
gesamtwirtschaftlichen Ebene
S. 102
S. 102
S. 105
S. 115
S. 118
S. 122
S. 126
S. 128
S. 128
S. 134
S. 140
E) Die Wirtschaftswissenschaft ein unvollendetes Mosaik
der Lage aber kein Kalleidoskop
S. 144
F) Zukunftsentwürfe: Marktradikalismus – soziale
Marktwirtschaft – Marktsozialismus – Lebensweltökonomie
S. 156
G) Statt eines Schlusswortes
S.
Listen der Kästen und Abbildungen
1) Liste der Kästen
Kasten B1: Kann die Marktwirtschaft Wunder vollbringen?
Kasten B2: Der Fetischcharakter der Ware und sein
(offenkundiges) Geheimnis
Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren
Kasten B4: Ein Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart
Kasten B5: Was ist Geld?
Kasten B6: Outsourcing und der Transfer von Arbeitsplätzen
S. 15
S.
S.
S.
S.
S.
24
43
45
52
54
iii
Kasten B7: Die vorrevolutionäre „taille“, eine Repartitionssteuer mit
kontraproduktiven Anreizen und einige Hinweise auf die
Salzsteuer
Kasten B8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik
Kasten B9: Multiplikatoranalyse
Kasten B10: Internationale Organisationen, Nationalstaaten, Märkte
angesichts der Bedrohung durch die Vogelgrippe
Kasten B11: Kurssicherungsgeschäfte (hedging)
Kasten B12: Wirtschaftspolitische Reaktionsmöglichkeiten auf einen
äußeren Schock
Kasten B13: Kaufkraftparitäten und der Big-Mac-Standard
Kasten B14: Der Absorbtionsansatz
Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder
das ökonomische Gesetz als Macht
S. 65
S. 68
S. 70
S. 72
S. 83
S. 85
S. 88
S. 88
S. 95
KastenC16: Gestrandet im Niemandsland
Kasten C17: Spielleidenschaft und Tulpenzwiebel
Kasten C18: Emissionszertifikate
S. 115
S. 119
S. 127
Kasten D19: Opel und die Kartoffelschälerin
Kasten D20: Rationalitätsfalle und Sparparadox
S. 133
S. 140
2) Liste der Abbildungen
Abbildung Ba: Innovationscluster
Abbildung Bb: Einkommenskreislauf mit Vermögensänderung,
Ausland und Staat
Abbildung Bc: Kapitalkreisläufe nach Marx
Abbildung Bd: Konjunkturzyklus auf steigendem Trend
Abbildung Be: Lange Wellen der wirtschaftlichen Aktivität
Abbildung Bf: Die Phillipskurve und die „natürliche“ Arbeitslosigkeit
Abbildung Bg: Dreieck der Unvereinbarkeiten
Abbildung Bh: J-Kurve und Dollarabwertung
S. 30
Abbildung Ci: Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht
Abbildung Cj: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage
Abbildung Ck: Arbeitsangebot bei Arbeitslosenhilfe oder Vermögen
Abbildung Cl: Lohnhöhe und Beschäftigung bei Vollbeschäftigung
Abbildung Cm: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage
bei Mindestlöhnen
Abbildung Cn: Lohnhöhe und Beschäftigung auf dem globalisierten
Arbeitsmarkt für Seeleute
Abbildung Cn: Dreiecks-Arbitrage
S. 102
S. 106
S. 108
S. 110
S.
S.
S.
S.
S.
S.
S.
35
52
61
62
76
84
86
S. 111
S. 117
S. 120
iv
Abbildung Do: Produktionsfunktion
Abbildung Dp: Lernkurve
S. 129
S. 131
G) Anhang
S 160
1) Erklärung wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe
2) Skizzen für weitere Fallbeispiele
3) Grobgliederung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung,
des Staatshaushalts und der Zahlungsbilanz
5) Kommentierte Literatur
6) Weiterführende Literatur
S.
S.
S.
S.
S.
v
vi
Ökonomisches Orientierungswissen
A) Vorbemerkung
1) Was hat es mit einem ökonomischen Orientierungswissen auf sich?
Der Begriff der Orientierung stammt aus der Seefahrt. Eine
Himmelsrichtung, z.B. der Sonnenaufgang im Osten (Orient) wird
angesteuert. Das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm ordnet dem
Verb „orientieren“ drei Bedeutungsrichtungen zu (Grimm 2004). Einmal
steuert man andere Weltgegenden an, um sich einen Überblick zu
verschaffen. Zum zweiten versucht man, sich in Bereichen oder
Verhältnissen zurechtzufinden. Drittens aber soll man sich im Denken
orientieren1.
Diese drei Bedeutungsrichtungen des ökonomischen Orientierungswissens
sollen diesem Text zugrunde gelegt werden. Wir brechen auf aus der engen
Weltgegend unseres Alltagsbewusstseins. Wir wollen uns in Richtung auf
die Wirtschaftswissenschaft hin orientieren und versuchen, uns dort einen
Überblick zu verschaffen. Wir werden dabei einige ökonomische Gebiete
betreten und in einige gesellschaftliche Verhältnisse eindringen. Dort
wollen wir zweitens anhand von Fallbeispielen einige Aspekte
ökonomischer Theorien und Wirtschaftspolitiken näher kennen lernen.
Drittens wollen wir lernen zu verstehen, wie Ökonomen denken, oder wie
Ökonomen versuchen, wirtschaftliche Probleme zu erkennen und zu lösen.
Das ist alles andere als einfach. Vielleicht geht uns selbst dabei ein Licht
auf, das uns bei der Orientierung hilft?
Ökonomisches Orientierungswissen ist erforderlich, um aus dem Labyrinth
des Alltagsbewusstseins, das sich besonders gern über ökonomische
Zusammenhänge äußert, herauszukommen. Thomas Leithäuser und Birgit
Volmerg bestimmen den Begriff des Alltagsbewusstseins folgendermaßen:
„Alltagsbewusstsein ist demnach die individualisierte, d.h. von den
Mit dieser Frage hatte sich Kant in seinem Aufsatz „Was heißt sich im Denken orientieren?“ aus dem
Jahr 1786 auseinandergesetzt (Kant, Band 5,1983: 267ff.)
1
1
Individuen in Sozialisationsprozessen erworbene Form eines
allgemeinen, gleichwohl partikularisierten und parzellierten (an
aktuelle soziale Situationen gebundenen) gesellschaftlichen
Bewusstseins.“ (Leithäuser, Volmerg 1981:18/19).
Sie unterscheiden zwischen einem depositären und einem thematisierenden
Das Alltagsbewusstsein hat sowohl depositären als auch thematisierenden
Charakter(ebendort:19ff.). Die depositäre Seite des Alltagsbewusstseins
verfestigt die von den Massenmedien übermittelten und sonst irgendwie
aufgeschnappten ökonomischen Wissenspartikel. Die thematisierende Seite
dagegen auf und benennt ökonomische Probleme.
Dazu ein Beispiel. „Wir müssen sparen“! Das gilt sicher für einen privaten
Haushalt, der sein Konto überzogen hat und von der seiner Bank
aufgefordert wird, das Konto auszugleichen. Der Kauf eines neuen Autos
muss verschoben werden, der Auslandsurlaub fällt dieses Jahr flach und
wir bleiben zu hause usw. Wenn aber alle privaten Haushalte anfangen zu
sparen, auch wenn das Konto in Ordnung ist, dann hat das wirtschaftliche
Folgewirkungen. Die Wirtschaft erhält weniger Aufträge. Sie kauft
weniger Vorprodukte und Rohstoffe. Auf allen Produktionsstufen kommt
es zu noch weniger Aufträgen. Arbeitskräfte werden entlassen. Ihre
Kaufkraft nimmt ab und sie müssen nun sparen. Die Wirtschaft erhält noch
weniger Aufträge und so fort. Die Wirtschaft wächst nicht mehr. Sie
stagniert oder schrumpft sogar. In der Wirtschaftswissenschaft spricht man
dann von einer Rationalitätsfalle. Was für den einzelnen privaten Haushalt
richtig ist, wird zum Problem, wenn alle Haushalte es tun. Das
Alltagsbewusstsein kann mit dieser Situation wenig anfangen. Einerseits
ist doch sparen richtig, wirtschaftlich und moralisch doch auch: „Das ist
doch wohl jedem klar...“. Andererseits aber thematisiert das
Alltagsbewusstsein, dass mit dem Sparen vielleicht doch Probleme
verbunden sein könnten.
Aus der Perspektive des Alltagsbewusstseins ist nicht leicht einzusehen,
dass das, was für den einzelnen Haushalt eindeutig richtig ist – Sparen! –
auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene ausgerechnet falsch sein soll (Siehe
Kasten D20: Rationalitätsfalle und Sparparadox. S. §§§§). Ein
ökonomisches Orientierungswissen hält Elemente für weitere Fragen und
für Antworten bereit. Wir müssen das bequeme, oft auch lieb gewonnene
Gartenhäuschen unseres Alltagsbewusstsein verlassen und uns auf den
steinigen Weg zur wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis begeben.
2
Vielleicht werden wir fündig? Könnte es uns nicht sogar Spaß machen, die
albernen Halbwahrheiten des Alltagsbewusstseins zu knacken?
Von weitem wird eine Wissenschaft oft wie eine riesengroße Ansammlung
von Kenntnissen wahrgenommen. Die einzelnen Wissensbereiche – Pakete
mit Kenntnissen – scheinen abgepackt bereitzustehen. Ähnlich wie bei
einem Supermarkt braucht man sich offenbar nur einen Wagen zu nehmen,
an den Regalreihen entlang zu gehen und aufzuladen, was man zu
brauchen glaubt. Ein Blick auf das Verfallsdatum ist sicher nicht falsch.
Auch in den Wissenschaften ist manches veraltet und vergammelt. Und
jetzt raus hier. Die Sachen ins Auto. Nach hause. Abladen, in die Wohnung
schleppen, auspacken, wegräumen. So, das war’s. Entspannung ist
angesagt. Wo hab ich die Fernbedienung wieder hingelegt? Ausstrecken,
Füße hoch. Auf dem Bildschirm geht das wahre und wirkliche Leben dann
endlich weiter!?
Die ständige Wiederholung der alltäglichen Gesten wird von unserem
Alltagsbewusstsein gesteuert und gibt ihm eine Routine, die wir brauchen
und die wir gern auf andere Bereiche übertragen. Das ist bequem. Doch
leider geht das nicht immer. So einfach wie in den Supermärkten ist die
Sache mit den Wissenschaften nicht. Da liegt nichts abgepackt bereit, das
man mir nichts dir nichts in seinen Wagen laden und dann getrost nach
hause tragen kann.
In ihrer Darstellung des Alltagsbewusstseins haben Thomas Leithäuser und
Birgit Volmerg eindringlich auf die „Übertragung alltagspraktischer
Regeln“ hingewiesen. Sie stellen fest:
„Das Alltagsbewusstsein ist dadurch charakterisiert, dass es keine
neuen Horizonte erschließt; es bewegt sich im Rahmen
unwesentlicher Horizontverschiebungen.....Es ordnet sich den gesellschaftlichen
Verhältnissen vor, weiß immer, was geschieht und wie etwas gemacht werden muss.
So macht es sich zu einem bornierten Alleswisser“(Leithäuser, Volmerg 1981:47).
Zu einem bornierten Alleswisser wohlgemerkt, der im Gartenhäuschen
sitzt und mit einer Flasche Bier in der Hand uns mit dem Brustton der
Überzeugung die Welt erklärt. Ihm ist mit Argumenten gar nicht so leicht
beizukommen. Mit einem milden Lächeln zieht er sich auf seine
Alltagsweisheiten zurück und weiß es eben besser.
3
Schon früh in der griechischen Antike sorgte der Gegensatz zwischen
Besserwisser und Wissenschaftler für Heiterkeit. Der „bornierte
Alleswisser“ ist dem weltfremden Wissenschaftler zuweilen überlegen.
Neben der Vernunft kannte schon die griechische Philosophie für den
Alltag die listige Intelligenz, mit der man sich im Leben auch ohne
Philosophie und Wissenschaft, vielleicht sogar besser ohne sie, behaupten
kann. Alltagsbewusstsein plus eine Prise Schlauheit? Warum soll das denn
zur Bewältigung des Alltags denn nicht reichen? Mit Schlauheit und
Gerissenheit kommt man im Wirtschaftsleben doch ganz gut zurecht. Auch
bornierte Besserwisser können bekanntlich schnell und unverschämt reich
werden. Wozu dann ökonomisches Orientierungswissen? Der britische
Ökonom John Maynard Keynes nannte solche oft sehr erfolgreichen
Unternehmer „animal spirits“ (Tiergeister). Bei Hegel bewohnen solche
Menschen das „geistige Tierreich“. In der antiken griechischen Literatur
verkörpert der listenreiche Odysseus auch diese Schlauheit, die ihm
schließlich den Rückweg in die finden hilft, allerdings mit jahrelanger
Verspätung und über weite Strecken orientierungslos.
Der griechische Philosoph, Astronom und Mathematiker Thales (627 – 547
v. Chr.) dagegen wäre beinahe sogar Opfer seines Wissensdurstes
geworden. Bei der Beobachtung der Gestirne fiel er in eine Ziterne und
wäre fast ertrunken, wenn ihn nicht eine Sklavin auf seine Hilferufe hin
aus dem Wasser gezogen hätte. Sie fragte ihn, wie ihm denn bei Nacht so
etwas passieren konnte. „Ich habe die Bahnen der Gestirne beobachtet!“
war seine Antwort. – Sie lachte ihn aus: „Wie willst du denn die Bahnen
der Sterne erkennen, wenn du nicht einmal deinen Weg hier unten auf der
Erde findest?“
Die Geschichte von Thales hatte bereits zur Zeit der griechischen Antike
Jahrhunderte für Spott gegen die scheinbar weltfremde Philosophie
gesorgt. Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) hat mit einer Anekdote eine
Ehrenrettung des Thales versucht. Thales habe herausgefunden, dass
zwischen dem Stand der Sterne und den Ernteerträgen eine Beziehung
besteht. Er habe nicht nur die Sonnenfinsternis vom 28. 05. 585 v. Chr.
richtig vorausgesagt sondern einmal auch eine sehr gute Olivenernte
vorausgesehen. Er habe in seiner Heimatstadt Milet und der Umgebung
sämtliche Ölmühlen billig gepachtet und als die reichliche Olivenernte zu
Öl gepresst werden sollte, habe er hohe Preise verlangt. Auf diese Weise
habe er ein Vermögen gewonnen. Der große Thales als mieser Spekulant,
der sein „Insider-Wissen“ nutzt, um hart arbeitende bzw. ihre Sklaven
4
antreibende Olivenbauern über den Tisch zu ziehen? Das konnte schon
damals so nicht stehen bleiben. Thales habe – so behauptet Aristoteles in
seiner Anekdote – das auf zweifelhafte Weise gewonnene Vermögen
verschenkt, da er am Reichtum nicht interessiert gewesen sei (nach
Blumenberg 1987: 24/25). Ohne Astronomiekenntnisse, ohne
wirtschaftliche Kenntnisse hätte Thales den Coup nicht landen können...
Auch unter den modernen Wirtschaftswissenschaftlern gibt es Gewinner
und Verlierer. John Maynard Keynes war einer der den großen Gewinner.
Er war nicht nur ein bedeutender Theoretiker sondern er hat nicht nur sein
eigenes sondern auch das Vermögen seiner Universität an der Börse stark
vermehrt. Irving Fisher dagegen, als Vater der Quantitätsgleichung
ebenfalls ein anerkannter Wirtschaftstheoretiker, hatte im praktischen
Wirtschaftsleben sogar großes Pech (Siehe Kasten B8: Quantitätsgleichung
und Geldpolitik). Er hatte bei der Familie seiner Frau, die aus dem New
Yorker Geldadel stammte, sehr hohe Kredite für Börsenspekulationen
aufgenommen und 1929 beim großen Börsenkrach sehr hohe Verluste
eingefahren. Keynes Ruhm als großer Ökonom wurde noch größer. Fisher
hatte die Spötter gegen sich, die auch seine Kompetenz als
Wirtschaftswissenschaftler ins Lächerliche zogen. Wenn er nicht einmal an
der Börse mit fremdem Geld zurecht kommt, wie kann er dann...Marx, der
zum praktischen Wirtschaftsleben wenig Begabung zeigte, hätte ohne die
materielle, emotionale und intellektuelle Unterstützung des geschickten
Wirtschaftspraktikers und Förderers Friedrich Engels, seine Werke weder
schreiben noch veröffentlichen können. Engels hatte Marxens Genie
frühzeitig erkannt. Er war dem charakterlich schwierigen Marx ein treuer
Freund, darüber hinaus aber auch ein bemerkenswerter
Gesellschaftswissenschaftler und ein hervorragender Organisator.
Wenn man selbst aus seinem starren und begrenzten Alltagsbewusstsein
heraus spontan wirtschaftlich erfolgreich handeln kann, wozu dann
ökonomisches Orientierungswissen oder gar Wirtschaftswissenschaft?
Eine neue Debatte um das Werk von Adam Smith greift diese Frage auf.
Adam Smith unterstellt, dass Unternehmer wie Bäcker, Metzger und
andere Klein- und Mittelbetriebe seiner Zeit in der Lage waren, ihre
Interessen ohne Beratung durch Politiker oder Gesetzgeber: Smith
formuliert im Zusammenhang mit der Beschreibung der „unsichtbaren
Hand“, d.h. den Marktmechanismus, der das allgemeine Gleichgewicht
herstellt:
5
„In welchem Zweig der heimischen Erwerbstätigkeit er sein Kapital
anlegen kann, und bei welchem das Erzeugnis den größten Wert zu
haben verspricht, das kann offenbar jeder einzelne je nach den
Ortsverhältnissen weit besser beurteilen, als es irgendein Staatsmann
oder Gesetzgeber für ihn tun kann (Smith 1776, IV. Buch: 236).
Das mag in einer Wirtschaft von städtischen Handwerkern im ausgehenden
18. Jahrhundert so gewesen sein. Hier mag das Alltagsbewusstsein gereicht
haben, um Geschäfte anzubahnen und abzuschließen. Widerstand gegen
die Unwirtlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangt in unserer
Zeit einiges mehr an ökonomischem Wissen und Orientierungsvermögen.
Ein ökonomisches Orientierungswissen kann bei Ausbruchsversuchen aus
den Gefängnissen des Alltagsbewusstseins, in denen die
Wirtschaftssubjekte gefangen sitzen, durchaus hilfreich sein. Die weithin
unbekannten wirtschaftlichen Wirklichkeiten, die so nicht sein müssten,
wie sie leider sind, können vom Alltagsbewusstsein vielleicht stabilisiert
nicht aber analysiert werden. Das Weltverständnis des Alltagsbewusstseins
ist viel zu eng begrenzt, um die schnell sich verändernde wirtschaftliche
Wirklichkeit im weltwirtschaftlichen Zusammenhang erfassen zu können.
In der heutigen komplexen international verflochtenen kapitalistischen
Marktwirtschaft trifft die Annahme von Adam Smith über die
Überschaubarkeit der wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht mehr zu. Der
Bedarf an Orientierung und Beratung ist groß und er vergrößert sich
schnell. Auch die animal spirits von Keynes haben unter den heutigen
Bedingungen nur die Chance eines blinden Huhns, das hin und wieder
auch einmal ein Korn findet. Uns geht es im Alltag auf Schnäppchenjagd
auch nicht anders.
Dreistufig organisiertes ökonomisches Orientierungswissen führt uns zu
einer Ortsbestimmung. Wir können einen Überblick über die
Wirtschaftswissenschaft gewinnen. Wir versuchen, uns in Teilbereichen
der Wirtschaftswissenschaft zurecht zu finden. Wir versuchen uns einen
Einblick zu verschaffen, wie Ökonomen denken. Damit haben wir uns in
eine Position gebracht, die uns hilft, unsere Stellung in der Welt der
Wirtschaft zu verstehen. Wir können versuchen, unser Selbstverständnis
und unser Weltverständnis genauer zu fassen.
6
2) Ökonomisches Orientierungswissen als Beitrag zur Aufklärung und
zur Emanzipation?2
Ähnlich wie der Begriff der Orientierung bezieht sich auch die
Wortbedeutung von Aufklärung auf Licht und Erleuchtung. Kant hat in
seiner Schrift „Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?“ die folgende
berühmte Definition an den Anfang gestellt:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit“(Kant 1784:53)...Habe den Mut,
dich deines Verstandes zu bedienen!“ (ebendort),
ruft er uns zu! In unserem Alltagsbewusstsein findet eine solche
Aufforderung keinen großen Widerhall. Aufklärung ist nicht zuletzt
deshalb für Kant ein langwieriger Prozess. Er schreibt:
„Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen“
(ebendort S. 54/55).
Kant sah sich nicht in einem aufgeklärten Zeitalter sondern in einem
Prozess der Aufklärung, der auch für uns heute noch längst nicht
abgeschlossen ist (ebendort S. 59). Geradezu prophetisch für das
neunzehnte, das zwanzigste Jahrhundert und unsere Zeit sagt er bereits
1784, also schon vor der französischen Revolution:
„Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von
persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger
Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande
kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten,
zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens
dienen“(ebendort:55).
Das Alltagsbewusstsein, mit der Kants Bemerkung über Denkungsart und
Vorurteile weitgehend deckungsgleich ist, ist zäh und langlebig!
In derselben Schrift sieht Kant klar, dass sein Geschäft der Aufklärung
nicht nur langwierig ist, sondern auch Fleiß, Interesse und Motivation
voraussetzt.
Im „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ von Wolfgang Pfeifer wird Aufklärung definiert als
„Belehrung, Wissensvermittlung, Erkundung“. Emanzipation bedeutet in diesem Wörterbuch: Befreiung von
Bevormundung“. Beide Begriffe werden dort in den historisch-politischen Zusammenhang des Kampfes gegen
die absolutistische Willkür gestellt.
2
7
„Es ist so bequem, unmündig zu sein.“...“Ich habe nicht nötig zu
denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das
verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“ (ebendort:55).
Ganz ähnlich wie diejenigen, die heute glauben, sie könnten Wissenschaft
oder Wissensbestände im Supermarkt der Lehranstalten abgepackt
aufladen und nach hause schaffen3. Vielleicht aber ist das Geschäft des
Denkens gar nicht so verdrießlich, wie Kant es hier beschreibt. Vielleicht
ist es sogar ein Vergnügen. Wirft man auch nur einen kurzen Blick auf
Kants gesammelte Werke, dann muss man wohl annehmen, dass ihm das
Denken ungewöhnlich großen Spaß gemacht hat!
Horkheimer und Adorno vertreten die Ansicht, dass Aufklärung selbst in
den Mythos umschlägt, den sie zu bekämpfen vorgibt. Was ist unter
Mythos zu verstehen? Die Autoren gehen mit Definitionen sehr sparsam
um. Für die folgende Betrachtung können wir uns fürs erste mit der
folgenden einfachen Begriffsbestimmung begnügen. Der Mythos stammt
aus einer Vorzeit, in der die Lebenszusammenhänge der Menschen von
Dämonen, Göttern und Helden bestimmt zu sein schienen. Menschen
erlebten und erlitten ihre Lebenszusammenhänge abergläubisch als
Schicksal, das für sie rational nicht fassbar war.
Horkheimer und Adorno haben darauf hingewiesen, dass Aufklärung auch
in einen spiralähnlichen Prozess einmünden kann, der in die Barbarei
abstürzt. Sie beziehen sich auf dialektische Denkfiguren, mit denen sie
versuchen, widersprüchliche Entwicklungen zu entschlüsseln. In ihrer
Studie „Dialektik der Aufklärung“ haben sie diese Methode angewendet
(Horkheimer, Adorno 1944). Sie konnten zeigen, dass Aufklärung in
instrumentelles Wissen umgewandelt wurde, das nicht wie beabsichtigt zur
Befreiung sondern zur Herrschaft über Menschen und Natur Verwendung
findet. Industrielle oder militärische Arbeitsorganisation und
Transportlogistik wurden in Deutschland sogar zur massenhaften
Vernichtung von Menschen eingesetzt. Von diesen historischen
Erfahrungen bestätigt gilt die Autoren gilt: „Aufklärung ist totalitär“
3
Oder jene, die in den Universitäten die Studiengänge reformieren und glauben, dass Wissenschaften in
Module zerhackt und wie Legosteine stets neu zu bunten, werbewirksamen und marktgängigen
Studienabschlüssen zusammengesteckt werden können. Hoffentlich spielt ihnen der Arbeitsmarkt, das ihnen
meist ganz und gar unbekannte Wesen, keinen Streich. Es wäre doch blamabel für sie und eine Katastrophe für
die gutgläubigen Studenten, wenn die frisch gebackenen Kulturwissenschaftler oder die berittenen
Hochgebirgsmanager mit Taucherfahrung am Ende keinen Job finden würden, weil ihre exotischen
Berufsbezeichnungen in der Wirtschaftspraxis völlig unbekannt sind.
8
(ebendort: 12) oder: „Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein
System“ (ebendort: 31).
Selbst ein beispielloser Absturz in die Barbarei wie der in den dreißiger
und vierziger Jahren in Deutschland aber ist nach unserem Verständnis von
Aufklärung und Emanzipation nicht zwangsläufig. Nicht einmal den
Göttern Homers gelang es in den Sagen aus dem klassischen Altertum
immer, den Menschen ihren göttlichen Willen aufzuzwingen, sie mochten
sich anstrengen wie sie wollten. Ein Absturz in die Barbarei kann aber er
muss nicht eintreten. Das Naziregime war kein unabwendbares Schicksal
der Deutschen. Der Absturz in die Barbarei kann verhindert werden, bleibt
weiterhin eine ständige Bedrohung und hat sich bereits mehrfach
wiederholt (Kambodscha, Ruanda, Kongo, Darfur). Die Dimension der
nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber wurden
dabei bei weitem nicht erreicht.
Überraschend ist, dass Horkheimer und Adorno den Prozess der
Vereinnahmung der Aufklärung durch den Mythos ausgehend von Homers
Odyssee darstellen. Das scheint uns eine Art Versteckspiel zu sein, um die
zu ihrer und unserer Zeit aktuellen Mythen nicht beim Namen nennen zu
müssen. Zwischen den Zeilen kann man lesen, dass der Mythos sich sehr
wohl auch auf die kapitalistische Marktwirtschaft beziehen lässt, auch
wenn die Autoren gerade das nur am Rande tun. Die Ergebnisse von
Marktprozessen sind für unseren Text das näherliegende Beispiel. Die
kapitalistische Marktwirtschaft war einmal die Grundlage des Programms
einer bürgerlichen Gesellschaft gegen die Willkür des Fürsten von Gottes
Gnaden. Ein solcher Fürst oder Prinz galt als allwissend und sollte in der
Lage sein, die Wirtschaftsabläufe zum Besten hin zu lenken – falls
erforderlich auch mit seiner eisernen Faust. Die für alle sichtbare Willkür
des absolutistischen Prinzen sollte durch eine sich selbst regulierende
Marktwirtschaft ersetzt werden. Aus der eisernen Faust wurde die
unsichtbare Hand, die das allgemeine wirtschaftliche Gleichgewicht
herstellen sollte. Das allgemeine Gleichgewicht ist dabei die beste aller
möglichen wirtschaftlichen Welten.
Die absolutistischen Fürsten sind verschwunden. Ihre Willkür aber lebt in
den Ergebnissen der Marktprozesse weiter. Aus den Untertanen, die die
Willkür des Prinzen als unerträglich empfanden, sind Wirtschaftssubjekte
geworden, die Ergebnisse von Marktprozessen z.B. bei der Einkommensund Vermögensverteilung für ungerecht halten. Schon Marx konnte zeigen,
9
dass die kapitalistische Marktwirtschaft nicht ins Reich der Freiheit führte.
Die kapitalistische Marktwirtschaft wurde vielmehr zum Hort eines
stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse, der viel lückenloser
zugreift als der kurzatmige schlecht informierte absolutistische Prinz mit
seinen begrenzten Herrschaftsinstrumenten es je gekonnt hatte.
Von den lichten Höhen des homerischen Epos stürzt die Dialektik der
Aufklärung und landet auf dem harten Boden der kapitalistischen
Marktwirtschaft. Auch dort kann diese dialektische Denkfigur ihre
Potenzen entfalten. In der historischen Entwicklung vom Absolutismus zur
marktwirtschaftlich fundierten bürgerlichen Gesellschaft hat die
Aufklärung zur Überwindung der absolutistischen Willkür geführt sondern
genau diese Willkür in die Marktwirtschaft katapultiert. In Marktprozessen
ist die Willkür als stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse wieder
auferstanden. Die Wirtschaftsform der kapitalistischen Marktwirtschaft hat
sich vom stummen Zwang der ökonomischen Verhältnis nie gelöst. Sie hat
ökonomischen Zwangslagen zu immer größerer Perfektion ausgebaut und
geographisch weiter ausgebreitet. Die kapitalistische Marktwirtschaft
preist uns zwar ihre vermeintlich wohlstandmehrende Freiheit an, zieht
sich aber schnell in die Hochburgen der Barbarei zurück, wenn sie in
Bedrängnis gerät. Dort wird dann zusätzlich zur ökonomischen behände
auch zur außerökonomischen Gewalt gegriffen, die im Zeitalter des
Absolutismus längst nicht so massenhaft ausgeübt und so weit verbreitet
gewesen ist wie in unserer Zeit. Das zwanzigste Jahrhundert ist nur allzu
reich an Beispielen.
Ökonomisches Orientierungswissen kann zu einem wichtigen Beitrag einer
Aufklärung über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände bzw.
Missstände ausgebaut werden. Aufklärung als „Erkundung“ wird zur Basis
für Emanzipation als „Befreiung von Bevormundung“ – Bevormundung
durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse – auch von
ökonomischen Alltagsbewusstsein, das den stummen Zwang der
ökonomischen Verhältnisse weder kennt noch zur Kenntnis nehmen will.
Ökonomisches Orientierungswissen kann auch zu einer beschränkten
marktfähigen Kompetenz verkommen, wenn die emanzipatorischen
Ansprüche, die die klassische politische Ökonomie im Kampf gegen die
absolutistische Willkür stets in sich trug, ein für alle Mal aufgegeben
werden. Eine solche Entwicklungsmöglichkeit wird von Marx in einer
berühmten Textstelle skizziert:
10
Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die
aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als
selbstverständliche Naturgesetze anerkenn. Die Organisation des ausgebildeten
kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige
Erzeugung einer relativen Überbevölkerung halt das Gesetz der Zufuht von und
Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem der
Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang
Der ökonomischen Verhältnisse (Hervorhebung G. L.) besiegelt die Herrschaft des
Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar
immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang kann
der Arbeiter den „Naturgesetzen der Produktion“ überlassen bleiben, seiner aus den
Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten
Abhängigkeit vom Kapital (Marx 1867: 765).
Marx erweist sich in dieser Vorausschau als Optimist und als Pessimist
zugleich. In beiden Rollen hat er nicht recht behalten. Trotz der enormen
ökonomischen Fortschritte in den Zentren der kapitalistischen Marktwirt
konnte die von Marx beschriebene Stabilität nicht erreicht werden. Die
Weltwirtschaftskrise 1929 zerstört die idyllischen Perspektiven der
kapitalistischen Marktwirtschaft. Die imperialen Weltkriege des
zwanzigstens Jahrhunderts bringen in der Geschichte nie gekannte
Katastrophen über die Völker. Außerökonomische Gewalt ist an den
Peripherien der kapitalistischen Marktwirtschaft auch heute noch die Regel
und nicht die Ausnahme. Marxens optimistische Sichtweise der
kapitalistischen Entwicklung erwies sich als unzutreffend.
Andererseits haben bis heute große Teile der Arbeiter sich weder durch
Erziehung, noch durch Tradition oder Gewohnheit von den
emanzipatorischen Versprechen des antiabsolutistischen Kampfes
abgewandt. Sie haben sich zwar noch längst nicht von den idiotischen
Behauptungen des wirtschaftlich orientierten Alltagsbewusstseins lösen
können aber so manches davon wird gerade im Frühjahr 2006 wieder
infrage gestellt. Auch die „selbstverständlichen Naturgesetze“ haben sich
nicht als allgemein verbindliche Zwangsgesetze dauerhaft etablieren
können. Marxens Pessimismus über die Unterwerfung der Arbeiter unter
die Fuchtel des Kapitals hat sich in den Zentren – vielleicht mit
Ausnahmen in den USA oder Deutschland – ebenfalls nicht bewahrheitet.
Marx ist in diesem Zusammenhang als Optimist und auch als Pessimist
gescheitert. Hinter diesen verfehlten Prognosen verbirgt sich ein
tiefergehendes Scheitern. Das Projekt der Aufklärung, in dem an die Stelle
der absolutistischen Fürsten mit ihrer Willkür eine sich selbst regulierende
Marktwirtschaft, die deshalb auf Willkür verzichten kann, ist gescheitert
mit katastrophalen Folgen.
11
Durch dieses Scheitern hindurch aber bleibt der emanzipatorische
Anspruch der politischen Ökonomie erhalten und wird heute noch gegen
die Willkür des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse in den
kapitalistischen Marktwirtschaften geltend gemacht. Der Basistexts des
ökonomischen Orientierungswissens lenkt den Blick stets aufs Neue auf
die Notwendigkeit der Aufklärung über und der Emanzipation vom
stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse (siehe Kasten B15: Der
„stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische
Gesetz als Macht. S.§§§§§§). Ein ökonomisches Orientierungswissen kann
helfen, die Hieroglyphen des Alltagsbewusstseins über ökonomische
Zusammenhänge und Zwangslagen zu entziffern. Das unsägliche Gerede
vom Gürtel, der enger geschnallt werden muss, vom Geiz, der geil sein
soll, vom Sparen als Tugend in allen Lebenslagen, vom Leben über unsere
Verhältnisse etc. kann leicht als ideologischer Müll erkannt und entsorgt
werden. An die Stelle solcher Sprechblasen kann dann eine ernsthafte
Diskussion über wirtschaftspolitische Strategien treten, die auf eine
Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage zielt.
3) Ein kurzer Blick auf den gegenwärtigen Zustand der
Wirtschaftswissenschaft
In den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die
Wirtschaftswissenschaft in den USA zuweilen als „schreckliche
Wissenschaft“ (dismal science) bezeichnet, mit der man letztendlich gar
nichts anfangen könne. Das hat einige und nicht wenige Ökonomen
wachgerüttelt. Sie bemühen sich seitdem verstärkt, die wissenschaftlichen
Anteile der Wirtschaftswissenschaft klarer zu fassen und empirisch
abzusichern. Eine wissenschaftlich orientierte Wirtschaftswissenschaft kann
gar nicht schrecklich sein und man braucht sich vor ihr nicht zu fürchten. Von
einer Wissenschaft sollte man erwarten, dass sie bei offenen Türen für alle
sichtbar und nachvollziehbar betrieben werden kann. Oder vielleicht gibt es
im Fall der Wirtschaftswissenschaft Kreise, die wissenschaftlich abgesicherte
Erkenntnisse fürchten und sich in Halbwahrheiten wohler fühlen?
Was heißt eigentlich Wissenschaft, oder genauer Wirtschaftswissenschaft?
Wissenschaft bedeutet, allgemein gesprochen, „organisierte Form der
Erforschung, Sammlung und Auswertung von Fakten und
Zusammenhängen“. So oder so ähnlich findet man die Definition von
Wissenschaft in Wörterbüchern. Wirtschaftswissenschaft wäre dann zunächst
ganz einfach die organisierte Form der Erforschung, Sammlung und der
12
Auswertung von Fakten und Zusammenhängen von wirtschaftlichen
Aktivitäten. Wirtschaftliche Aktivität bedeutet in einem verengten
akademischen Verständnis Produktion und Verteilung von knappen Gütern.
Werden menschliche Gesellschaften mit der allgegenwärtigen Knappheit
konfrontiert, dann muss produziert und verteilt bzw. umverteilt werden.
Knappheit ist ein historisch und schichtenspezifisch zu relativierender
Begriff. Vom Gesichtspunkt eines Arbeiterhaushalts im letzten Drittel des
neunzehnten Jahrhunderts leben wir heute in einer Überflussgesellschaft.
Bezieher von Hartz IV aus der Gegenwart dürften anderer Ansicht sein.
Es scheint Kreise zu geben, die ihre Interessen besser in vagen Behauptungen
und Halbwahrheiten aufgehoben sehen. Sie versuchen – leider allzu oft
erfolgreich – , wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse mit Interessenpolitik
zu vermischen. Hinter verschlossenen Türen wird an wirtschaftspolitischen
Rezepten formuliert, in denen die Wirtschaftswissenschaft zur Magd der
Wirtschaftsinteressen degradiert wird.
Die Dienste von Wirtschaftswissenschaftlern werden gern herangezogen,
wenn es darum geht, Interessen von Großunternehmen oder Branchen zu
rechtfertigen. Beliebt ist es, das Eigeninteresse als Gemeinwohl darzustellen:
„was gut ist für General Motors, ist gut für die USA!“ Solche Einsichten
werden reich belohnt – in klingender Münze – wenn sie im Fachjargon
abgefasst werden und sich den Anschein von Wissenschaftlichkeit geben
können. Es ist gewiss nicht leicht, solche Statements kritisch zu
durchleuchten. Ein Mindestmaß an ökonomischer Kompetenz ist dazu
unverzichtbar. Ein großer Teil der Arbeit mit der Wirtschaftswissenschaft
muss deshalb dazu verwendet werden, die ideologische Spreu vom
wissenschaftlichen Weizen zu trennen.
Ideologische Spreu? Unter Ideologie wird in diesem Text verstanden: eine
absichtliche falsche Aussage oder eine Halbwahrheit mit einer
gesellschaftlichen Adresse. Ein Beispiel: die deutschen Löhne sind zu hoch.
Die abhängig Beschäftigten in Deutschland müssten sich angesichts der
internationalen Konkurrenz durch asiatische Niedriglohnländer auf ein
sinkendes Einkommensniveau einstellen (stellvertretend: Miegel 2005: 30).
Wäre es denn nicht denkbar, die Hungerlöhne der asiatischen Arbeitskräfte zu
erhöhen? Irgendetwas scheint an dem stets wiederholten Hinweis auf die zu
hohen deutschen Löhne nicht zu stimmen. Deutschland ist doch seit vier
Jahren „Exportweltmeister“! Wie ist das trotz zu hoher Löhne möglich? Die
Aussage, dass die deutschen Löhne zu hoch seien, scheint unzutreffend zu
sein? Sie könnte absichtlich irreführend sein? Die gesellschaftliche Adresse
ist sicher nicht die Gewerkschaftsseite. Die Unternehmerseite, der
13
Kostensenkungen aller Art stets willkommen sind, könnte sich mit einer
solchen Aussage schon eher befreunden. Wer eine solche Aussage wie „in
Deutschland sind die Löhne zu hoch“ ohne wissenschaftliche Überprüfung
hinnimmt, geht einem Verständnis von Wissenschaft auf den Leim, in dem
die Wirtschaftswissenschaft zur Rechtfertigungslehre zu verkommen droht.
Rechtfertigung von Lohnsenkungen vor allem aus Kostengründen! Löhne
sind schließlich auch das Hauptelement der Nachfrage der privaten
Haushalte. Lohnpolitik hat auch dieses Argument angemessen zu
berücksichtigen.
Lohnpolitik ist eine Gratwanderung zwischen dem einzelwirtschaftlich
orientierten Kostenargument und dem gesamtwirtschaftlich orientierten
Nachfrageargument. Ohne kostengünstiges Angebot keine zufriedenstellende
Nachfrage und ohne ausreichende Nachfrage kein Wirtschaftswachstum und
kein Beschäftigungszuwachs. Auch hier gelten Einschränkungen. Die
Nachfrage der privaten Haushalte wird zunehmend importierten Waren
befriedigt. Seit einigen Jahren ist die hartnäckige Kaufzurückhaltung der
privaten Haushalte im Vergleich zur Kostenentwicklung wohl das größere
Problem der deutschen Wirtschaft.
Mit der Beschränkung auf das Kostenargument für Löhne wird eine
Halbwahrheit im wahrsten Sinn des Wortes in die Welt gesetzt. Eine
Halbwahrheit, die vor allem der Unternehmerseite gefallen könnte. Ob das
nun im wohlverstandenen längerfristigen Interesse der Unternehmen ist, sei
einmal dahingestellt. Schließlich brauchen die Unternehmen auch Nachfrage
für ihre Erzeugnisse. In diesem Text finden sich an verschiedenen Stellen
Argumente, die an die Lösung dieses Problems heranführen können.
Keine andere wissenschaftliche Disziplin ist einem vergleichbaren
parteilichen Druck der „Furien des Privatinteresses“ (Marx) ausgesetzt wie
die Wirtschaftswissenschaft. Auch Keynes hat 1936 in seinem Hauptwerk
eindringlich vor den Machenschaften der „vested interests“
(besitzstandswahrende Interessen) gewarnt, die er nicht für unbesiegbar hielt.
Er glaubte vielmehr, dass sich die wirtschaftswissenschaftliche Ideen
gegenüber den Interessen durchsetzen würden (Keynes 1964:383/4). Die
Wirtschaftswissenschaft hat es jedoch auch heute immer noch schwer, sich
eine eigenständige Basis schaffen und gegen die Einflussnahmen von
Interessen zu erhalten. Viele Wirtschaftswissenschaftler glauben nicht zuletzt
deshalb, dass ihre Disziplin noch immer nicht zu einer Wissenschaft
herangereift ist.
14
Die Organisation von Wissenschaft trägt noch immer ein wenig von der
Priesterverschwörung der frühen antiken Welt mit sich, des geheimen
Wissens, das nur den Eingeweihten zugänglich ist. „Wissenschaftler“ treten
uns auf unseren Fernsehbildschirmen gern als verschworene Gemeinschaft
gegenüber. Sie scheinen sich große Mühe zu geben, uns ihr großes Wissen in
verständliche Alltagssprache zu übersetzen. Nicht selten artet das in
Wichtigtuerei und Besserwisserei aus. Banalitäten werden mit dem Brustton
der Überzeugung vorgetragen4. Merke: nicht jeder Akademiker ist ein
Wissenschaftler! Umgekehrt: nicht jeder, der keinen akademischen Abschluss
hat, kann deshalb nicht wissenschaftlich denken!
Bösartiger wirken sich die sozialen Verengungen von Zugängen zur
wissenschaftlichen Ausbildung aus. Wer kein Geld hat, sich keins beschaffen
kann und deren (dessen) Eltern auch nicht auf Rosen gebettet sind, hat keine
guten Karten. Viele Spieler gewinnen auch mit weniger guten Karten. Eine
wissenschaftliche Ausbildung ist teuer und verlangt Einsatz und Fleiß, d. h.
„deutsche Tugenden“ der alten Art. Eine durchschnittliche Intelligenz reicht
meistens, wie man aus dem Auftreten von zuweilen auch
selbsternannten„Wissenschaftlern“ im Fernsehen schließen kann. Das
hartnäckige Interesse an der Sache ist wichtig: „ich will rauskriegen, wie das
funktioniert...“.
Wissenschaft ist keine Hexerei. Sie ist erlernbar, aber sie muss erst einmal
zugänglich gemacht werden. Der Zugang zu wissenschaftlicher Erkenntnis ist
heutzutage meist sorgfältig versperrt, nicht nur von sozialen Hürden, sondern
auch mit dornigem Gestrüpp aus „Fachchinesisch“ oder einem
unüberschaubaren Labyrinth aus Mindestvoraussetzungen von Wissen. Das
kann die sogenannten Laien schon abschrecken. Zuweilen soll das wohl so
sein. Wissenschaft ist generell eine Verschwörung gegen die Laien.
Exemplarisches Lernen verfolgt auch den Zweck, Schneisen in dieses
Gestrüpp zu schlagen und Interessierten einen Leitfaden für den Weg durch
das Labyrinth an die Hand zu geben. Zusammenhänge können dann sichtbar
gemacht werden, Neugierde geweckt, Fragen gestellt werden. – Wissenschaft,
auch die Wirtschaftswissenschaft, soll nicht unzugängliches Privatgrundstück
von etablierten Wissenschaftlern bleiben, die ihr Wissen nur ungern
unentgeltlich rausrücken. Dazu aber sollte man sie gegebenenfalls ein
bisschen zwingen.
4
Über Ökonomenwitze lachen Ökonomen nur ungern und wenn überhaupt dann meist verkniffen. Dennoch
hier ein Ökonomenwitz. Zwei Ökonomen gehen in der Natur spazieren. Da nähert sich ihnen von oben ein
Heißluftballon, der sich verirrt hat. „Wo sind wir hier?“ fragen die Ballonfahrer. Nach kurzer Überlegung antworten
die Ökonomen bierernst: „Sie befinden sich zur Zeit im Korb eines Heißluftballons“.
15
Ohne einen Zugang zu einem ökonomischen Orientierungswissen lebt es sich
wie in einem Labyrinth. Oft ohne es zu wissen aber hat auch der Laie ein
Expertenwissen, das nämlich seiner persönlichen Erfahrung im
Wirtschaftsleben. Um diesen „Schatz an Expertenwissen“ zu heben und der
Arbeitsgruppe zugänglich machen zu können, ist die Auseinandersetzung mit
der Wirtschaftswissenschaft unerlässlich. An der Wirtschaftstheorie kommt
man bei dieser Beschäftigung nicht ganz vorbei.
4) Anmerkungen zur Gliederung
Die vorliegende Fassung des Basistexts zur Erarbeitung eines ökonomischen
Orientierungswissens in fünf Hauptteile gegliedert, die einer didaktischen
Absicht folgen. Im Abschnitt B werden wirtschaftshistorische Aspekte,
gesamtwirtschaftliche Problemfelder und Versuche skizziert, sie
wirtschaftswissenschaftlich zu durchdringen. In Abschnitt C folgen zweitens
Betrachtungen über die Funktionsweise unterschiedlicher Märkte. In
Abschnitt D werden drittens einzelwirtschaftliche Grundfragen erörtert.
Daran anschließend wird viertens in Abschnitt E ein Mosaik vorgeführt, in
dem die gegenwärtige wirtschaftliche, wirtschaftstheoretische und vor allem
die wirtschaftspolitische Perspektive in Deutschland bruchstückhaft in
Erscheinung tritt. In Abschnitt F werden fünftens die Schwierigkeiten
umrissen, die die heutige Wirtschaftswissenschaft bei der Entwicklung von
Zukunftsperspektiven hat.
Die akademische Wirtschaftswissenschaft konzentriert sich auf die
bestehende kapitalistische Marktwirtschaft, die sie erklären und in einem
gewissen Umfang auch rechtfertigen soll. Die akademische
Wirtschaftswissenschaft hat es niemals als ihre Aufgabe angesehen, die
Instrumente zur Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft
bereitzustellen. Systemüberwindende Perspektiven wachsen nicht von selbst
aus der Gemengelage der akademischen Wirtschaftswissenschaft heraus. Sie
müssen aus ihr heraus entwickelt und politisch umgesetzt werden. Auch dazu
ist ein ökonomisches Orientierungswissen unverzichtbar.
Makroökonomisches Orientierungswissen, das zur Verständnis
wirtschaftspolitischer Strategien notwendig ist, steht in diesem Basistext im
Vordergrund. Die Ausführungen sind so angelegt, dass keine der gegenwärtig
wichtigen wirtschaftswissenschaftlichen Hauptströmungen unberücksichtigt
bleiben muss. Für den Abschnitt über gesamtwirtschaftliche Grundmuster
bedeutet das, dass weder der neoklassische, noch der keynesianische, der
16
evolutorische oder der marxistische Ansatz, bzw. der von Schumpeter oder
umweltökonomische Grundlagen usw. von vorn herein ausgeschlossen
werden. Es wird vielmehr versucht, den Kursteilnehmern Wege zu den
verschiedenen theoretischen Ansätzen aufzuzeigen. Das Gleiche gilt für den
Abschnitt über einzelwirtschaftliche Grundfragen. Im Fachjargon
ausgedrückt bedeutet das, dass ein pluralistischer bzw. heterodoxer Ansatz zu
Anwendung kommt. Es versteht sich von selbst, dass in dem vergleichsweise
kurzen Papier keine detaillierten Darstellungen vorgelegt werden können. Ein
weitergehendes Studium im Rückgriff auf Fachliteratur soll angeregt werden.
Auf diesem Weg können die gesamt- und einzelwirtschaftlichen
Ausführungen erweitert und ergänzt werden. Mit anderen Worten: das
Konzept zielt auf einen offenen Prozess des exemplarischen Lernens, denn
die Wirtschaft entwickelt sich weiter. Die Wirtschaftswissenschaft folgt ihr
mehr oder weniger schnell. Es gelingt ihr nur selten, der wirtschaftlichen
Entwicklung vorauszueilen.
Selbstverständlich konnten nicht alle Bereiche der Wirtschaftswissenschaft in
diesen vergleichsweise kurzen Text aufgenommen werden.
Bei der Auswahl der wirtschaftswissenschaftlichen Theorien für diesen
Basistext wird vor allem auf vier aktuelle wirtschaftspolitische Probleme
Bezug genommen. Sie prägen die gegenwärtigen
wirtschaftswissenschaftlichen Debatten in besonderer Weise. Es handelt sich
um die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, die brüchige wirtschaftliche
Dominanz der USA, die Stagnation in Japan, die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Katastrophe in Afrika südlich der Sahara.
Es gibt Arbeitstechniken für Lernprozesse im Bereich der
Wirtschaftswissenschaft, die Teil der ökonomischen Kompetenz sind, aber
hier nicht eingebracht werden können. Dazu zählen einzelwirtschaftliche, d.h.
betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse, wie Buchführung, Bilanzkunde,
Kostenrechnung, die Nutzung von PC-Programmen (word, excel),
Erfahrungen im Umgang mit dem Internet. Auch sollte Mathematik und
Statistik nicht beiseite geschoben werden. Englisch ist die Wirtschaftssprache
weltweit. Darüber hinaus ist Englisch die Wissenschaftssprache schlechthin.
Das gilt selbstverständlich auch für die Wirtschaftswissenschaft. Ohne
Grundkenntnisse von PC-Programmen ist der Zugang zu Informationen aus
dem Internet, die meist in englischer Sprache abgefasst sind und deren
Aufbereitung kaum möglich. Da diese Techniken in weiten Bereichen nicht
einfach sind, sollten sie in entsprechenden Lehrgängen vermittelt werden.
17
5) Didaktische Hinweise
Wirtschaftliche Problemlagen, Wirtschaftstheorien und wirtschaftspolitische
Instrumente können von Fallbeispielen, die man auch „Mini-Projekte“
nennen könnte, ausgehend angesteuert werden5. Auf diese Weise soll es
Arbeitsgruppen ermöglicht werden, sich eine ökonomisches
Orientierungswissen anzueignen. Dieses Orientierungswissen soll dazu
beitragen, die wirtschaftliche Wirklichkeit Deutschlands im Rahmen
internationaler ökonomischer Zusammenhänge besser zu verstehen.
Doch ein Beispiel allein reicht nicht, um den Zugang zur Vielfalt der
wirtschaftswissenschaftlichen Möglichkeiten zu finden. Deshalb sollten
mehrere Fallbeispiele an den Basistext herangetragen werden. Dabei kann auf
die im Anhang knapp skizzierten Fallbeispielen zurückgegriffen werden.
Presseberichte sind ebenfalls geeignet. Auch kann von den Kästen im
Basistext ausgegangen werden. Fallbeispiele sollten sich auf aktuelle
wirtschaftliche oder wirtschaftspolitische Fragestellungen beziehen, die mit
dem Alltagsleben von Kursteilnehmern in Verbindung gebracht werden
können. Sie sollten den Wünschen der Kursteilnehmer entsprechend
erarbeitet oder verändert werden.
Auf diesem Wege soll ein Prozess des exemplarischen Lernens eingeleitet
werden, der es den Kursteilnehmern ermöglicht, ihre Alltagserfahrungen aus
dem Wirtschaftsleben in einen wissenschaftlich offenen Zusammenhang
einzubringen. Auf keinen Fall sollten Kursteilnehmer auf einen theoretischen
Schienenstrang gesetzt werden, der sie, ohne dass sie es wissen, eingleisig zu
verengten einseitigen oder wissenschaftlich fragwürdigen Konzepten führt.
Der Lernprozess verläuft in zwei Richtungen. Fallbeispiele sollen auf
wirtschaftswissenschaftliche Grundmuster hingesteuert werden. Die
wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse werden auf diesem Weg erweitert
und vertieft. Dann geht es wieder zurück zu den Fallbeispielen. Mit den
erweiterten oder vertieften Grundkenntnissen kann dann ein besseres in
wirtschaftliche Gesamtzusammenhänge eingeordnetes Verständnis der
Fallbeispiele erreicht werden. Wie bereits gesagt liegt es nahe, diese
Wanderung vom Besonderen (Fallbeispielen) zum Allgemeinen (Basistext)
und wieder zurück mehrfach zu wiederholen. Abschließend sollte der
Basistext als ganzes gelesen werden. Damit wird exemplarisch vollzogen,
was in jedem Forschungsprozess stattfindet: Eine Problemstellung wird
5
Der Verfasser ist Hochschullehrer für Wirtschaftspolitik an der Universität Bremen und hat dort im
Projektstudium Erfahrungen sammeln können, die in das Konzept eingeflossen sind (Herzbruch, Hickel 1977).
18
beschrieben, dann wird in der Literatur nachgesucht, ob oder wie ähnliche
Probleme bisher behandelt bzw. wie das Problem von der theoretischen
Ebene aus gesehen einer Lösung zugeführt werden kann.
Die gesamtwirtschaftlichen und einzelwirtschaftlichen Grundmuster des
Basistextes können angesichts des problematischen Zustands der
Wirtschaftswissenschaft kein ein für alle mal festgelegter Kanon sein.
Das Hauptproblem des Basistexts besteht daraus, dass einerseits die
Darstellung nicht durch einen allzu hohen Schwierigkeitsgrad abschrecken
soll, andererseits aber der Weg zur wissenschaftlichen Weiterarbeit nicht
abgeschnitten werden darf. Überzogene Vereinfachungen lassen den
Eindruck entstehen, dass man sich das Wissen und die Wahrheit über den
Zustand der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft mit dem Anlernen
von ein paar Begriffen an Land ziehen kann. Auf diesem Weg wird
leichtfüßig der Verbreitung ideologischer Wirtschaftswissenschaft Vorschub
geleistet.
Komplexität und Unübersichtlichkeit, die die Wirtschaftswissenschaft wie
kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin auszeichnen, sollten dennoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht eben mal alles mögliche behauptet
werden kann. Leider liefert die wirtschaftspolitische Diskussion im Sommer
2005 im einer Vorwahlzeit reihenweise Beispiele für eine ideologielastige
Wirtschaftswissenschaft ab. Es werden in der allerlei merkwürdige und
einander widersprechende Rezepte zur Verbesserung der deutschen
wirtschaftlichen Lage feilgeboten. Sie reichen von Lohnsenkungen oder
warum eigentlich nicht Lohnerhöhungen, der Verkürzung der Arbeitszeit
oder warum nicht der Verlängerung der Arbeitszeit bis hin zur Senkung der
Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer, verbunden mit einer Erhöhung der
Mehrwertsteuer usw.. Jedem das, was er mal eben so brauchen könnte. So
werden die wirtschaftspolitischen Teile von Wahlprogrammen weitmaschig
gestrickt. Im Hintergrund steht die Hoffnung überzeugen zu können. So
einfach aber ist es nicht zu einem politisch konsensfähigen und
wirtschaftspolitisch umsetzbaren Wahlprogramm zu kommen. Mit einer
einigermaßen soliden ökonomischen Kompetenz lässt sich das sehr wohl
zeigen.
Als Ergebnis des exemplarischen Lernens soll eine und ein vertieftes
Verständnis der wissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft ermöglicht
werden. Auf diesem Weg können neue Zugänge zur wirtschaftlichen
Wirklichkeit erarbeitet werden. In einem solchen Lernprozess lernen die
Kursleiter von den Lernenden und die Lernenden von den Kursleitern.
Ausgetauscht werden die jeweiligen Erfahrungen aus der erlebten und
19
erlittenen Welt der Wirtschaft. Die Auseinandersetzung mit aktuellen
Wirtschaftsproblemen auf dem Hintergrund von Texten ist Mittel zu diesem
Zweck.
Bei näherem Hinsehen ist es in der Tat erstaunlich, wie viel
wirtschaftswissenschaftliche Vorkenntnisse bei einem Leser des
Wirtschaftsteils einer Regionalzeitung vorausgesetzt wird. Ohne diese
Mindestvoraussetzungen bleiben solche Texte nur allzu oft undurchsichtig.
Überregionale Berichte bestehen meist aus Berichten von Presseagenturen,
die von eiligen Redakteuren umgeschrieben und kommentiert werden. Was
dabei zustande kommt, spottet zuweilen jeder Beschreibung. Die Texte sind
oft falsch bis unverständlich, und das nicht nur für
wirtschaftswissenschaftliche Laien. Es wird im Stil der ideologischen
Wirtschaftswissenschaft zu allzu oft versucht, den Leser ohne Rückfahrkarte
auf ein Schienenfahrzeug zu setzen, um ihn an einen ihm unbekannten aber
wirtschaftlichen Interessen umso genehmeren Ort zu verfrachten. Das macht
die Arbeit mit Texten nicht gerade einfacher.
Um solche nicht unbedingt zufälligen Missverständnisse auszuräumen wird
im folgenden Text eine Sammlung von wirtschaftswissenschaftlichen
Einsichten vorgelegt, die es erlauben soll, mehr Klarheit in das Dunkel der
Auseinandersetzung von Interessen zu bringen. Es gibt in der
wissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft eine Reihe von Erkenntnissen,
die gebraucht werden, um wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, um
wirtschaftspolitische Strategien zu definieren und wirtschaftspolitische
Instrumente auf diese Ziele hin zu trimmen. Dieses Wissen kann kritisch
gegen jene gewendet werden, die es hinter den Vorführungen von
ideologischen Schaukämpfen durchaus nicht ungeschickt für ihre Interessen
einzusetzen verstehen. Eine moderne kapitalistische Marktwirtschaft kommt
ohne wissenschaftliche Wirtschaftswissenschaft nicht aus.
Am Ende des Kurses sollten die Teilnehmer in der Lage sein, Berichte aus
der Wirtschaftspresse kritisch durchleuchten zu können und einzelne
Bereiche von Gutachten wie z.B. die Frühjahrs- und Herbstgutachten der
sechs wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute zu interpretieren.
Das ist ein hochgestecktes Ziel, an das man sich heranpirschen sollte, ohne
der Illusion aufzusitzen, dass es einfach zu erreichen wäre. Wenn wir in
Sichtweite des Zieles vordringen können, wäre das sicher ein großer Erfolg.
20
B) Gesamtwirtschaftliche Grundmuster
1) Orientierungshilfen für den langen Marsch zur wirtschaftlichen
Wirklichkeit.
Die Auseinandersetzung mit Wirtschaftstheorien soll uns Wege zur
wirtschaftlichen Wirklichkeit zeigen. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine
vergleichsweise junge Wissenschaft. Sie beginnt ihr Eigenleben mit der
Entstehung der kapitalistischen Marktwirtschaft um die Mitte des
achtzehnten Jahrhunderts. Damit ist gerade einmal 250 Jahre alt. Die
Astronomie dagegen kann auf eine Vergangenheit von mehreren Tausend
Jahren zurückblicken. Schon die Maya in Zentralamerika konnten
Mondfinsternisse voraussagen. Doch selbst die Astronomie zieht noch
immer eine Schleppe aus astrologischem Aberglauben hinter sich her.
Noch immer erfreuen sich Horoskope großer Beliebtheit „Die Sterne lügen
nicht!“ Selbst Investoren und hochgestellte Politiker, u.a. der
amerikanische Präsident Reagan, lassen sich vor wichtigen Entscheidungen
ihr Horoskop erstellen. Die Pharmazie hat in Wunderheilungen und allerlei
Glückspillen noch immer einen kommerziell ernst zu nehmenden Gegner.
Warum sollte das in der Wirtschaftswissenschaft anders sein?
Wie jede Wissenschaft hat auch die heutige Wirtschaftswissenschaft eine
vergleichsweise allerdings kurze Geschichte. Die Wirtschaftswissenschaft
hat Im Vergleich zur Astronomie hat die Wirtschaftswissenschaft zwei
schwer lösbare Probleme. Erstens verändert sich ihr Forschungsgegenstand
– die wirtschaftliche Wirklichkeit – kurzfristig, andauernd und deshalb im
Vergleich zu den Galaxien sehr schnell. In der Entwicklung vom
Agrarkapitalismus über den Industriekapitalismus zum heutigen
Dienstleistungskapitalismus haben in nur rd. zweihundert Jahren gewaltige
Veränderungen stattgefunden. Die Wirtschaftswissenschaft hinkt
notgedrungen hinter her. Zweitens aber würde es einem Astronomen oder
selbst einem Astrologen nie einfallen, den Lauf der Gestirne verändern zu
wollen. Das genau aber wollen Wirtschaftswissenschaftler.
Wirtschaftswissenschaftler wollen nicht nur die Entwicklung der
wirtschaftlichen Wirklichkeit erkennen – nein – sie wollen sie mit einer
geeigneten Wirtschaftspolitik auch verändern.
In der wirtschaftlichen Wirklichkeit spielt die Zukunft eine zentrale Rolle.
Marktprozesse sind von der einzelwirtschaftlichen und der
wirtschaftspolitischen Perspektive her gesehen stets zukunftsorientiert. Die
21
Wirtschaftstheorie jedoch verzichtet bei der Analyse von
Zusammenhängen meist und überraschenderweise auf eine
Zeitperspektive. Risiko und Unsicherheit spielen dann keine große Rolle.
Der Illusion wird Vorschub geleistet, die Wirtschaftswissenschaft sei eine
Art Physik der wirtschaftlichen Zusammenhänge, die dauerhaft stabil sind,
wie die Bahnen der Planeten unseres Sonnensystems.
Die Unterscheidung zwischen langfristigen und kurzfristigen
Zukunftsperspektiven ist jedoch von zentraler Bedeutung. Ein Kraftwerk
hat in der Regel eine Bauzeit von rund acht Jahren. Um die Rentabilität
einer solchen Investition abschätzen zu können, müssen Annahmen über
den Elektrizitätsverbrauch gemacht werden, die weit über zehn Jahre
hinausgehen. Liberalisierte und internationalisierte Finanzmärkte aber
schauen nur auf die Höhe der kurzfristigen Rendite. Die Folge davon kann
sein, dass längerfristig wirksame Investitionen unterbleiben.
In den folgenden Ausführungen wird nahezu ausschließlich von der
kapitalistischen Marktwirtschaft die Rede sein, zu der es gegenwärtig noch
keine ausgereifte Alternative gibt. Der sogenannte „real existierende
Sozialismus“, ist an sich selbst gescheitert. Daraus folgt natürlich nicht, dass
wir mit der Marktwirtschaft plus Demokratie auf einem dauerhaft stabilen
Entwicklungspfad oder gar in der besten aller möglichen Welten
angekommen sind6. An der kapitalistische Marktwirtschaft gibt es einiges zu
kritisieren. Doch so lange wir nichts besseres auf Lager haben, müssen wir
uns wohl oder übel mit dem auseinandersetzen, was uns als wirtschaftliches
Schicksal auferlegt wird. Das heißt aber durchaus nicht, dass alles wortlos
und widerstandslos hingenommen werden muss. Ein kurzer Überblick über
einige wirtschaftswissenschaftliche Denkmuster wird zeigen, dass die
Meinungen innerhalb dieser „schrecklichen Wissenschaft“ (dismail science)
über ihren Forschungsgegenstand, die kapitalistische Marktwirtschaft, weit
auseinandergehen. Doch werfen wir zunächst einmal einen naiver Blick auf
unsere Alltagserfahrung mit der Marktwirtschaft (Siehe Kasten B1: Kann die
Marktwirtschaft Wunder vollbringen?).
____________________________________________________________
Kasten B1: Kann die Marktwirtschaft Wunder vollbringen?
Ökonomen glauben viel – aber nicht unbedingt an Wunder. In Marktprozessen sehen sie jedoch
wunderbare Fügungen am Werk. Man kann sich vor sein Telefon setzen, es anschauen und sich
In Moskau soll folgender Witz Furore gemacht haben: Zwei Beamte treffen sich. Der eine sagt: „alles
was die Kommunisten uns über den Sozialismus erzählt haben war völliger Quatsch“. Der andere antwortet:
„Das stimmt. Aber das, was sie uns über den Kapitalismus erzählt haben, war goldrichtig“.
6
22
wundern, dass es auf dem Arbeitstisch steht. Na ja, man hat’s gekauft und dort hingestellt. Aber
dass man das konnte, ist keine Selbstverständlichkeit. Das Telefon musste produziert werden.
Dazu sind unterschiedlichsten Rohstoffe erforderlich. Woher stammen sie? Überwiegend wohl
aus erdölproduzierenden Ländern. In der Petrochemie wurde aus diesem Rohstoff Plastik und
Farben hergestellt. Leitungen mussten produziert und verlegt werden. Woher kommt das Kupfer?
Vielleicht aus Chile? Die Zahl der Teile in einem Telefon ist im Vergleich zum Auto oder gar
zum Flugzeug nicht sehr groß. Um diese Teile herzustellen, mussten Arbeitsleistungen der
unterschiedlichsten Art erbracht werden. Von Forschungs- und Designertätigkeiten über die
unterschiedlichsten gewerblichen Berufsarbeiten, Angestelltentätigkeiten bis hin zur
Verpackungsarbeit, Transportarbeit und der Arbeit des Verkaufspersonals. Übrigens mein Telefon
kommt aus Japan. Jedenfalls steht eine japanisches Markenzeichen drauf. Vielleicht wurde es in
einer der Wirtschaftssonderzonen in Südchina zusammengebaut. War die Produktion
sozialverträglich? Im Zweifel nein: in den Wirtschaftssonderzonen sind die Löhne der jungen
Chinesinnen sehr niedrig, die Arbeitszeiten sehr lang. Es gibt Gewerkschaftsverbote und soziale
Sicherheit ist weitgehend unbekannt. Auch die Teile meines PC reisen weit. Bis alle Teile am Ort
des Zusammenbaus sind, dann ist die Summe der zurückgelegten Wege aller Einzelteile ungefähr
gleich einer Reise um die Welt. Muss das sein? Ist das ökonomisch rational? Bei der Koordination
all dieser Teilarbeiten treten natürlich Reibungsverluste auf. Darüber ist wenig bekannt. Ist die
Produktion ökologisch nachhaltig? Im Zweifel, nein. Dem Telefon sieht man das „Arbeitsleid“
der unmittelbaren Produzenten nicht an. Sicher hat die Marktwirtschaft mit meinem Telefon kein
Wunder vollbracht. Bei näherem Nachdenken scheint es mir aber doch erstaunlich und durchaus
nicht mehr selbstverständlich zu sein, dass mein Telefon vor mir steht. Um es überhaupt kaufen
zu können, musste ich mir übrigens Geld beschaffen, verdienen.
Was passiert bei einer Wirtschaftskrise? Kann ich mir dann noch ein neues Telefon kaufen, wenn
das alte kaputt geht? Kann der internationale Terrorismus diese weit verzweigte
Marktkoordination lahm legen? – Man stelle sich einmal vor, dass ein Planungskommissariat die
Produktion all dieser unterschiedlichen Teile planen und die verschiedenen weltweit verstreuten
Teilarbeiten koordinieren soll, so dass ich mein Telefon heute auch tatsächlich auf meinen
Arbeitstisch stellen kann. – Dann verlasse ich mich vielleicht doch besser auf die
Marktkoordination, selbst dann, wenn ich weiß, dass auch auf die Märkte nicht immer Verlass ist?
So mag das auf den ersten Blick erscheinen. Doch eine weitergehende Analyse der Ware wird
zeigen, dass hinter der einfachen Gegenständlichkeit des Telefons einiges verborgen ist. Marx
spricht in diesem Zusammenhang vom Fetischcharakter der Waren (Siehe Kasten B2: Der
Fetischcharakter der Ware und sein (offenes) Geheimnis). – Der Warentausch vollzieht sich über
Marktprozesse, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten entfalten. Sie ziehen sich zu einem stummen
Zwang zusammen, der sich die Menschen unterwirft und dem sich die Menschen unterordnen.
(Siehe Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische
Gesetz als Macht).
______________________________________________________________
Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, dass die wirtschaftliche Wirklichkeit
uns allen oder doch zumindest den Wirtschaftswissenschaftlern mehr als in
groben Zügen oder in einigen Details bekannt sei. Fragt man nach, dann
gehen die Meinungen – erst recht unter Wirtschaftswissenschaftlern –
darüber, wie wirtschaftliche Zusammenhänge funktionieren weit auseinander.
Die Gesetzmäßigkeiten, die Wachstum, Beschäftigung, Geldwertstabilität,
außenwirtschaftliches Gleichgewicht bestimmen, wurden und werden
23
kontrovers diskutiert. Das ist wissenschaftlicher Alltag, nicht nur in der
Wirtschaftswissenschaft.
Mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit geht die Forderung einher, die
Zukunft auf der Grundlage der Kenntnis von Zusammenhängen der
wirtschaftlichen Vergangenheit und der Gegenwart zu prognostizieren. Wie
jedermann weiß, sind die Wirtschaftswissenschaftler aber durchaus nicht
(noch nicht?) in der Lage, den nächsten Aufschwung des Konjunkturzyklus
oder gar dessen Wendepunkte treffsicher vorauszusagen. Von der Fähigkeit
von Astronomen, die nächste Mondfinsternis genau zu berechnen, sind
Ökonomen bei ihren Konjunkturprognosen noch Lichtjahre entfernt.
Wirtschaftstheorien bestehen nach Joseph A. Schumpeter (1883 – 1950) aus
„Visionen“ und analytischen Instrumenten. Eine Vision ist auf einen nicht
weiter begründeten „voranalytischen Erkenntnisakt“ gegründet. Sie ist eine
Art von „Welt-Anschauung“, eine besondere Sichtweise der
Wirtschaftstätigkeit. Visionen fließen mehr oder weniger unbewusst als
Werturteile in jede Theoriebildung ein. Die Rolle des Wirtschaftssubjekts im
Wirtschaftsprozess, die Effizienz von Märkten, Möglichkeiten und Grenzen
von Staatstätigkeit in einer Marktwirtschaft – all das kann Gegenstand von
solchen Visionen sein. – Der zweite Aspekt der Theoriedefinition von
Schumpeter, die analytischen Instrumente, „der Werkzeugkasten“ zielt auf
Methoden der Gewinnung von Erkenntnissen, wie mathematische Modelle
des Wirtschaftsprozesses, statistische Verfahren, der Aufbau einer
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wirtschaftsgeschichtliche Vergleiche
usw.
Wie in jeder Wissenschaft müssen auch in der Wirtschaftswissenschaft
Theorien so dargestellt werden, dass sie widerlegt („falsifiziert“) werden
können! Bei Glaubensbekenntnissen ist das nicht der Fall. Dafür zwei
Beispiele: der Sozialismus ist ewig, weil er richtig bzw. wissenschaftlich ist.
Die Marktwirtschaft ist der Höhepunkt der Menschheitsgeschichte und
deshalb auch ihr Endstadium, weil sie die effizienteste vorstellbare
Wirtschaftsweise ist (Fukuyama 1992). Doch inzwischen hat die Geschichte
ihren Lauf wieder aufgenommen.
Nicht nur in akademischen Debatten wird die Bedeutung von
Wirtschaftstheorien sehr hoch gehängt. Es scheint eine besondere Eigenschaft
von wirtschaftlich interessierten Personen zu sein, dass sie gern und mit tiefer
Überzeugung über Theorien sprechen, die ihrer Meinung nach den
Wirtschaftsablauf erklären. Nur gehen die Meinungen über die
Funktionsweise kapitalistischer Marktwirtschaften in der Regel weit
24
auseinander, ohne dass die Diskutierenden sich dessen bewusst sind. Selbst
im Gouverneursrat einer Zentralbank sind die Meinungen über die Wirkung
geldpolitischer Instrumente durchaus nicht deckungsgleich. Auch heute
erwarten die Menschen mehr als zu Zeiten der Hochkonjunktur eine
grundlegende Diagnose. Keynes hat dazu sarkastisch und mit warnendem
Unterton angemerkt:
„Von dieser zeitgenössischen Stimmung abgesehen, sind aber die Gedanken der
Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im
Unrecht sind, einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in
der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von
intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines
verblichenen Ökonomen. Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft
hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber
ein paar Jahre vorher verfasste“ (Keynes 1936:323).
Theorien sind in der Wirtschaftswissenschaft wichtig, weil sie die Sichtweise
der wirtschaftlichen Agenten und letztendlich der Bevölkerung vom
Wirtschaftsprozess prägen. Überraschend aber ist, wie überwältigend der
Anteil der Visionen und wie viel geringer der Anteil der überprüfbaren
analytischen Einsichten in den meisten öffentlichen Debatten, über
Wirtschaftsprobleme ist, die heute meist in Talkshows stattfinden. Das öffnet
den Wirtschaftsinteressen bzw. ihren Lobbyisten Tür und Tor, setzt sie aber
auch vermeidbaren Verdächtigungen aus. Wenn z.B. ein Politiker mehr
Eigenverantwortung der mündigen Bürger bei der Gestaltung der
Alterssicherung fordert, ohne genauer zu werden, dann wird er schnell zu
Recht oder zu Unrecht in die Nähe der Interessen der privaten
Versicherungswirtschaft gerückt. Solchen Ideologien entgegenzuwirken, ist
auch auf der Grundlage der noch immer um Wissenschaftlichkeit ringenden
Wirtschaftswissenschaft in vielen Fällen möglich. Um Ideologien, d.h.
Fehlmeinungen mit gesellschaftlicher Adresse, entgegentreten zu können,
müsste das ökonomische Wissen der Bevölkerung auf eine solidere
Grundlage gestellt werden.
Eine wissenschaftliche Disziplin, die wie die Wirtschaftswissenschaft noch
nicht ausgereift ist, zeichnet sich oft dadurch aus, dass nicht ein Mangel
sondern ein Überfluss an Theorien herrscht. Sie reichen von ernst zu
nehmenden wissenschaftlichen Bemühungen bis hin zur Bildung von Sekten
auf der Grundlage „heiliger Texte“. Ein Beispiel dafür ist Silvio Gesells
(1862 – 1930) Freigeldlehre. Sein Text „Natürliche Wirtschaftsordnung durch
Freiland und Freigeld“(1916) wird von vielen seiner Anhänger wie eine
mystische Offenbarung gelesen. Das Schwierige in Diskussionen mit
Sektierern über deren heilige Texte ist nun, dass diese Texte auch einige
25
Wahrheiten enthalten. Das gilt auch für Gesell, insbesondere angesichts der
stagnativen Tendenzen in der Gegenwart. Auch Keynes hat positive Aspekte
in Gesells Werk hervorgehoben.
In dem hier vorgelegten Text können theoretische Positionen nur kurz
skizziert werden. Dabei sollen zwei Perspektiven in den Vordergrund gerückt
werden, einmal die historische Bedeutung des „Regimewechsels“ von der
absolutistischen Befehlswirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft und
zum anderen die Bedeutung der jeweiligen Wirtschaftstheorie für die
Formulierung von wirtschaftspolitischen Strategien in der Gegenwart.
Parallelen zum Staatssozialismus drängen sich geradezu auf. In einigen
weniger entwickelten realsozialistischen Ländern wurde versucht, die
Allmacht des absolutistischen Staates wieder zu beleben. Der Erfolg war
mehr als mäßig. Das absolutistische Frankreich konnte es damals besser!
Folgende Theoriebildungen sollen erwähnt werden: vorklassische Ansätze
wie der merkantilistische und und der physiokratische Ansatz, die klassische
Theorie, die neoklassische Theorie, der Marxismus, Schumpeters
Innovationstheorie und seine Skepsis über den Weiterbestand des
Kapitalismus, der Keynesianismus, die evolutorische Ökonomik,
Umweltökonomik, Institutionenökonomik und die aktuelle Theoriesituation.
Für die merkantilistische Position stand die Begründung der absolustischen
Befehlswirtschaft und ihre Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt. Der Prinz
regelte die Wirtschaft mit der „eisernen Faust“. Adam Smith hat sie später
durch die „unsichtbare Hand“ ersetzt. Die Einnahmen und Ausgaben des
Fürstenhaushalt standen im Vordergrund. Der Aufbau von Manufakturen für
militärische Produktion, Flottenbau oder für die Ausstattung der fürstlichen
Schlösser war eine wichtige wirtschaftspolitische Aufgabe. Frankreich war
für die europäischen Länder das große Vorbild. Jean-Baptiste Colbert
(1619-1683) war zwanzig Jahre Finanzminister unter Ludwig XIV. Er hat
seine Epoche geprägt wie kaum ein anderer und die wirtschaftlichen
Grundlagen des vorbürgerlichen Frankreich gelegt (Anderson 1977).
Eingriffe in den Wirtschaftsablauf waren eine Selbstverständlichkeit. Colbert
führte Qualitätsnormen und Berufsausbildung ein. Er versuchte Frankreich zu
modernisieren. Er „erfand“ neue Steuern und andere Zwangsabgaben, um die
enormen Finanzierungsmittel für die Staatsausgaben bereitzustellen. Ohne die
wirtschaftliche Grundlage, die die Wirtschaftspolitik Colberts geschaffen hat,
hätte Ludwig XIV. seine Kriege nicht führen können. Auch das Schloss von
Versailles wäre wohl nicht gebaut worden. Colberts Staatsverständnis hat den
Merkantilismus und den Absolutismus in abgeschwächter Form bis in die
Gegenwart hinein überlebt. Die Idee vom Staat als Instrument der
26
Gestaltbarkeit des Wirtschaftsprozesses ist in staatsorientierten
Marktwirtschaften noch immer präsent und hat in staatssozialistischen
Gesellschaften viel wirtschaftliches Unheil gestiftet. Im ausgehenden
Absolutismus dagegen hat die merkantilistische Wirtschaftspolitik viel zur
Durchsetzung des marktwirtschaftlichen Kapitalismus in Frankreich
beigetragen. Noch heute ist in Frankreich ein vergleichsweise großes
Vertrauen in staatliche Handlungsmöglichkeiten zu beobachten.
Für merkantilistische Theoretiker ist ein dauerhafter Handelsbilanzüberschuss
ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel. Der englische politische Philosoph
David Hume (1711 – 1776) hat vor den Folgen gewarnt und dabei ein
Konzept einer sich selbst regulierenden internationalen Wirtschaft und eine
frühe Version der Quantitätstheorie des Geldes vorgelegt (siehe Kasten C8:
Quantitätstheorie und Geldpolitik). Bei Goldwährung führt ein
Handelsbilanzüberschuss zu eine Erhöhung der Exporteinnahmen und damit
der einheimischen Geldmenge. Die Erhöhung der Geldmenge setzt
inflationäre Tendenzen im Inland frei. Das führt auch zur Erhöhung der
Exportpreise. Die verteuerten Exportpreise verringern die Exportmengen und
die Verbilligung der Importe erhöhen die Importmengen. Das
Handelsbilanzdefizit wird negativ. Gold fließt ab und die einheimischen
Preise sinken. Auf diese Weise wird ein sich selbst regulierender
Handelsbilanzausgleich erreicht. Humes Ansatz inspiriert noch heute die
Debatten über internationale Währungsprobleme. Man denke nur an die
gegenwärtige Diskussion über das amerikanische Leistungsbilanzdefizit und
Abwertung des Dollar. Hume geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass
die Handelspartner ungefähr gleich groß sind und sich auf dem gleichen
Entwicklungsniveau befinden. Auf zwei Länder wie die USA und Guatemala
ist ein solches oder ein ähnliches Theorem nicht anwendbar.
Das merkantilistische Modell geriet in den Jahrzehnten vor der französischen
Revolution in eine Krise. Die physiokratische Theorie entwickelte ein
Gegenmodell mit einer marktwirtschaftlich verfassten Landwirtschaft, die auf
großen Pachtbetrieben basiert. Der Vordenker Francois Quesnay (1694 –
1794) war Hofarzt im Schloss von Verseilles. In seinen späten Lebensjahren
befasste er sich mit Ökonomie und gründete den intellektuell anspruchsvollen
Zirkel der Physiokraten. Der Begriff des „Laissez-faire“ stammt aus dieser
Zeit. Freihandel und uneingeschränkte Konkurrenz wurden von den
Physiokraten propagiert und sind von englischen Theoretikern übernommen
worden. Wichtiger aber ist die Übertragung des Kreislaufkonzept vom
Blutkreislauf auf den Wirtschaftskreislauf, die die Wirtschaftswissenschaft
dem Hofarzt verdankt. Auch andere ökonomische Fachausdrücke oder
Konzepte aus der Medizin wie z.B. Krise, Diagnose, Therapie,
27
Selbstheilungskräfte der Natur bzw. des Marktes, Gleichgewicht usw. finden
sich bereits in den physiokratischen Debatten.
Physiokratische Theoretiker haben ein radikales Konzept der
Steuervereinfachung vorgeschlagen: die Einführung einer einzigen Steuer auf
die Grundrente. Dieses Steuerprojekt ist als Gegenposition zum
merkantilistischen Steuerchaos des Absolutismus zu verstehen. Es ist ein
wenig überraschend, dass ein angesehener Hofarzt, der im königlichen
Schloss wohnt, und am Hof eine einflussreiche Position innehat, eine der
scharfsinnigsten Kritiken am Merkantilismus verfasst und öffentlich vertreten
hat. Sein Ziel war jedoch nicht revolutionär. Er strebte vielmehr eine
tiefgreifende Reform der absolutistischen Befehlswirtschaft an. Der
absolutistische Staat sollt auf ein marktwirtschaftliches Fundament gestellt
und mittels einer einzigen marktkonformen Steuer finanziert werden. Eine
einzige Steuer und dazu möglichst einfach! Das treibt selbst heutigen
Steuerreformern Tränen in die Augen. Undurchführbar war dieses
Steuerreformprojekt schon damals, politisch wie technisch.
Adam Smith (1723 – 1790) gilt als der Begründer der „klassischen“
modernen Nationalökonomie. Er ist auf seinen Reisen offenbar auch in Paris
gewesen und hat mit physiokratischen Ökonomen diskutiert. Es ist nicht
auszuschließen, dass er diesen Gesprächen einige Einsichten in
marktwirtschaftliche Prozesse verdankt, die in den französischen Debatten
damals schon weit entwickelt waren. Wie dem auch sei, Debatten über
Wirtschaftsprobleme waren bereits vor der französischen Revolution seit dem
Zeitalter des Merkantilismus international vernetzt.
Das Hauptwerk von Adam Smith hat mit seinem Werk „Eine Untersuchung
über die Natur und die Ursachen des Wohlstands der Nationen“( kurz gefasst:
„Wohlstand der Nationen“) schon bald nach seinem Erscheinen im Jahr 1776
eine große internationale und dauerhafte Popularität gewonnen. Heute wird er
gern zitiert aber kaum noch gelesen. Seine Konzepte über die Funktionsweise
und die Entwicklung von Marktwirtschaften aber sind auch heute noch von
Interesse. Die physiokratische Theorie wird in Smiths Werk mit einem
schwer verständlichen und sarkastischen Kapitel kritisiert. Ein wichtiger Teil
seines Werkes, das im fünften Band seines Buches zu finden ist, ist dem
Aufbau eines rationalen, marktkonformen Steuersystems gewidmet. Das kann
nach den Desastern des merkantilistischen Steuerchaos nicht überraschen. In
den gebildeten Schichten war die Lektüre des Werks von Adam Smith weit
verbreitet. Für Hofbeamte an deutschen Fürstenhöfen soll Adam Smith sogar
Pflichtlektüre gewesen sein. Englands wirtschaftliche Erfolge haben große
Bewunderung hervorgerufen. Im rückständigen Deutschland sollten
28
wirtschaftliche Reformen durchgeführt werden, damit die Fürsten aus der
Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Vorteile zielen konnten. Ähnlich wie
bei der physiokratischen Theorie zielten die deutschen Fürsten offenbar auf
die Reproduktion ihrer absolutistischen Herrschaft mit den Möglichkeiten der
kapitalistischen Marktwirtschaft.
Smith sah in der Marktwirtschaft seiner Zeit, die noch überwiegend aus
Klein- und Mittelbetrieben bestand und im Handwerk verwurzelt war, eine
ökonomische Rationalität am Werk. Die Unternehmer dieser Epoche der
frühen Marktwirtschaft waren nach den Vorstellungen von Adam Smith in
der Lage, die für sie wesentlichen marktwirtschaftlichen Prozesse zu
überschauen, ohne die Hilfe von Staatsmännern oder Gesetzgebern
(Fleischhacker 2004).
Im Umfeld seiner Erörterung über die Wirkung der „unsichtbaren Hand“
argumentiert Adam Smith wie folgt:
„In welchem Zweig der heimischen Erwerbstätigkeit er sein Kapital anlegen
kann, und bei welchem das Erzeugnis den größten Wert zu haben verspricht,
das kann offenbar jeder einzelne je nach den Ortsverhältnissen weit besser
beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun
könnte“(Smith, zweiter Band 2000:236).
Die Fähigkeiten, die eigenen Interessen zu formulieren und über Märkte
umzusetzen, mag in der damaligen Zeit im schottischen Glasgow, der
Heimatstadt von Adam Smith, oder vielleicht sogar noch in England plausibel
gewesen sein. Hier liegt die Quelle für die Annahme der neoklassischen
Theorie, dass der „homo oeconomicus“ über alle für seine Entscheidungen
wichtigen Information verfügt. In der heutigen internationalisierten
kapitalistischen Marktwirtschaft trifft das wohl nicht mehr zu. Heute nimmt
der Beratungsbedarf schnell zu.
Während bei Smith noch ein fast naives und überschwängliches Vertrauen in
das marktwirtschaftliche Projekt einer bürgerlichen Gesellschaft mit einem
reduzierten „Nachtwächterstaat“ überwiegt, analysierte der Londoner
Ökonom und Börsenmakler David Ricardo (1772 – 1823) die
kapitalistischen Marktwirtschaft seiner Zeit zurückhaltender. Er ist Zeitzeuge
von Krisen und sozialen Unruhen gewesen, die im Zuge der industriellen
Revolution entstanden sind. Ihm verdankt die aufstrebende
Wirtschaftswissenschaft ein vorbildliches Werk. Auch er weicht der
Steuerproblematik nicht aus. Schließlich lautet der Titel seines Hauptwerkes:
„Die Prinzipien der politischen Ökonomie und der Besteuerung“ (1817).
29
Selbst heute noch fehlt sein kurzer Hinweis auf die Maschinerie und seine
Außenhandelstheorie (die Theorie der komparativen Kosten), die sogenannte
Ricardo-Äquivalenz in kaum einem Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaft.
Ein weiterer Theoretiker der klassischen politischen Ökonomie, der trotz
seines moralisierenden und heute schwer lesbaren Werkes bis in die
Gegenwart hineinwirkt, war Thomas Robert Malthus (1766 - 1834).
Malthus hat eine Bevölkerungstheorie entwickelt und sie in ein
Katastrophenszenario eingebaut. Die Bevölkerung wächst in geometrischer
Reihe (2, 4, 8, 16....). Die landwirtschaftliche Produktion wächst dagegen nur
in arithmetischer Reihe (2, 4, 6, 8, 10.....). Die Folge ist, dass das
Prokopfeinkommen von einem gewissen Punkt an sinkt und bald das
Existenzminimum unterschreitet. Kriege, Seuchen, Hunger beseitigen die
Überbevölkerung. Dieses Katastrophenszenario gilt heute als überholt.
In unserer Zeit kann die Produktivität in der Landwirtschaft schnell genug
gesteigert werden, um eine in geometrischer Reihe wachsende Bevölkerung
zu ernähren. Das gilt auch für große Staaten wie Indien. Voraussetzung ist in
der Regel allerdings, dass in den Ländern demokratische Zustände
durchgesetzt werden konnten, wie der indische Wirtschaftswissenschaftler
Amartya Sen (1933 – ; Sen 2001; Nobelpreis 1998) gezeigt hat. Diese
Bedingung ist in den meisten Ländern Afrikas südlich der Sahara nicht
erfüllt. Dort überwiegen Diktaturen. Die Katastrophen, die rasante
Ausbreitung von AIDS, Malaria, Kinderlähmung, Tuberkulose und vielen
Tropenkrankheiten, die verheerenden Bürgerkriege, Mangel an Trinkwasser,
und Hungersnöte sind der internationalen Gemeinschaft seit Jahrzehnten
bekannt.
Diese Katastrophen in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara
unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von dem Szenario, das Malthus im
Sinn hatte. Nicht die Bevölkerungsexplosion und die langsamer als die
Bevölkerung wachsende oder stagnierende, oft sogar sinkende
landwirtschaftliche Produktion hat Afrika südlich der Sahara in die
Katastrophe geführt sondern umgekehrt: die überwiegend von außen
ausgelösten Katastrophen haben ein Absinken der landwirtschaftlichen
Produktion pro Kopf zur Folge gehabt und auf diese Weise die Katastrophen
verschlimmert. Diese überwiegend von außen ausgelösten Katastrophen
wurden nie erfolgversprechend bekämpft. Sie sind im Grunde nichts anderes
als „unterlassene Hilfeleistungen“ der Länder mit entwickelten
Marktwirtschaften gegenüber verarmten afrikanischen Ländern. Vergleichbar
ist diese Situation mit einem Verkehrunfall. Der Mitverursacher macht sich
30
aus dem Staub, nachdem er sich ein oberflächliches Bild gemacht hat und
kapituliert vor den Katastrophen, denen seine Opfer ausgesetzt sind.
Karl Marx (1818 – 1883) hat das Gebäude seiner Wirtschafts- und
Gesellschaftstheorie auf den Grundlagen einer Kritik der klassischen
politischen Ökonomie errichtet, die in diesem Text im einzelnen nicht
dargestellt werden kann. Die Kritik der klassischen politischen Ökonomie
aber ist deren „Aufhebung“, im doppelten Sinn. Marx glaubte, dass die
klassische politische Ökonomie nach seiner Kritik einerseits überwunden
(aufgehoben = überholt) sei, andererseits aber auch aufbewahrt (aufgehoben)
wäre. Der deutsche idealistische Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel
(1770 – 1831) hatte dem Begriff der Aufhebung diesen doppelten Aspekt in
dialektischer Absicht zugeordnet. In der folgenden Skizze über die Marxsche
Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie soll stärker auf den bewahrenden
Aspekt eingegangen werden, der durch Marx hindurch noch einmal auf einige
Aspekte der klassischen politischen Ökonomie hinweist. Deshalb fallen die
Hinweise zur Marxschen Theorie etwas länger aus als die zu anderen
Ökonomen.
Die Marxsche politische Ökonomie kennt drei Ebenen der Analyse. Zunächst
einmal die Wertebene, auf der die wertschöpfenden Potentiale der
Arbeitskraft einschließlich der Ausbeutungstheorie untersucht werden. Über
den Transformationsprozess werden Werte in Produktionspreise
umgewandelt. Gemessen wird auf den Ebenen der Werte und
Produktionspreise mit Arbeitswerten, in denen gesellschaftlich notwendige
Durchschnittsarbeitszeit ausgedrückt wird. Smith und Ricardo haben bereits
mit diesem Ansatz gearbeitet. Die Arbeitswertlehre ist noch immer
umstritten. Die dritte Ebene der Marxschen Theorie ist die Ebene der
Marktpreise, die auch der Tummelplatz der akademischen Wirtschaftstheorie
ist. Sie ist die Ebene der subjektiven Wertlehre. Die Ebene der Marktpreise ist
auch die Ebene, die für die direkte Beobachtung der wirtschaftlichen
Wirklichkeit im Sinn der Erfassung von Preisen und Mengen zugänglich ist.
Das gilt nur mit erheblichen Einschränkungen für Arbeitswerte.
Marx geht in der Regel in seinen Schriften davon aus, dass Produktionspreise
und Marktpreise sich parallel entwickeln. Das setzt vollständige Konkurrenz
und eine weitestgehend staatsfreie Wirtschaft voraus. Unvollständige
Konkurrenz, einmal abgesehen von dem Konzentrations- und
Zentralisationstendenzen, werden von ihm nur am Rande in die Analyse
einbezogen. Auch Staatseingriffe in den Wirtschaftsprozess im heutigen
Umfang, wie sie in einigen europäischen Staaten zu beobachten sind, werden
von ihm nicht behandelt. Auf der Ebene der Marktpreise ist Marx in den
31
Traditionen der klassischen politischen Ökonomie verwurzelt, die von Adam
Smith als ein möglichst staatsfreier Raum konzipiert wurde.
Der Rückgriff auf Arbeitswerte hat bei Marx (im Gegensatz zu Autoren der
klassischen politischen Ökonomie wie Smith oder Ricardo) eine
moralphilosophische Absicht, die über die Analyse der eng wirtschaftlich
definierten Beziehungen hinausgeht. Die Arbeitskraft ist für Marx die einzige
Quelle des Wertes und deshalb auch des absoluten und des relativen
Mehrwertes.
Eine Marktwirtschaft setzt die Existenz von Waren voraus. Waren müssen
Nichtgebrauchswert für ihren Besitzer und Gebrauchswert für ihren
Nichtbesitzer haben, wenn es zum Tausch kommen soll. Im Tauschprozess
entsteht in den Köpfen der Tauschenden ein falsches Bewusstsein, das Marx
auf den Fetischcharakter der Ware zurückführt. (Siehe Kasten B2: „Der
Fetischcharakter der Ware und sein (offenkundiges) Geheimnis“).
____________________________________________________________
Kasten B2: Der Fetischcharakter der Ware und sein (offenkundiges) Geheimnis
Im ersten Satz seines Hauptwerkes Das Kapital sagt Marx, dass der Reichtum in Gesellschaften,
in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, als eine ungeheure Warensammlung
erscheint (Marx 1972:49). Erscheint als, ist aber nicht. Um welche Erscheinungsform handelt es
sich? Offenbar um der Fetischcharakter der Ware. Der Begriff des Fetisch stammt aus der
westafrikanischen Anthropologie und bezieht auf sich Götzenbilder, denen eine magische Kraft
zugesprochen wird. Durch besondere Riten können die Götzenbilder veranlasst werden,
menschliche Schicksale positiv oder negativ beeinflussen. Noch heute wird in einigen
westafrikanischen Gesellschaften mit Fetischzauber zuweilen versucht, menschliche Schicksale
zu beeinflussen, z.B. Beförderungen im Staatsdienst oder Heiraten. Es handelt sich bei solchen
Götzenbildern um scheinbar selbständige Gestalten. Sie entspringen – so Marx – der
menschlichen Phantasie. Waren sind ebenso wie die geschnitzten oder in Ton geformten
Götzenbilder „Produkte der menschlichen Hand“, die sich im menschlichen Bewusstsein
verselbständigen. Der Besitz der Waren soll Bedürfnisse befriedigen, ohne die dazu erforderlichen
Eigenschaften zu besitzen.
In arbeitsteiligen Marktgesellschaften stellen Tauschpartner Tauschbeziehungen zwischen den
warenförmigen Arbeitsprodukten her. Voraussetzung für den Tausch ist, dass Besitzer einer Ware
Nicht-Gebrauchswert an ihr hat und der Nicht-Besitzer dieser Ware einen Gebrauchswert für sich
zuordnet. An den warenförmigen Arbeitsprodukten aber „klebt“ ein Fetischismus, der wie bei den
westafrikanischen Götzenbildern mittels Kaufritualen Macht über menschliches Verhalten
gewinnen kann und es auch soll. Ein Beispiel: Kinder brauchen Turnschuhe einer gewissen
Marke, um „in“ zu sein. Sie hoffen auf einen guten Platz in ihrer Clique oder ihrer Mannschaft.
Doch halten die Fetischgötzen nicht immer das, was sie versprechen. Durch den Kauf von
Turnschuhen einer besonderen Marke wird man nicht unbedingt ein guter Fußballspieler. Nur
allzu oft bleibt der vom Tauschwert versprochene Gebrauchswert weit hinter den hinter dem
erhofften Genuss zurück. Für Geld ist alles zu haben!? Die Kauf Waren gegen Geld lässt die
Dinge nicht so, wie sie vorher lagen. Menschen und Dinge werden über Käufe oder
Tauschgeschäfte in veränderte Beziehungen gebracht. Ersehnte Zärtlichkeit und Sexualität werden
auf Märkten von Sexworkern als Dienstleistungen angeboten. In den Konsumsphären der heutigen
32
entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften hat der Warenfetischismus eine nahezu
allumfassende Gültigkeit erlangt. Den Waren werden Eigenschaften zugeschrieben, die in jedem
Werbetext nachgelesen werden können. Mit dem Gebrauchswert der warenförmigen
Arbeitsprodukte aber besteht nur allzu oft kaum noch eine Verbindung. Marx sagt wenig bis
nichts dazu, über welche psychologischen Pfade der Fetischcharakter der Waren ins Bewusstsein
breiter Bevölkerungsschichten gelangt.
Die Analyse des Fetischcharakters kann auf Dienstleistungen, die heute den überwiegenden Teil
der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ausmachen, ausgeweitet werden. Genau das wird von Marx
selbst und weiten Teilen der marxistischen Theoretiker bestritten. Angesichts des zunehmenden
Anteils der in Dienstleistungsberufen Beschäftigten verdammen sie sich dann aber selbst zur
Bedeutungslosigkeit.
Hartnäckig und überwiegend erfolgreich wird im Bereich der gegenständlichen Arbeitsprodukte
durch den Warenfetischismus die Tatsache verdrängt, dass Waren mit menschlicher Arbeitskraft
produziert werden, die Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit sind. Im Bereich der
Dienstleistungsarbeit ist die Verdrängung der Arbeit nicht ganz so einfach. Die problematischen
Arbeitsverhältnisse, die niedrigen Löhne und das himmelschreiende Elend der einheimischen
Bevölkerung vieler touristischer Zielorte kommen nicht von ungefähr. Sie können auch nicht nur
dem korrupten politischen System vor Ort angelastet werden. Sie werden vor den Touristen so gut
es geht versteckt, wenn es sein muss auch hinter hohen Mauern oder sie werden von brutalen
Polizisten auf Distanz gehalten.
Die in den Waren enthaltenen Teilarbeiten fügen sich über Marktprozesse zur gesellschaftlichen
Gesamtarbeit zusammen. Der gesellschaftliche Reichtum gerinnt zur ungeheuren
Warensammlung. Auf diesem Weg stiftet der Warenfetischismus eine ungesellschaftliche
Gesellschaft, deren nur allzu oft unhaltbare Zustände hinter einem Schleier von gefälliger
Warenästhetik verborgen gehalten werden. Die über Waren konstituierte gesellschaftliche
Gesamtarbeit droht sich zu einem „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ zu
verfestigen. Die Gesetze der Marktprozesse lasten wie ein Bleideckel auf der Gesellschaft. Wenn
der Schleier der verkehrten Welt, die der Warenfetischismus zustande bringt, mal zu knapp wird
und die Wahrheit ans Tageslicht zu kommen droht, dann stehen andere wirksame Mittel der
Zurichtung der Menschen bereit, um die Ordnung der Dinge bzw. den Zwang der ökonomischen
Verhältnisse über die Menschen wieder herzustellen. Hartz IV kann als Beispiel dafür
herangezogen werden. (Siehe auch und Kasten B15: der „stumme Zwang der ökonomischen
Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht“).
Die akademische Wirtschaftswissenschaft beginnt ihre Erkundung der wirtschaftlichen
Wirklichkeit an der Oberfläche der ökonomischen Erscheinungen, der Welt der Waren, deren
Preisen und Mengen. Genau das aber ist die verkehrte Welt des Fetischcharakters der Waren, den
die Wirtschaftswissenschaft beschreibt, zählt und misst, ordnet und rationalisiert. Die
wirtschaftswissenschaftliche Arbeit zielt auf die Sicherung und die Ausbreitung der
kapitalistischen Marktwirtschaft. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen ist das
Ziel immer auch Bereitstellung von Herrschaftswissen, d.h. ein Wissen, mit dem die herrschenden
Kreise (Herrschaftseliten?) ihre Position erhalten und verbessern können. Es wäre vermessen zu
glauben, dass der Wirtschaftswissenschaft das nicht gelingt. Die Wirtschaftswissenschaft ist bei
ihren Bemühungen sogar recht erfolgreich. Nicht zuletzt deshalb ist es unverzichtbar, sich ein
ökonomisches Orientierungswissen zu erarbeiten, um unser Verständnis von der Welt der
Wirtschaft zu erweitern und unsere Position in der Welt der Wirtschaft besser zu verstehen.
In der ungeheuren Warensammlung, die die Erscheinungsform des gesellschaftlichen Reichtums
in Gesellschaften ist, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, liegt der wirkliche
33
Reichtum eben dieser Gesellschaften verborgen. Es ist die potentielle Vielfalt an menschlichen
Beziehungen in ihren kulturellen Denkmustern und ihren sozialen Erfahrungen, die in einem
Arbeitsprodukt bzw. in die gesellschaftlichen Gesamtarbeit eingearbeitet sind und zur Sprache
gebracht werden kann. Je umfangreicher, vielfältiger und geographisch weiter gespannt die
gesellschaftliche Gesamtarbeit ist, um so größer ist auch der potentielle Reichtum an
menschlichen Beziehungen. Erst wenn der Warenfetischismus allmählich durchschaut und von
den Arbeitsprodukten abgelöst wird, lässt sich dieser Reichtum an menschlichen Beziehungen
fruchtbar machen. Die Entfaltung einer besseren Gesellschaft als die vom Warenfetischismus
gelenkte aber kann kein schneller Selbstläufer sondern nur ein (langsamer?) bewusst gesteuerter
Entwicklungsprozess sein. Die Reregulierung der Märkte hat hier ihren gesellschaftlichen Ort. Es
wäre eine der Hauptaufgaben nachkapitalistischer Gesellschaften, die unmittelbaren oder direkten
menschlichen Beziehungen, die unter der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen
zustande gekommen sind, offen zu legen und so zu verändern, dass sie mit der wahren
menschlichen Natur wieder vereinbar werden und einer bewusst selbstbestimmten Vorstellung
von einer menschenwürdigen Gesellschaft entsprechen. Das ist kein einfacher und sicher auch
kein konfliktfreier Weg. Ob er wohl in ein Paradies mit angegliedertem Schlaraffenland führt? (In
Anlehnung Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. 1 Abschnitt.
Unterabschnitt 4: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. 1972:85-98).
______________________________________________________________
Der Arbeitskraft in ihrer Warenform als Lohnarbeit kommt bei Marx eine
besondere historische und moralische Qualität zu. Ein Arbeiter, der nichts
anderes besitzt als seine Arbeitskraft, ist gezwungen, sie bald möglichst zu
verkaufen, um seine Familie und sich ernähren zu können. Für den Arbeiter
hat seine Arbeitskraft Tauschwert aber nur wenig Gebrauchswert. Für einen
Kapitalisten, der nur Maschinen und Rohstoffe besitzt, hat die Arbeitskraft
Gebrauchswert. Deshalb wird er Arbeiter so bald wie möglich einstellen. Die
Einführung zusätzlicher Produktionsfaktoren wie Kapital und Boden hat
Marx als Mystifikation der für seine Analyse der grundlegenden
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen angesehen.
Die Analyse von Formen und gesellschaftlichen Verhältnisse sind im
Marxschen Werk eine weitere zentrale Aufgabe. Für Marx ist das Kapital ein
besonderes gesellschaftliches Verhältnis zwischen dem Kapitalbesitzer und
„seinen“ Arbeitern und Angestellten. Die akademische
Wirtschaftswissenschaft ist einer solchen Sichtweise gegenüber blind. Sie
beharrt auf einer eng zugeschnittenen Definition von der Wirtschaft und der
Wirtschaftswissenschaft. Kapital und Arbeit sind dann nichts anderes als
Produktionsfaktoren, die in eine Produktionsfunktion eingebunden werden
können. Gesellschaftliche Verhältnisse treten nur noch ausnahmsweise in
Erscheinung.
Ausgehend von dem „tableau économique“ (Darstellung eines
Wirtschaftskreislaufs) der physiokratischen Theorie hat Marx
Kapitalkreisläufe konzipiert, den Kreislauf des Geld- und des Warenkapitals
34
sowie des produktiven Kapitals. Mit ihrer Hilfe kann auch der wirtschaftliche
und gesellschaftliche Gesamtzusammenhang dargestellt werden.
Kreislaufdarstellungen sind weiterhin in besonderer Weise geeignet, einigen
wichtigen Entwicklungssträngen der modernen kapitalistischen
Markwirtschaften auf die Spur zu kommen.
Im Vergleich zur Analyse der kapitalistischen Marktwirtschaft hat Marx
wenige und wenn überhaupt dann nur sehr abstrakte Hinweise auf
nachkapitalistische d.h. sozialistische oder kommunistische Zustände
gegeben. Das war nicht anders zu erwarteten, denn Marx war kein
spekulativer Zukunftsforscher. Die Dogmatisierung der Marxschen Theorie,
die einst versteinerte gesellschaftliche Verhältnisse zum Tanzen bringen
sollte, hin zu einem rigiden Sowjetmarxismus, ist mit dieser Theorie völlig
unvereinbar. Eine totalitäre Herrschaftsideologie wie unter Lenin und vor
allem unter Stalin, in Kambodscha unter Pol Pot, steht in völligem Gegensatz
zu den wie auch immer vorläufigen Ergebnissen von Marxens
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Analyse. Von den emanzipatorischen
Einsichten des Marxismus, die den Untergang des im eigenen
Selbstverständnis real existierenden Sozialismus überlebt haben könnten, ist
in Deutschland weit und breit nichts mehr zu entdecken. Dogmatische
marxistische Theoretiker scheinen auch nicht in der Lage oder bereit zu sein,
den Untergang „ihres Sozialismus“ mit der Möglichkeiten marxistischer
Analyse verständlich zu machen.
In den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildete sich die subjektive
Wertlehre (Grenznutzentheorie) als Reaktion auf die klassischen und die
marxistischen Theorien heraus. Sie geht vom abnehmenden Grenznutzen aus.
Beim Verbrauch von zusätzlichen Einheiten von Konsumgütern nehmen die
zusätzlichen Nutzen, d.h. die Grenznutzen ab. Das kann man sich am Verzehr
von Äpfeln klar machen. Der erste Apfel, den man isst, liefert den höchsten
Nutzen. Beim zweiten, dritten,....zehnten nimmt der Nutzenzuwachs, der
Grenznutzen, eines jeden zusätzlich verzehrten Apfels ab. Unabhängig
voneinander entwickelten in England Stanley W. Jevons (1835 – 1885), in
der Schweiz Léon Walras (1834 – 1910) und in Österreich Carl Menger
(1840 – 1929) erste Grundlagen. Es bestand offenbar zu Beginn der siebziger
Jahre des 19. Jahrhunderts ein Bedürfnis, die subjektive bzw. die individuelle
Seite der wirtschaftlichen Akteure stärker in den Vordergrund zu rücken. Von
diesem Ausgangpunkt aus hat sich die heute vorherrschende
Wirtschaftswissenschaft entwickelt. Schon frühzeitig suchte diese Schule,
besonders die österreichische Variante, die Auseinandersetzung mit der
Arbeitswertlehre.
35
Der Versuch, Subjektivität oder Individualität ins Zentrum der ökonomischen
Theorie zu rücken, führt u.a. zu einem kläglichen Ergebnis, der Konstruktion
eines Wirtschaftssubjekts, dem sogenannten „homo oeconomicus“. Das ist
eine Gestalt aus der Retorte, ähnlich wie der Homunculus in Goethes Faust II.
Der homo oeconomicus verhält sich rein rational, d.h. er optimiert auf der
Grundlage der ihm vollständig verfügbaren Information und seiner
unbegrenzten Rechenkapazitäten pausenlos vor sich hin. Dabei denkt er an
Preise und Mengen. Gefühle sind dabei offenbar nicht erforderlich. Nicht
einmal Angst vor Verlusten und Freude an Gewinnen? Er weiß alles. Nur in
einem solchen Zustand passt er in die Theorie. Nur mit solchen Kreaturen ist
das allgemeine Gleichgewicht möglich. In neueren Theorieansätzen finden
sich Einschränkungen. Man spricht dann von der „eingeschränkten
Rationalität“ (bounded rationality) der Wirtschaftssubjekte. Die theoretischen
Grundlagen dazu hat Herber A. Simon geschaffen (Simon 1916 – 2001;
Nobelpreis 1978). Neuerdings werden endlich auch psychologische Tests und
Experimente gemacht. Die Ergebnisse werden zunehmend in die
ökonomische Analyse einbezogen.
Im Laufe der Jahrzehnte seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der
neoklassisch Ansatz mit immer differenzierteren mathematischen Methoden
dargestellt und weiter entwickelt. Die Marginalanalyse, z.B. von
Nutzenzuwächsen, lädt zum Gebrauch der Differenzialrechnung ein. Mit ihrer
Hilfe können Optimierungsprobleme gelöst werden. Damit aber erhält die
Darstellung eine deterministische Komponente. Die neoklassische
Wirtschaftstheorie sollte eine „exakte Wissenschaft“ werden, wie es die
Astronomie oder die Physik des 19. Jahrhunderts war. Das führte in weiten
Bereichen dieses Theorieansatzes zu unrealistischen Ergebnissen, wie das
Beispiel des homo oeconomicus zeigt. Heute wird versucht dem, was unter
Realität verstanden werden kann, mit stärker empirisch orientierten Methoden
näher zu kommen. Dabei kommt es dann auch zum Einsatz anderer
mathematischer Verfahren. Eine zwar abnehmende aber noch immer
existierende Wirklichkeitsferne kann man der Neoklassik sicher nicht
absprechen. Erst spät, d.h. nach dem zweiten Weltkrieg, wurde eine
neoklassische Wachstumstheorie erarbeitet, die bis in die jüngste
Vergangenheit hinein verbessert wurde. Nebenbei erwähnt: Marx hatte schon
fast ein Jahrhundert vorher mit seinem Konzept der Akkumulation des
Kapitals eine einfache Wachstumstheorie dargestellt.
Die neoklassisch orientierte Wirtschaftspolitiker räumt der Höhe und den
Veränderungen von Preisen für wirtschaftliche Entscheidungen einen hohen –
und wie hier angenommen – wird allzu hohen Stellenwert ein. Das gilt
besonders für die Beziehung zwischen Lohnhöhe und die Beschäftigung. Die
36
Lohnkosten je Produkteinheit seien zu hoch. Das gefährde die internationale
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Es sei daran erinnert, dass
Deutschland 2003 Exportweltmeister bei Waren des verarbeitenden
Gewerbes (ohne Dienstleistungen) war. „Wir“ waren auch 2004 und 2005
international wieder sehr gut aufgestellt.
Für die Theorie der relativen Preise, d.h. des Verhältnisses von Preisen
zueinander, gilt ähnliches. Der Preis für Arbeit sei im Verhältnis zum Preis
des Kapitals zu hoch. Deshalb werde Arbeit durch Maschinen ersetzt. Die
generelle Überschätzung der Preiswirkungen hat möglicherweise in
erheblichem Umfange zu einer Wirtschaftspolitik beigetragen, mit der die
Stagnationstendenz in Deutschland bisher nicht überwunden werden konnte.
Das gilt wohl auch für die Wirkung von wirtschaftlichen Anreizen auf das
Verhalten wirtschaftlichen Akteure7. Die Arbeitslosenunterstützung sei zu
hoch und liege zu nahe an den Niedriglöhnen. Deshalb gebe es keinen Anreiz,
bei niedrigen Löhnen Arbeit aufzunehmen. Ein Arbeit Suchender wird sich
sehr genau überlegen, einen Job nur deshalb abzulehnen, weil das
Anfangsgehalt zwar niedrig die Arbeit aber für ihn interessant und die
Aufstiegsmöglichkeiten gut sind. Der Preis, hier in diesem Beispiel der Lohn,
ist ein wesentliches Argument bei Entscheidungen aber sicher nicht das
einzige.
Eine andere offene Flanke der neoklassischen Theorie war anfangs das
völlige Fehlen des technischen Wandels. Joseph A. Schumpeter (1883 –
1950) hat diese diesen weißen Fleck auf der Landkarte der
Wirtschaftstheorien besetzt. Er hat den Begriff der „schöpferischen
Zerstörung“ eingeführt, der als Prozess zu begreifen ist. Dynamische
Unternehmer lassen aus den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung
neue Produkte sowie neue Produktionsverfahren entwickeln und sie
erschließen für diese Produkte neue Märkte. Ältere Produkte werden aus den
Märkten verdrängt. Auf diese Weise verschaffen sich die dynamischen
Unternehmer, die sich in der Marktform der vollständigen Konkurrenz
bewegen, einen vorübergehenden Extraprofit. Der Extraprofit wird länger zur
Verfügung stehen, wenn ein Patentwesen besteht und die dynamischen
Unternehmer in die Marktform des Oligopols übergewechselt sind.
7
Noch ein Ökonomenwitz: ein Wirtschaftsprofessor und ein Student gehen durch die Stadt. Der Student sieht
einen 20 € Schein auf der Straße liegen und sagt es dem Professor. „Das kann nicht sein,“ antwortet der Professor.
„Hätte wirklich ein Geldschein auf der Straße gelegen, dann wäre er sofort aufgehoben worden!“ (Merke:
wirtschaftliche Anreize wirken sofort!)
37
Innovationen treten Schumpeter folgend gebündelt auf. Sie nehmen meist die
Form eines Clusters an, das sich um eine Basisinnovation schart. Die
Computertechnologie und die auf dieser Basistechnologie entwickelten
Informations- und Kommunikationstechnologien, Hardware, Software,
Bürosysteme, Industrieelektronik usw. ist ein dafür zutreffendes Beispiel.
Siehe hierzu Abbildung Ca: Innovationscluster.
Abbildung Ba: Innovationscluster
Kommunikationstechnik
Industrieelektronik
Bürosysteme
Computer-Technologie
Unterhaltungselektronik
Militärtechnologie
Software-
Hardware
Die Basistechnologie dieses Cluster ist die Computertechnologie. Sie steht im Zentrum der
Abbildung. Aus der Basistechnologie sind die Technologien hervorgegangen, die mit der
Basistechnologie in einem mehr oder weniger komplexen Zusammenhang stehen. Sie
überschneiden sich teilweise.. Tiefergehende Untergliederungen sind denkbar. – Siehe hierzu
auch Abbildung Ce: Lange Wellen der Konjunktur).
Viele der modernen Innovationen wurden im Rüstungsbereich entwickelt.
Das gilt nicht nur für Atomkraft, Lasertechnologien usw. sondern sogar für
das Internet. Nach einer verhältnismäßig langen Lernphase haben die
Informations- und Kommunikationstechnologien besonders in den USA ab
1996 zu einer Verdreifachung des Produktivitätswachstums auf rd. 4,5%
geführt.
In der Wirtschaftswissenschaft kommt es oft darauf an, an der richtigen Stelle
Begriffe einzuführen, die für den weiteren Gang der Untersuchung von
Bedeutung sein können. Dazu ein Beispiel. Abelshauser unterscheidet
zwischen „diversifizierter Qualitätsproduktion“ und „standardisierter
Massenproduktion“ (Abelshauser 2003). Bei der diversifizierten
Qualitätsproduktion handelt es sich um Einzelfertigungen auf hohem
38
technologischen Niveau, z.B. im Maschinenbau. Die Maschinen sind mit
Dienstleistungspaketen verbunden, wie Anlernen, Reparatur, Instandhaltung
etc. Diversifizierte Qualitätsproduktion findet mit hochqualifizierten
Arbeitskräften statt. Diversifizierte Qualitätsproduktion ist das Rückgrat der
deutschen Exporterfolge.
Standardisierte Massenproduktion dagegen ist Fließbandproduktion. Sie kann
überwiegend mit angelernten Arbeitskräften betrieben werden. Sie findet vor
allem bei der Produktion von langlebigen Konsumgütern von
Haushaltsgeräten bis hin zu Kraftfahrzeugen Anwendung. Standardisierte
Massenproduktion geht auf die Autoproduktion von Ford zurück und hat das
Produktionsregime des Fordismus hervorgebracht. Im Fordismus sind große
Produktivitätsfortschritte möglich, die als Lohnzuwächse verteilt werden, aus
denen der Kauf von Autos durch Automobilarbeiter möglich wird. Asiatische
Länder wie China oder Korea sind mit der standardisierten Massenproduktion
erfolgreich. Sie erwirtschaften sich Vorteile in der internationalen
Konkurrenz, indem sie die Produktivitätsfortschritte nicht in Lohnzuwächse
verwandeln. Von der diversifizierten Qualitätsproduktion ist China noch weit
entfernt. In Korea dagegen scheint dagegen der Einstieg in die diversifizierte
Qualitätsproduktion gelungen zu sein.
Deutschland kann seine Stellung in der internationalen Konkurrenz nur durch
den Ausbau der diversifizierten Qualitätsproduktion behaupten. In diesem
Produktionsregime werden hohe Löhne gezahlt. Sie sind Voraussetzung für
den Erwerb hoher Ausbildungsstandards. Mit Lohnstagnation oder
Lohnsenkung wird in diesem Produktionsregime die Quelle des technischen
Wandels – der hohe Ausbildungsstandard und die Motivation zur Innovation
– tendenziell zum Versiegen gebracht. Sinkende Löhne im Regime der
standardisierten Massenproduktion dagegen sind nicht in allen Fällen
ungeeignet, die Konkurrenzfähigkeit vorübergehend zu verbessern. Das
Beschäftigungsproblem der standardisierten Massenproduktion aber ist wohl
weniger die Lohnhöhe als vielmehr die Ersetzung der repetitiven Teilarbeiten
durch Roboter, die im Gegensatz zur lebendigen Arbeit fehlerfrei
funktionieren und produktiver sind.
Schumpeter hat ähnlich wie Marx die Innovationskraft der kapitalistischen
Marktwirtschaften bewundert. Ähnlich wie Marx aber hat er auch nicht an die
dauerhafte Lebensfähigkeit des Kapitalismus geglaubt. In einem
grundlegenden Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ aus dem
Jahr 1942 fragt er: „Kann der Kapitalismus weiterleben?“ Seine Antwort:
„Nein meines Erachtens nicht“ (Schumpeter 1950:105). Bei Marx wird der
Kapitalismus durch eine Revolution des Proletariats überwunden. Bei
39
Schumpeter geht er, hier verkürzt formuliert, an sich selbst zugrunde.
Schumpeter hat an das Überleben des Sozialismus geglaubt. Nun ist der
Sozialismus an sich selbst zugrunde gegangen und der Kapitalismus überlebt
(bis auf weiteres). Prognosen sind schon schwierig, wenn es sich um
Zeitreihen handelt. Voraussagen über die Überlebensfähigkeit von
Wirtschaftssystemen sind was sie sind: Weissagungen. Da fällt das Irren dann
um so leichter.
Schumpeter hat mit großer Intensität immer wieder auf die Bedeutung des
Unterschiedes zwischen vollständiger und unvollständiger Konkurrenz
hingewiesen (stellvertretend Schumpeter 1950:143). Wichtige theoretische
Grundlagen der Wirtschaftspolitik bis hinein in die Beschäftigungspolitik
sind auch heute noch geprägt von der Annahme der vollständigen
Konkurrenz. Lässt man diese Annahme fallen, dann erscheinen viele der
heutigen wirtschaftspolitischen Aussagen in einem ganz anderen Licht.
Davon wird später in diesem Papier die Rede sein.
In dem oben aufgeführten Buch spricht Schumpeter von „monopolistischen
Praktiken“. Seine Gedankengänge können auf oligopolistische Konkurrenz
übertragen werden. Transnationale Oligopole sind heute Innovationsmaschine
Baumol (Baumol 2002).Sie sind zum dynamischen Kern der kapitalistischen
Marktwirschaft herangereift und bestimmen die wesentlichen ökonomischen
Lebenszusammenhänge der kapitalistischen Marktwirtschaft.
In den Grundmustern der neoklassischen Wirtschaftstheorie spielt das
allgemeine Gleichgewicht eine zentrale Rolle. Abweichungen vom
allgemeinen Gleichgewicht werden automatisch durch die
Selbstheilungskräfte der Märkte beseitigt. In einer solchen heilen Welt
kommen große Krisen nicht vor. Deshalb war die Überraschung der
Ökonomen groß, als sich 1929 der Börsenkrach ereignet und ihm die bisher
schwerste Krise der kapitalistischen Marktwirtschaften folgte. Die
Selbststeuerung der Märkte hätte zu einer Überwindung der Krise führen
müssen. Die Krise wurde von vielen amerikanischen Unternehmern, hohen
Regierungsbeamten und Wirtschaftswissenschaftlern als Reinigungskrise
verstanden. Doch offenbar waren nach ihrer Einschätzung die
Selbstheilungskräfte der Märkte blockiert. Die Schuldigen wurden gesucht
und schnell identifiziert. Gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der
Ratschlag des damaligen Finanzministers Andrew Mellon an den Präsidenten
Hoover aus dem Jahr 1930:
„Liquidieren Sie die Arbeiterorganisationen, liquidieren Sie die Börse, liquidieren
Sie die Organisationen der Farmer, liquidieren Sie den Grundstücksmarkt
40
säubern Sie das System von seiner Verrottung...“. Dann wird „das Volk härter
arbeiten, (und) ein moralischeres Leben führen“ (Eichengreen, Temin
1997:21. Übersetzung G.L.).
Wer bei der heutigen wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland genau
hinhört, nimmt unterschwellig ähnliche Begründungsmuster wahr.
Bei einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von nahezu 35% in den USA
und entsprechender Massenarbeitslosigkeit wurde das Vertrauen in die
Selbstheilungskräfte des Marktes tief erschüttert. Nach der Wahl von F.D.
Roosevelt 1931 wurde der Dollar abgewertet und es wurden umfangreiche
geld- und fiskalpolitische Eingriffe (New Deal) in den Marktmechanismus
vorgenommen, um die Krise zu überwinden. Die Theorie für eine solche
Politik wurde von John Maynard Keynes (1883 – 1946) in seinem Werk
„die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ 1936
nachgereicht. Bei Keynes spielt die effektive Nachfrage eine herausgehobene
Rolle. Unter effektiver Nachfrage ist die zahlungkräftige Nachfrage nach
Gütern und Dienstleistungen zu verstehen. Eine Zunahme der effektiven
Nachfrage ist erforderlich, um das System aus seiner Krise herauszuführen.
Auch hier wiederum wird man an die gegenwärtige Diskussion zwischen den
deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn, der die neoklassisch orientierte
Position vertritt, und dem Keynesianer Peter Bofinger geführt wird. Sinn
vertritt die Auffassung, dass über Kostensenkungen, insbesondere auch
Lohnsenkungen, die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen erhöht werden
soll. Die verbesserte Konkurrenzfähigkeit wird als entscheidende
Voraussetzung für die Überwindung der Krisentendenzen in Deutschland
gesehen. Die effektive Nachfrage spielt in seinen Überlegungen nur eine
untergeordnete Rolle (Sinn 2003). Bofinger besteht dagegen auf einer
Erhöhung der effektiven Nachfrage, um die Stagnationstendenzen in
Deutschland zu überwinden (Bofinger 2005).
Doch offenbar reichten selbst massive wirtschaftspolitische Programme nicht
aus, um die USA wieder in eine dauerhafte Prosperitätsphase zurück zu
führen. Wirtschaftshistoriker sind deshalb der Ansicht, dass die
Weltwirtschaftskrise in den USA erst mit den Rüstungsprogrammen zur
Vorbereitung des zweiten Weltkrieges überwunden werden konnten. – In
Deutschland setzte die Aufrüstung ab 1935 massiv ein, als sich die deutsche
Wirtschaft bereits im Aufschwung befand. Der Aufschwung wurde demnach
nicht von der Rüstungspolitik eingeleitet sondern nur verstärkt. Die
nationalsozialistische Kriegspolitik wäre damit vom wirtschaftlichen
Standpunkt her gesehen unnötig gewesen. Das stimmt nur für die Mitte der
dreißiger Jahre. Auf Grund der intensiven Kriegsvorbereitungen kam es in
41
Nazideutschland im Unterschied zu den USA 1938 nicht zu einem
konjunkturellen Rückschlag. Rüstungsprogramme sind leider bis in die
heutige Zeit ein erfolgversprechendes wirtschaftspolitisches Programm. Das
wussten damals auch maßgebliche Kreise der deutschen Wirtschaft, als sie
Hitler in der Weltwirtschaftskrise gefördert haben. Selbst in der heutigen Zeit
hat der Irakkrieg zur konjunkturellen Stabilisierung in den USA einen
wesentlichen Beitrag geleistet.
Keynes hat vor allem in drei Bereichen der Wirtschaftswissenschaft innovativ
gewirkt: (1) Stabilität des Marktsystems insbesondere im Hinblick auf
Vollbeschäftigung; (2) die Rolle des Geldes in einem solchen System; (3) die
langfristige Dynamik von Marktwirtschaften. Besonderes Gewicht hat in
diesen drei Bereichen die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft. Keynes hat
weiterhin die konzeptuellen Grundlagen der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung gelegt. Die Theorie von Keynes gibt der Analyse des
gesamtwirtschaftlichen Verhaltens den Vorrang. Dazu ist die
Zusammenfassung von einzelwirtschaftlichen zu makroökonomischen
Variablen notwendig wie das gesamtwirtschaftliche Konsumverhalten, das
gesamtwirtschaftliche Sparverhalten oder das gesamtwirtschaftliche
Investitionsverhalten usw.
Die Zusammenhänge zwischen den Variablen können dann in der Form von
Stromdiagrammen dargestellt werden (Siehe Abbildung Bb).
____________________________________________________________
Abbildung Bb: Einkommenskreislauf mit Vermögensänderung, Ausland und
Staat
Verbrauch
Käufe Güter u. Dienstleistg..
Löhne und Gehälter
Staat
Steuern minus
Subventionen
Steuer minus
Transfers
Investition
Unternehmen
Ersparnis
Vermögensänderungskonto
unverteilte
Gewinne
Importe
Auslandsforderungen
Haushalte
Auslandsverpflichtungen
Ausland
Exporte
Löhne und Gehälter
42
Abbildung Cb enthält den Kernprozess der kapitalistischen Marktwirtschaft.
Die Unternehmen schaffen Arbeitsplätze und zahlen Löhne und Gehälter an
die Haushalte. Ihr Motiv ist Gewinnerzielung. Von den Löhnen bzw.
Gehältern kaufen die Haushalte Konsumgüter bei den Unternehmen und sie
sparen. Ihre Ersparnisse fließen auf ein fiktives Vermögensänderungskonto.
Die einbehaltenen Gewinne werden ebenfalls auf das fiktive
Vermögensänderungskonto verbucht. Das wäre das einfachste
Kreislaufdiagramm, das man sich vorstellen kann. Es wird in Abbildung Cb
um die Positionen Staat und Ausland erweitert. Dann erhöht sich die Zahl der
Verbindungen schon erheblich. Die Steuerung mit wirtschaftspolitischen
Instrumenten wird entsprechend schwieriger. (Siehe Anhang:
Grundgleichungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung).
Die Theorie von Keynes hat drei Mängel. Sie berücksichtigt die
Kapazitätseffekte von Investitionen nicht, d.h. sie bezieht nicht ein, dass sich
der Kapitalstock durch die jährlich durchgeführten Investitionen vergrößert.
Dann nämlich kann mehr produziert werden. Auch der technische Wandel
wurde von Keynes in seine Untersuchung nur am Rande erwähnt. Drittens
spielt die Außenwirtschaft in der „Allgemeinen Theorie“ eine untergeordnete
Rolle, nicht aber in Keynes’ wirtschaftspolitischer Beratungstätigkeit. Damit
hat er selbst seine „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und
des Geldes“ stark eingeengt und seinen Kritikern ein Einfallstor geöffnet. Das
Werk von Keynes erwies sich als weniger „allgemein“ als er vorgegeben
hatte. Schließlich wurde sein Beitrag zur Grundlage einer antizyklischen
Konjunkturpolitik umfunktioniert. Er selbst hatte noch behauptet, dass die
neoklassische Wirtschaftstheorie ein Spezialfall seiner allgemeinen Theorie
sei. Seine neoklassischen Gegner dagegen behaupteten, dass umgekehrt ihre
Theorie die allgemeine, die von Keynes dagegen nur ein Spezialfall der ihren
sei.
Keynes legt in seiner Theorie ein besonderes Gewicht auf die effektive
Nachfrage, d.h. die zahlungskräftige Nachfrage, im wesentlichen der privaten
Haushalte. Für Keynes hatte das sogenannte Saysche Gesetz keine Gültigkeit.
Dieses „Gesetz“ geht auf den französischen Ökonomen und Staatsmann
Jean-Baptiste Say (1756 – 1832) zurück und wurde auf die Kurzformel
gebracht: „jedes Angebot schafft seine Nachfrage“. Stockungen beim Absatz,
„verstopfte Absatzwege“ können das Gesetz zeitweise außer Kraft setzen
(Sowell 1972). Nach Keynes dagegen kann ein Ausfall der effektiven
43
Nachfrage langdauernd sein und zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Deshalb
hat der Staat mit einer entsprechenden Wirtschaftspolitik zu reagieren.
Seit nahezu vier Jahren leidet Deutschland unter einer „hartnäckigen
Kaufzurückhaltung“ der privaten Haushalte. Sie dürfte der Hauptgrund für
die gegenwärtigen Stagnationstendenz sein. Mit einer Verbesserung der
Funktionsbedingungen marktwirtschaftlicher Prozesse allein mittels
Deregulierung, so wie sie von der gegenwärtigen Regierung vorgeschlagen
wird (Agenda 2010, Hartz I - IV) dürfte diesem Problem nicht beizukommen
sein. Eine Rückbesinnung auf Keynes könnte sich auch in Deutschland als
hilfreich erweisen. An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, wie
wichtig die Anwendung der richtigen, d.h. zur Problemlösung richtigen
Theorie ist. Die deutsche Wirtschaftspolitik krankt daran, dass sie mehr auf
einen Regimewechsel als auf eine Problemlösung aus ist. Die mehr oder
weniger marktradikalen wirtschaftspolitischen Ratschläge, die der Regierung
in den letzten Jahren wie Rezepte für bittere Medizin ausgeschrieben wurden,
transportieren eine gesellschaftspolitische Botschaft, die in der deutschen
Bevölkerung offenbar nicht mehrheitsfähig ist: mehr Markt und weniger
Staat.
Keynes war eine geniale und vielschillernde Persönlichkeit. Er hat nicht nur
die Wirtschaftswissenschaft innovativ weitergebracht sondern auch in der
praktischen Wirtschaftspolitik richtungweisende Beiträge formuliert. Er war
Delegationsleiter des britischen Finanzministeriums bei den Versailler
Friedensverhandlungen. Er ist von diesem Amt zurückgetreten, weil er die
Reparationsleistungen, die Deutschland 1919 im Versailler Vertrag auferlegt
wurden, für viel zu hoch und wirtschaftlich für nicht vertretbar hielt. Er hat
recht behalten! Keynes hat weiterhin die Konferenz von Bretton Woods
(1944) stark beeinflusst, auf der die Regeln des Weltwährungssystems der
Nachkriegszeit festgelegt wurden. Keynes war sicher der Ökonom, der die
wirtschaftliche Entwicklung seiner Zeit wie bisher kaum ein anderer
Wirtschaftswissenschaftler geprägt hat.
Die Blütezeit des Keynesianismus war das „goldene Zeitalter“ in der
Nachkriegszeit (Marglin, Schor 1990). Nie zuvor oder bis heute hatte die
kapitalistische Marktwirtschaft eine solche Phase der Prosperität gekannt. Bis
in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts konnte das „magische
Viereck“ der Wirtschaftspolitik – angemessenes Wachstum,
Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, Außenhandelsgleichgewicht – nahezu
gleichzeitig und mit geringfügigen Abweichungen verwirklicht werden.
Gelegentliches Verfehlen von Zielen konnte von der Wirtschaftspolitik in der
Regel korrigiert werden. Die finanziellen Folgen des Vietnamkrieges, die zur
44
Aufhebung der Goldeinlösungspflicht für Dollarauslandsguthaben führte,
haben zur Entfesselung einer Inflation beigetragen, die die keynesianische
Ära beendet hat.
Der Monetarismus von Milton Friedman (1912 – Nobelpreis 1976) schloss
sich an (siehe Kasten C8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik). Die Inflation
konnte im Lauf der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts mit großen Einbußen an Wachstum und Beschäftigung
niedergekämpft werden. Anfang der achtziger Jahre war die neoklassische
Wirtschaftstheorie wieder zur herrschenden Lehre und der Lehre der
Herrschenden aufgerückt. Sie schien der Entwicklungslogik kapitalistischer
Marktwirtschaften besser angepasst zu sein als die keynesianische Botschaft.
Den Märkten wurde durch Deregulierung und Privatisierung mehr
Wirtschaftsfreiheit eingeräumt. Insbesondere wurden die Finanzmärkte
(Kapital- und Devisenmärkte) weitgehend liberalisiert und internationalisiert.
Die kapitalistischen Marktwirtschaften stehen heute ungefähr wieder da, wo
sie vor 1913 zur Blütezeit der Goldwährung standen. Damals war die
Globalisierung bereits ähnlich weit fortgeschritten wie heute. Das „Zeitalter
der Extreme“ (Hobsbawm 1995) – das zwanzigste Jahrhundert mit seinen
verheerenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen
Katastrophen – kann nicht unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung
dieser Epoche gesehen werden.
In den achtziger und den neunziger Jahren spielte die Keynessche Botschaft
nur noch eine untergeordnete Rolle. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler
waren zur neoklassischen Wirtschaftstheorie übergelaufen. Der
Keynesianismus spaltete sich in Schulen und Sekten auf. Der amerikanische
Neukeynesianismus scheint zur Zeit die einzige Richtung zu sein, die sich
etablieren konnte und heute vor allem in den USA wieder eine relevante
Rolle für die Formulierung wirtschaftspolitischer Strategien spielt. Auch in
Deutschland zeichnet sich eine vorsichtige Rückbesinnung auf das Werk von
Keynes und Ansätze ab, die sich auf ihn beziehen. Der aus den USA
importierte stärker empirisch orientierte neukeynesianische Ansatz scheint
auch in Deutschland auf dem Vormarsch zu sein.
Ausgelöst wurde diese Rückbesinnung auf keynesianischen Ansatz im
weitesten Sinn durch die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen
Marktwirtschaften. Der Auftakt war ein Börsenkrach im Jahr 1987, der in
keine weitergehende Krise einmündete. Es folgte die Asienkrise 1997, ein
Zusammenbruch asiatischer Devisenmärkte, der sich bis nach Russland und
Lateinamerika ausbreitete. In den meisten betroffenen Ländern kam es zu
Einbrüchen des Wirtschaftswachstum und erheblichem Anstieg der
45
Arbeitslosigkeit. Im März 2000 platzte die spekulative Blase an den Börsen
und es wurde mehr an Börsenkapitalisierung vernichtete als im Börsenkrach
von 1929. Die „roaring nineties“ der Prosperität in den neunziger Jahren in
den USA waren zunächst einmal zu Ende (Stiglitz 2004).
Seit einigen Jahrzehnten spielt auch die Evolutionsökonomik eine nicht
unwichtige Rolle. Die Beziehung zwischen Biologie und Ökonomie ist nicht
neu. Charles Darwin (1809 – 1882) hat sich offenbar in einigen Aspekten
seiner Selektionstheorie von der Bevölkerungstheorie des Ökonomen Malthus
inspirieren lassen. In seiner „Entstehung der Arten durch natürliche
Zuchtwahl“ (1859) wird der „Kampf ums Dasein“ auf die „geometrisch
fortschreitende Vermehrung“, wie Malthus annahm, zurückgeführt (Darwin
2004:27). Früh beeinflusste die politische Ökonomie die Entstehung der
Evolutionstheorie. Heute verläuft der Transfer in umgekehrter Richtung.
Auch Marx und Engels haben für Darwins Lehren bereits früh Interesse
gezeigt. 1860 schrieb Marx an Engels:
„Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturgeschichtliche
Grundlage für unsere Ansicht enthält.“(MEW 30, 131).
Die frühe akademische neoklassisch orientierte Wirtschaftswissenschaft
macht da keine Ausnahme. Die politische Ökonomie, die ihre ideologischen
Scheuklappen noch immer nicht abgelegt hat, ist von der inzwischen zur
ausgebildeten Wissenschaft gereiften Evolutionsbiologie fasziniert, die noch
immer und in den USA verstärkt von religiös fundamentalistischen
Bestrebungen bekämpft wird. – Nicht unbedenklich ist die Hinwendung
einiger Ökonomen auf stark vereinfachte Zusammenhänge zwischen
genetischer Ausstattung und sozialer Position oder Sozialverhalten. Da gibt es
böse rassistische Vorläufer, nicht zuletzt im dritten Reich. Es könnte sich
wieder einmal herausstellen, dass die Anleihen der Wirtschaftswissenschaft
bei der Evolutionsbiologie zu Strategien der Diskriminierung und
Ausgrenzung missbraucht werden.
In den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts traten
drängende Umweltprobleme in den Vordergrund. Sie gaben Anlass für die
Formulierung umweltökonomischer Ansätze und Theorien. Der
vielschillernde Begriff der Nachhaltigkeit steht im Mittelpunkt. Er wurde von
der akademischen Wirtschaftswissenschaft erst später aufgenommen.
Nachhaltigkeit kann über vier Kriterien beschrieben werden: ökologische,
soziale, ökonomische und institutionelle (Spangenberg 2003).
46
In den achtziger und neunziger Jahre schoben sich dann marktwirtschaftliche
Konzepte weiter in den Vordergrund. Privatisierungen von staatseigenen
Unternehmen wurden vorgenommen, oft mit zweifelhaftem Erfolg (ein
negatives Beispiel: Britische Eisenbahn). Die Deregulierung von Märkten
wurde intensiviert. Auch sie verlief nicht unproblematisch, wie das Beispiel
der Finanzmärkte zeigt. Die vorhandenen Institutionen waren diesen
Aufgaben oft nicht gewachsen und die Wirtschaftswissenschaft hattewieder
einmal nichts recht Brauchbares in ihrer Schublade. Die Disziplin der
Institutionenökonomik, die zuvor eher ein Schattendasein geführt hatte,
erlebte eine neue Blütezeit. Wie funktionieren Institutionen? Wie steht es mit
dem Design neuer Institutionen? Wie lernen Institutionen? Das sind
Fragestellungen, mit denen sich die Institutionenökonomik auseinandersetzt.
Das Rezept der achtziger und neunziger Jahre lautete aus neoklassischer
Sicht: weniger Staat, mehr Markt, besonders die Flexibilisierung der
Arbeitsmärkte! Das war wohl ein wenig simpel gestrickt und hat zu schweren
Misserfolgen, vor allem in Afrika und in postsozialistischen Ländern
beigetragen. Es besteht einmal mehr Nachholbedarf, dem sich die
Wirtschaftswissenschaft auf ihre Weise gestellt hat. Doch zeigt auch dieses
Beispiel, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft reagiert, verspätet
und mit welchem Erfolg auch immer (Fukuyama 2004).
Doch zurück zu der Beziehung zwischen Wirtschaftsgeschichte und
Wirtschaftswissenschaft. Schon 1989 platzte die spekulative Blase auf dem
japanischen Aktienmarkt. Es folgte ein Preisverfall von Grundstücken in
Großstädten. Um die Mitte der neunziger Jahre tauchte in Japan ein altes
Gespenst wieder auf, die Deflation. Sie ist das Gegenteil von Inflation. Bei
Deflation sinkt und bei Inflation steigt das allgemeine Preisniveau. Deflation
wurde zum letzten Mal in der schweren Weltwirtschaftskrise der frühen
dreißiger Jahre gesichtet. Ab 1996 herrscht in Japan eine leichte Deflation,
die –2% nicht unterschreitet. Das Wirtschaftswachstum verringerte sich
deutlich, und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Die japanische Geld- und
Fiskalpolitik hat versucht, massiv gegenzusteuern. Die Defizitquote stieg auf
8% und der Interventionszinssatz wurde von der japanischen Zentralbank auf
nahezu 0% reduziert und bis heute nicht erhöht. Der Erfolg dieser Politik ist
zweifelhaft. Die leichte Deflation hat sich kaum verändert. Die Phase der
Preisstabilität oder sogar der milden Deflation ist in der Regel von einer mehr
oder weniger hartnäckigen Stagnation begleitet.
Eine deflationäre Stagnation ist ebenfalls ein Problembereich, der von Keynes
in seiner „Allgemeinen Theorie“ behandelt wurde, allerdings im
Zusammenhang mit Fragen der damaligen Zeit, die sich von den heutigen
47
erheblich unterscheiden. Die Deflation in Japan hat dennoch der Keynesschen
Theorie zu einer Wiederbelebung verholfen. Geldpolitik war vom
Monetarismus und der neoklassisch orientierten Wirtschaftspolitik zum
einzig effizienten Instrument der Inflationsbekämpfung gekürt worden.
Fiskalpolitik war verpönt und galt als weitgehend wirkungslos. Deflation ist
angesichts der japanischen Erfahrungen offenbar schwerer zu bekämpfen als
Inflation. Sie ist nur schwer zu erkennen und nur frühzeitig mit einer
energischen und koordinierten Geld- und Fiskalpolitik zu bekämpfen.
Die amerikanische Wirtschaftspolitik hat diese Lehren aus dem japanischen
Desaster beherzigt. Der Interventionszinssatz wurde für längere Zeit auf 1%
abgesenkt und ab Mitte 2004 in Trippelschritten von 25 Basispunkten erhöht.
Die Defizitquote fiel unter Bush II. von einem Überschuss von 2% schnell
auf –5%. Die USA haben das japanische Desaster offenbar vermeiden
können. Das Risiko einer Deflation oder einer Stagnation ist in den USA
gegenwärtig (Winter 2005) nur noch sehr gering.
Erneut stellt sich auch heute wieder die Frage nach dem militärischen
Keynesianismus. Im Rahmen dieses Konzepts fließen die zusätzlichen
Staatsausgaben, die den konjunkturellen Aufschwung oder auch die Rückkehr
zur langfristigen Prosperität bewirken sollen, in den Rüstungssektor. Das
steht durchaus nicht im Gegensatz zur ökonomischen Rationalität
kapitalistischer Marktwirtschaften. Keynes hat das Problem sarkastisch
formuliert. Die zusätzlichen Staatsausgaben sollten zum Bau von Pyramiden
verwendet werden, oder es sollten Löcher gegraben werden, in die Geld
hinterlegt würde, das die Arbeiter dann wieder ausgraben. Merke: es kommt
auch auf die Erhaltung der Arbeitsdisziplin an, welcher Unsinn auch immer
produziert wird. Akademischer Zynismus! Nicht nur. Hinter diesen
Formulierungen verbirgt sich ein Verdrängungsproblem. Baut der Staat
Wohnungen, um die Konjunktur anzuheizen, dann verdrängt er zumindest
teilweise den privaten durch den staatlichen Wohnungsbau. Das staatliche
Konjunkturprogramm verpufft, wenn nicht mehr gebaut wird als vorher.
Zusätzliche Investitionen, die von der Bauindustrie ausgehen, sind dann
ebenfalls nicht zu erwarten.
Die zusätzlichen Käufe von militärischen Ausrüstungen dagegen lösen keine
Verdrängungseffekte aus. Es kommt zu zusätzlichen Einkommen und es
werden zusätzliche Investitionen getätigt. Der Multiplikator dürfte relativ
hoch sein. Es soll hier nicht behauptet werden, dass die USA den Irakkrieg
insgeheim als Konjunkturprogramm ausgelöst haben, um ihr Problem einer
drohenden deflatorischen Stagnation aus der Welt zu schaffen.
48
Nichtsdestoweniger hat sich der Irakkrieg im keynesianischen Verständnis
auf die wirtschaftspolitische Lage der USA positiv ausgewirkt.
Es ist für eine demokratisch gewählte Regierung schwierig, in Friedenszeiten
mit umfangreichen wirtschaftspolitischen Programmen zu überzeugen, die
finanzpolitisch unsolide aussehen. Ein militärisches Bedrohungsszenario
kann bei der Beschaffung von Legitimität sehr hilfreich sein. Dann nämlich
kommen die Mehrheiten in Parlament und Bevölkerung fast immer zustande.
Die drohende leichte Deflation mit Stagnationstendenzen ist schwer zu
identifizieren und kann nur frühzeitig mit massiven wirtschaftspolitischen
Programmen erfolgversprechend bekämpft werden. Die Zentralbank hatte in
den USA den Interventionszins in Trippelschritten auf 1% abgesenkt. Das hat
es seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr gegeben. Die
militärkeynesianische Fiskalpolitik des Präsidenten Busch passte nahtlos in
das antideflationäre Programm. Das gilt nicht unbedingt für Bushs
beträchtliche Steuerermäßigungen für die oberen Einkommensschichten. Die
USA haben im ganzen gesehen und im Vergleich zu Japan dennoch die
bessere Wirtschaftspolitik gemacht. Die USA sind offenbar in eine
Prosperitätsphase eingeschwenkt. Japan verharrt trotz wirtschaftspolitischer
Programme vergleichbaren Umfangs, die zeitlich allerdings weiter gestreckt
waren, seit über zehn Jahren in einer deflationären Stagnation, deren Ende
möglicherweise 2006 erreicht sein könnte. Deutschland befindet sich in einer
ähnlichen wirtschaftspolitischen Situation, hat aber nicht die Instrumente und
die finanziellen Mittel, über die Japan verfügt hat, ohne nennenswerte Erfolge
erzielen zu können.
Historische Parallelen im Bereich des Militärkeynesianismus drängen sich
geradezu auf. Ihnen soll hier nicht nachgegangen werden. Das würde eine
genaue wirtschaftshistorische Untersuchung verlangen, die hier nicht geleistet
werden kann. Auch für die Wirtschaftsgeschichte gilt, dass Parallelen, die
besonders naheliegend zu sein scheinen, nicht allein deshalb schon zu einem
korrekten Ergebnis führen. Wichtiger ist hier die Frage nach einer Alternative
zur militärkeynesianischen Wirtschaftspolitik. Die Antwort ist klar und
eindeutig. Ökologische Programme, u.a. gegen den Treibhauseffekt. Sie
wurden von den USA mit der Weigerung, das Protokoll von Kyoto zu
unterzeichnen, ausgeschlossen. Von zentraler Bedeutung ist besonders im
Zusammenhang mit der instabilen Lage im vorderen Orient die Entwicklung
alternativer Energiequellen. Wichtig wären Programme zur
Energieeinsparung, die der Bauindustrie neue Impulse geben. Die Erhöhung
der Energieeffizienz ist in vielen kapitalistischen Marktwirtschaften ein
plausibles Ziel. Ein grober Indikator für Energieeffizienz ist das Verhältnis
von Energieverbrauch zu Bruttoinlandsprodukt. Japan nimmt in dieser
49
Hinsicht eine Spitzenposition ein. Ökologische Programme können ohne
Schwierigkeiten so konzipiert werden, dass keine nennenswerten
Verdrängungseffekte auftreten. Nur ist die Beschaffung von Legitimation für
umfangreiche ökologische Programme noch immer viel schwerer als für hohe
Militärausgaben.
Die Fiskalpolitik wurde auch in der Wirtschaftstheorie teilweise rehabilitiert.
Neu-Keynesianer sind in den USA ins Rampenlicht getreten. Sie versuchen
die keynesianische Theorie den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Die
postkeynesianische Schule in Deutschland ist dagegen zersplittert und
angesichts der neuen Lage, die den Weg zurück zu Keynes und den
Weiterentwicklungen seiner Theorie weist, fast nicht präsent. Auch die
Bedrohung durch eine Deflation, ebenso die Schwierigkeiten mit der
gegenwärtigen Stagnation in Deutschland werden weitgehend ignoriert. Sie
dürften heute an Aktualität eingebüßt haben. Die Rückbesinnung auf Keynes,
d.h. die Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer
Weiterentwicklung und Anpassung der Keynesschen Lehre an die deutschen
Besonderheiten beruht, steckt noch in den Anfängen.
Im Gegensatz zu den USA verharrt die überwiegende Mehrheit der
maßgeblichen deutschen Ökonomen in noch immer in verengten
neoklassischen Denkmustern. Neuerdings (Sommer 2005) wird von
maßgeblichen Kreisen der Geldpolitik schon wieder mit der Inflationsgefahr
gedroht. Zinserhöhungen zum Zweck der Inflationsbekämpfung haben
begonnen. Der ohnehin schwache Konjunkturaufschwung, der schon durch
Erdölpreiserhöhungen angeschlagen ist, würde mit Zinserhöhungen weiter
gedämpft. Das Wirtschaftswachstum wäre zu schwach, um zusätzliche
Arbeitsplätze zu schaffen. Es bliebe günstigstenfalls bei geringem Wachstum
ohne Schaffung von Arbeitsplätzen (jobless growth).
Die Auflistung einiger wirtschaftshistorischer Zeitabschnitte, denen neue oder
wiederbelebte Theoriemuster zugeordnet wurden, zeigt, dass der
Untersuchungsgegenstand der Wirtschaftswissenschaft nicht stillsteht. Die
Regelmäßigkeiten aber, von der die Astronomie bei der Beobachtung von
Planeten und ihren Monden ausgehen kann, sind in der wirtschaftlichen
Wirklichkeit offenbar nicht vorhanden. Die Genauigkeit einer astronomischen
Prognose z.B. einer Sonnenfinsternis bleibt für Ökonomen ein Wunschtraum.
Ökonomen sind auf Modelle angewiesen, mit denen die wirtschaftliche
Wirklichkeit jedoch nur unvollkommen abgebildet werden kann. Deshalb
sind sie auch für Prognosen und Simulationen nur mit vielen
Einschränkungen verwendbar (Siehe Kasten B3: Makroökonometrische
Modelle).
50
Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren
Modelle werden in vielen Wissenschaften angewendet. Bei den Architekten war es üblich,
niedliche kleine Häuser zu basteln, um sichtbar zu machen, wie das geplante Haus aussieht.
Heute wird das mit Computerprogrammen gemacht, die viel flexibler sind. Die Modelle von
Ökonomen sind Gleichungssysteme, die mit statistischen Daten angereichert sind. Die
Gleichungssysteme bestehen in der Regel bei ökonomischen Prognosen aus mehreren
Hundert Gleichungen. Es wird versucht, mit diesen Modellen die Zukunft vorherzusagen
(Prognose). Es wird auch versucht, Fragen, wie die Zukunft unter besonderen Bedingungen
aussieht, zu beantworten, z.B. wenn der Zinssatz der Zentralbank erhöht wird oder die Steuern
gesenkt werden. Dann spricht man von Simulationen. Die Ergebnisse sind ungenau. Spötter
vergleichen sie mit langfristigen Wettervorhersagen, die so gut wie immer falsch sind. Der
Vergleich ist insofern nicht falsch, als Meteorologen ebenfalls Prognosemodelle einsetzen8.
Die Modelle der Ökonomen sind allerdings sehr viel kleiner. Der Einsatz von Modellen führt
nun dazu, dass auch Ökonomen die meiste Zeit vor Bildschirmen sitzen und Kurvenverläufe
betrachten, die schwer zu deuten sind.
Aus der Biologie und anderen Wissenschaften haben Ökonomen inzwischen Modelltypen
übernommen, die eine weitergehende Analyse des Schwingungsverhaltens erlauben. Ohne
hier auf Einzelheiten eingehen zu können, seien drei Beispiele für unerwünschtes
Schwingungsverhalten kurz aufgeführt. Gottfried Haberler (1900 – 1995), ein zu seiner Zeit
bekannter österreichischer Ökonom hat das Beispiel Schaukelstuhls zur Diskussion über
wirtschaftliche Schwingungen herangezogen. Ein gut konstruierter Schaukelstuhl dämpft auch
starke äußere Anstöße (exogene Schocks). Schlecht konstruierte Schaukelstühle können
starke äußere Anstöße nicht mehr aus ihrer Beschaffenheit heraus (endogen) dämpfen. Die
Schwingungen werden stärker oder explosiv und der Schaukelstuhl kippt nach vorn oder
hinten (Haberler 1955:22/23). Das kann auch in einer kapitalistischen Marktwirtschaft z.B.
durch eine starke Aufwertung der Währung vorkommen. Ein zweites Beispiel: eine von dem
berühmten Architekten Norman Foster entworfene Fußgängerbrücke über die Themse wurde
im Jahr 2000 eingeweiht. Eine große Zahl von Neugierigen wollte gleich am ersten Tag über
die Brücke gehen. Die Brücke geriet in starke nahezu explosive Schwingungen. Sie musste
geschlossen und umgebaut werden. Es wurden Vorrichtungen eingebaut, die die
Schwingungen abfangen und dämpfen. Sie sind mit den sogenannten eingebauten
Stabilisatoren vergleichbar, die in der Wirtschaftspolitik zum Ausgleich von
Konjunkturschwankungen eingebaut werden. Ein drittes Beispiel: In der Ökologie wird das
Überschreiten einer Klimaschwelle mit dem Umkippen eines Kanus verglichen. Wenn man
sich allmählich zur Seite lehnt, beginnt das Boot sich zu neigen. Durch diese Bewegung wird
das Boot zur Kippschwelle hin gedrückt. Lehnt man sich weiter nach außen, dann kentert es
(Alley 2005:45). Das System gerät in eine schwere Krise.
___________________________________________________________________________
In den neunziger Jahren hat sich eine pragmatische und empirische Form der
Lösung wirtschaftlicher und vor allem wirtschaftspolitischer Probleme in den
Vordergrund geschoben. Sie hat in den USA ihren Ausgangspunkt. Wer sich
Noch ein Ökonomenwitz: „Warum schuf Gott die Ökonomen?“ – „Damit die Meteorologen mit ihren
Modellen besser aussehen.“
8
51
heute über das Internet zu den Arbeitspapieren von Zentralbanken oder
Forschungsinstituten traut, der wird mit einer Flut von Arbeitspapieren
konfrontiert, die überwiegend Detailprobleme behandeln. Auf den ersten
Blick sind sie mit einem erheblichen mathematischen und statistischen
Aufwand hergestellt. Ihre Aufgabe ist es, Arbeitshypothesen quantitativ zu
überprüfen. Dabei werden oft auch makroökonometrische Modelle eingesetzt.
– Für diese Modelle spielt der makroökonomische Zusammenhang eine
ausschlaggebende Rolle. Die Vernetzung von Variablen in einem
Gleichungssystem stützt sich überwiegend auf die Verhangenheit. Die
Ergebnisse sind deshalb vergangenheitslastig. Es ist schon paradox, wenn
man die Zukunft, die ja stets besser oder anders sein sollte als die
Vergangenheit oder die Gegenwart, als verlängerte Vergangenheit begreift.
2) Ein Beispiel für einen Gesamtzusammenhang aus der
evolutorischen Ökonomik
Die Gesamtwirtschaft, von der hier überwiegend die Rede ist, ist eine
gedankliche Konstruktion, die eine riesige Vielfalt von Einzelentscheidungen
zusammenfasst. Es ist der Versuch, die ungeheure Zahl von
Einzelentscheidungen in ein stark vereinfachtes Modell zurückzuführen.
Millionen und aber Millionen von Einzelentscheidungen (je nach Größe des
Landes, der Bevölkerung, des Entwicklungsniveaus usw.) werden auf wenige
Hundert Gleichungen reduziert! Ein solches Verfahren hat seine Tücken. Das
kann nicht anders sein. Man hat diesen Vorgang mit der Herstellung einer
Landkarte verglichen. Es macht keinen Sinn, eine Landkarte im Maßstab 1:1
zu zeichnen. Meistens reicht 1:100 000. Der ADAC-Atlas gibt sich mit
1:300000 zufrieden. Wanderer wollen mehr Details und wünschen sich
1:10000. Jede Erhöhung des Maßstabs ist mit Informationsverlusten
verbunden. Das ist ähnlich so in der Wirtschaftswissenschaft. Je weniger
Gleichungen unser Modell der Wirtschaft, um so geringer ist im Prinzip sein
Informationsgehalt.
In vielen Landkarten gibt qualitative Hinweise. Grün gerandete Straßen
weisen auf schöne Landschaften hin. Ähnlich ist das bei ökonomischen
Darstellungen. Leider herrschen in der Ökonomie vage Beschreibungen vor
wie: der Wirtschaft geht es besser, die Stimmung hat sich weiter eingetrübt,
der Motor der Wirtschaft will nicht anspringen, die Zinsen sind zu hoch, die
Löhne sind auch zu hoch und so weiter und so fort. Landkarten bieten mit
Höhenlinien, Angaben von Entfernungen meist nützlichere Informationen...
52
Die wirtschaftliche Wirklichkeit ist das Ergebnis von vielen Millionen
Einzelentscheidungen. Sie können über eine „Reduktion der Komplexität“ zu
Modellen zusammengefasst werden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass der
innere Zusammenhalt der Wirtschaft brüchig ist. Ohne
gesamtwirtschaftlichen und weitergehend ohne einen
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang wäre auch ein einzelnes
Unternehmen überhaupt nicht lebensfähig. Die nahe liegende Frage stellt sich
jetzt: wie wird in der Wirtschaftswissenschaft ein wirtschaftlicher bzw.
gesellschaftlicher Gesamtzusammenhang dargestellt, von dem ausgehend ein
makroökonometrisches Modell erarbeitet werden kann? Dafür ist die
Makroökonomik zuständig. Wir beginnen mit einem Beispiel aus der
Biologie bzw. evolutorischen Ökonomik.
Wie entsteht aus der marktwirtschaftlichen Vielfalt einzelwirtschaftlicher
Aktivitäten ein gesamtwirtschaftlicher und weitergehend ein
gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang, der dauerhaft funktionsfähig ist?
Funktionsfähig ist ein solcher Gesamtzusammenhang, wenn er vollständig
reproduziert wird und stabil ist. Warum zerbricht ein solcher Zusammenhang
nicht in inselähnliche Einzelteile, Teile eines Puzzles, die sich nicht wieder
zusammenfügen lassen? Ökonomen, die sich unter Berufung auf Darwin der
Evolutionsökonomik verschrieben haben, stellen das Problem gern anhand
von Beispielen von Insektenstaaten dar.
Eines ihrer Lieblingsbeispiele sind die Blattschneiderameisen, die in sehr
großen Populationen vorkommen. (Siehe Kasten B4: Ein
Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart).
___________________________________________________________
Kasten B4: Ein Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart
Nicht umsonst sind Ökonomen von „Staaten bildenden Insekten“ fasziniert. Die
Blattschneiderameisen haben in den letzten Jahrzehnten in der Biologie ein besonderes Interesse
gefunden. In tropischen Gebieten wurden Populationen von weit mehr als einer Million Ameisen
beschrieben. Sie sind arbeitsteilig organisiert. Sie betreiben Landwirtschaft in ihren Bauten. Sie
suchen und zerschneiden Blätter, die sie in ihre unterirdischen Bauten tragen. Auch dieser Prozess
ist arbeitsteilig organisiert. Die Kaste der Großgewachsenen zerteilen Blattteile und reichen sie an
kleinere Ameisen weiter, die sie in kleinere Teile zerlegen usw. Dann werden die Blattfetzen von
einer weiteren Arbeiterkaste zerkaut. Auf dem Brei werden Pilzkulturen angelegt, von denen die
Ameisen sich überwiegend ernähren. Die Bauten werden systematisch belüftet, um die
Temperatur konstant zu halten. Es besteht ein System von Schloten, durch die frische Luft
eingeführt und verbrauchte Luft abgeführt wird. Die Bauten werden von Abfall und
Ameisenleichen entsorgt. Blattschneiderameisen führen Kriege, um von Nachbarvölkern
Pilzkulturen zu rauben oder deren Bauten wegen der Anbauflächen zu übernehmen.
Pilzkulturen werden in der Regel schnell von parasitären Schimmelpilzen vernichtet. Den
Blattschneiderameisen würde in wenigen Tagen die Lebensgrundlage entzogen. Sie wehren sich
53
gegen den Befall von parasitären Schimmelpilzen, indem sie ein Antibiotikum (Streptomycin von
Bakterien) einsetzen!! Dieses Antibiotikum beseitigt die parasitären Schimmelpilze und fördert
das Wachstum der Pilzkulturen. Es wird übrigens auch von Gärtnern (Menschen) verwendet. Nur
waren die Ameisen den Menschen um viele Jahre voraus – möglicherweise um viele Millionen
Jahre! In der Regel reagieren parasitäre Schimmelpilze mit Resistenz auf Antibiotika.
Möglicherweise nutzen die Blattschneiderameisen in diesem Bereich Zusammenhänge der
Koevolution, die heute eines der wichtigen Forschungsfelder der Evolutionsbiologie ist.
Blattschneiderameisen haben ihren Stoffwechsel mit der Natur im Gegensatz zur heutigen
menschlichen Gesellschaft gut im Griff.
Blattschneiderameisen reproduzieren nicht nur ihr Volk sondern auch ihre Art. Ausfliegende
Königinnen tragen Pilzkulturen in einer Höhle ihres Kiefers, die nur bei Königinnen vorzufinden
ist, bei sich und nehmen offenbar auch das Antibiotikum mit. Nach der Befruchtung gräbt sich die
neue Königin in die Erde ein, legt ihre Eier ab und ein neues Ameisenvolk kann entstehen und
wachsen (Zimmer 2001:204-207).
____________________________________________________________
In Selektionsprozessen, die im Vergleich zur Menschheitsgeschichte sehr
lang sind, hat sich dieser Gesamtzusammenhang herausgebildet. Ökonomen
vergleichen einen solchen Selektionsprozess gern mit der Konkurrenz auf
Märkten. Nur der Bestangepasste überlebt (survival of the fittest). Wer solche
Vergleiche wagt, sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass 99% aller Arten
ausgestorben sind. Die einzelne Ameise scheint von dem
Gesamtzusammenhang nichts zu wissen, für den und von dem sie lebt. Man
kann davon ausgehen, dass der Gesamtzusammenhang so stabil ist, dass er
nach äußeren Schocks seine Ausgangssituation wieder erreichen kann. Der
Untergang einzeln Bauten findet sicher statt. Die Art aber wird reproduziert.
Zeiträume von einer vergleichbaren Dauer stehen der Entwicklung
menschlicher Wirtschaften und Gesellschaften nicht zur Verfügung. Der
marktwirtschaftliche Kapitalismus ist höchstens 250 Jahre alt und bereits mit
bedrohlichen, überwiegend selbst produzierten Problemen überlastet. Ein
evolutionsgesteuerter Entwicklungsprozess liegt schon allein wegen der
Zeithorizonts, den darwinistische Anpassungsprozesse brauchen, für
menschliche Gesellschaften außerhalb der Reichweite.
Auch in der Wirtschaft weiß das einzelne Wirtschaftssubjekt meist wenig von
dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang. In entwickelten
Marktwirtschaften haben Wirtschaftssubjekte nur ein sehr ungenaues oft ein
falsches Bewusstsein ihrer Einbindung in Zusammenhänge. Viel weiter geht
die Analogie aber dann auch nicht. Ökonomen haben sich eine abstrakte
Vorstellung vom Wirtschaftssubjekt gemacht – dem „homo oeconomicus“ –,
der mit seinem verengten rationalen Verhalten ironisch gesehen einer Ameise
mit ihrem winzigen Gehirn schon recht nahe kommt. Ökonomen benutzen
gern Hinweise auf einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Naturzustand, wie z.B. die natürliche Arbeitslosigkeit oder den natürlichen
54
Zins. Die Sehnsucht mancher Ökonomen nach einer biologischen
Verankerung von Verhaltensweisen zielt auch auf dauerhaft stabile
Verhaltensweisen. Wo bleibt die individuelle Freiheit in einem solchen
deterministischen Zusammenhang?
Ähnliches gilt für die Steuerung von wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen
über Selektionsprozesse. In der heutigen Diskussion steht im Vordergrund,
dass der Zufall bei der Selektion eine große Rolle spielt und deshalb auch der
Selektionsprozess nicht unbedingt zum Überleben des Fittesten führt. Dann
kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Unternehmen, die im
Konkurrenzkampf überleben, im nachhinein gesehen die produktivsten,
innovativsten und zukunftsfähigsten sind. Letztendlich überlebt, wer überlebt
– und das ist alles!?
3) Allgemeines Gleichgewicht und Kapitalkreisläufe als Abbildungen von
gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen
Adam Smith (1723 – 1790), der „Vater“ der akademischen politischen
Ökonomie, hat das Problem des wirtschaftlichen Gesamtzusammenhangs in
seinem 1776 erschienenen Werk über den Ursprung und die Natur des
Reichtums der Nationen angesprochen. Gegen die Verfolgung von
Eigeninteressen hatte er im Gegensatz zu den damals weit verbreiteten
moralischen Bedenken nichts einzuwenden. Er hat die Wahrnehmung von
Eigeninteressen vielmehr nachdrücklich befürwortet. Wie von einer
„unsichtbaren Hand“ geleitet fügen sich die Eigeninteressen dann in einem
zweiten Schritt zu einem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang, der den
bestmöglichen Zustand der Wirtschaftsgesellschaft darstellt. Dieser
Optimalzustand wird über den Marktmechanismus hergestellt. Im
Marktmechanismus werden die einzelwirtschaftlichen Pläne so lange
korrigiert, bis sie sich zu einem allgemeinen Gleichgewicht fügen.
Der Begriff der „unsichtbaren Hand“ gehört zu den am meisten gebrauchten
Schlagwörtern der Wirtschaftswissenschaft. Adam Smith definiert ihn in
seinem Hauptwerk, dem „Wohlstand der Nationen“, mit den folgenden
Sätzen:
„Da nun jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital in der heimischen
Erwerbstätigkeit und diese Erwerbstätigkeit selbst so zu leiten, dass ihr Erzeugnis den
größten Wert erhält, so arbeitet auch jeder notwendig dahin, das jährliche Einkommen
der Gesellschaft so groß zu machen, als er kann. Allerdings strebt er in der Regel nicht
danach, das allgemeine Wohl zu fördern, und weiß auch nicht, um wie viel er es
fördert. Indem er die einheimische Erwerbstätigkeit der fremden vorzieht, hat er nur
55
seine eigene Sicherheit im Auge und indem er diese Erwerbstätigkeit so leitet,
dass ihr Produkt den größten Wert erhalte, verfolgt er lediglich seinen eigenen
Gewinn und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren
Hand (Hervorhebung G.L.) geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner
Weise beabsichtigt hat. Verfolgt er sein eigenes Interesse, so fördert er das
der Gesellschaft weit wirksamer, als wenn er dieses wirklich zu fördern
beabsichtigt. Ich habe niemals gesehen, dass diejenigen viel Gutes bewirkt hätten, die
sich den Anschein gaben, um des Gemeinwohls willen Handel zu treiben.“ (Smith,
zweiter Band 2000: 235/6).
Dieser kurze Text soll stellvertretend zeigen, dass die alten Ökonomen nicht
leicht zu lesen und nicht ohne weiteres zu interpretieren sind. Wichtig für uns
ist die zweistufige Argumentation. Die Verfolgung des einzelwirtschaftlichen
Eigeninteresses ist moralisch nicht verwerflich, weil damit auf einer zweiten
höheren Ebene das gesamtwirtschaftliche Allgemeinwohl maximiert wird.
Dieses Argumentationsmuster zieht sich auch heute noch durch nahezu alle
wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Debatten. Es wird vor
allem gegen diejenigen gewendet, die auch heute noch immer glauben, der
Verfolgung des einzelwirtschaftlichen Interesses – Gewinnmaximierung oder
Kostenminimierung – Schranken setzen zu müssen. In der Sprache der
Marktradikalen heißt das, dass jede auf der einzelwirtschaftlichen Ebene noch
so wohl gemeinte Beschränkung der Marktkräfte auf der
gesamtwirtschaftlichen Ebene zu einem suboptimalen Ergebnis führen muss.
Das allgemeine Gleichgewicht, denn darum geht es hier, ist die beste aller
möglichen wirtschaftlichen Welten.
Die Verfolgung des Eigeninteresse hat jedoch eine Voraussetzung. Die
Wirtschaftssubjekte müssen ihr Eigeninteresse erkennen und umsetzen
können. Dazu müssen sie in vollem Umfang informiert sein. Das hat Adam
Smith durchaus gesehen und wohl auch für selbstverständlich gehalten.
Machen sie dabei oft Fehler, dann kann auch die unsichtbare Hand ihre
Wirkung nicht entfalten und das allgemeine Gleichgewicht bleibt
unerreichbar. Wir haben gesehen, dass eine solche Voraussetzung für die
Welt von Adam Smith vielleicht noch plausibel war. Heute in einer
internationalisierten Wirtschaft mit liberalisierten Finanzmärkten kann man
von dieser Voraussetzung sicher nicht mehr ausgehen. Damit aber ist die
Konstruktion des allgemeinen Gleichgewichts infrage gestellt. Es ist
widersinnig heute davon ausgehen zu wollen, dass alle am Wirtschaftsprozess
Beteiligten über alle für ihre Entscheidungen erforderlichen Informationen
verfügen, das wären Informationen über die Vergangenheit, die Gegenwart
und vor allem auch über die Zukunft. Das wird in der gegenwärtigen
Informationsökonomik diskutiert (siehe auch Unterabschnitt D5:
Eingeschränkte Effizienz in kapitalistischen Marktwirtschaften).
56
Ameisen kennen keine Märkte. Sie sind genetisch eingestellt und werden
über Duftstoffe ihrer Königin geleitet. Wie die Königin an ihre Informationen
kommt, wie sie ihre Entscheidungen trifft und wie sie ihren Untertanen ihre
Anweisungen erteilt, konnte ich nicht ermitteln. Die Möglichkeiten von
Ameisen miteinander zu kommunizieren, sind eng begrenzt. Lernprozesse
stehen ihnen nicht oder nur sehr begrenzt offen.
Die akademische mathematisch orientierte Wirtschaftstheorie hat sich
ausgehend von den Gedankengängen Adam Smiths dem Problem des
allgemeinen Gleichgewichts zugewandt. Es konnte schließlich der
mathematische Beweis geliefert werden, dass ein allgemeines Gleichgewicht
logisch möglich ist. Nicht alles aber, was logisch möglich ist, existiert
deshalb auch in der wirtschaftlichen Wirklichkeit – so auch das allgemeine
Gleichgewicht. Das allgemeine Gleichgewicht mag wünschenswert sein –
erreichbar ist deshalb noch nicht. Die zum Beweis erforderlichen
mathematischen Methoden erfordern gewisse Einschränkungen bzw.
Annahmen, die wirklichkeitsfern sind9. Dazu gehören vollständige
Information aller am Marktprozess Beteiligten über Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, strikt rationales Verhalten aller Wirtschaftssubjekte.
Abweichungen vom allgemeinen Gleichgewicht werden selbsttätig korrigiert.
Auf diesen Wegen konnte die Idee des allgemeinen Gleichgewichts präzisiert
werden. Der Preis dafür ist hoch: die Entfernung des allgemeinen
Gleichgewichts von der wirtschaftlichen Wirklichkeit könnte sehr groß sein.
Die Gleichgewichtskonzepte der klassischen und der neoklassischen Theorie
sind statischer Natur, d.h. sie haben keine Zeitachse sondern beziehen sich
ausschließlich auf einen Zeitpunkt. Sie enthalten jedoch eine
Optimierungsvorstellung. Im Rahmen der mathematischen Darstellung gilt es
zu beweisen, dass das allgemeine Gleichgewicht existiert, dass es einzig und
stabil ist. Das allgemeine Gleichgewicht ist die beste aller wirtschaftlich
möglichen Welten.
Adam Smith hat – und das ist kennzeichnend für seine theoretische
Grundeinstellung – den Begriff der „unsichtbaren Hand“ zum ersten Mal in
einer frühen Schrift über Astronomie benutzt. Auch er strebte offenbar eine
für die damalige Zeit „naturwissenschaftliche“ Wirtschaftswissenschaft an.
9
Auch hier darf ein Ökonomenwitz nicht fehlen. Ein Ökonomieprofessor und sein Assistent gehen nachts
über den Campus und fallen in eine Baugrube. Die Wände der Grube sind hoch und steil und sie wissen nicht, wie sie
aus dieser Situation herauskommen sollen. Da sagt der Professor: „Stellen wir uns einmal vor, wir hätten hier unten
eine Leiter“. Und schon ist das Problem gelöst. Sie steigen die erdachte Leiter hoch, klettern aus der Grube heraus,
gehen weiter und setzen ihr Gespräch fort.
57
Sein Interesse an den Arbeiten Newtons ist belegt. Seine Vorstellung von
einer „sozialen Harmonie“ hat er dagegen aus der römischen stoischen
Philosophie übernommen. Dort waltet die Vorsehung eines „guten Gottes“,
der jedes Ereignis in einen notwendigen Teil des Universums einbaut.
Leibnitz hat diese deterministische Denkfigur zu einer „prästabilisierten
Harmonie“ ausformuliert. Voltaire hat sich schon 1759 in seinem „Candide
oder der Optimismus“ über diesen Ansatz lustig gemacht (Voltaire 1957:14).
Diderot ist ihm in seinem „Jacques der Fatalist und sein Herr“ 1795 gefolgt.
Ein System des allgemeinen Gleichgewichts ist für Ökonomen eindeutig
bestimmt. Es ist deterministisch. Wäre dem so, dann brauchte man nur noch
einige Daten, um die Funktionsweise des Systems für Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft exakt zu bestimmen. Voltaire wandte sich auch
gegen einen solchen heillosen Zukunftsoptimismus, den ein allgemeines
Gleichgewicht als beste aller möglichen Welten auch heute noch ausstrahlt.
Die deterministische Komponente des allgemeinen Gleichgewichts war im
19. Jahrhundert in vielen Wissenschaftszweigen anzutreffen. In der
Wirtschaftswissenschaft ist sie auch heute noch weit verbreitet und gehört zur
Grundausstattung der neoklassischen Hauptströmung. Doch auch in der
Wirtschaftswissenschaft sind heute alternative Konzepte auf dem Vormarsch
(siehe Kasten C3: Makroökonometrische Modelle).
Ein ähnliches und für unseren Zweck – die Konstitution eines
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang – nützlicheres
Konzept kann aus der Marxschen Analyse der Zirkulationssphäre entwickelt
werden. In einer politischen Ökonomie, die sich auf Marx bezieht, kann der
wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesamtzusammenhang über die drei
Kapitalkreisläufe und seine Zusammenführung in den Gesamtkapital
Kreislauf hergestellt werden (Marx 1972).
Die drei Kapitalkreisläufe können in Abbildung Cc: „Kapitalkreisläufe nach
Marx“ nachvollzogen werden. Wir beginnen mit dem Geldkapitalkreislauf G
– G’. Geld wird vorgeschossen, mit dem Ziel, mehr Geld zurückzuerhalten
(G’ > G). Der Geldkapitalkreislauf legt das Ziel der Produktion in
kapitalistischen Markwirtschaften offen: Das Motiv, sich auf Geldgeschäfte
einzulassen, ist Gewinnerzielung. Von dem vorgeschossenen Geldbetrag
werden Waren gekauft und vorgeschossen, mit dem Ziel, Waren
zurückzuerhalten, die höherwertig sind als die vorgeschossenen: W – W’ (W’
> W). Der Warenkapitalkreislauf zeigt stofflich veränderte Waren. Das Ziel
der stofflichen Veränderung ist nach wie vor die Gewinnerzielung. Bei diesen
Waren handelt es sich um Produktionsmittel (PM) aller Art und um
Arbeitskraft (A). Um höherwertige Waren erhalten zu können, müssen die
58
vorgeschossenen Waren im unmittelbaren Produktionsprozess P mit Wert
angereichert werden. Bei Marx ist diese Werterhöhung das Ergebnis des
Ausbeutungsprozesses. Zur Reproduktion der Arbeitskraft wird weniger Wert
eingesetzt als der Wert, der vom Arbeiter dem Produkt zugesetzt wird. Wird
die Produktion mit dem Konzept der Produktionsfaktoren erklärt, dann leistet
jeder Produktionsfaktor einen Beitrag zum Produkt und die von Marx
behauptete Ausbeutung der Arbeitskraft erscheint nicht mehr.
In unserem Zusammenhang sind die Kapitalkreisläufe zunächst einmal eine
Anordnung von Verbindungen, die unabhängig von der Werttheorie
verwendet werden können. Die drei Kapitalkreisläufe erlauben es, Theoreme
der akademischen Wirtschaftswissenschaft in einen gesamtwirtschaftlichen
bzw. weitergehend in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu
stellen, der funktionsfähig ist. Funktionsfähig bedeutet hier, dass dieser
Zusammenhang reproduzierbar sein muss und dass Aussagen darüber
möglich sind, ob er stabil oder instabil ist. Damit ist auch gesagt, dass es sich
nicht um einen Optimalzustand handelt. Das ist ein wesentlicher Unterschied
zur allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die einen Optimalzustand darstellt.
Der Optimalzustand der allgemeinen Gleichgewichtstheorie ist statisch, d.h.
auf einen Zeitpunkt fixiert. Den Kapitalkreisläufen kann dagegen eine
Zeitachse und damit auch eine historische Dimension zugeordnet werden.
___________________________________________________________
Abbildung Bc: Kapitalkreisläufe nach Marx
59
A
G
W
A
=P
W’
PM
G’
W
=P
W’
G’
PM
G = Geld; G’>G; A = Arbeitskraft; W =Ware: W’>W; PM = Produktionsmittel;
P = unmittelbarer Produktionsprozess;
Geldkapitalkreislauf
Warenkapitalkreislauf
Kreislauf des produktiven Kapitals
Gesamtkapitalkreislauf
Die Warenförmigkeit von Arbeitsprodukten ist Voraussetzung für die
Existenz von Kapitalkreisläufen. Immer mehr Waren werden in die
Kreisläufe einbezogen. Geldkapitalkreisläufe, die historisch zuerst
ausgebildet wurden, haben stets neue meist geprägte Geldsorten einbezogen.
Spätmittelalterliche regionale Prägungen waren meist auch nur regional als
Geld anerkannt. Ihr Gold- oder Silbergehalt musste konstant sein, um in ein
dauerhaft festes Tauschverhältnis zu einer überregionalen Währung treten zu
können. Nur unter dieser Vorraussetzung konnte Geld vorgeschossen werden
und um die Zinserträge vermehrt zurückfließen (Siehe Kasten B5: Was ist
Geld?)
___________________________________________________________
Kasten B5: Was ist Geld?
In der konventionellen, akademischen Geldtheorie wird Geld über drei Funktion definiert:
Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel. Geld ist eine Ware, die gegen alle
sonstigen Waren getauscht werden kann. Insofern ist es Tauschmittel. Die Tauschmittelfunktion
hat sich offenbar historisch spontan an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten
herausgebildet und als zweckmäßig erwiesen. In vielen Kulturkreisen haben Edelmetalle,
vorzugsweise Gold die Tauschmittelfunktion erfüllt. Gold ist als Geld zweckmäßig wegen seines
hohen spezifischen Gewichts, wegen seiner Teilbarkeit und weil es nicht oxidiert. Geld ist
Recheneinheit, denn es erlaubt der Menge einer Ware einen Preis zuzuordnen. Bei Metallgeld
kann die Menge einer Ware auch dem Metallgewicht zugeordnet werden. Ein Meter Wolltuch
kostet z.B. x Gramm Gold. – Schwieriger ist das Problem des Wertaufbewahrungsmittels, da der
Wert des Geldes bekanntlich nicht konstant ist. Werden große Goldvorkommen entdeckt, dann
sinkt der Preis des Goldes. Die Güterpreise steigen entsprechend und es kann eine inflationäre
60
Tendenz entstehen. Besitzer von Geldvermögen versuchen dann in Sachwerte zu fliehen, wie z.B.
Immobilien, weil sie davon ausgehen, dass sie als Hausbesitzer keine Wertverluste erleiden
müssen.
Da Metallwährungen in größeren Beträgen nur mit Gefahren transportiert werden können, wurden
Quittungen für Golddepots ausgestellt, die übertragbar waren. Das sie auf den Namen des
Besitzers ausgestellt waren, konnten gefahrlos mitgeführt und am Bestimmungsort der Reise bei
befreundeten Institutionen eingelöst werden. Aus solchen und ähnlichen Zusammenhängen bildete
sich Papiergeld heraus. Angesichts der problematischen Wertaufbewahrungsfunktion wird die
Tauschmittelfunktion in vielen Ländern gesetzlich garantiert: Papiergeld wird gesetzliches
Zahlungsmittel, das Gläubiger für die Rückzahlung von Schulden annehmen müssen. Neuere
Entwicklungen werfen besondere Probleme auf, z.B. „Plastikgeld“ oder „elektronisches Geld“
oder inoffizielles, gesetzlich nicht geschütztes Geld wie z.B. der „Roland“.
____________________________________________________________
Im Zuge seiner Verbreiterung wurde der Geldkapitalkreislauf in
Teilkreisläufe zerlegt. Sie reichen von einfachen Banktransaktionen bis zu
komplizierten Geldmarktpapieren, ganz zu schweigen von den riesigen
Transaktionen auf Devisenmärkten. Die Zahl der wirtschaftlichen Akteure
und ihre Spezialisierung im Geldgeschäft nehmen zu, und das macht die
Vertiefung der Kapitalkreisläufe aus. Sie reichen von Banken bis hin zu
Geldmarktfonds bzw. hedge funds. Polanyi spricht bei diesem
Spezialisierungsprozess von einer „Entbettung“ (Polanyi 2001). Der Beitrag
von entbetteten Unterbranchen zur Wertschöpfung ist oft nur schwer
auszumachen. Sie stellen im Idealfall wichtige Informationen zu Verfügung,
wirken aber wegen irrationaler spekulativer Aktivitäten auch oft
destabilisierend (Filc 2001).
In frühen historischen Erscheinungsformen mögen die Kapitalkreisläufe
regional eng begrenzt gewesen sein. Der Geldkapitalkreislauf ist wohl der
erste gewesen, der sich aus den regionalen oder städtischen Begrenzungen
herausgearbeitet hat. Spätestens im 16. Jahrhundert waren Geld- und
Warenkapitalkreisläufe grenzüberschreitend schon weiträumig ausgebildet.
Historisch folgte der Warenkapitalkreislauf dem Geldkreislauf. Die
wirtschaftliche Entwicklung in den nördlichen Wirtschaftszentren machte
schon früh die Einfuhr von Rohstoffen erforderlich. Die geografische Lage
der Fundorte von mineralischen Rohstoffen (Gold, Kupfer etc.) und die
klimatischen Voraussetzungen des Anbaus von landwirtschaftlichen
Rohstoffen (Baumwolle, Zuckerrohr, Gewürze usw.) machten die
geographische Ausdehnung der Warenkapitalkreisläufe erforderlich. Auch
Menschen als Ware, das sind Sklaven, haben Anreize zur Ausdehnung von
Warenkapitalkreisläufen hervorgebracht. Die Gestaltung und geographische
Ausdehnung von Warenkapitalkreisläufen fand besonders in den
61
Kolonialreichen Spaniens, Portugals, Großbritanniens oder Belgiens statt.
„Kolonialwaren“ spielten bei der Versorgung der Bevölkerung in den
nordeuropäischen Wirtschaftszentren eine wichtige Rolle. Die geographische
Ausdehnung der Warenkapitalkreisläufe führte bereits vor dem ersten
Weltkrieg zu einer Bedeutung der „Globalisierung“, die mit der Gegenwart
vergleichbar ist (Flandreau 2004).
In der Entstehungsphase der kapitalistischen Marktwirtschaften wurden
mineralische und landwirtschaftliche Rohstoffen in ihren Ursprungsländern
noch im Rahmen von traditionellen Produktionsverfahren hergestellt und von
Händlern aufgekauft, ehe sie in die Warenkapitalkreisläufe eingeschleust
wurden. Die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Formen führte bald zur
Einführung erwerbswirtschaftlich organisierter Produktion, wie Plantagen
und manchmal auch der Weiterverarbeitung von Rohstoffen, z.B. Zuckerrohr
vor Ort zur Produktion von Zucker.
Im Kreislauf des produktiven Kapitals ist die Produktion von Waren und
Dienstleistungen der Teil des Gesamtkapitalkreislaufs, der historisch und
geographisch zuletzt geschaffen wurde. Unternehmen werden in
Betriebsstätten zerlegt, die an geographisch breit gestreute Orte ausgelagert
werden können (outsourcing). Anreize für Outsourcing sind Zugang zu
Märkten oder Lohnunterschiede. Der Anreiz des besseren Markzugangs
überwiegt bei weitem. Nur in lohnintensiven Branchen spielen
Lohnunterschiede eine Rolle (Siehe Kasten B6: Outsourcing und der Transfer
von Arbeitsplätzen). Beispiele dafür sind Spielzeugindustrie, Sportartikel,
Textil, Schuhe usw. Japan hat diese Form der Globalisierung in den letzten
Jahren aus währungspolitischen Gründen besonders intensiviert (made in
Japan – assembled in China!). Ähnliches gilt für Deutschland mit schnell
zunehmender Tendenz.
____________________________________________________________
Kasten B6: Outsourcing und der Transfer von Arbeitsplätzen
Outsourcing, d.h die Verlagerung von Unternehmensteilen ins Umland einer Stadt, eine andere
Region, ein anderes Land oder einen anderen Kontinent kann absatz- oder kostenorientiert sein.
Ungefähr 80% der Verlagerung in andere Länder sind absatzorientiert. Die Unternehmen wollen
einen möglichst direkten Zugang zu den Auslandsmärkten. Sie versprechen sich davon bessere
Absatzchancen. Ein kleiner Teil der Verlagerungen ins Ausland folgt Kostengesichtspunkten. Die
Unternehmen versprechen sich niedrigere Arbeitskosten. Mittelfristig aber folgt die
Lohnentwicklung der Produktivitätsentwicklung. Es findet dann ein Aufholprozess der Löhne
statt. Nur in Diktaturen mit Gewerkschaftsverboten, ohne Umweltauflagen etc. bleibt der
Kostenunterschied tendenziell erhalten.
Die Vertiefung und die geographische Ausdehnung von Kreisläufen des produktiven Kapitals
bzw. des Gesamtkapitalkreislaufs führt zu sog. Exporten und Importen von Arbeitsplätzen, die die
62
Arbeitsmärkte der Ursprungsländer belasten können. Es kommt beim Outsourcing jedoch zu einer
Reihe von Kompensationen, die schwer zu überblicken sind, und netto zu erheblich geringeren
Arbeitsplatzverlusten führen können. Bisher beschränkte sich lohnorientiertes Outsourcing
überwiegend auf gering qualifizierte Arbeitsplätze. Gering qualifizierte Arbeitnehmer führen
heute in den meisten Fällen repetitive Teilarbeiten aus, die ohnehin relativ leicht durch Maschinen
bzw. Automaten ersetzt werden können. Das ist auch in den Empfängerländern möglich. Der
Export von gering qualifizierten Arbeitsplätzen ist dann nur mit vorgezogenen
Arbeitsplatzverlusten verbunden. Ein erheblicher Teil der gering qualifizierten Arbeitsplätze
würden in der Industrie des Ursprungslandes ohnehin früher oder später wegrationalisiert.
In den letzten Jahren werden zunehmend auch hoch qualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland
verlagert, so z.B. Arbeitsplätze von Programmierern aus den USA nach Indien. Ähnliche
Bewegungen beschleunigen sich im Zuge der Erweiterung der EU. Messungen der
Arbeitsplatzverluste und Gewinne sind schwieriger als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die im Inland verbliebenen Unternehmensteile eines transnationalen Konzerns erhöhen nach dem
Outsourcing in der Regel ihre Produktion. Das kann im Ursprungsland zu Einstellungen führen.
Im gleichen Zug erhöhen sie meist auch ihre Produktivität. Steigt die Produktivität schneller als
die Produktion, dann kommt es zu Entlassungen. Zusätzlich aber sinkt der Wertschöpfungsanteil
in den im Ursprungsland verbliebenen Unternehmensanteilen. Ein gutes Beispiel dafür ist die
Autoindustrie, die ihren inländischen Wertschöpfungsanteil von heute knapp über 30% auf unter
25% absenken will. Auch das kann dann zu massiven Entlassungen führen. In einigen wenigen
Bereichen der deutschen Wirtschaft tendiert die einheimische Wertschöpfung gegen Null. Eine
Bazarökonomie sei im Entstehen, in der nur noch gehandelt aber nicht mehr produziert wird? Es
ist letztendlich fallweise zu untersuchen ob der Saldo von Arbeitsplatzgewinnen und
Arbeitsplatzverlusten für das Ursprungsland positiv oder negativ ist. Insgesamt gesehen dürfte
Outsourcing über alle Kompensationen hindurch zu Arbeitsplatzverlusten im Ursprungsland
führen.
Neuerdings ist zu beobachten, dass die Unternehmen in den Empfängerländern die verbliebenen
Unternehmensteile in den Ursprungsländern aufkaufen. Dann kann es den Ursprungsländern zu
weiteren Entlassungen kommen, die allerdings dann mit den wirtschaftspolitischen Problemlagen
und politischen Absichten der Empfängerländer zu tun haben.
____________________________________________________________
Die Analyse der Kapitalkreisläufe hat den großen Vorzug dynamisch zu sein.
Sie lässt eine Zeitachse zu, die sowohl logische als auch historische Analysen
erlaubt. Logische Zeit bedeutet in der Wirtschaftswissenschaft die Verkettung
von auf einander folgenden Zeitabschnitten, die sich zu einem
Kapitalkreislauf „logistisch“ zusammenfügen lassen. Der
Geldkapitalkreislauf muss vorhanden sein, wenn der Warenkapitalkreislauf
das Stadium des Naturaltauschs überwinden soll. Ein Warenkapitalkreislauf
ist die logische Voraussetzung für Existenz des Kreislaufs des produktiven
Kapitals. Erst dann folgt die historische Analyse, die auf der Grundlage der
Quellenlage den Nachweis zu erbringen hat, wie, wann und wo die Kreisläufe
entstanden sind und wie sie sich entwickelt haben.
4) Wachstum ohne Grenzen?
63
Dauerhaft stabile Kapitalkreisläufe sind eine wesentliche Voraussetzung für
Wirtschaftswachstum. Wirtschaftswachstum ist definiert als der prozentuale
Zuwachs des BIP oder des BIP pro Kopf. Wirtschaftswachstum wird noch
immer als ein Allheilmittel für allerlei Wirtschaftsprobleme gesehen.
Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze, warum nicht gleich
Vollbeschäftigung? Wirtschaftswachstum erhöht den Wohlstand eines Landes
usw.
Menschheitsgeschichtlich ist Wirtschaftswachstum vergleichsweise neu. Über
sehr lange Epochen haben Menschen als Jäger und Sammler gelebt. Ihre
Technologien waren mehr oder weniger konstant. Sie haben keine
Überschüsse produziert, aus denen Kulturleistungen im heutigen Verständnis
geschaffen werden konnten. Sie haben rd. sechs Stunden täglich für ihre
Reproduktion im weiteren Sinn gearbeitet. Der Rest soll „arbeitsfrei“
gewesen sein. Die arbeitsfreie Zeit damals ist sicher anders zu verstehen als
unsere heutige Vorstellung von Freizeit.
In Europa soll das Wachstum vom Ende des römischen Reiches bis etwa zum
Jahr 1500 nicht gestiegen sein. Auch die Wirtschaftsgeschichte ist
eurozentrisch. Ob es in den frühen Reichen Indiens oder Chinas Wachstum
gegeben hat, ist hierzulande kaum bekannt aber wahrscheinlich. Sogar
während der industriellen Revolution scheinen die Wachstumsraten in Europa
niedrig gewesen zu sein. In den USA könnte die jährliche Wachstumsrate von
1820 bis 1950 jahresdurchschnittlich 1,5% betragen haben. Erst in den
zwanziger Jahren und nach dem zweiten Weltkrieg hat das
Wirtschaftswachstum erkennbar zugenommen. Von 1950 bis 2000 hat sich
das BIP pro Kopf in den USA um das 2,6fache, in Deutschland um das
4,7fache und in Japan sogar um das 11,4fache erhöht. Die Wachstumsraten
waren ungefähr bis zur Mitte der siebziger Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts vergleichsweise hoch. Danach hat sich das Wachstum
abgeflacht. In den neunziger Jahren haben die USA noch einmal einen
Wachstumsschub erlebt. Im selben Zeitraum hat Japan und verlängert bis
heute eine Phase hartnäckiger Stagnation gekannt. Für eine Reihe von
Ländern, vor allem in Asien, nicht aber in Afrika, haben Aufholprozesse
stattgefunden. China glänzt seit Beginn der achtziger Jahre mit sehr hohen
Wachstumsraten zwischen 7% und 10%. Die entwickelten kapitalistischen
Marktwirtschaften der nördlichen Hemisphäre aber konnten bisher nicht
eingeholt werden.
Die Messung des Wirtschaftswachstum stößt auf erhebliche Probleme. Sie
entstehen zum Teil aus der Tatsache, dass stets neue Produkte im BIP
64
enthalten sind. Zu Vergleichen muss das BIP preisbereinigt werden. Das
stößt, wenn es sich über längere Zeitabschnitte handelt, aus ähnlichen
Gründen auf mindesten ebenso große Schwierigkeiten. Deshalb wird bei
internationalen Vergleichen vorzugsweise mit sogenannten
Kaufkraftparitäten gearbeitet, mit denen international unterschiedliche
Konsumniveaus genauer dargestellt werden können (Siehe Kasten B13:
Kaufkraftparität und Big-Mac-Standard).
Wo sucht und findet die akademische Wirtschaftstheorie die Quellen des
Wachstums? Einmal in der Akkumulation von Kapital, vor allem aber im
technischen Wandel. Dabei ist der technische Wandel bei weitem die
wichtigere Voraussetzung. Kapitalakkumulation allein ist nur wirksam in der
kürzeren oder mittleren Frist. Nur wenn technischer Wandel mehr oder
weniger kontinuierlich ist, kann Wachstum auch langfristig stattfinden. Dazu
ist es weiterhin erforderlich, dass Ökonomien in der Lage sind die
Arbeitskräfte entsprechend auszubilden und zu motivieren. – Diese
Ergebnisse werden in der Wachstumstheorie ausgehend von einer
Produktionsfunktion dargestellt, in der die Produktion abhängt vom Einsatz
von Kapital und Arbeit, bzw. vom technischen Wandel.
Produktionsfunktionen können auf der gesamt- und der einzelwirtschaftlichen
Ebene eingesetzt werden. Näheres über Produktionsfunktionen wird bei der
Vorstellung der einzelwirtschaftlichen Grundmustern gesagt (siehe
Unterabschnitt D1).
Kann von der Hypothese eines mehr oder weniger kontinuierlichen
technischen Wandels ausgegangen werden, dann wird ein akademischer
Wirtschaftswissenschaftler kaum auf die Idee kommen, dass es Grenzen des
Wachstums geben könne. Die Berücksichtigung der Langzeitperspektive steht
in modernen kapitalistischen Marktwirtschaften nicht im Vordergrund. Die
Erzielung kurzfristiger Gewinne auf den Finanzmärkten ist heutzutage
offenbar wichtiger als die Existenzgrundlage der zukünftigen Generationen.
Taucht die Frage nach den Grenzen des Wachstums tatsächlich einmal im
Zusammenhang mit der Wachstumstheorie auf, dann sind
Wachstumstheoretiker schnell bei der Hand, ihre Funktionen so auszubauen,
dass Wachstum zumindest in der Theorie „grenzenlos“ ist. Was draußen in
der weltweiten wirtschaftlichen Wirklichkeit vor sich geht, ist eine andere
Geschichte, die den reinen Theoretiker beim Brüten über mathematischen
Modellen am Ende doch noch stören könnte. Spätestens wenn das kalte
Wasser von den schmelzenden Polen im Studierzimmer seine Füße erreicht.
Es gibt sie nämlich, die Grenzen des Wachstums! Die sozialen Grenzen der
akademischen Wirtschaftswissenschaft ziehen sich wie ein roter Faden durch
65
diesen Text. Hier soll auf die „ökologischen Grenzen“ des Wachstums an
einem Beispiel kurz eingegangen werden. Die ökologischen Grenzen des
Wachstums hat der „Club of Rome“ früher einmal sehr ungenau und in einer
Perspektive des baldigen Weltuntergangs zu bestimmen versucht. Damit hat
er mehr als deutlich auf die Probleme hingewiesen, die auch nach der
falschen Prognose nicht aus der Welt geschafft sind.
Am Beispiel der globalen Erwärmung kann jedoch gezeigt werden, dass es
zumindest in diesem Bereich nicht nur relativ genaue Prognosen großer
Gefahrenpotentiale sondern auch Lösungsansätze gibt. Es ist seit langem
bekannt, dass das Klima auf Änderungen der äußeren Bedingungen reagiert.
Getrieben von Treibhausgasen, Ruß und anderen klimawirksamen Stoffen,
die in der Wirtschaftsgesellschaft ihren Ursprung haben, erwärmt sich die
Erde in der Gegenwart sehr schnell. Die globale Mitteltemperatur sollte nicht
um mehr als ein Grad steigen, sonst werden die großen Eisdecken in
Grönland und der Antarktis instabil. Sie werden unterspült, brechen
zusammen, schwimmen Richtung Süden und schmelzen. Das kann sogar zur
Veränderungen der Strömungsverhältnisse in den Weltmeeren führen. Dann
droht weltweit eine Überflutung der niedrig gelegenen Küstenregionen. – Der
Klimawandel vollzieht sich nicht kontinuierlich. Aus Eiskernen, die aus
tieferen Schichten entnommen wurden, lässt sich ablesen, dass das Klima oft
dramatische Sprünge gemacht hat. Sie werden auf die Erderwärmung
zurückgeführt und können zu Dürreperioden oder Kälteperioden von
mehreren Jahrhunderten oder Jahrtausenden führen. Eine länger dauernde
Dürre in den USA und weiten Teilen Asiens oder sibirische Verhältnisse in
Europa werden nicht mehr ausgeschlossen (Alley 2005).
Die globale Erwärmung lässt sich durch ein Bündel international
abgestimmter Maßnahmen zum Stillstand bringen (Hansen 2005). Sie sind im
Kyoto-Protokoll in ihren Grundzügen enthalten, das von vielen Ökologen als
unzureichend angesehen wird. Leider weigern sich die USA – sie sind der
weltweit größte Verursacher des Treibhauseffektes – selbst dieses Protokoll
zu unterschreiben. Es ist erstaunlich, dass die den kapitalistischen
Marktwirtschaften unterstellte Rationalität sogar bei der Regierung des
kapitalistischen Musterlands offenbar nicht ausreicht, sich längerfristigen
Perspektiven und Konsequenzen von Grenzen des Wachstums zu stellen.
Ähnlich ist die Situation beim Abbau nicht-erneuerbarer Rohstoffe, für die es
meist nur teure Alternativen gibt. Es wird vorgebracht, dass sie nicht
„wirtschaftlich“ seien. Offenbar wird vorgezogen, die noch verfügbaren
Reserven erst einmal aufzubrauchen. Pfadabhängigkeit mag einer der
ökonomischen Gründe sein (Siehe Unterabschnitt D5: Eingeschränkte
66
Effizienz in kapitalistischen Marktwirtschaften). Die kapitalistischen
Marktwirtschaften sind nicht durchgängig innovativ, sondern halten sich in
einigen Bereichen auch gern länger als nötig an erprobte Verfahren.
5) Unvollständige Reproduktion in kapitalistischen Marktwirtschaften
Reproduktion heißt Wiederherstellung der Ausgangsbedingungen nach
Ablauf einer Produktionsperiode. In frühen geschichtlichen
Zusammenhängen lebten Jäger und Sammler in kleineren Gruppen. Wenn sie
in neue Kontinente eingedrungen sind, haben sie ganze Arten von Großwild
ausgerottet. Ihr Jagdverhalten veränderte die Natur nicht unerheblich. Doch
hielten sich ihre Eingriffe in die ökologischen Reproduktionszusammenhänge
in Grenzen. Sie haben die Fähigkeit der Natur sich zu regenerieren zwar
verändert aber offenbar nicht entscheidend beeinträchtigt. Mit zunehmender
Bevölkerungsdichte reichte das jagdbare Wild und die pflanzliche
Nahrungsgrundlage nicht mehr aus. Die „Erfindung“ der Landwirtschaft löste
diese Probleme weitgehend. Die Reproduktion der
Produktionsvoraussetzungen gelang im ganzen gesehen.
Konzepte für Reproduktionszusammenhänge stammen meist aus der
traditionellen Landwirtschaft. Ein landwirtschaftlicher Betrieb muss nach der
Ernte in der Lage sein, in der nächsten Saison wieder zu produzieren. Dazu
sind Saatgut, landwirtschaftliches Gerät, Zugtiere, Düngemittel usw.
erforderlich. Die bäuerliche Familie mit ihrem Gesinde und das Vieh müssen
genug Nahrung haben, um den Winter zu überstehen usw. – Der bäuerliche
Betrieb braucht für Familie und Arbeitskräfte, sowie für das Vieh den Zugang
zu einer gesundheitlichen Versorgung und eine Altersvorsorge (Altenteil). –
Schließlich müssen Rechtsordnung, Kultur und Religion erhalten bleiben,
damit der gesellschaftliche Zusammenhalt der ländlichen Bevölkerung
weiterbestehen kann. Auch die ökologischen Voraussetzungen der
landwirtschaftlichen Produktion müssen erhalten werden. Fehlen Teile in
diesem Zusammenhang, dann ist eine vollständige Reproduktion dauerhaft
nur noch eingeschränkt möglich, und es droht die Gefahr einer Krise. Im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts haben die physiokratischen Theoretiker
sich dieser Problematik bereits zugewandt.
Moderne kapitalistische Marktwirtschaften haben die Reproduktionsprobleme
noch immer nicht vollständig gelöst. Das gilt auch für den „Stoffwechsel mit
der Natur“, wie Marx es ausgedrückt hat. Die Probleme der Überfischung
oder des Artensterbens weisen darauf hin. – Die Reproduktion der
Arbeitskraft ist in den weniger entwickelten Ländern der Peripherien für
67
verarmte Bevölkerungsschichten stark gefährdet. In weiten Teilen Afrikas
südlich der Sahara ist beispielsweise das physische Existenzminimum für die
gesamte Bevölkerung schon lange nicht mehr gesichert. Auch die
gesundheitliche Lage der Bevölkerung ist dort vor allem für Kinder
katastrophal.
6) Zyklische Bewegungen der wirtschaftlichen Aktivität und der
intersektorale Strukturwandel
Die allgemeine Gleichgewichtstheorie der akademischen
Wirtschaftswissenschaft hat den Nachweis geliefert, dass ein allgemeines
Gleichgewicht logisch möglich ist. Doch nicht alles was logisch möglich ist,
existiert deshalb auch schon in der Wirklichkeit. Auch in der wirtschaftlichen
Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Dort fällt zunächst einmal auf, dass es
einen Konjunkturzyklus gibt. Die zyklische Bewegung der wirtschaftlichen
Aktivität steht außer Frage. Von der Hypothese, dass der Konjunkturzyklus
regelmäßig sei, sind die meisten Wirtschaftswissenschaftler jedoch seit
langem abgerückt.
Der Begriff der zyklischen Bewegung der wirtschaftlichen Aktivität ist ein
wenig vage. Wir wollen versuchen, etwas genauer zu werden. Ein
Konjunkturzyklus dauert ungefähr fünf bis sieben Jahre. Er besteht aus einem
Aufschwung oder im positiven Bereich Boom, dem oberen Wendepunkt, dem
Abschwung, im negativen Bereich auch Rezession genannt, und dem unteren
Wendepunkt. Ein Konjunkturzyklus überlagert einen Trend. Der Trend kann
steigend, stagnierend oder fallend sein.
____________________________________________________________
Graphik Bd: Konjunkturzyklus auf steigendem Trend
BIP
68
Konjunkturzyklus
Trend
Zeit
_________________________________________________________
Der Konjunkturzyklus kann mit einer Variable ausgedrückt werden, z.B. dem
Bruttoinlandsprodukt als Absolutwert oder als Wachstumsrate. Wenn das
preisbereinigte BIP während zweier Quartale sinkt, spricht man von einer
Rezession. Wichtig für den Konjunkturverlauf sind die privaten Investitionen
in Maschinen und Ausrüstungen. Sie zeigen in der Regel einen recht
instabilen Verlauf.
Weiterhin werden politische Konjunkturzyklen diskutiert. Politiker haben im
Konjunkturaufschwung bessere Chancen wiedergewählt zu werden. Das gilt
nicht nur für die USA. Bush I. wurde auf dem Hintergrund (falscher)
Prognosen über die Dauer einer Konjunkturflaute nicht wieder gewählt und
musste Clinton weichen. Die wirtschaftliche Lage vor der Wahl, im
Wahlkampf ist für den Ausgang der Wahl von Bedeutung. Was Wunder, dass
Politiker, die wiedergewählt werden wollen, versuchen, den
Konjunkturverlauf zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das kann, muss aber
nicht gelingen. Der Konjunkturverlauf wird dann tendenziell den
Wahlterminen angepasst und es entsteht ein politischer Konjunkturzyklus.
Der Konjunkturzyklus steht im Vordergrund bei der Betrachtung zyklischer
Bewegungen der wirtschaftlichen Aktivität. Es gibt kürzere Zyklen der
Lagerhaltung. Sie sind von erheblicher Bedeutung für den Konjunkturverlauf.
Springt die Konjunktur über eine Zunahme der Nachfrage nicht gleich an,
dann kann das daran liegen, dass die Lager der Unternehmen erst abgebaut
werden, bevor die Produktion ausgeweitet wird. Dann erst folgen in der Regel
zusätzliche Investitionen und die Einstellung von zusätzlichen Arbeitskräften.
Von Bedeutung ist weiterhin ein langfristiger Zyklus, der sogenannte
Kondratieff-Zyklus. Kondratieff war ein russischer Ökonom und Statistiker,
der seine Theorie der langen Wellen in den zwanziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts in Berlin ausgearbeitet hat. Nach seiner Rückkehr
in die Sowjetunion kam er in einem stalinistischen Lager um. Kondratieff
geht dabei von Innovationen aus, die seiner Ansicht nach den langfristigen
Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmen. Man kann sich die
69
folgende Verlaufsform der Kontradieff-Zyklen vorstellen (Siehe Abbildung
Be: Die langen Wellen der wirtschaftlichen Aktivität).
____________________________________________________________
Abbildung Be: Lange Wellen der wirtschaftlichen Aktivität
Basistechnologien
Dampfmasch.
Baumwolle
1800
Stahl
Einsenbahn
1850
Elektrotech.
Chemie
1900
Petrochem. Computer- Biotech.?
Automobil technologie Nanotech.?
AtomNeue Werkstoffe?
technologie
Neue Dienstleistungen?
1950
1990
2015
?
KI
K II
K III
K IV
KV
K VI
Die Datierung der obenstehenden stilisierte Darstellung von sechs Kontratieff-Zyklen (K I – K
VI). Die Dauer und die Datierung der Zyklen wird kontrovers diskutiert. Die Zyklen sind nicht
prognostizierbar. Die Basistechnologie der sechsten langen Welle ist noch nicht erkennbar.
____________________________________________________________
Die Kondratieff-Zyklen waren bisher ausschließlich auf industrielle
Basistechnologien beschränkt. Doch heute dominiert nicht mehr die Industrie
sondern wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft. Schon bei
vorangegangenen Kondratieff-Zyklen haben Dienstleistungsjobs eine
zunehmend wichtigere Rolle gespielt. Es ist davon auszugehen, dass auch die
VI. lange Welle eine Kombination von Industrie- und Dienstleistungssektor
sein wird. Ein wichtiges Problem wird sein, die Aktivitäten des Industrie- und
Dienstleistungssektors zu koordinieren.
Die empirische Darstellung von Zyklen der wirtschaftlichen Aktivität stößt
auf erhebliche und kaum zu überwindende Probleme. Die Prognose von
Konjunkturzyklen ist bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Von
besonderem Interesse sind die Wendepunkte von Zyklen der wirtschaftlichen
Aktivität. Die Voraussage von Wendepunkten ist bisher jedoch nicht möglich
gewesen. Es gibt in den USA beim National Bureau of Economic Research
eine Wendepunktkommission, die allerdings die Wendepunkte der Zyklen
erst im Nachhinein auf einen Monat genau bestimmen kann. Im Nachhinein
heißt hier fünf bis sieben Monate nachdem der obere oder der untere
Wendepunkt eingetreten ist. Wirtschaftliche Agenten, deren wirtschaftliche
Aktivitäten immer auch auf die Zukunft gerichtet sind, können mit diesen
Informationen natürlich nur wenig anfangen.
70
Die langen Wellen der Konjunktur mit ihren verschiedenen Technologien
weisen auf eine tiefgreifende, langfristig sich durchsetzende Tendenz, den
intersektoralen Strukturwandel hin, dessen Tragweite nicht hoch genug zu
veranschlagen ist. In Deutschland betrug der Anteil der in der Landwirtschaft
Tätigen um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer mehr als 60%. Heute
ist dieser Anteil auf unter 3% gesunken. Der Anteil der in Industrie
Beschäftigten belief sich in Deutschland – einer ausgesprochenen
Industrienation – zur Zeit der Blüte der Industrie auf über 40%. Er ist heute
auf unter 30% gesunken. Dagegen stieg der Anteil der in
Dienstleistungsberufen Beschäftigten auf rd. 70%. Damit sind gewaltige
gesellschaftliche Umbrüche verbunden, die sich in Deutschland in nur rd. 150
Jahren vollzogen haben. Setzt man die gesamte Menschheitsgeschichte gleich
einer Stunde, dann haben sich die größten Veränderungen in den letzten
Sekunden vollzogen. Die Folgen sind unabsehbar. Sie wurden von der
kapitalistischen Marktwirtschaft hervorgebracht. Im Hinblick auf die
Beschäftigung hat der französische Autor Fourastié (1907 – 1990) den
intersektoralen Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft in einem
Buchtitel als „Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhundert“ (Le grand
espoir du XXe siècle, 1949) bezeichnet. Doch sind die Anpassungsprobleme
im Übergang von der Industrie zum Dienstleistungssektor wohl kaum
geringer als während der vorangegangenen Phase von der Landwirtschaft zur
Industrie.
7) Krise, Prosperität, Depression und Stagnation
Die vier Begriffe der Überschrift deuten auf langfristige Problematiken der
wirtschaftlichen Entwicklung in kapitalistischen Marktwirtschaften hin, die
mit den Konzepten zur Erklärung zyklischer Bewegungen nicht erfasst
werden können. Krise ist ein Begriff aus der Medizin. In der Medizin
bezeichnet Krise den „Wendepunkt einer Krankheit“. Es entscheidet sich, ob
die Krankheit endet oder ob sie sich verschlimmert und gegebenenfalls zum
Tod des Patienten führt. Auch in der Wirtschaftswissenschaft ist die Krise ein
„Wendepunkt“, z.B. der untere Wendepunkt in einem längerfristigen
Kondratieff-Zyklus. Dann entscheidet sich, ob die Wirtschaft wieder in eine
längerfristige Prosperitätsphase einschwenkt, ob sie in einer länger dauernden
großen Depression versinkt oder ob sie für längere Zeit stagniert.
Eine Prosperitätsphase war das sogenannte goldene Zeitalter nach dem
zweiten Weltkrieg, von 1948 bis 1972 (Marglin, Schor 1991). Eine große
Depression gab es in Deutschland nach dem Gründerkrach in den frühen
siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und im Gefolge der
71
Weltwirtschaftskrise in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Große Depressionen können auch Zeiten des wirtschaftlichen Wandels und
der Modernisierung sein. Die wirtschaftlichen Grundlagen des deutschen
„organisierten Kapitalismus“ sind in den achtziger und neunziger Jahren des
19. Jahrhunderts entstanden. Sie haben ihre prägende Kraft bis heute noch
nicht ganz verloren.
Stagnation bedeutet eine Stockung oder einen Stillstand der wirtschaftlichen
Entwicklung. Der längerfristige Trend ist bei Stagnation durch sehr geringes
Wachstum oder Nullwachstum bestimmt. Solche Perioden hat es im 19.
Jahrhundert gegeben und in den dreißiger Jahren neben Depressionen auch in
einigen Marktwirtschaften. Seit Anfang der neunziger Jahre ist eine
hartnäckige Stagnation in Japan zu beobachten, die mit einer leichten
Deflation verbunden ist. Sie konnte bis heute nicht überwunden werden.
Auch in Deutschland herrschen seit ungefähr vier Jahren stagnative
Tendenzen vor. Sie könnten sich als längerfristig wirksam entpuppen. Das
japanische Beispiel hat gezeigt, dass eine Stagnation mit den vorhandenen
wirtschaftspolitischen Instrumenten nur sehr schwer zu bekämpfen ist.
8) Staatstätigkeit: vom absolutistischen zum bürgerlichen Staat?
Bis ins 18. Jahrhundert hinein sah die sich langsam entfaltende bürgerliche
Wirtschaft und Gesellschaft im absolutistischen Staat ein Instrument der
Willkür des Fürsten. Staatshaushalt und Fürstenhaushalt waren noch nicht
getrennt. Der Fürst hatte ständig Finanzprobleme. Sie wurden durch Kriege,
prunkvolle Hofhaltung oder den Bau von Schlössern, durch Zahlung von
Renten an Gefolgsleute usw. verursacht. Die Steuerlast stieg ständig. Die
Kanzleien erfanden immer neue Steuertatbestände, die Anlass zu
Zwangsabgaben wurden. Sie reichten von unzähligen Verbrauchssteuern wie
der verhassten Salzsteuer über Mahl- und Schlachtsteuern bis hin zu Wegeund Brückenzöllen (Maut). Ungefähr ein Drittel des Gesamtprodukts
(entspricht nur sehr entfernt dem Bruttoinlandsprodukt im heutigen Sinne)
wurde auf dem Weg der Zwangsabgaben vom absolutistischen Herrscher und
der adligen Oberschicht angeeignet. Ein solches Sammelsurium von Steuern
bot in der Landwirtschaft keine Anreize, mehr als das zum
lebensnotwendigen Verbrauch unbedingt Erforderliche zu produzieren.
Einige der Steuern behinderten Innovationen und beeinträchtigten die
Arbeitshaltung der in der Landwirtschaft Tätigen, deren Anteil damals über
80% der Bevölkerung betrug. Heute ist dieser Anteil in den entwickelten
Marktwirtschaften auf weit unter 5% gesunken.
72
Das chaotische Steuersystem des Absolutismus war bei der Bevölkerung
wegen der Höhe der Zwangsabgaben und der steuerlichen Ungerechtigkeit
verhasst. Zu den Steuern mit kontraproduktiven Anreizen zählte in Frankreich
im besonderen die Repartitionssteuer (taille) (Siehe Kasten B7: Die
vorrevolutionäre „taille“, eine Repartitionssteuer mit kontraproduktiven
Anreizen, und einige Hinweise auf die Salzsteuer). Steuern sind
kontraproduktiv, wenn sie die Arbeitshaltung, das Wachstum der Produktion,
die Einführung von Innovationen etc. hemmen. Die Steuereinnahmen reichten
nicht aus, um den Fürstenhaushalt auszugleichen. Der Fürst nahm große hoch
verzinste Kredite auf, die in den Staatsbankrott führen konnten.
____________________________________________________________
Kasten B7: Die vorrevolutionäre „taille“, eine Repartitionssteuer mit kontraproduktiven
Anreizen und einige Hinweise auf die Salzsteuer.
Die „taille“ war die wichtigste und auch die am meisten verhasste Steuer des französischen
Absolutismus. Das Königreich war in Provinzen eingeteilt. Jeder Provinz wurde eine Geldsumme
als Steuer zugeordnet. Diese Summe wurde auf die Kommunen, überwiegend Dörfer,
heruntergebrochen. Die Dorfgemeinschaften mussten die ihr zukommenden Steuerbeträge auf die
einzelnen Haushalte aufteilen. Dabei kam es zu zahlreichen Konflikten. Jeder bäuerliche Haushalt
stellte nach außen seine Armut dar, d.h. seine Unfähigkeit Steuern zahlen zu können.
Da der König ständig in finanziellen Schwierigkeiten war, verpachtete er ganze Provinzen an sog.
„financiers“, die ihm größere Geldbeträge zur Finanzierung von Kriegen und Hofhaltung zur
Verfügung stellten. Im Gegenzug erhielten sie das Privileg, die Steuern in der Provinz zu erheben.
Die „financiers“ versuchten mit nahezu allen Mitteln so viel Steuern wie nur möglich aus der
Bevölkerung der von ihnen gepachteten Provinz so schnell wie möglich herauszuholen. Jeder
Hinweis auf einen Steuertatbestand wurde von der Bevölkerung vermieden. Es wurden keine
landwirtschaftlichen Neuerungen eingeführt und selbst die Reparaturen an Häusern und
landwirtschaftlichem Gerät wurden auf das Notwendigste beschränkt. Die landwirtschaftliche
Bevölkerung kleidete sich entsprechend ärmlich. Die landwirtschaftliche Produktion stagnierte, da
jede Verbesserung der Lebensverhältnisse, die über das Lebensnotwendige hinausging und nicht
geheimgehalten werden konnte, durch Steuern und andere Zwangsabgaben abgeführt werden
musste. – Um diese negativen (kontraproduktiven) Anreize abzubauen, wurde die taille
schrittweise in eine proportionale Einkommensteuer umgewandelt.
Die Salzsteuer (gabelle) war im absolutistischen Frankreich keine Steuer (Zwangsabgabe ohne
spezielle Entgeltlichkeit) im eigentlichen Sinne sondern ein staatliches Monopol. Salz durfte nur
bei den staatlichen Verkaufstellen bezogen werden. Die Preise unterschieden sich von Provinz zu
Provinz. Es konnten nur festgesetzte Mengen gekauft werden, die in der Regel größer waren als
der Verbrauch. Der Weiterverkauf war verboten, ebenso der Export in andere Provinzen. Es
wurde streng kontrolliert. Hohe Strafen standen auf Zuwiderhandeln. (Zur Erinnerung: Salz ist für
Mensch und Tier lebenswichtig.)
___________________________________________________________
Die bürgerliche Opposition gegen den Absolutismus wollte an die Stelle der
staatlichen Befehlswirtschaft des Absolutismus eine sich über Märkte selbst
regulierende Wirtschaft weiter ausdehnen. Die Grundzüge der
73
kapitalistischen Marktwirtschaft existierten bereits. Die Einführung der
Gewerbefreiheit war eine zentrale Forderung. Sie wurde in größeren oder
kleineren Schritten in den europäischen Staaten oder Fürstentümern im 19.
Jahrhundert eingeführt. Der bürgerliche Staat sollte ein „Nachtwächterstaat“
sein, dessen Aufgaben und Ausgaben auf ein Minimum reduziert werden
sollten. Doch schon früh im Verlauf der französischen Revolution zeigte sich,
dass auch die bürgerliche Gesellschaft nicht auf einen mehr oder weniger
starken Staat verzichten wollte und konnte. Der imperiale Staat Napoleons
war eine rationalisierte Neuauflage des absolutistischen Staates. Erst im
Verlauf des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts kam es zu Versuchen, den
napoleonischen Staat in einen bürgerlichen Staat zu transformieren. Dabei
spielte die stufenweise Einführung des allgemeinen Wahlrechts eine wichtige
Rolle. In den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft waren nur
steuerzahlende Haushaltsvorstände wahlberechtigt. Je nach Höhe der
abgeführten Steuern hatten sie eine oder mehrere Stimmen. Die Einführung
demokratischer Prinzipien war mit dem Abbau des Stufenwahlrechts und der
Einführung des allgemeinen einschließlich des Frauenwahlrechts verbunden.
Auch im bürgerlichen Staat blieb hoheitliches Handeln die herrschende
Praxis oder die Praxis der Herrschenden. Demokratie droht in einem solchen
Staatswesen von der „Herrschaft des Volkes“ zu einem „Verfahren für die
Beschaffung von Legitimation“ einer allmächtigen Exekutive, die von
Interessengruppen manipuliert wird, zu verkümmern. Die Allianz von Staat
und Markt will nicht recht glücken. Sie wurde zur „Schnittstelle“
herunterdekliniert, an der sich Parasiten und Korruption ansiedeln.
9) Staatsfunktionen
Die schrittweise Einführung des allgemeinen Wahlrechts hat bei der
Ausdehnung der Staatstätigkein eine besondere Rolle gespielt. Damit war die
Voraussetzung geschaffen, dass Staatsausgaben auch allmählich stärker den
ärmeren Bevölkerungsschichten zugute kommen konnten aber nicht
unbedingt auch kamen. Das ist ein wesentlicher Grund für das Anwachsen
der Staatsausgabenquote (Staatsausgaben im Verhältnis zum BIP). Schon
früh haben in Deutschland „Staatswissenschaftler“ auf die mit der
wirtschaftlichen Entwicklung verbundenen höheren Staatsausgaben
hingewiesen. Dem sog. Wagnerschen „Gesetz der zunehmenden
Staatsaufgaben“ folgend steigt die Staatsausgabenquote längerfristig an. Im
Jahr 1910 belief sich die Staatsausgabenquote in Deutschland noch auf rd.
10%. Hundert Jahre später ist die Staatsausgabenquote auf nahezu 50%
angestiegen. Auch erwies sich die bürgerliche Gesellschaft nach innen und
74
außen weniger friedfertig als ursprünglich erhofft. Ein teueres stehendes Heer
blieb erforderlich. Kriege und Kriegsfolgen im 19. und 20. Jahrhundert trugen
zur dauerhaften Anhebung der Staatsausgabenquote bei. Der
Marktmechanismus erwies sich als krisenanfällig. Umfangreiche
Subventionen (Steuerermäßigungen und Finanzhilfen) wurden eingeführt.
Angesichts der Globalisierung werden in der Gegenwart die Möglichkeiten
und Grenzen von Staatstätigkeit neu bestimmt. Das führt auch zu
Umschichtungen im Staatshaushalt, aber nicht unbedingt zu einer Senkung
der Staatsausgabenquote.
Die zunehmenden Staatsaufgaben werden von der akademischen
Finanzwissenschaft in vier wesentliche Staatsfunktionen gegliedert: die
Allokations-, die Distributions- , die Stabilisierungsfunktion und die
fiskalische Staatsfunktion. Unter Allokationsfunktion des Staats in der
kapitalistischen Marktwirtschaft wird die Beeinflussung von Investition und
Produktion verstanden. Öffentliche Infrastrukturinvestitionen, das sind
Straßen, Brücken, Schulen, Gewerbegebiete usw. sind ergänzend erforderlich.
Weiterhin müssen öffentliche Güter bereitgestellt werden. Sie können nur in
Ausnahmefällen privat verteilt werden. Öffentliche Güter zeichnen sich
dadurch aus, dass ihre Nutzen u.a. unteilbar sind: z.B. saubere Luft, innere
Sicherheit, intakte Landschaften. Es gilt das Nichtrivalitätsprinzip, d.h. die
Konsumenten öffentlicher Güter können um den Erwerb dieser Güter nicht in
Konkurrenz treten. Deshalb können sie z.B. auch nicht versteigert werden.
Die Marktwirtschaft greift in diesem Bereich nicht und öffentliche
Unterstützung ist erforderlich.
Ungehemmte deregulierte Marktprozesse führen zu ungleichen Einkommensund Vermögensverteilungen, die in bürgerlichen Gesellschaften in der Regel
als unfair oder als ungerecht angesehen werden. Die Distributionsfunktion hat
dafür zu sorgen, dass ungewollte Ungleichheit nachträglich meist über
Steuerpolitik korrigiert wird. – Im Verlauf der wirtschaftlichen Aktivität
treten unerwünschte Schwankungen auf. Dem Staat wurde deshalb die
Aufgabe übertragen, stabilisierend zu wirken, d.h. eine
Stabilisierungsfunktion wahrzunehmen. – Schließlich hat der Staat eine
fiskalische Funktion, d.h. er muss über sein Budget (Staatshaushalt) seine
Existenz erhalten, d.h. der Staat muss sich die finanziellen Mittel verschaffen,
um die Beamten zu bezahlen, Gebäude zu erhalten usw.
Um diese vier Funktionen zu erfüllen, kann der Staat innerhalb gewisser
Grenzen seine Einnahmen und Ausgaben einsetzen. Die Einnahmen fließen
(abgesehen von der Aufnahme von Krediten) aus direkten und indirekten
Steuern. Direkte Steuern sind die Steuern aus den Faktoreinkommen aus
75
Arbeit und Kapital: Lohn- sowie veranlagte Einkommenssteuer und Steuern
auf Unternehmensgewinne. Indirekte Steuern werden auf Transaktionen
erhoben. Die wichtigsten sind Umsätze von Waren und Dienstleistungen, die
Gegenstand der Mehrwertsteuer sind. Die Staatsausgaben des Zentralstaates,
der Länder und der Gemeinden können ebenso wie die Besteuerung auf
wirtschaftspolitische Ziele hin ausgerichtet werden. Wirtschaftspolitische
Ziele sind: Beschäftigung, Wachstum, Geldwertstabilität und
Außenhandelsgleichgewicht. Die Wahrnehmung von Allokations-,
Distributions- und Stabilisierungspolitik zur Durchsetzung der vier Ziele
durch den Staat heißt Fiskalpolitik.
10) Wirtschaftspolitik
Die Wirtschaftspolitik findet überwiegend als Staatsintervention im Rahmen
hoheitlichen Handelns statt. Mit einer wichtigen Ausnahme: die Geldpolitik
ist heute in fast allen entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften
alleinige Aufgabe der Zentralbank, die keiner staatlichen Weisungsbefugnis
unterliegt und damit „unabhängig“ ist.
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Kasten B8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik
Geldpolitik geht von der sog. Quantitätsgleichung aus. Sie besagt, dass die Geldmenge
multipliziert mit der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes gleich ist der Menge der produzierten
Waren multipliziert mit deren Preisen (G x V = Q x P). Es gilt nun, Variationen des Preisniveaus
(P) d.h. die zukünftige Inflationsrate, zu beeinflussen. Es wird davon ausgegangen, dass die
Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (V) für den Beobachtungszeitraum konstant ist. Eine
Variation der Geldmenge ist nun so einzustellen, dass das in der Zukunft liegende Inflationsziel
erreicht wird. Das ist alles andere als einfach, denn es kommt zu unterschiedlichen
Wirkungsverzögerungen, die nur schwer vorhergesagt werden können. Die Wirkungsverzögerung
der Geldpolitik beträgt rd. achtzehn Monate und mehr. Äußere Schocks, wie Erhöhungen des
Ölpreises, können das Inflationsziel während der Wirkungserzögerung beeinflussen. Seit Beginn
der achtziger Jahre geht eine zunehmende Zahl von Zentralbanken dazu über, die Geldmenge
nicht mehr direkt sondern nur noch indirekt über den Interventionszinssatz zu steuern. Der
Interventionszinssatz ist der Satz, zu dem die Zentralbank Staatsschuldverschreibungen von den
Banken hereinnimmt und ihnen dafür Geld zu Verfügung stellt.
Man hat diese Situation mit der eines bogenschießenden Jägers verglichen. Bewegt sich das Wild
während der Pfeil in der Luft ist, dann sind die Chancen, dass der Jäger trifft nicht gerade groß.
Wenn die Zentralbank ihre Veränderung der Geldmenge (direkt oder über den
Interventionszinssatz) „abgeschossen“ hat, das Inflationsziel seine Position während der
Wirkungsverzögerung jedoch verändert, dann liegt der „Schuss“ der Zentralbank daneben. Es
gehört offenbar eine tüchtige Portion Glück dazu, um in der Geldpolitik erfolgreich zu sein!
Unter diesen Voraussetzungen hat es die unabhängige Zentralbank nicht leicht, die
Wirtschaftssubjekte von ihrer Fähigkeit zu überzeugen, dass sie die Inflationsrate in allen Fällen
76
nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Von ihrer Glaubwürdigkeit hängt allerdings die
Wirksamkeit ihrer Geldpolitik ab. Mit anderen Worten, es herrscht Unsicherheit über die
zukünftige Geldwertstabilität. Bei Unsicherheit kann das Gradualismusprinzip angewendet
werden. Dann bewegt sich die Zentralbank mit „Trippelschritten“ in die von ihr eingeschlagene
Richtung der Geldpolitik. Trippelschritte bei der Zinspolitik sind Senkungen oder Erhöhungen des
Interventionszinssatzes um 0,25-Prozentpunkte oder, was das Gleiche besagt, 25 Basispunkte.
____________________________________________________________
In der Gegenwart wird eine Variation des sog. Interventionszinssatzes der
Variation der Geldmenge vorgezogen. Die Geldmenge wird vom Zinssatz
indirekt gesteuert, weil die Zielgenauigkeit der Geldpolitik mit Hilfe von
Variationen des Zinssatzes größer ist. Das Ziel oder die Ziele der Zentralbank
sind in der Regel gesetzlich festgeschrieben. Die Europäische Zentralbank
(EZB) hat, wie früher die deutsche Bundesbank nur ein Ziel für ihre
Geldpolitik, nämlich die Wahrung Geldwertstabilität. Die amerikanische
Zentralbank (Fed) dagegen hat nicht nur die Geldwertstabilität sondern auch
die Beschäftigung zum Ziel ihrer Geldpolitik. Meist kümmert sie sich deshalb
auch um Probleme des Wirtschaftswachstums. Ihre Politik gilt zumindest in
den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute als sehr
erfolgreich.
Wird die Zielgenauigkeit von Geld- und Fiskalpolitik miteinander verglichen,
dann werden im allgemeinen der Geldpolitik die besseren Noten gegeben.
Ausgaben und Einnahmen des Staates durchlaufen einen mehr oder weniger
langen politischen Prozess, der die Wirkungsverzögerung verlängert und
deshalb die Zielgenauigkeit beeinträchtigt. Durch die längere
Wirkungsverzögerung nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass das Ziel seine
Position verändert. Durch die ständigen Veränderungen der Einnahmen und
Ausgaben, die vom Staat aus politischen und nicht aus wirtschaftspolitischen
Gründen vorgenommen werden, wird auch der Wirtschaftsablauf in Schüben
beeinflußt.
Im Zuge der Wiederaufwertung der Fiskalpolitik bleibt festzuhalten, dass die
Ausgabenpolitik der Steuerpolitik vorzuziehen ist, weil die Ausgabenpolitik
einem höheren Multiplikator hat. Das lässt sich empirisch zeigen (Hemming,
Kell, Mahfouz 2002). Der Multiplikator stammt aus dem keynesianischen
Denkansatz. Er zeigt, wie eine Erhöhung der Staatsausgaben z.B. für
Infrastrukturen durch die Wirtschaft hindurchläuft und dabei zu
Einkommenserhöhung führt. Am Ende dieses Prozesses ergibt sich, dass die
Einkommenserhöhung unter bestimmten Vorraussetzungen um einen Faktor
den sogenannten Multiplikator höher ausfallen kann, als die sie
verursachende Staatsausgabe (Siehe Kasten B9: Multiplikatoranalyse).
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77
Kasten B9: Multiplikatoranalyse
Die Multiplikatoranalyse wurde ebenfalls von Keynes ins Spiel gebracht. Erhöht der Staat seine
Ausgaben, dann entstehen zusätzliche Einkommen. Man kann sich das so vorstellen, dass der
Staat eine Straße bauen lässt. Das Geld für diese zusätzlichen Staatsausgaben fließt zu einem
Straßenbauunternehmen, das zusätzlich Arbeiter einstellt. Die Einkommen der zusätzlich
eingestellten Arbeiter werden von ihnen für Konsumausgaben verwendet. In den Supermärkten
wird mehr nachgefragt und es werden dort zusätzlich Arbeitskräfte eingestellt und zusätzliche
Aufträge vergeben. Bei den Herstellern der Konsumgüter kommt es zu Neueinstellungen und
deshalb auch zu zusätzlichen Einkommen usw. Es entsteht auf diese Weise eine Kette von
zusätzlichen Einkommen. Die Summe dieser zusätzlichen Einkommen ist ein mehrfaches als die
zusätzlichen Staatsausgaben, die der Ausgangspunkt dieses Prozesses sind. So entsteht ein
Multiplikator.
Wenn die zusätzlichen Arbeiter einen Teil des zusätzlichen Einkommens sparen, dann sind ihre
Einkäufe geringer als wenn sie nahezu alles für Konsumgüter ausgeben würden. Deshalb
verringert sich der Multiplikator. Sie müssen Lohnsteuer und andere Steuern auf ihr Einkommen
zahlen. Das verringert den Multiplikator weiter. Je niedriger die Einkommen sind, um so weniger
wird gespart und um so niedriger ist die Steuerbelastung. Deshalb ist der Multiplikator, der aus
der Einbeziehung von Beziehern niedriger Einkommen entsteht, größer als der Multiplikator aus
höheren Einkommen. Schließlich wird auch ein erheblicher Teil der Konsumgüter, die von dem
Einkommen der zusätzlichen Arbeiter gekauft werden, importiert. Der Multiplikator verringert
sich nochmals. Der Multiplikator ist selten größer als 1,5, meist sogar kleiner. Der Multiplikator
ist größer, wenn zusätzliche Staatsausgaben getätigt werden. Er ist geringer, wenn das
Haushaltsdefizit über Steuerermäßigungen der Besserverdienenden finanziert werden.
Vor allem durch die außenwirtschaftliche Öffnung wird der Multiplikator verringert. Die
autonomen zusätzlichen Staatsausgaben führen jedoch zu einer Erhöhung des
Staatshaushaltsdefizits, das über zusätzliche Schuldenaufnahme des Staates finanziert wird. Die
zusätzliche Staatsschuld muss verzinst und zurückgezahlt werden. Wird ein erheblicher Teil der
zusätzlich nachgefragten Konsumgüter in Südchina produziert und von dort nach Deutschland
exportiert, dann fällt ein entsprechender Anteil des Multiplikatoreffekts in Südchina an. Die
Kosten dafür – Zinszahlungen – aber verbleiben in Deutschland. Sie müssen über
Steuerzahlungen aufgebracht werden. Man kann darin eine „ungewollte Entwicklungshilfe“
sehen.
Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen werden in der Regel für andere Zwecke
ausgegeben als die Lohn und Gehaltseinkommen. Zu einem erheblichen Teil werden Einkommen
aus Unternehmertätigkeit in Finanzmärkten angelegt. Deshalb können für sie auch keine den
Lohneinkommen vergleichbare Multiplikatoren in Ansatz gebracht werden.
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Schon diese kurze Skizze zeigt, dass Geld- und Fiskalpolitik und damit die
gesamte Wirtschaftspolitik immer auch im Hinblick auf die Zukunft
betrachtet werden müssen. Die Zukunft ist unsicher. Die Ziele für
vorausschauende, bewusst geplante Wirtschaftspolitik. d.h. diskretionäre
Wirtschaftspolitik, können nicht sehr genau prognostiziert werden. Die
Wirkungsverzögerungen von wirtschaftspolitischen Eingriffen ist ebenfalls
nur ungenau bekannt. Das macht die Unsicherheit jeder Wirtschaftspolitik
78
aus. Die Unsicherheit bei diskretionärer Fiskalpolitik ist besonders groß. Das
gilt auch für die Multiplikatoranalyse.
Von vielen akademischen Wirtschaftswissenschaftlern und Zentralbankern
wird gefordert, sich auf Geldpolitik plus eine Fiskalpolitik der eingebauten
Stabilisatoren zu beschränken. Eingebaute Stabilisatoren sind von politischen
Entscheidungen nicht abhängig. Sie funktionieren automatisch (Siehe auch
Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren,
dort insbesondere die Beispiele Schaukelstuhl und Brücke). Steigt z.B. die
Arbeitslosigkeit, dann wird ein Teil der Einkommenseinbußen durch Zahlung
von Arbeitslosenunterstützung kompensiert und die Nachfrage der privaten
Haushalte sinkt weniger stark. Droht der Gesamtwirtschaft eine
konjunkturelle Überhitzung, dann steigen die Einkommen der privaten
Haushalte und ihre Nachfrage steigt. Wenn die Lohnsteuer progressiv
ausgestaltet ist, d.h. die Steuerbelastung stärker steigt als die
Besteuerungsgrundlage Einkommen, dann wird die Nachfrage gedämpft. Mit
automatischen Stabilisatoren sind die Ausschläge des Konjunkturzyklus nach
oben und nach unten weniger groß.
Die Problematik der Treffsicherheit bei der Feinsteuerung
wirtschaftspolitischer Eingriffe ist von den politischen Entscheidungsgremien
in den Hintergrund gespielt worden. Anstatt sich mit der
Konjunktursteuerung auseinander zusetzen, die auf die oben behandelten
Schwierigkeiten stoßen, traten rein politische Kriterien in den Vordergrund
der Fiskalpolitik. Politiker tendieren dazu, Einnahmen und Ausgaben nach
ihren Interessen an der Wiederwahl zu orientieren. Budgetdefizite schwellen
vor Wahlen an und stagnieren nach den Wahlen. Die Bedienung der
politischen Klientel ist in den Vordergrund getreten.
In der älteren Literatur über Fiskalpolitik spielt dagegen die
„kompensatorische Finanzpolitik“ noch eine herausgehobene Rolle. Mit Hilfe
der kompensatorischen Finanzpolitik sollten im Konjunkturaufschwung
Haushaltsüberschüsse erzielt werden, die in eine
Konjunkturausgleichsrücklage eingestellt werden. Im Konjunkturabschwung
sollte diese Rücklage aufgelöst werden und die frei gewordenen Mittel sollten
für den Konjunkturaufschwung ausgegeben werden. Der Staat hatte für eine
entsprechende diskretionäre Fiskalpolitik Vorsorge zu treffen. Investive
Ausgaben für den Abschwung sollten vorsorglich geplant werden.
Sogenannte Schubladenprojekte, z.B. Infrastrukturprojekte sollten
ausschreibungsreif ausgearbeitet und bereit gehalten werden, um allzu lange
Wirkungsverzögerungen zu vermeiden. Im politischen System hat sich die
79
Konjunkturausgleichsrücklage nicht durchsetzen lassen. Auch das hat zu
einer Erhöhung der Staatsausgabenquote erheblich beigetragen.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt in der EU geht nicht so weit. Er schreibt
nur vor, dass die Defizitquote minus drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes
nicht unterschreiten soll. Dauerhafte Haushaltsüberschüsse sind erst für die
mittelfristige Zukunft vorgesehen. Offensichtbar soll auf diesem Weg
versucht werden, den Staatsanteil in der Wirtschaft zu senken. Die
Staatsschuldenquote, das ist die Staatsschuld im Verhältnis zum
Bruttoinlandsprodukt, soll 60% nicht überschreiten. In der gegenwärtigen
wirtschaftspolitisch schwierigen Lage konnten einige wichtige Länder der
EU, unter ihnen Frankreich und Deutschland, das Dreiprozentkriterium für
die Defizitquote nicht einhalten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde
überarbeitet und entschärft.
Schon der absolutistische Staat des 17. und 18. Jahrhundert war in seinen
Handlungsspielräumen enger begrenzt, als es dem Herrscher lieb sein konnte.
Auch heute ist die wirtschaftspolitische Staatstätigkeit nicht allmächtig.
Märke können versagen. Auch der Staat kann versagen. Wir stehen vor zwei
Koordinationsformen: Marktmechanismus und hoheitliches Handeln des
Staates. Beide sind nicht unfehlbar. Auch internationale Organisationen, die
zunehmend in grenzüberschreitende Koordination einbezogen werden, haben
Wahrheit und Weisheit nicht unbedingt gepachtet. Das kann dramatische
Folgen zeitigen. Ein Beispiel ist der Umgang mit der hoch gefährlich
eingestuften asiatischen Vogelgrippe (Siehe Kasten B10: Internationale
Organisationen, Nationalstaaten, Märkte und die asiatische Vogelgrippe).
Kasten B10: Internationale Organisationen, Nationalstaaten, Märkte angesichts der
Bedrohung durch die asiatische Vogelgrippe
Die WHO (World Health Organisation), eine mit gesundheitspolitischen Aufgaben betraute
Unterorganisation der UNO, hat eine Warnung herausgegeben. In Thailand und in Vietnam ist
eine Vogelgrippe ausgebrochen, die auf andere Tiere, Vögel, Katzen, Tiger etc. und Menschen
übergesprungen ist. Sie kann von Tier zu Tier, von Tier zu Mensch und offenbar auch von
Mensch zu Mensch übertragen werden. Sollte sie sich mit menschlichen Grippeviren verbinden,
dann hätte sie sehr hohe Todesraten. Experten der WHO schließen nicht aus, dass daraus eine
Pandemie entsteht, der in wenigen Wochen ebenso viele Menschen zum Opfer fallen könnten wie
an Aids in einem Vierteljahrhundert gestorben sind. Es gibt Impfstoffe und Medikamente, die
jedoch bei weitem nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen (International Herald
Tribune 2004:30/09). Wie konnte angesichts der Möglichkeit einer verheerenden Pandemie eine
solche Knappheit von Impfseren entstehen? Auch im Januar 2006, als die Vogelgrippe in der
Türkei nachgewiesen wurde, hat sich diese Ausgangslage kaum verändert.
80
Märkte und Staaten sind mit der Unsicherheit über die zukünftige Nachfrage nicht fertig
geworden. Unbekannt bleibt fürs erste, ob die Pandemie überhaupt ausbricht. Bricht sie nicht aus,
dann sitzen Pharmaindustrie und Staaten auf hohen und sehr teuren Beständen. Die Staaten zögern
mit Aufträgen. Die Pharmaindustrie hat die zur Bedarfsdeckung erforderlichen Investitionen aus
diesen Gründen nicht vorgenommen. Würde die Pandemie bald ausbrechen und sich sehr schnell
ausbreiten, dann wären die Folgen für die weltweite Gesundheitssituation katastrophal. Markt und
Staat haben versagt. Beide Koordinationsmechanismen sind jeder für sich und erst recht
zusammengeschaltet mit dem Problem offenbar überfordert, obwohl alle für die
Entscheidungsfindung erforderlichen Informationen von der WHO bereitgestellt wurden. – In der
gleichen Zeitung werden am 30/11/04 neue Schreckensszenarien veröffentlicht (International
Herald Tribune). Die Zahlen der möglichen Opfer der Vogelgrippe könnte sich auf zweistellige
Millionen belaufen, wenn die Übertragung unter Menschen schnell ist und die Todesrate sehr
hoch. Gesundheitsorganisationen der USA haben inzwischen eine Warnung abgegeben
(International Herald Tribune 22. 02 2005, Titelseite). Sie halten die asiatische Vogelgrippe für
eine der größten Bedrohungen der heutigen Welt. In diesem Zusammenhang wird auch die große
Grippewelle von 1918 erwähnt, die mit zwanzig bis vierzig Millionen Toten mehr Opfer
gefordert hat als der erste Weltkrieg. – Ähnliche Konstellationen findet man bei den ökologischen
Grenzen des Wirtschaftswachstums (Siehe Unterabschnitt C4. Wachstum ohne Grenzen?).
Wichtige Staatsaufgaben im Bereich der Gesundheitspolitik sind von den Nationalstaaten auf
internationale Organisationen übertragen worden. Doch damit hat sich die Zahl der Kontrahenten
erhöht, das Risiko eines Koordinationsversagens aber wurde nicht nur nicht beseitigt sondern
sogar noch erhöht.
Inzwischen hat sich die Vogelgrippe in für Menschen offenbar ungefährlichen Formen weiter
ausgebreitet. Zugvögel und illegaler Handel mit Wildvögel spielen dabei eine Rolle. Ähnlich wie
seiner Zeit bei der Ausbreitung der Pandemie Aids wird die Ausbreitung der Vogelgrippe mit
mathematischen Modellen simuliert. Die Modellergebnisse sind für den Fall, dass die
Vogelgrippe auf Menschen überspringt, auf eine sehr schnelle Verbreitung hin. Inzwischen gibt es
Impfstoffe, deren Menge völlig unzureichend ist. Das kann zu wenig erbaulichen
„Verteilungskämpfen“ führen. Auch die Pläne für Quarantänen, die bis auf die lokale Ebene
ausgearbeitet werden müssen, sind auch in Deutschland völlig unzureichend. Ein
Koordinationsversagen zwischen Markt, Staat und internationalen Organisationen kündigt sich
mit furchterregenden Folgen für den Ernstfall an.
Die Katastrophe von New Orleans im Spätsommer 2005 zeigt noch einmal deutlich die fatalen
Folgen auf, die aus einem Koordinationsversagen entstehen können.
____________________________________________________________
Wenn man zwei mit Mängeln behaftete Koordinationsformen – den
Marktprozess und hoheitliches Handeln – zusammenschaltet, muss man sich
auf Überraschungen gefasst machen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich
das beiderseitige Versagen zu ernsthaften Problemen aufschaukelt, für die es
dann keine wirksamen Instrumente zur Problemlösung mehr gibt. Die
gegenwärtige wirtschaftspolitische Lage Japans und vielleicht auch
Deutschlands – eine Stagnation mit hartnäckiger Kaufzurückhaltung – sind
dafür im wirtschaftlichen Bereich abschreckende Beispiele.
Das „Aufschaukeln“ von wirtschaftlichen Problemen bezieht sich auf das
berühmte Beispiel des Schaukelstuhls von Haberler. Stabilisatoren, die
81
Schwingungen dämpfen sollen, kommen auch in der Statik zur Anwendung.
Sie wurden z.B. auch in eine Londoner Fußgängerbrücke eingebaut (Siehe
Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren).
11) Vom Budgetdefizit zur Staatsschuld und ihren wirtschaftlichen
Wirkungen
Die kompensatorische Finanzpolitik konnte politisch nicht durchgesetzt
werden. Damit war der Weg frei für eine dauerhafte Ausweitung des
Staatshaushaltsdefizits, das zu einer Erhöhung der Staatsschuld führen muss.
Der öffentlichen Hände (Bund, Länder, Gemeinden) können natürlich auch
Teile ihres Vermögens – das Tafelsilber – veräußern. Damit kann
vorübergehend das Defizit verringert werden. Eine endgültige Lösung der
Probleme der Staatsschuld aber ist auf diesem Weg nicht erreichbar.
Das Konzept der rationalen Erwartungen befasst sich mit diesem
Problemkreis. Rationales Verhalten aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten
wird unterstellt. Die Märkte funktionieren. Die wirtschaftliche Zukunft sei für
alle überschaubar. Wenn eine Regierung unter solchen Vorraussetzungen ein
Haushaltsdefizit fährt, um einen Konjunkturaufschwung herbeizuführen, dann
reagieren die rational eingestellten Wirtschaftssubjekte auf ihre Weise. Sie
wissen, dass das erhöhte Defizit zu einer erhöhten Staatschuld führt, die der
Staat später zurückzahlen muss. Das aber wird ohne spätere
Steuererhöhungen nicht möglich sein. Da die Wirtschaftssubjekte über ihre
Lebenszeit ein ungefähr gleiches Einkommen anstreben, werden sie anfangen
zu sparen, um die erwarteten Steuererhöhungen aus ihren Ersparnissen zu
zahlen. Sie sparen deshalb bereits heute mehr und konsumieren weniger. Die
erhofften Multiplikatoreffekte bleiben aus. Das Programm zur Ankurbelung
der Konjunktur geht ins Leere (Siehe Kasten B9: Multiplikatoranalyse). Die
heutige wirtschaftspolitische Lage der USA aber wird mit diesem Ansatz
offenbar nicht abgebildet. Die Steuerermäßigungen der Präsidentschaft Bush
II. haben das Haushaltsdefizit erheblich vergrößert. Die amerikanischen
Haushalte aber sparen weiterhin extrem wenig. Selbst die Bewohner der
USA, dem kapitalistischen Musterland, scheinen sich so rational nicht zu
verhalten, wie es eine Reihe von Ökonomen gern sehen würde.
Das Budgetdefizit setzt sich zusammen aus Staatsausgaben minus
Staatseinnahmen. Bei einem Defizit sind die Ausgaben größer als die
Einnahmen. Unterschieden wird zwischen Defizit und Primärdefizit. Im
Primärdefizit sind die Zinszahlungen auf die Staatsschuld auf der
Staatsausgabenseite nicht enthalten. Eine Obergrenze für die Staatsschuld
82
wird jetzt deutlicher sichtbar. Eine starke Erhöhung der jährlichen Defizite
nämlich führt zu einer starken Erhöhung der Staatsschuld. Dann steigen auch
die Zinszahlungen auf die erhöhte Staatsschuld entsprechend. In dieser
Situation erhöht sich die Zinssteuerquote (staatliche Zinszahlungen zu
Steuereinnahmen). Es ist unmittelbar einsichtig, dass die Zinssteuerquote
nicht auf 100% ansteigen kann. Dann nämlich würden die gesamten
Steuereinnahmen für Zinszahlungen aufgebraucht. Der Staat hätte dann keine
Steuereinnahmen für den fiskalischen Steuerzweck, d.h. für die Bezahlung
von Löhnen und Gehältern, Käufe von Gütern und Dienstleistungen etc. Eine
politisch kritische Schwelle wird erreicht, wenn die Zinszahlungen gleich
hoch oder höher sind als die Personalausgaben.
Öffentliche Investitionen dürfen über zusätzliche Schulden finanziert werden.
Hier gilt jedoch die Regel, die in den Verfassungen festgeschrieben ist, dass
bei einem verfassungskonformen Haushalt die Aufnahme neuer Schulden
nicht höher sein darf als die öffentlichen Investitionen. Für öffentliche
Investitionen wird unterstellt, dass sie zum Wachstum und damit zu höheren
Steuereinnahmen beitragen. Diese Regel darf nur in besonderen Notlagen
nicht ausgesetzt werden. Viele Städte und Kommunen befinden sich
gegenwärtig in solchen Haushaltsnotlagen.
Debatten über die Höhe der Staatsschulden werden meist hitzig geführt.
Irgendwann taucht dann auch der nur allzu oft missverstandene Begriff
Ricardianischen Äquivalenz auf. Stark vereinfacht besagt die Ricardianische
Äquivalenz, dass eine Erhöhung des Haushaltsdefizits durch einen Anstieg
der privaten Ersparnis in gleicher Höhe kompensiert werden kann. Der
private Verbrauch sinkt entsprechend. An die Stelle des niedrigeren privaten
Verbrauchs tritt die erhöhte Staatsnachfrage. Unter dieser Annahme wirken
sich Defizite weder auf die Nachfrage noch auf die Produktion aus. Die
Erhöhung der Staatsschuld hat in dieser vereinfachten Darstellung keine
Auswirkung auf die Akkumulierung von Kapital.
In der wirtschaftspolitischen Praxis spielt die Ricardianische Äquivalenz
keine Rolle. Schnell wachsenden Defizite führen zu einer höheren Nachfrage
und einer höheren Produktion in der kurzen Frist. Das wäre in der
gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Deutschlands wünschenswert, die durch
eine hartnäckige Kaufzurückhaltung gekennzeichnet ist. In der langen Frist
kann die Erhöhung der Staatsverschuldung jedoch zu einer geringeren
Akkumulierung von Kapital und deshalb dann auch zu einer niedrigeren
Produktion führen.
83
12) Entweder Inflation oder Arbeitslosigkeit: die Phillipskurve und die
„natürliche“ Arbeitslosigkeit.
Erwähnung verdient ein kurzer Hinweis auf die sogenannte Phillipskurve. Sie
hat seit dem Ende der fünfziger Jahre und stark abgeschwächt bis heute die
Gemüter der Ökonomen bewegt und früher sogar einmal erhitzt. Die
Phillipskurve war das Lieblingskind von Altbundeskanzler Helmut Schmidt.
Er hätte lieber ein Prozent Inflation mehr als ein Prozent mehr
Arbeitslosigkeit gehabt. Es gab schon immer Schwierigkeiten mit der
empirischen Darstellung der Phillipskurve. Die Daten wollten nicht so recht
mitspielen. Bis in die siebziger Jahre glaubte man einigermaßen sichere
Datenlage zu haben. Für die achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts trifft das mit Sicherheit nicht mehr zu.
____________________________________________________________
Abbildung Bf: Die Phillipskurve und die „natürliche“ Arbeitslosenquote
Abbildung Bfa: die Philippskurve
Die Phillipskurve geht auf eine empirische Arbeit des britischen Ökonomen Arthur W. Phillips
aus dem Jahr 1958 zurück. Dort wurde ein Zusammenhang zwischen Nominallohnänderungen
und Arbeitslosenquote hergestellt. Das ist zunächst einmal eine empirisch gesicherte Feststellung,
die zeitlich begrenzt ist. Sie wurde dann von Ökonomen in einen funktionalen Zusammenhang
uminterpretiert. An die Stelle der Nominallohnänderungen tritt die Inflationsrate. Eine andere
Interpretation sieht in der Philippskurve eine funktionale Beziehung. Die Inflationsrate (abhängige
Variable) ist dann eine zunehmende Funktion der Arbeitslosenquote (unabhängige Variable) oder
umgekehrt. Wenn die Arbeitslosenquote sinkt, dann steigt die Inflationsrate oder umgekehrt,
wenn die Inflationsrate sinkt, dann steigt die Arbeitslosenquote. Ökonomen sprechen dann in
ihrem Jargon von einem „trade-off“. Eine solche Funktion muss theoretisch begründet werden.
Vom Wenn-dann geht man zur Warumfrage über und sucht die passende Antwort. Abwegig wäre
die voreilige Behauptung: die Arbeitslosenquote steigt, weil die Inflationsrate sinkt. – Der
funktionale Zusammenhang wird in der folgenden Darstellung abgebildet.
Inflationsrate
Arbeitslosenquote
Abbildung Bfb: die natürliche Arbeitslosenquote
1968 veröffentlichte Milton Friedman einen Beitrag, in dem er die Gültigkeit der Philippskurve
bestritt. Die Philippskurve gilt nur kurzfristig. Sie stößt an eine Grenze, die sogenannte
„natürliche“ Arbeitslosenquote, die langfristig gültig ist. In der Abbildung b ist sie als Senkrechte
dargestellt, die auf die X-Achse (Arbeitslosenquote) trifft. Unterschreitet die Arbeitslosenquote
die Grenze der „natürlichen“ Arbeitslosenquote, dann nimmt die Inflationsrate zu. Die
Arbeitslosenquote fällt auf die „natürliche“ Arbeitslosenquote zurück. Siehe die folgende
84
Abbildung. Die natürliche Arbeitslosenquote wird in der angelsächsischen Literatur meist NAIRU
(non-accelerating inflation rate of unemployment) genannt.
„natürliche“
Arbeitslosenquote
Inflationsrate
Arbeitslosenquote
____________________________________________________________
Friedmans Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosenquote hat sich seiner Zeit
bewährt. Die „natürliche“ Arbeitslosenquote gilt langfristig. Die
Phillipskurve dagegen wurde auf die kurze Frist zurechtgestutzt. In den
frühen siebziger Jahren wurde das Konzept zum Politikum. Es wurde
behauptet, dass linke Regierungen eine niedrige Arbeitslosenquote
favorisierten, die links von der Gerade der „natürlichen“ Arbeitslosenquote
liegt. Damit aber seien sie für eine sich selbst verstärkende Inflation
verantwortlich, die nur mit hohen Verlusten an Wachstum und Beschäftigung
bekämpft werden könne. Die britische Labourregierung ist damals mit
ähnlich lautenden Argumenten abgewählt worden. An diesem Beispiel sieht
man einmal mehr, dass wirtschaftswissenschaftliche Konzepte durchaus auch
politisch wirksam werden können.
Inflationsraten können in der Tat leicht außer Kontrolle geraten. Die
Wirtschaftssubjekte entwickeln Inflationserwartungen, ziehen Käufe vor, um
erwarteten Preiserhöhungen zuvor zu kommen. Genau damit aber tragen sie
zu den Preiserhöhungen bei. Die Inflationsrate beschleunigt sich in
selbstverstärkender Weise. Auf diese Weise verursachen die
Wirtschaftssubjekte gesamtwirtschaftlich, was sie einzelwirtschaftlich
befürchten. Dann aber ist auch der Zusammenhang zwischen Inflation und
Arbeitslosigkeit, so wie er in der Phillipskurve dargestellt wird, nicht mehr
vorhanden.
Friedman hat eine Stagflation vorhergesagt, d.h. eine Inflation plus
Stagnation. Diese Vorhersage ist eingetroffen. Weiterhin gilt er als der
Initiator des Monetarismus, d.h. er hat eine (nicht unbedingt neue)
Geldpolitik empfohlen, mit der die Stagflation erfolgversprechend bekämpft
85
werden könnte und schließlich auch erfolgreich bekämpft wurde. Das hat ihm
1976 den Nobelpreis eingebracht.
Die empirische Überprüfung der „natürlichen“ Arbeitslosenquote stieß
ebenfalls auf Schwierigkeiten. Sie kann sich im Zeitablauf auf der X-Achse
verschieben. Die Verschiebung ist jedoch nicht prognostizierbar. In den
achtziger und den frühen neunziger Jahren wurde der „natürlichen“
Arbeitslosigkeit eine Art Signalwirkung zugeschrieben. Fiel die
Arbeitslosigkeit unter die für realistisch angenommene „natürliche“
Arbeitslosenquote, dann wurde erwartet, dass die Zentralbank mit einer
Zinserhöhung reagiert, um die möglichen Inflationserwartungen zu brechen.
Die Finanzmärkte haben die erwartete Zinserhöhung seitens der Zentralbank
durch Kursabschläge vorweggenommen. Die Zinserhöhung führte zu einer
Dämpfung des Konjunkturlage. Ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ist
das Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosenquote in den Hintergrund getreten.
Auch die Wirtschaftswissenschaft unterliegt mehr oder weniger schnell
wechselnden Moden. Sarkastische Stimmen behaupten, dass sie schneller
wechseln als in der Textilbranche. Für den schnellen Wechsel könnten auch
die ideologischen Bedürfnisse von Interessengruppen verantwortlich sein, die
sich rechtfertigen wollen.
Wie dem auch sei: das Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosigkeit ist in
entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften offenbar kein allgemein und
ein für alle mal gültiges Gesetz. In den USA hatte sich in den neunziger
Jahren ein Boom durchgesetzt mit hohen Wachstumsraten, niedriger
Arbeitslosigkeit und niedrigen Inflationsraten. Die außenwirtschaftliche
Öffnung der USA und die Liberalisierung bzw. die Internationalisierung der
Finanzmärkte sollen dazu beigetragen haben. In der Nachkriegsära war
Vollbeschäftigung schon einmal verwirklicht worden und die
Arbeitslosenquote lag in Deutschland zeitweise unter einem Prozent. Dazu
kann auch das Wechselkursregime von Bretton Woods beigetragen haben.
Deshalb ist es erforderlich, sich einen kurzen Überblick über
Wechselkursregime und Währungspolitik zu verschaffen.
Im Begriff der „natürlichen“ Arbeitslosenquote taucht wieder einmal die
gesellschaftliche Natur des marktwirtschaftlichen Kapitalismus auf. In den
historisch besonderen ökonomischen Verhältnissen dieser Produktionsweise
entspricht der Rückgriff auf gesellschaftliche Naturzustände dem Wunsch,
die ökonomischen Verhältnisse in einem dauerhaft fest gefügten Zustand zu
wissen und zu erhalten. Unter „natürlicher“ Arbeitslosigkeit ist hier ganz
einfach die langfristige Arbeitslosigkeit zu verstehen, auf die sich die
Wirtschaftssubjekte in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Verhalten
86
einzustellen haben. Wie bei fast allen Aussagen dieser Art gibt es auch hier
Gewinner und Verlierer. Es fällt nicht schwer herauszufinden, auf welcher
Seite die Verlierer und auf welcher die Gewinner in einer Konstellation der
„natürlichen“ Arbeitslosigkeit zu finden sind.
13) Wechselkursregime und Währungspolitik
Moderne kapitalistische Marktwirtschaften sind offene Wirtschaften, offen
für grenzüberschreitende Güter-, Dienstleistungs- und Kapitaltransaktionen.
Seit Jahrzehnten wachsen die Exporte erheblich schneller als die nationalen
Bruttoinlandsprodukte. Die Öffnung der Nationalwirtschaften hat im Zuge
der Liberalisierung der internationalen Devisen- und Kapitalmärkte in den
achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts besonders stark
zugenommen. Die offizielle Lesart dieser wirtschaftlichen Öffnung beruft
sich auf die Theorie des Freihandels, nach der alle am Freihandel beteiligten
Länder Vorteile erzielen. Mit der katastrophalen wirtschaftlichen Lage vieler
kleinerer Entwicklungsländer kann eine solche Erklärung nur schwer in
Einklang gebracht werden.
Die Ausbreitung des Welthandels ist nur mit einem funktionsfähigen
internationalen Währungssystem möglich. Dazu gehört auch die Fähigkeit,
die Menge des Weltgeldes (früher Gold, heute Dollar) zu vergrößern. Ohne
Zunahme der Menge des Weltgeldes kann der Welthandel bei konstanter
Umlaufsgeschwindigkeit des Weltgeldes nicht expandieren. Das
internationale Währungssystem des modernen kapitalistischen Weltsystems
kann auf verschiedene Weise reguliert werden. Es kann ein Regime mit fixen
oder mit flexiblen Wechselkursen sein. Der Wechselkurs einer Währung ist
der Preis der einheimischen Währung, ausgedrückt in einer ausländischen
Währung: 1€ = 1,30 $. In einem Regime mit fixen Wechselkursen sind die
Wechselkurse für unbestimmte Zeit von den Regierungen festgelegt. Das gilt
heute z.B. für den US $ und die chinesische Währung. Bei flexiblen
Wechselkursen bilden sich die Preise für Währungen auf den
Devisenmärkten. Zwischen Fixkurs- und Flexkursregime liegen
Mischsysteme, die mehr oder weniger gut funktionieren.
Im 18. und 19. Jahrhundert und bis hinein in die frühen dreißiger Jahre stand
der Goldstandard im Vordergrund. Seine Blütezeit war von 1880 bis 1913.
Der Ursprung des Goldstandards war aus heutiger Sicht ein Zufallsprodukt.
Im 18. Jahrhundert herrschte in England der Bimetallismus, d.h. ein
Währungssystem mit Gold und Silber als Zahlungsmittel. Der Preis von Gold
ausgedrückt in Silber, schwankte. Die Regierung intervenierte und setzte den
87
Goldpreis zu niedrig bzw. den Silberpreis zu hoch an. Das Greshamsche
Gesetz kam zum Zuge. Auf den einfachsten Nenner gebracht lautet dieses
Gesetz: das schlechte Geld verdrängt das gute Geld. Gutes Geld ist
wertbeständig, schlechtes Geld ist es nicht. Gutes Geld wird deshalb behalten
oder gehortet. Schlechtes Geld wird so schnell wie möglich ausgegeben.
Rechnungen werden vorzugsweise mit schlechtem Geld bezahlt. Gresham
(1519 – 1579) war ein britischer Geschäftsmann und Staatsbeamter. Das
schlechte Geld (Gold) verdrängte das gute Geld (Silber). Silber wurde
gehortet. Gold wurde verstärkt auch international als Zahlungsmittel in
Umlauf gebracht. England war damals im Seehandel die internationale
Führungsmacht. Immer mehr Länder schlossen sich dem Goldstandard an, da
das Netzwerk der internationalen Handels- und Währungsbeziehungen, das
Großbritannien unterhielt, dann auch für sie offen stand. Im
wirtschaftswissenschaftlichen Jargon spricht man von positiven
Netzwerkeffekten. Gold wurde auf diesem Weg zum nationalen und
internationalen Zahlungsmittel. Die inländischen Währungen waren meist
keine Goldumlaufswährungen sondern in vielen Fällen Papiergeldwährungen,
die zu einem bestimmten Prozentsatz mit Gold gedeckt sein mussten. Der
Goldstandard war ein Fixkurssystem. Der Wert des inländischen Geldes
ausgedrückt in Gold musste konstant gehalten werden.
Abweichungen der inländischen Währung vom Goldwert – der Goldparität –
müssen korrigiert werden. Wenn im Inland Inflation entsteht, dann steigt der
Goldpreis im Inland, d.h. die inländische Währung wird abgewertet. Die
geldpolitischen Instanzen (Regierung und/oder Zentralbank) können in einer
solchen Situation inländische Währung gegen Gold aufkaufen, so lange bis
die Goldparität wiederhergestellt ist. Vorausgesetzt wird, dass die
geldpolitischen Instanzen über genügend Goldvorräte verfügen. Das war oft
nicht der Fall. Reichen die Goldvorräte nicht, muss die Goldparität neu
festgesetzt werden. Ein restriktiver wirtschaftspolitischer Kurs wird mittels
Geld- und Fiskalpolitik durchgesetzt. Es kommt dann zu einer
Wiederaufwertung der inländischen Währung im Verhältnis zum Gold, mit
der deflatorische Tendenzen verbunden sein können. Nicht immer ist diese
Politik zur Zeit des Goldstandards erfolgreich gewesen.
Inländische Inflationsherde können über die Beschleunigung der
Umlaufsgeschwindigkeit des inländischen Papiergeldes eingeleitet werden.
Oft stellte Zentralbank der Regierung umfangreiche Kredite aus neu
geschaffener inländischer Währung zu fiskalpolitischen Zwecken zur
Verfügung, z.B. für Rüstungsprogramme. Einer stark expandierenden
Fiskalpolitik wird eine besonders starke inflationäre Wirkung zu geschrieben,
insbesondere wenn die Produktionskapazitäten ausgelastet sind und das
88
Haushaltsdefizit bereits hoch ist. Für Währungsspekulanten schlägt jetzt die
Stunde. Sie erwarten weitere Abwertungen, nehmen Kredite in inländischer
Papierwährung auf, tauschen sie zum Kurs der noch bestehenden Goldparität
in Gold um, warten eine Zeitlang, bis die inländische Währung gegenüber
dem Gold weiter abgewertet ist. Dann tauschen sie Gold zu einer weil
abgewerteten erhöhten Summe in inländischer Währung zurück, sind reicher
geworden usw. Sie verstärken auf diese Weise den Abwertungsdruck, der
schließlich zu einer Neufestsetzung der Goldparität führt.
Das Beispiel ist nicht nur von historischem Interesse. Es ist auf heutige
ähnliche Situationen übertragbar. An die Stelle des Goldes kann eine andere
Währung treten, der US-Dollar, der Euro etc. In den achtziger Jahren wurde
Großbritannien im Rahmen des damaligen Fixkurssystems (Europäisches
Währungssystem) das britische Pfund abgewertet. Ein Spekulant (Mister
Soros) hatte eine feine Nase und vermutete, dass die Abwertung des
britischen Pfundes bevorstehen könne (vielleicht hatte er auch ein
„Insiderwissen“, d.h. er wusste von den Absichten der britischen
Regierung?). Er nahm in England hohe Kredite in Pfund auf, tauschte sie in
DM. Die Abwertung des Pfundes fand tatsächlich statt. Der Spekulant
tauschte DM in Pfund zurück und war erheblich reicher als vorher. Das zeigt
einmal mehr, wie wichtig Informationen sind und wie nützlich der Zugang zu
Information sein kann.
Viele Währungsspekulanten sind nicht Ausländer sondern Inländer, die gegen
ihre eigene Währung spekulieren. Zur Zeit steht der chinesische Yuan unter
Aufwertungsdruck. Chinesische Spekulanten, sogar chinesische
Staatsbetriebe, tauschen ihre Dollarpositionen gegen einheimische Währung,
um Währungsverluste zu vermeiden. Damit tragen sie dazu bei, dass der
Yuan aufgewertet wird. Genau das aber wollen sie nicht, denn dann werden
die chinesischen Exporte entsprechend teurer und die exportierten Mengen
könnten sinken. Das was ihnen einzelwirtschaftlich Vorteile beschert, kann
sich gesamtwirtschaftlich durchaus auch gegen sie wenden.
Nach den währungspolitischen Wirren gegen Ende und nach dem 2.
Weltkrieg wurde auf einer Konferenz in den USA in Bretton Woods
(Neuengland, USA), ein Fixkursregime ausgearbeitet, das eine der
wesentlichen Grundlagen des „goldenen Zeitalters“ der Nachkriegsepoche
darstellt. Die Erfahrungen mit dem Goldstandard wurden in die Konstruktion
des Bretton-Woods-Systems aufgenommen. An die Stelle des Goldes sollte
nach Keynes’ Vorschlag eine synthetische Währung das Bancor treten. Nach
längeren Debatten wurde jedoch der US $ als Leitwährung ausgewählt. Damit
hatte die amerikanische Zentralbank das Monopol der Schaffung
89
internationaler Zahlungsmittel, d.h. von Weltgeld. Die wirtschaftliche
Vormachtstellung der USA wurde dadurch verstärkt. Eine der Schwächen der
Goldwährung war ihre Abhängigkeit von Goldfunden. Es war nicht
durchgängig möglich, die Menge an Weltgeld (Gold) parallel zum möglichen
Wachstum der Transaktionen zu vermehren.
Nachdem der Dollar die Rolle des Weltgeldes übernommen hatte, brauchten
die USA nur ein entsprechend hohes Leistungsbilanzdefizit herbeizuführen,
um die erforderliche Menge an Weltgeld d.h. internationalen Zahlungsmitteln
zu schaffen. Die USA hatten weiterhin die Möglichkeit, ihre Auslandsschuld
mit US-Dollar also Geld zurückzuzahlen, das sie selber schaffen konnten.
Verglichen mit Ländern, die ihre Auslandsschuld mit Fremdwährung
begleichen müssen, ist das ein sehr erheblicher Vorteil. Die USA haben unter
diesen Vorraussetzungen eine riesige Auslandsschuld in US-Dollar
aufgebaut. Nun aber scheint sich das Blatt auch für die USA zum
schlechteren zu wenden. Die asiatischen Zentralbanken und möglicherweise
auch die der Staaten der Golfregion ersetzen vorsichtig Dollar durch Euro
und andere Währungen in ihren Portfolios. Das führt zu einer Erosion des
Dollars als Weltwährung. Es könnte dann der Fall eintreten, dass die USA
sich wie die meisten Länder nur noch in Fremdwährung – Yen, Yuan oder
vor allem Euro – verschulden können. Die Gestaltungsspielräume für
Wirtschaftspolitik würden verkleinert. Die Rolle der USA als imperiale
Wirtschaftsmacht würde dadurch erheblich beeinträchtigt.
In den sechziger Jahren wurde das Fixkurssystem von Bretton Woods
institutionell aufgeweicht und von Finanzströmen umgangen. Illegale
Kapitaltransfers fanden statt. Das erfolgreiche Wechselkursregime wurde
schließlich nicht repariert sondern aufgegeben zugunsten eines Systems der
flexiblen Wechselkurse. Die Handlungsspielräume der Zentralbanken bei der
Bekämpfung der Inflation der frühen siebziger Jahre wurden vergrößert. Die
Zentralbanken wurden autonom. Der Nachteil des Systems flexibler
Wechselkurse liegt in den sehr großen Schwankungen der nominalen
Wechselkurse. Sie können selbst bei den Währungen großer entwickelter
kapitalistischer Markwirtschaften zuweilen bis zu hundert Prozent betragen.
Bei steigenden Dollarkursen erhöhen sich die Schulden der
Entwicklungsländer entsprechend und sie müssen für den Schuldendienst
erheblich mehr Exporterlöse erzielen. Bei sinkenden Dollarkursen kehrt sich
dieser Prozess wieder um.
Wenn heute die Inflation kein Problem mehr wäre, dann stünde auch der
Einführung eines Fixkurssystems zwischen Dollar, Yen und Euro nichts mehr
im Wege (Rober Mundel, Nobelpreis 1999) – nichts außer den imperialen
90
Interessen der USA. In Asien gibt es bereits eine Variante eines
Fixkurssystem, die nach der Asienkrise 1997 schrittweise aufgebaut wurde
(Roubini 2005). Eine solche Entwicklung deutet auf eine mögliche
Alternative zu dem gegenwärtigen Weltwährungssystem. Zu regeln wäre
dann noch die Neuregulierung der internationalisierten Devisen- und
Kapitalmärkte. Mächtige Finanzinteressen leisten heftigen Widerstand gegen
eine solche Reform. Von der Sache her, wenn auch nicht unbedingt von den
Machtverhältnissen her gesehen wäre die gegenwärtige weltwirtschaftliche
Situation günstig für eine Reform des Weltwährungssystems. Mächtige
Finanzinstitutionen haben jedoch an der Existenz von stark schwankenden
Wechselkursen ein vitales Interesse. Sie verdienen sich daran goldene Nasen.
Das täglich gehandelte Devisenvolumen soll zeitweise erheblich mehr als
eine Milliarde Euro (mehr als tausend Mio.) betragen. Nur ein Teil davon
sind Kurssicherungsgeschäfte (hedging) (Siehe Kasten B11:
Kurssicherungsgeschäfte (hedging)).
Der weitaus größere Teil der Devisentransaktionen könnte durch eine
Devisenumsatzsteuer weggefegt werden. James Tobin (Nobelpreis 1981) hat
die Einführung einer solchen Steuer auf Devisentransaktionen vorgeschlagen,
die nach ihm benannte Tobin Tax. Eine solche Steuer zielt auf ein
wirtschaftspolitisches und nicht auf ein fiskalisches Ziel. Das Volumen der
Devisentransaktionen soll drastisch verringert werden. Gelingt das, dann
sinken natürlich auch die Einnahmen aus dieser Steuer. Die Bewegung Attac
hat die Einführung dieser Steuer zu einem ihrer Ziele gemacht.
Kasten B11: Kurssicherungsgeschäfte (hedging)
Starke Wechselkursschwankungen verursachen hohe Ertragsrisiken. Ein gutes Beispiel liefert die
Kursentwicklung des Euro. Im Juni 2001 wurde für 1 € noch 0,85 $ bezahlt. Anfang 2005 waren
es 1,29 $. Das ist eine Aufwertung des Euro um rd. 52%. Ein Unternehmen kann eine solche
Schwankungen seiner Exporterlöse nicht verkraften. Das Währungsrisiko muss abgesichert
werden. Hedging, das ist die Absicherung gegenüber Kursrisiken, wird unausweichlich. Auch hier
gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Wir wollen uns auf das Grundgeschäft beschränken. Um
das Kursrisiko auszuschalten, muss auf Terminmärkten für zukünftige Dollarverkäufe ein
Gegengeschäft abgeschlossen werden. Bei einem solchen Termingeschäft wird zum heute
geltenden Kurs für einen zukünftigen Termin ein Dollarbetrag in Euro getauscht. Damit sind die
Exporterlöse gegen Wechselkursverluste abgesichert, wenn der Dollar fällt. Gleichzeitig aber wird
auf Wechselkursgewinne verzichtet, wenn der Dollar steigt. Damit kann z.B. ein
Produktionsbetrieb sicher gehen, dass er seine Umsatzerlöse zu stabilen inländischen Preisen
erwirtschaftet, vermindert um die Kurssicherungskosten. Aber wie bereits gesagt, ist dies nur das
Grundgeschäft des hedging. Die Wirklichkeit ist komplexer. Doch auch bei den wirklichen
Kurssicherungsgeschäften kommt es auf Geschick und wie immer bei Unsicherheit auch auf ein
Quäntchen Glück an. – Es wird berichtet, dass VW seine Exporterlöse aus dem Dollarraum nicht
ausreichend abgesichert hat und dass deshalb hohe Verluste drohen. Porsche dagegen soll den
91
überwiegenden Teil seines Gewinns nicht aus der Produktion bzw. dem Verkauf von
Edelkarossen sondern aus Gewinnen bei der Kurssicherung erzielt haben.
Das Wechselkursregime und die Regulierung der Finanzmärkte haben einen
großen Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume. Es gilt
die Faustregel: im Fixkurssystem ist Fiskalpolitik wirksamer und im
Flexkurssystem ist Geldpolitik wirksamer. Im Fixkurssystem gibt es darüber
hinaus Unvereinbarkeiten für Wirtschaftspolitiken, wenn die Finanzmärkte
liberalisiert sind. Sie werden in der folgenden Abbildung Bg eines „Dreiecks
der Unvereinbarkeiten“ dargestellt werden.
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Abbildung Bg: Dreieck der Unvereinbarkeiten im Fixkurssystem
Liberalisierte Finanzmärkte
Fixkursregime
Autonomie der Geldpolitik
Nur je zwei Ecken des Dreiecks verweisen auf vereinbare Politiken. Drei Ecken können nicht
gleichzeitig verwirklicht werden. Die neuen Beitrittsländer zur EU können ein Lied davon singen.
Sie müssen einen Fixkurs zum Euro durchsetzen. Ihre Finanzmärkte sind weitestgehend
liberalisiert. Ihre Wirtschaftspolitik, d.h. insbesondere ihre Geldpolitik ist weitgehend lahmgelegt.
Die Fiskalpolitik, die in einem Fixkurssystem im Prinzip funktioniert, ist durch das
Defizitkriterium von 3% nahezu außer Kraft gesetzt. Das bedeutet für die meisten Beitrittsländer,
dass sie gegen Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche wenig bis nichts unternehmen können.
An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, dass die Liberalisierung und die
Internationalisierung der Finanzmärkte vielleicht der Entwicklungslogik
kapitalistischer Marktwirtschaften entspricht, aber die wirtschaftspolitischen
Handlungsspielräume erheblich verengt.
Ähnliche wirtschaftspolitische Engpässe können bei äußeren Schocks
entstehen (Siehe Kasten B12: Wirtschaftspolitische Reaktionsmöglichkeiten
auf einen äußeren Schock in einem Fixkurssystem). Zu unterscheiden ist
zwischen einem vorrübergehenden und einem definitiven Schock. Ein
vorübergehender Schock wäre z.B. eine zeitlich begrenzte Erhöhung von
92
Rohstoffpreisen. Ein definitiver Schock wäre ein Nachfrageausfall bedingt
durch technischen Wandel, z.B. die Verdrängung von Segelschiffen durch
Dampfschiffe. Die meisten Segelmacher würden aus dem Markt verdrängt.
Dagegen gibt es keine wirtschaftspolitischen Gegenstrategien. Nur die Folgen
könnten wirtschaftspolitisch abgefedert werden.
______________________________________________________________
Kasten B12: Wirtschaftspolitische Reaktionsmöglichkeiten auf einen äußeren Schock in
einem Fixkurssystem
Ein Beitrittsland wird von einem vorrübergehenden äußeren Schock getroffen, z.B. eine schwere
Unwetterkatastrophe oder ein starke Erhöhung des Ölpreises. Die Regierung des betroffenen
Landes will den Fixkurszusammenhang mit der Eurozone nicht aufgeben, der eine der
Beitrittsvoraussetzungen ist. Die Zentralbank senkt die Zinsen, um der Wirtschaft wieder auf die
Sprünge zu helfen. Finanzintermediäre, d.h. vor allem Banken, Fonds usw., nehmen in dem
betroffenen Land Kredite auf und transferieren sie in die Eurozone, um sie zu den dortigen Zinsen
oder vielleicht ein wenig billiger an Kreditnehmer weiterzuleiten. Die Finanzmärkte sind frei und
die Zentralbank des Beitrittslandes kann diesen Kapitalexport nicht verhindern. Die
Finanzintermediäre transferieren so lange bis im Beitrittsland die Zinsen wieder steigen. Ein
größeres Fiskalprogramm ist wegen der 3%-Defizitquote nicht durchführbar. Da keine
nennenswerte wirtschaftspolitische Gegensteuerung möglich ist, wird das Wirtschaftswachstum
einbrechen und die Arbeitslosigkeit wird sich erhöhen. Eine angemessene wirtschaftspolitische
Strategie bei einem vorübergehenden äußeren Schock wäre eine Abwertung der einheimischen
Währung, eine Zinssenkung und ein massives Ausgabenprogramm des Staates gewesen. Dieses
Programmpaket ist nicht realisierbar. Hinter dem Dreieck der Unvereinbarkeiten steht die
marktradikale Hypothese einer einwandfrei funktionierenden Marktwirtschaft. Deshalb gibt es
nicht einmal eine Vorsorge gegen äußere Schocks! Es bleibt einem solchen Land dann nur der
Weg nach Brüssel, um Sonderbeihilfen zu erhalten. Die Möglichkeiten dürften eng begrenzt sein.
____________________________________________________________
Wechselkursregime und Wechselkursrelationen sind für die
Entwicklungsmöglichkeiten besonders von kleinen Ländern von großer
Bedeutung. Ungünstige Wechselkursrelationen zwischen ehemaligen
Mutterländern und ihren ehemaligen Kolonien haben die
Entwicklungsmöglichkeiten vieler Staaten in der dritten Welt erheblich
beeinträchtigt. Das gilt auch für die Beziehungen zwischen den USA und
lateinamerikanischen Staaten. Es ist für große, wirtschaftlich entwickelte
Marktwirtschaften vergleichsweise leicht, die Wechselkursregime mit
kleineren abhängigen Staaten zu ihrem eigenen Vorteil zu gestalten und zu
nutzen.
Die oben skizzierte wirtschaftspolitische Konstellation gleicht den
wirtschaftspolitischen Problemlagen, die während der erfolgreichen Periode
des Goldstandards (1880-1914) oft zu beobachten waren. Das Fixkurssytem
von Bretton Woods dagegen hatte die Lehren aus den Problemen des
Goldstandards gezogen. Es gab keine liberalisierten und internationalisierten
93
Finanzmärkte, statt dessen aber strenge Devisen- und
Kapitalverkehrskontrollen. Sie wurden allmählich in kleinen Schritten
abgebaut, bis dieses Wechselkursregime aufgegeben werden musste. Keynes,
der den Niedergang des Systems von Bretton Woods nicht mehr erlebt hat,
hatte vehement die Ansicht vertreten, dass die Finanzmärkte nationalstaatlich
und nicht international reguliert werden sollten. Hatte er wieder einmal und
diesmal sogar posthum recht?
In einem Wechselkursregime flexibler Wechselkurse werden die Kurse am
Markt hergestellt. Weniger beachtet wird meist, dass die Zentralbanken die
Möglichkeit haben, die Geldmenge zu erhöhen. Die Zentralbank hat in
diesem Bereich das Monopol. Sie kann über die Vermehrung der Geldmenge
und auf anderen Wegen, z.B. durch Ankauf und Verkauf von
Fremdwährungen in die Kursentwicklung eingreifen. Gegenwärtig wird
diskutiert, ob die Europäische Zentralbankbank zusammen mit der
japanischen Zentralbank durch vermehrte Käufe von Dollar den sinkenden
Kurs der amerikanischen Währung bremsen sollten. Nur in Ausnahmefällen
wird der Kurs einer Währung ausschließlich auf den Devisenmärkten
bestimmt. Nur allzu oft wird direkt und indirekt interveniert, auch wenn das
marktradikalen Ökonomen nicht gefällt. In diesen Fällen spricht man von
„schmutzigem Floaten“.
Auf- und Abwertungen von Währungen finden immer wieder statt. In einem
Fixkurssystem werden sie unter allen Teilnehmern vereinbart. Bei einem
System mit fluktuierenden Wechselkursen werden sie mehr oder weniger von
den Märkten bestimmt. Für Ökonomen hoch interessant ist der gegenwärtig
laufende Versuch der USA, den Dollar in einer sanften Landung d.h. in
kleinen Schritten abzuwerten. Dabei versprechen sich die USA die in
Abbildung Bh aufgezeichnete Verlaufsform.
___________________________________________________________
Abbildung Bh: J-Kurve und Dollarabwertung
Wird die einheimische Währung, in diesem Fall der Dollar, abgewertet, dann nimmt die
Entwicklung der Handelsbilanz den Verlauf einer Kurve, die die Form eines „J“ hat.
Mrd $
Handelsbilanzüberschuss
Handelsbilanz
t1
t2
Zeit
94
Handelsbilanzdefizit
Bei einer Abwertung zum Zeitpunkt t1 vergrößert sich das Handelsbilanzdefizit noch eine
Zeitlang. Die Importpreise erhöhen sich. Die Mengen aber verringern sich erst später, bis die
Importaufträge von vor der Abwertung zum alten höheren Kurs abgearbeitet sind. Ähnliches gilt
für die Exporte. Die Mengen bleiben zunächst gleich, wenn die Exportpreise fallen, weil die
Exportbestellungen zu den alten Bedingungen noch zu erfüllen sind. Deshalb erhöhen sich die
Exportmengen ebenfalls erst später. Unter diesen Bedingungen erhöht sich das
Handelsbilanzdefizit bevor es abnimmt, um sich nach dem Überqueren der Zeitachse zum
Zeitpunkt t2 in einen Handelsbilanzüberschuss zu verwandeln.
Doch muss der angestrebte Erfolg einer Abwertung – die Verwandlung des Handelsbilanzdefizits
in einen Handelsbilanzüberschuss oder zumindest eine substantielle Verringerung des
Handelsbilanzdefizits – nicht in allen Fällen gelingen. Die mengenmäßige inländische Nachfrage
nach Importgütern und die mengenmäßige ausländische Nachfrage nach Exportgütern des
abwertenden Landes muss entsprechend stark reagieren. Das ist für die USA sicher der Fall. Man
kann sich jedoch auch Länder vorstellen, bei denen eine Abwertung nicht funktioniert, z.B. bei
Mittelmeerländern, die Industrieerzeugnisse importieren und landwirtschaftliche Erzeugnisse
exportieren. Die durch die Abwertung verteuerten Importe müssen in den gleichen Mengen
importiert werden, um die inländische Produktion aufrecht zu erhalten. Für die verbilligten
landwirtschaftlichen Erzeugnisse gibt es einfach keine zusätzliche ausländische Nachfrage. Unter
solchen Bedingungen, die nicht unrealistisch sind, gelingt es nicht, das Handelsbilanzdefizit
wieder in den positiven Bereich zu bringen – siehe gepunktete Linie.
____________________________________________________________
Wie bereits im Text der Abbildung Bh dargestellt treten in der Folge von
Abwertungen Wirkungsverzögerungen auf. Zunächst kommt es sogar zu
einer den Absichten der Abwertung entgegengesetzten Erhöhung des
Handelsbilanzdefizits. Dann erst dreht sich die Kurve in die gewünschte
Richtung. Diese Wirkungsverzögerung kann man mit den fünf folgenden
Argumenten begründen: (1) die Wirtschaftssubjekte müssen die Bedeutung
der preislichen Veränderungen, die durch die Abwertung entstanden sind,
einschätzen; (2) Entscheidungsfindung angesichts der neuen Lage; (3)
Erkundung der Lieferfristen und Transportbedingungen, (4) Ergänzung von
Lagerbeständen und Beschaffung von zusätzlichen Maschinen; (5) Erhöhung
der Produktion, für die sich die Nachfrage infolge der Abwertung erhöht hat.
– Auch die gegenwärtige Abwertung des Dollar greift nicht sofort sondern
erst nach einigen Monaten. Diese Wirkungsverzögerung wird sich auch für
Europa erst mit einer gewissen Verspätung bemerkbar machen.
In der kurzfristigen Perspektive, in der sich die Überlegungen bisher
bewegten, steht der nominale Wechselkurs im Vordergrund. In der
längerfristigen Betrachtung pendeln sich Exporte und Importe nach dem
realen Wechselkurs ein. Der reale Wechselkurs ist der preisbereinigte
nominale Wechselkurs. Die Preisbereinigung wirft Probleme auf, die nur
unvollkommen gelöst werden können. Es wird ein Index berechnet, der das
95
Verhältnis zwischen den realen Preisen des exportierenden Landes und der
importierenden Ländern abbildet. Das ist grob gesprochen der multilaterale
reale Wechselkurs.
Nominale Wechselkurse sind für die Finanzmärkte wichtig. Für Exporte und
Importe sind in der mittelfristigen Perspektive die realen Wechselkurse
ausschlaggebend. Will man dagegen Prokopfeinkommen langfristig oder
international vergleichen, dann führen sicher nicht die nominalen aber auch
nicht die realen Wechselkurse zu verlässlichen Ergebnissen. Die Preise für
Konsumgüter, vor allem für Nahrungsmittel, sind in den meisten Ländern
sehr unterschiedlich. Das gilt besonders für einen Vergleich zwischen
entwickelten und unterentwickelten Ländern.
____________________________________________________________
Kasten B13: Kaufkraftparitäten und der Big-Mac-Standard
Bei Ländervergleichen des Prokopfeinkommens werden sogenannte Kaufkraftparitäten benutzt,
die jedoch nur schwer und aufwendig berechnet werden können. Sie bestehen aus vergleichbaren
Warenbündeln, deren Preise von Land zu Land sehr unterschiedlich sein können. Dazu gehören
Nahrungsmittel, die in armen Ländern meist viel niedriger sind. Wie könnte sonst ein Mensch in
einem armen Land von weniger als zwei Dollar pro Kopf (internationale Armutsgrenze)
überleben? Mit der Hilfskonstruktion der Kaufkraftparitäten glaubt man besser vergleichen zu
können.
Statt einer ausführlichen Erläuterung soll zum besseren Verständnis ein auf den ersten Blick etwas
kurioses Beispiel herangezogen werden. Ein Warenbündel kann durch einen „Big-Mac“ ersetzt
werden, dessen Umfang und Qualität international standardisiert ist. Die Kaufkraftparität
zwischen deutscher und chinesischer Währung drückt sich dann im Verhältnis der jeweiligen BigMac-Preise aus. Die Abweichungen von den nominalen Wechselkursen sind beträchtlich. Die
britische Wirtschaftszeitung „The Economist“ berechnet diese Big-Mac-Kaufkraftparität in
regelmäßigen Abständen für eine große Zahl von Ländern. Sie wird zur Berechnung der Gehälter
von im Ausland tätigen Mitarbeitern von Unternehmen herangezogen.
____________________________________________________________
Aus der Saldenmechanik, d.h. den Definitionsgleichungen der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wurde der Absorptionsansatz
entwickelt, der ebenfalls Einsichten in die Abwertungsproblematik des Dollar
ermöglicht. Im Kasten B14 werden die Grundlagen dieses Ansatzes im
Hinblick auf die Dollarabwertung kurz dargestellt.
___________________________________________________________
Kasten B14: Der Absorbtionsansatz
Der Absorbtionsansatz zeigt die Folgen einer Abwertung auf die Verwendung BIP. Der
Absorptionsansatz geht dabei von der Definitionsgleichung aus, dass die inländische Produktion
(Y) gleich ist dem Konsum der privaten Haushalte (C), plus den privaten Investitionen (I), plus
den Staatshaushaltssaldo (G), plus den Exporten vermindert um die Importe (X – M).
(1)
Y = C + I + G + (X – M)
96
Es werden folgende einfache Umformungen vorgenommen. C + I + G = A und (X – M) = B. A ist
die Absorbtion. Dann wird aus Gleichung (1) Y = A + B. Bei den folgenden Betrachtungen gehen
wir von der Umformung aus:
(2)
B = Y – A.
Gleichung (2) besagt, dass die Handelsbilanz gleich ist der inländischen Produktion vermindert
um die Absorbtion. Wenn die inländische Produktion (Y) größer ist als die Absorbtion (A), dann
ist die Handelsbilanz B positiv. Ist die inländische Produktion (Y) kleiner als die Absorbtion (A),
dann ist die Handelsbilanz negativ.
Daraus folgt: wenn eine Abwertung erfolgreich sein und das Handelsbilanzdefizit – B verringern
soll, dann muss sie dazu führen, dass die inländische Produktion (Y) im Verhältnis zur Absorbtion
(A) zunehmen muss. Das betroffene Land muss deshalb versuchen, die inländische Produktion
(Y) zu erhöhen und die Absorbtion (A) zu senken.
Für die USA gilt, dass die Absorbtion (A) seit längerer Zeit größer ist als die inländische
Produktion (Y). Die Handelsbilanz (B) ist deshalb negativ. Die Absorbtion (A) der USA müsste
gesenkt werden. Sie wurde statt dessen weiter erhöht. Das Handelsbilanzdefizit (–B) hat sich
entsprechend vergrößert.
Wie sind die USA bisher aus dem Klemme herausgekommen? Sie haben Kapital in Höhe des
Handelsbilanzdefizits (genauer aber komplizierter des Leistungsbilanzdefizits) importiert.
______________________________________________________________
Für die USA gilt (wie in Kasten B14 gezeigt werden konnte), dass die
inländische Produktion (Y) ist kleiner als die Summe aus privatem Konsum
(C), privater Investition (I), Staatshaushaltssaldo (G) und Handelsbilanzsaldo
(X – M). Die USA müssen Kapital importieren, um die Differenz
auszugleichen.
Auf der rechten Seite der Gleichung A = C + I +G haben sich in den letzten
zehn Jahren in den USA einige wichtige Veränderungen ergeben. Zunächst
einmal ist festzuhalten, dass in der längerfristigen Perspektive die privaten
Investitionen nahezu ausschließlich aus den inländischen Ersparnissen
finanziert werden sollten. Die Quellen der inländischen Ersparnisse sind
einmal die Unternehmen selbst, dann aber vor allem die privaten Haushalte
mit ihren Ersparnissen und die Regierung auf dem Weg eines
Haushaltsüberschusses. In den USA aber ist die Ersparnis der privaten
Haushalte im internationalen Vergleich extrem niedrig und fällt als
Finanzierungsquelle praktisch aus. Private Investitionen und
Staatshaushaltsdefizite müssen dann aus anderen Quellen finanziert werden.
Da die inländische Produktion (Y) kleiner ist als die Absorbtion (A), muss
Kapital in Höhe des Handelsbilanzdefizits importiert werden.
97
Ab dem letzten Drittel der neunziger Jahre spiegelte das Handelsbilanzdefizit
in den USA eine Kombination der Absorbtion mit einem hohem privaten
Verbrauch (C) (mit sehr niedriger Ersparnis) und hohen privaten
Investitionen (I) mit einem Budgetüberschuss (G). Die Kapitalimporte
dienten vor allem der Finanzierung der privaten Investitionen. Es handelte
sich deshalb auch in großem Umfang um längerfristige ausländische
Direktinvestitionen in der amerikanischen Wirtschaft. Das lässt sich vertreten,
denn in diesem Fall wurden in den USA Grundlagen für Wachstum
geschaffen, die die Exportfähigkeit der USA erhöhen und zu einer
Verringerung des Handelsbilanzdefizits beitragen können.
Diese Perspektive besteht heute nicht mehr. Seit dem Beginn der
Präsidentschaft von Bush II. hat sich die wirtschaftspolitische Ausgangslage
der Absorbtion (A) grundlegend verändert. Die Investition (I) ist abgeflaut.
Das Haushaltsdefizit (G) ist schnell und stark gestiegen. Der private Konsum
(C) steigt weiterhin ungebrochen bei sehr niedriger Ersparnis der privaten
Haushalte. Die Kapitalimporte dienen jetzt zunehmend der Finanzierung des
Haushaltsdefizits. Ein großer Teil des Haushaltsdefizits ist durch die Kosten
des Irakkrieges entstanden. Die Länder, die Kapital in die USA importieren,
beteiligen sich damit auch an der Finanzierung des Irakkrieges. Ein weiterer
wichtiger Unterschied ist eingetreten. Das Defizit wird jetzt weniger durch
ausländische Direktinvestitionen langfristig sondern stärker kurzfristig mit
Anlagen ausländischen Geldvermögensbesitzer finanziert. Diese Art von
Anlagen können in der Regel kurzfristig oder sofort abgestoßen werden. Sie
werden vor allem von Zentralbanken in ihr Portfolio aufgenommen. Mit
anderen Worten der Irakkrieg wird mit kurzfristigen Kapitalimporten in die
USA finanziert. Und wer kauft die Titel? Zu rund zwei Dritteln werden sie
von asiatischen Zentralbanken gekauft, vor allem von der chinesischen und
der japanischen Zentralbank. Die chinesische Zentralbank trägt zur
kurzfristigen Finanzierung des Irakkrieges in erheblichem Umfang bei. Mao
dreht sich im Grab herum.
Das hatten sich die amerikanischen Strategen vor Ausbruch des Krieges
anders vorgestellt. Der Irakkrieg sollte ursprünglich aus den Erlösen der
irakischen Ölexporte finanziert werden. Davon spricht heute niemand mehr.
Aus der veränderten wirtschaftlichen und strategischen Lage im Irak ist die
für das Weltwährungssystem gefährliche Schieflage entstanden. Sie muss
bereinigt werden. Die Abwertung des Dollar allein wird nicht ausreichen. Die
USA „müssen in ihrem Haus Ordnung schaffen“, das müssen sich die USA
von vielen Seiten, sogar von den Chinesen sagen lassen. Es muss weniger
konsumiert und mehr gespart werden. Das Haushaltsdefizit muss verringert
werden. Mit anderen Worten: es muss an mehreren Stellschrauben gedreht
98
werden. Eine solche Politik kann schwerlich ohne Rezession in den USA und
als Folge wohl auch nicht ohne Rezession in der Weltwirtschaft über die
Bühne gehen.
Aus den jährlichen Haushaltsdefiziten baut sich die Staatschuld auf. Da die
Haushaltsdefizite in den USA aus Kapitalimporten finanziert werden, erhöht
sich die Auslandsschuld entsprechend. Die USA fahren eine solche
Verschuldungspolitik spätestens seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan,
d.h. seit rd. 25 Jahren. Die riesige Auslandschuld der USA ist weit höher als
ihr Auslandsvermögen. Die Kapitaleinkünfte aus amerikanischen
Auslandsinvestitionen aber sind noch immer höher als die Zahlungen, die von
den USA an die ausländischen Anleger für Investitionen in den USA geleistet
werden müssen. Die amerikanischen Auslandsinvestitionen sind eben
rentabler als die Anlagen ausländischer Investoren in den USA. Das ist nicht
unbedingt ein Anreiz für ausländische Anleger, in den USA zu investieren,
vor allem dann nicht wenn ihre Finanzanlagen oder Investitionen in den USA
durch die Abwertung des Dollar gleich mit abgewertet werden. Es kommt
dann – nicht nur seitens der Zentralbanken – zu Umschichtungen der
Portfolios, die mit einem langsamen Ausstieg aus dem Dollar verbunden sind.
Dieser Prozess hat bereits begonnen. Die ökonomischen Grundlagen des
amerikanischen Imperiums geraten ins Schwanken.
14) Zentren und Peripherien der wirtschaftlichen Entwicklung
Der Industriekapitalismus ist in England im Zuge der industriellen Revolution
entstanden und hat sich im historischen Vergleich mit beispielloser
Geschwindigkeit über den gesamten Erdball wenn auch ungleichzeitig
ausgebreitet. Diese Ausbreitung kann auch mit dem Begriff der
„schöpferischen Zerstörung“, der von Schumpeter in die
Wirtschaftswissenschaft eingebracht wurde, beschrieben werden. Auf
historisch vielfältige Weise, oft in kolonialen Zusammenhängen, sind
traditionelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge von
modernen Märkten durchdrungen und aufgelöst worden. Die „Zerstörung“
fand statt. In vielen Ländern aber blieb der „schöpferische“ Neuaufbau einer
prosperierenden Wirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft aus oder er
wurde nur in Ansätzen verwirklicht.
Der Zerfall der traditionalen Gesellschaften bedeutete für viele Länder in
einer ersten Phase eine seiner Zeit sogenannte Bevölkerungsexplosion, die zu
den massiven Verelendungsprozessen, die wir in vielen weniger entwickelten
Ländern beobachten können, erheblich beigetragen hat. In einigen arabischen
99
Ländern und im Iran beträgt der Anteil der unter 21-jährigen an der
Gesamtbevölkerung auch heute noch rd. 50%. Die Weltbank berichtet über
ihren Website, dass in Nordafrika und im vorderen Orient rund 100 Mio.
Arbeitsplätze bis 2020 geschaffen werden müssen! Diese „Zielgruppe“ muss
nicht erst geboren werden. Sie ist bereits auf der Welt. Das scheint vom
heutigen Standpunkt aus gesehen völlig ausgeschlossen zu sein. – Auf den
sozialen Ruinen der traditionellen Gesellschaften kann eine funktionsfähige
Marktwirtschaft entstehen, die zunehmend eine kapitalistische Dynamik
entfaltet. Beispiele dafür sind wiederum asiatische Länder wie China, Korea,
Singapur. Eine dynamische Marktwirtschaft entwickelt sich jedoch nicht
zwangsläufig aus den gesellschaftlichen Ruinen. Die Beispiele dafür sind in
Afrika zahlreich.
In den traditionsgebundenen Gesellschaften gab es bereits Märkte. Nur waren
diese Märkte meist streng reguliert, auf wenige Güter beschränkt und der
Handel war meist regional begrenzt. Über den Fernhandel sind bereits im
Altertum Handelsbeziehungen entstanden, so z.B. zwischen Indien, China
und Rom. Diese manchmal sehr alten Märkte, die oft im Naturaltausch
organisiert waren, besaßen deshalb in den Ländern der Peripherie auch nicht
die Dynamik der Märkte für Industrieerzeugnisse in den Zentren der
kapitalistischen Marktwirtschaft. – Die Zerstörung der indischen
Textilindustrie ist ein eindringliches Bespiel. Sie hatte ihren Ausgangspunkt
im Dreieckshandel zwischen nordeuropäischen Ländern, Afrika und
Amerika. Minderwertige Industrieerzeugnisse, darunter auch Waffen, wurden
von England nach Afrika exportiert und gegen Sklaven getauscht. Die
Sklaven wurden nach Amerika verschifft und zur Produktion von Baumwolle
und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf Plantagen eingesetzt. Die
Baumwolle wurde nach England verkauft, dort mit Hilfe von Maschinen zu
Kattun verarbeitet und die extrem billigen Baumwollstoffe gingen u.a. nach
Indien und andere europäische und außereuropäische Länder. „Freihandel“
im damaligen Verständnis sorgte dafür, dass Indien keine Schutzzölle
erheben konnte. Die höherwertigen indischen Erzeugnisse wurden von dem
billigen britischen Kattun aus den Märkten verdrängt.
Weniger entwickelte Länder in peripherer Lage streben Aufholprozesse an.
Die aber misslingen oft. Das gilt vor allem für lateinamerikanische Länder
oder ehemalige europäische Kolonien in Afrika. In Asien dagegen gibt es
eine Reihe von Ländern, die erfolgreich Aufholprozesse durchlaufen. In der
Asienkrise sind einige unter ihnen ab 1997 für einige Zeit aus dem Tritt
gekommen.
100
Unter den Ländern, die fürs erste den Anschluss an die wirtschaftliche
Entwicklung verpasst haben, befinden sich viele, die in tropischen Regionen
liegen. Die Gründe dafür scheinen vielfältig zu sein. Die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Ausgangssituationen sind sehr unterschiedlich. Die
Einflussnahmen westlicher Ökonomen, besonders wenn sie aus
internationalen Organisationen stammen, waren nicht allzu oft von Erfolg
gekrönt. Sie glaubten sich im Besitz der richtigen Theorien, die sie auf alle
denkbaren Probleme der tropischen Länder anwenden wollten (Easterly
2001). Ein wenig wie Ärzte, die für alle Krankheiten, die sie nicht
diagnostizieren können, das gleiche Rezept ausschreiben: Penicillin.
Übertragen auf die Wirtschaftswissenschaft kann man dann ironisch sagen,
dass das heutige Patentrezept oder Allheilmittel heißt: mehr Markt, weniger
Staat und Arbeitsmärkte flexibilisieren!
15) Macht und ökonomisches Gesetz – ökonomisches Gesetz als Macht
Macht, die Ausübung von Macht ist eines der weniger beliebten Themen der
Wirtschaftswissenschaft. Wirtschaftliche Macht sei hier grob definiert als die
Fähigkeit eines oder mehrerer ökonomischer Agenten, andere
Wirtschaftssubjekte zu Handlungen bewegen, die sie sonst in einem anderen
zeitlichen oder räumlichen Zusammenhang vorgenommen oder ganz
unterlassen hätten. Meist aber wird Macht ausgeübt, um andere zu einer
Unterlassung zu zwingen. Die klassische politische Ökonomie wie auch die
moderne Wirtschaftswissenschaft unterstellen in ihren Theorien und
Modellen noch immer oder überwiegend vollständige Konkurrenz. Die
allgemeine Gleichgewichtstheorie kann auf diese Annahme nicht verzichten.
Das Problem der wirtschaftlichen Macht stellt sich bei dieser Marktform
nicht.
Doch lässt sich Macht so einfach nicht wegdefinieren. Mit Monopolen,
Oligopolen und staatlicher Machtausübung lässt sich die „beste aller
möglichen Welten“ nicht darstellen oder gar mathematisch formulieren. Das
zeigt uns, wenn es noch nötig wäre, dass das allgemeine Gleichgewicht eine
Schimäre ist, die weitab von jeder vorstellbaren Realität liegt. Andererseits
wird der Verdacht genährt, dass wirtschaftliche und politische Macht mit
einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Optimalzustand unvereinbar
sein könnte. Es ist natürlich nicht so, dass die akademische
Wirtschaftswissenschaft die Machtfrage nicht gestellt hätte! Die „dunkle
Seite der Macht“ (Hirshleifer 2001) wurde nicht übersehen, erhielt in den
Diskussionen aber dennoch nicht die Position, die ihr auf Grund der
101
Entwicklung hin zu Oligopolen oder sogar zum Monopol hätte eingeräumt
werden sollen.
Die dunkle Seite der Macht hat sich in der jüngeren Entwicklung des
marktwirtschaftlichen Kapitalismus wieder deutlicher gezeigt.
Konzentrationsprozesse von ungeahnten Ausmaßen haben die vollständige
Konkurrenz, die den meisten Wirtschaftstheorien nach wie vor zugrunde
liegt, zur Fiktion werden lassen. Große transnationale Unternehmen
bestimmen über einen zunehmenden Teil des Weltsozialprodukts. Viele
Mikronationen sind heute erheblich kleiner als transnationale Unternehmen.
Mehr als ein drittel des Welthandels findet inzwischen innerhalb der
transnationalen Unternehmen statt. Welthandel wird zunehmend zum
Intrafirmenhandel. In afrikanischen Ländern ist die Staatenbildung erheblich
behindert worden. Großunternehmen finden es offenbar für sich einträglicher,
Rohstoffe unter eigener Regie und in eigener Machtvollkommenheit ohne
staatliche Aufsicht abzubauen. – Doch das Problem der wirtschaftlichen
Macht ist weitreichender.
Marx ist einer der Theoretiker des 19. Jahrhunderts, dem ökonomische und
außerökonomische Macht ein wichtiger Untersuchungsgegenstand war. Im
Zentrum seiner machtbezogenen Analyse steht der Begriff der Ausbeutung.
Die Ausbeutungstheorie Marxscher Prägung setzt eine klare Machtposition
der Kapitalbesitzer innerhalb ihrer Unternehmen voraus. Ausbeutung findet
Marx folgend auf der einzelwirtschaftlichen Ebene innerhalb der Fabriken
statt. In weiten Teilen seines Werkes geht er allerdings, wie die meisten
Ökonomen seiner Zeit, auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene von der
Hypothese der vollständigen Konkurrenz aus. Es finden sich jedoch auch
wichtige Hinweise auf die Entstehung von wirtschaftlicher Macht im
„Kapital“ z.B. als Konzentrations- und Zentralisationstendenz der
Einzelkapitale zu großen ganz oder teilweise marktbeherrschenden
Unternehmen. Schon bei Marx entfaltet der Konkurrenzkapitalismus die
Tendenz zur Konzentration, die nach den Erfahrungen des 20. und des
beginnenden 21. Jahrhunderts überwältigend ist.
In Auseinandersetzungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde
die Alternative „Macht und ökonomisches Gesetzt“ debattiert. Da
Machtausübung zu negativen Abweichungen vom allgemeinen Gleichgewicht
führt, müssen Institutionen geschaffen werden, wie ein Kartellamt oder eine
Monopolkommission, um wenigstens die gröbsten Verstöße gegen die
Marktgesetze des Konkurrenzkapitalismus zu vermeiden. Doch auch hier
spricht die Entwicklung des „real existierenden“ Kapitalismus eine andere
102
Sprache. Die Entwicklung hin zu transnationalen Mammutunternehmen
konnte offenbar nicht entscheidend beeinflusst werden.
Es gibt noch einen weiteren Weg zu einem aktuellen Verständnis von Macht
in den Konsumgesellschaften des entwickelten marktwirtschaftlichen
Kapitalismus. Es handelt sich um den „stummen Zwang der ökonomischen
Verhältnisse“ – ein Begriff, den Marx geprägt hat. Es geht dann nicht mehr
um „Macht und ökonomisches Gesetz“ sondern um „ökonomisches Gesetz
als Macht“ (Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen
Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht). In
warenproduzierenden Gesellschaften wird der gesamtwirtschaftliche
Zusammenhang nur allzu oft als Schicksal erfahren und damit auch als
wirtschaftliche Macht.
____________________________________________________________
Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das
ökonomische Gesetz als Macht
Die Marxsche Theorie ist tief in der Industriegesellschaft verwurzelt. Die heutige
Dienstleistungsgesellschaft setzt andere Schwerpunkte. Daraus ergeben sich weitreichende
Konsequenzen. Für Industrieerzeugnisse gilt, dass sie Dinge sind, gegenständliche
Arbeitsprodukte. Das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit wird
zum Verhältnis von Gegenständen zueinander. Verdinglichung heißt dann ein gängiges
Schlagwort. Dienstleistungen können kein Verhältnis von Gegenständen hervorbringen, weil
die Arbeitsprodukte der Dienstleistungsproduktion nicht gegenständlich sind. Dennoch ist der
Fetischcharakter durch den Verlust von Gegenständlichkeit nicht aufgehoben. Auch
Dienstleistungen haben Warencharakter oder sie können ihn annehmen. Dienstleister
sprechen heutzutage gern von ihren „Produkten“. Der Schwerpunkt der Untersuchung
verschiebt sich in Richtung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Beitrag der
Dienstleistungsproduktion zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit erbracht wird. Die
Zusammensetzung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist das Ergebnis von Marktprozessen,
die sich außerhalb von bewusst gestalteten Einwirkungsmöglichkeiten der unmittelbaren
Produzenten vollziehen. Auch in Dienstleistungsgesellschaften werden menschliche
Schicksale von Marktprozessen bestimmt, die für den Einzelnen mehr oder weniger
undurchschaubar sind. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besteht deshalb
auch weiter.
Dieser stumme Zwang verlangt nach einer zunehmenden Unterwerfung der
Wirtschaftssubjekte unter die Gesetze des Marktes. Die Marktform, vollständige Konkurrenz
oder Oligopol, ist in diesem Zusammenhang nicht erheblich. Ist die Herrschaft des stummen
Zwangs der ökonomischen Verhältnisse über die Wirtschaftssubjekte nicht lückenloser als ein
unmittelbares Herrschaftsverhältnis in einem absolutistischen oder einem sozialistischen Staat
es je sein könnte? Ist eine „offene Gesellschaft“ in Anlehnung an Karl Popper unter diesen
Voraussetzungen überhaupt noch möglich? George Soros, ja er, der berühmt-berüchtigte
Spekulant, glaubt daran anscheinend nicht mehr. Er hat in den Finanzmärkten Milliarden
Dollar verdient. Offenbar ist ihm das auch nicht ganz geheuer. Er schreibt: „Der heutige
Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung für die offene Gesellschaft,
als jede totalitäre Ideologie“ (Soros 1998:21/22). Auch ein von äußerer staatlicher oder
103
innerer oligopolistischer Macht befreiter Marktprozess entpuppt sich auf einmal als
Machtstruktur, die sich die Menschen unterwirft und dem sich die Menschen unterwerfen.
Aus dem Problem „Macht oder ökonomisches Gesetz“ schlüpft ein anderes vielleicht sogar
gefährlicheres Problem. Ökonomische Gesetzmäßigkeiten entpuppen sich als eine
Machtstruktur, die nahezu lückenlos über die Handlungen oder Unterlassungen von Menschen
bestimmt.
____________________________________________________________
Unter „offener Gesellschaft“ ist hier in Anlehnung an Karl Popper eine
verbesserungsfähige und verbesserungswillige Gesellschaft zu verstehen, die
nicht nur technologisch sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich
innovativ ist und die ihre wesentlichen Veränderungen über demokratische
Prozesse vornimmt und kontrolliert. Popper selbst hatte seine Konzepte noch
in der Konfrontation mit Faschismus und Sowjetkommunismus erarbeitet, die
er in unzulässiger Weise gleichgesetzt hat. Beiden warf er u.a. vor, für
Neuerungen nicht zugänglich zu sein. Seine Arbeit ist wohl eher eine
politisch-konservative Streitschrift. Das Schlagwort „offene Gesellschaft“
aber verdient es, weiterentwickelt zu werden.
16) Zur Entwicklungslogik kapitalistischer Marktwirtschaften
Im Rückblick auf die Entwicklungsmuster von Nationalwirtschaften, der
Weltwirtschaft und der zahllosen Interpretationsversuche, stellt sich die
Frage, ob dieser Unübersichtlichkeit nicht doch eine Logik, eine
Entwicklungslogik, unterstellt werden kann (Heilbroner 1985). Kant hatte bei
der ähnlich gelagerten Frage nach einer zielgerichteten Geschichte mit
Zweifeln zu kämpfen. Er sieht sich konfrontiert mit „anscheinender Weisheit
im einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit,
oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht
zusammengewebt“(Kant 1964:34) Er fürchtet:
„...so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige sondern eine zwecklos
spielende Natur; und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des
Leitfadens der Vernunft“ (Kant 1964:35).
Das „Ungefähr“ sieht auch heute noch mindestens so „trostlos“ aus wie zu
Kants Zeiten. Ein klar erkennbarer Weg in eine bessere Zukunft ist nicht
auszumachen. Eine bessere Welt ist möglich, aber sie ist aus dem Stadium
des Prinzips Hoffnung – im Sinne von Ernst Bloch – noch immer nicht
hinausgetreten.
104
Die Asienkrise 1997, der Börsenkrach 2000, der irrationale und chaotische
Irakkrieg usw. haben viel Wasser in den Wein der Zukunftsfähigkeit
marktwirtschaftlicher Systeme einfließen lassen. In den postkommunistischen
Ländern ist die Armut auf dem Vormarsch. In Afrika sieht es schlimmer aus
als je zuvor. Aids und Raubkriege drohen dort jede Hoffnung auf Besserung
zu ersticken. Sich verschärfende militärische Krisenherde in Asien und im
vorderen Orient beeinträchtigen die Chancen einer friedlichen
wirtschaftlichen Entwicklung. Selbst in den marktwirtschaftlichen
Kerngebieten der nördlichen Halbkugel kommt es zunehmend zu
wirtschaftlichen Problemen. Nur die USA als imperiale wirtschaftliche
Führungsmacht haben in den neunziger Jahren eine überzeugende Periode der
Prosperität gekannt. Börsenkrach, Stagnation in Japan und möglicherweise in
Deutschland, als unfair empfundene Einkommens- und
Vermögensverteilungen usw. bringen Instabilitäten aller Art mit einander in
Beziehung, die sich rasch zu einem Bedrohungsszenario aufbauen können.
Das wird u. a. im Jahresbericht der Bank für Internationalen
Zahlungsausgleich bestätigt (BIS 2005). Sie sind nicht auf den
wirtschaftlichen Kernbereich beschränkt sondern strahlen auf die politischen
Verhältnisse aus, die wiederum destabilisierend auf die Nationalwirtschaften
zurückwirken können.
Kann einem solchen Chaos überhaupt eine ordnende Entwicklungslogik
zugeordnet werden? Liegt unter der Schicht des trostlosen Ungefähr oder der
unübersichtlichen Erscheinungsebene der kapitalistischen Marktwirtschaft
nicht doch eine ordnende Entwicklungslogik verborgen. Marx und
Schumpeter und viele andere Ökonomen haben der kapitalistischen
Marktwirtschaft eine außerordentliche Dynamik attestiert, die letztendlich
vom Motiv der Gewinnerzielung ausgeht. Die in der Menschheitsgeschichte
vorher nie gesehene Dynamik ist Quelle des technischen Wandels. Die
chinesische Führung versucht, diese wirtschaftliche und technologische
Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft für ihre Zwecke nutzbar zu
machen.
Angetrieben von der wirtschaftlichen und technologischen Dynamik der
kapitalistischen Marktwirtschaften lassen sich im Formenkreis der
Kapitalkreisläufe Muster einer Entwicklungslogik ausmachen. Kapital wird
vorgeschossen und soll mit einem Gewinnaufschlag zurückfließen. Die
Verhaltensgrundlage eines kapitalistischen Unternehmens wie auch des
Systems der kapitalistischen Marktwirtschaft ist es einen Geldvorschuss in
Rückflüsse zu verwandeln, die höher sind als der Vorschuss. Die Wege, die
dazu eingeschlagen werden können, sind für eine ausgereifte kapitalistische
Marktwirtschaft mit dem Gesamtkapitalkreislauf beschrieben (Siehe Abb. Bc
105
Kapitalkreisläufe nach Marx). Der Gesamtkapitalkreislauf kann in drei
Kreisläufe untergliedert werden: Geldkapitalkreislauf, Warenkapitalkreislauf
und Kreislauf des produktiven Kapitals. Diese drei Kreisläufe interagieren,
können aber auch unabhängig von einander existieren.
Der Geldkapitalkreislauf ist historisch der früheste gewesen. Geld wurde
ausgeliehen und verzinst zurückgezahlt. Dabei kommt die
Zinseszinsrechnung zum Tragen. Die Finanztechniken des
Geldkapitalkreislaufs gehen im europäischen Kulturkreis auf die Banken in
der oberitalienischen Städte in der Renaissance zurück. Historisch folgte der
Warenkapitalkreislauf, in den landwirtschaftliche und industrielle Rohstoffe
und Betriebsstoffe einbezogen waren. Der Warenkapitalkreislauf wurde
während des Kolonialzeitalters internationalisiert und war bereits vor Beginn
des ersten Weltkriegs voll entwickelt. Der historisch jüngste Kapitalkreislauf
ist der Kreislauf des produktiven Kapitals. Produktionsprozesse werden
technisch zerlegt und einzelne Teile der Wertschöpfungskette werden ins
völkerrechtliche Ausland verlegt. Diese Internationalisierung des Kreislaufs
des produktiven Kapitals wird in der Gegenwart unter dem Stichwort
Globalisierung diskutiert. Zerlegungen der Wertschöpfungsketten innerhalb
der Landesgrenzen oder innerhalb von Regionen aber waren schon im 18. und
19. Jahrhundert verbreitet.
Die kapitalistische Marktwirtschaft steht, motiviert durch gewinnorientierte
Ausbreitung der Kapitalkreisläufe, unter ständigem Innovationsdruck. Im
Geldkapitalkreislauf gibt es ständig neue Finanztechniken, die nicht
vergessen lassen sollten, dass sie in den viel älteren Strukturen dieser
Kreislaufgestalt Anwendung finden. Ähnliches gilt für den
Warenkapitalkreislauf. Auch sollte bei aller Bewunderung oder allem
Abscheu vor der Globalisierung nicht übersehen werden, dass der Kreislauf
des produktiven Kapitals schon länger existiert.
Die kapitalistische Marktwirtschaft ist stets neu und stets alt zugleich. Selbst
die ständige Einführung neuer Technologien in den drei Kapitalkreisläufen ist
so alt wie die Kreisläufe selbst. Mit der internationalen Entfaltung der drei
Kapitalkreisläufe und ihrer Integration zu einem Gesamtkapitalkreislauf ist
die kapitalistische Marktwirtschaft zu ihrer Vollendung gereift. Die
ausgereifte kapitalistische Marktwirtschaft gleicht einem Gletscher, der sein
Aussehen und seine geographische Lage stets verändert aber gleichzeitig
immer der alte eiskalte Gletscher bleibt.
17) Einige Zwischenergebnisse
106
Zurück zu unserer Frage: wozu Theorie? Die Fragestellung lässt sich
ausgehend von Schumpeters Unterscheidung zwischen Vision und
Werkzeugkasten einer Antwort näher bringen. Eine Theorie wie die
neoklassische oder die keynesianische liefert uns zunächst eine Vision der
wirtschaftlichen Wirklichkeit, eine Weltanschauung, ein Weltbild, das im
nächsten Schritt näher erkundet werden muss. Wertvorstellungen finden
Eingang in eine Vision. Die Wirtschaftswissenschaft ist keine wertfreie
Wissenschaft. Wie in jeder Wissenschaft ist eine genauere Erkundung der
wirtschaftlichen Wirklichkeit mit den analytischen Instrumenten des
Werkzeugkastens erforderlich.
Erstaunlich ist, dass sich Wirtschaftswissenschaftler lieber bei den Visionen
aufhalten. Die analytischen Instrumente werden nicht so gern aus dem Kasten
geholt oder gar neue entwickelt. Das mag mit dem Missbrauch der
Wirtschaftswissenschaft zu Rechtfertigungszwecken zu tun haben. Die
Analyse könnte Ergebnisse hervorbringen, die den Interessen
gesellschaftlicher Gruppen nicht recht sein können. Das verleitet
Neoklassiker zu unsäglichen Sonntagspredigten, Keynesianer zu empirisch
unhaltbaren Behauptungen. Marxisten haben sich auf Visionen einer besseren
sozialistischen Welt gestürzt, die Realitäten des „real“ existierenden
Sozialismus verleugnet, sich in revolutionärer Rhetorik geübt aber Marxens
analytische Ansätze kaum weiterentwickelt. Ähnlich wie die heutige
Wirtschaftswissenschaft wurde der Marxismus zur Rechtsfertigungslehre der
Herrschaftsinteressen von Cliquen in den kommunistischen Parteien
degradiert.
In den vorangegangenen Ausführungen wurden auch einige Konzepte von
Marx vorgestellt, soweit sie zur Erklärung der heutigen wirtschaftlichen Lage
beitragen können. Die Kapitalkreisläufe erwiesen sich als nützlich. Sie stellen
die Funktionslogik der kapitalistischen Marktwirtschaft dar. Die
Wirtschaftsgesellschaft der entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften
wird überwölbt vom „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“. Das
ist die eine Seite der Medaille. Ihre andere Seite zeigt, dass der Zugang zu
einer Warenwelt geschaffen wird, die zwar keine wunderbare Welt ist, aber
durchaus auch ihre angenehmen Aspekte hat. Zugang allerdings nicht für
alle! Für die Mehrheit der heute lebenden Menschen ist diese wunderbare
Warenwelt völlig außerhalb der Reichweite. Sie versuchen nur allzu oft unter
katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen zu überleben, die bei der
Integration der Kapitalkreisläufe entstehen.
107
Ohne wirtschaftsgeschichtliche Kenntnisse bleibt vieles der modernen
Wirtschaftswissenschaft rätselhaft. Erinnert sei auch daran, dass es in der
Vergangenheit schwere Krisen (keine Rezessionen im Konjunkturzyklus
sondern wirtschaftliche Depressionen z.B. die Weltwirtschaftskrise 1930 ff.)
gegeben hat, die mit der Gewalt einer Tsunami über die kapitalistischen
Marktwirtschaften hinweggefegt sind und verwüstete wirtschaftliche und
gesellschaftliche Landschaften hinterlassen haben. Wirtschaftliche
Depressionen sind nicht vorhersehbar. Man ahnt mehr als dass man weiß:
irgendwann kann es mal wieder so weit sein. Wer in der kapitalistischen
Marktwirtschaft haust, muss auf üble Überraschungen gefasst sein, auch dann
wenn in einer Properitätsphase die längerfristigen Aussichten fabelhaft zu
sein scheinen.
Wirtschaftspolitiker, Unternehmer, Gewerkschaften können bei Visionen
über die wirtschaftliche Wirklichkeit nicht stehen bleiben. Sie müssen näher
heran an das, was ihnen als wirtschaftliche Wirklichkeit vorschwebt. Wer die
wirtschaftliche Wirklichkeit zu seinen Gunsten verändern will, sollte
zumindest versuchen, sie zunächst einmal näher kennen zu lernen. Einige
analytische Instrumente wurden zu diesem Zweck in ihren Grundzügen
vorgestellt. Multiplikatoreffekt, J-Kurve, Quantitätsgleichung,
Absorbtionsansatz usw. Die Wirtschaftswissenschaft kann vielleicht nicht so
viel wie die Astronomie leisten. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sie
wenig bis nichts zustande gebracht hat. Sie hält Einsichten in wirtschaftliche
Entwicklungsprozesse bereit, die eine begrenzte wirtschaftspolitische
Gestaltung ermöglichen, die mit den Interessen der herrschenden Kreise der
kapitalistischen Marktwirtschaft in Einklang steht.
Die Bühne des wirtschaftswissenschaftlichen Theaters wird bekanntlich von
drei Gruppen von Schurken bevölkert. Als da sind: die Gewerkschaften, die
Staatsbürokraten und die Unternehmer in ihren Verbänden. So sehen das die
Wirtschaftswissenschaftler, die gern die Regie führen möchten. Man lässt sie
nicht, was sicher gut ist. Sie müssen sich mit den beratenden Aufgaben der
Regieassistenz begnügen. Sie zerren auch die Unternehmer, die meist
unsichtbar in den Kulissen Strippen ziehen, nicht gern ins Rampenlicht.
Irgendjemand muss ihnen ja schließlich auch die allzu oft überteuerten
„wissenschaftlichen“ Gutachten finanzieren. Mögliche Auftrageber sollte
man besser bei Laune halten. Doch ganz ohne wissenschaftliche Einsichten
kommt keiner der drei Schurken wirklich zu seinem Ziel. Und diese
wissenschaftlichen Wahrheiten, die jeder der drei Schurken ach so gern in
seinem Interesse verbiegen möchte, gibt es. Sie verdienen es durchaus, zur
Kenntnis genommen zu werden. Einiges davon ist in das vorgetragene
ökonomische Orientierungswissen eingearbeitet. Die Unternehmer sind beim
108
Verbiegen selbst einfacher Wahrheiten dank wissenschaftlichen Beistands
mit Abstand die Erfolgreichsten. Wer in der Gesellschaft die Macht und das
Geld hat, hat auch das Sagen. Nur sollte er auch die Grundlagen der
ökonomische Grammatik beherrschen, sonst verplappert er sich bald. Das gilt
sogar für die wirtschaftliche Führungsmacht, die USA.
Ausgehend von Schumpeters Beiträgen zur Wirtschaftswissenschaft wurden
die international tätigen Oligopole des verarbeitenden Gewerbes als
dynamischer Kern der kapitalistischen Weltwirtschaft identifiziert. Sie
bestimmen in Absprachen die Preise und konkurrieren mit Innovationen, d.h.
neuen Produkten und neuen Produktionsverfahren. Sie verfügen über
Produktionsverfahren, die ihnen andere Möglichkeiten der Lohnfindung als
Unternehmen der vollständigen Konkurrenz bieten. Davon wird Näheres in
den folgenden Abschnitten dieses Textes zu berichten sein.
Das Zwischenergebnis, das hier vorgestellt wurde, ist vorläufig, weil bisher
nur makroökonomische Bausteine eingebracht wurden. Sie reichen offenbar
aus, um die gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Prozesse kurzfristig und
deshalb oft auch kurzsichtig einigermaßen steuern zu können. Eine
grundlegende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Alternative ist
ausgehend von den Einsichten der akademischen Wirtschaftswissenschaft
nicht erkennbar. Die Wirtschaftswissenschaft ist in den vergangenen
zweihundertfünfzig Jahren nicht entwickelt worden, um Alternativen zur
kapitalistischen Marktwirtschaft herauszuarbeiten. Das Untersuchungsziel ist
zuerst einmal, ein Verständnis für die Funktionsweise des bestehenden
marktwirtschaftlichen Kapitalismus zu erlangen. Das hat auch Marx nicht
anders gesehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist selbst das Kommunistische
Manifest heute noch immer lesenswert. Es steckt voller Bewunderung für die
innovativen Qualitäten der kapitalistischen Marktwirtschaft.
Wirtschaftshistoriker und die Institutionenökonomik haben die
institutionellen Voraussetzungen der kapitalistischen Marktwirtschaft
hervorgehoben. Die heute vorherrschende neoklassische Wirtschaftstheorie
ist auf diesem Auge nahezu blind und beschränkt sich auf eine schematische
Beziehung zwischen Preisen und Mengen. Löhne runter, dann steigt das
Angebot an Arbeitsplätzen. Das aber trifft auf die deutsche außerordentlich
erfolgreiche Exportspezialisierung sicher nicht zu. Dort wird im
institutionellen Rahmen des Produktionsregimes der diversifizierten
Qualitätsproduktion z.B. im Maschinenbau bei hohen Löhnen sehr erfolgreich
und konkurrenzfähig produziert. Auf den Weltmärkten sind die in diesem
Rahmen erzeugten Produkte nahezu unschlagbar. Der neoklassische Ansatz
109
ist im Produktionsregime der standardisierten Massenproduktion mit
Einschränkungen aussagefähig.
Wir verlassen jetzt die gesamtwirtschaftliche Ebene und wenden uns der
Frage zu, wie die akademische Wirtschaftswissenschaft in Grundzügen die
Funktionsweise einzelner Märkte und Unternehmen erklärt.
C) Zur Funktionsweise von Märkten
1) Angebot und Nachfrage auf Gütermärkten
Angebot und Nachfrage sind die Zauberworte der Ökonomen. Mit diesen
Worten lässt sich treffliche streiten, rechtfertigen, leugnen. George Bernhard
Shaw, der englische satirische Schriftsteller und Stückeschreiber, hat einmal
gesagt, dass man sich einen Ökonomen leicht verschaffen kann. Man brauche
sich nur einen Papagei zu kaufen, dem man die beiden Wörter Angebot und
Nachfrage beibringen müsse. Deshalb dürfen diese beiden Worte auch hier
nicht fehlen. In der akademischen Wirtschaftswissenschaft werden Angebot
und Nachfrage meist in der Form von Kurven oder wie in den folgenden drei
Diagrammen als Geraden dargestellt. Viele der Alltagsweisheiten aus der
Wirtschaftspresse, werden mit diesen Darstellungen in Beziehung gebracht.
Viele stillschweigende Annnahmen, die in der Ökonomie nun einmal üblich
sind, werden in den Diskussionen leider allzu oft übersehen.
Abbildung Ci: Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht
In einem Koordinatensystem wird in der Regel wird die unabhängige Variable auf der X-Achse
(Wagrechte) und die abhängige Variable auf der Y-Achse (Senkrechte) abgetragen. Ökonomen
scheinen das anders zu sehen. Bei ihnen ist das umgekehrt. Die abhängige Variable liegt auf der
X-Achse und die unabhängige auf der Y-Achse. Das erleichtert das Verständnis der ohnehin
manchmal verworrenen Darstellungen der Ökonomen nicht gerade.
a) Angebot
Preis
A
A’
P1
110
P2
Menge
M1 M2
Die mit A bezeichnete Angebotskurve gibt an, wie sich die zum Verkauf angebotene Menge einer
Ware ändert, wenn sich der Preis der Ware ändert. Die Angebotskurve ist positiv geneigt: je höher
der Preis ist, desto mehr können und wollen Unternehmen produzieren und verkaufen. Wenn die
Produktionskosten sinken, können die Unternehmen die gleiche Menge zu einem niedrigeren
Preis oder eine größere Menge zum gleichen Preis produzieren. Dann verschiebt sich die
Angebotskurve nach rechts.
b) Nachfrage
Preis
N N’
P2
P1
M1 M2
Menge
Die mit N bezeichnete Nachfragekurve zeigt die Abhängigkeit der von den Konsumenten
nachgefragten Menge einer Ware von deren Preis. Die Nachfragekurve ist negativ geneigt: Wenn
alle anderen Faktoren gleich gehalten werden, wollen die Konsumenten eine umso größere Menge
einer Ware kaufen, je niedriger deren Preis ist. Die nachgefragte Menge kann auch von anderen
Einflussgrößen, wie dem Einkommen, dem Wetter und den Preisen anderer Güter abhängen.
Durch eine höheres Einkommensniveau wird die Nachfragekurve nach rechts verschoben.
c) Marktgleichgewicht
Preis
N
A
Überschuss
P1
P0
P2
Mangel
A’
N’
M0
Menge
111
Der Markt wird zum Preis P0 und zur Menge M0 geräumt. Zum höheren Preis entwickelt sich
Überschuss, also fällt der Preis. Zum niedrigeren Preis entsteht ein Mangel bzw. Knappheit, also
wird der Preis in die Höhe getrieben, bis das Gleichgewicht erreicht ist.
____________________________________________________________
Der Gleichgewichtspreis ist der Preis, zu dem die angebotene und
nachgefragte Menge gleich sind. Der Marktmechanismus ist die Tendenz der
Preise in einem freien Markt, sich so lange zu ändern bis der Markt geräumt
ist. Ein Überschuss entsteht, wenn die angebotene Menge größer ist als die
nachgefragte Menge. Mangel oder Knappheit entsteht, wenn die nachgefragte
Menge größer ist als die angebotene.
Wann können die Konzepte von Angebot und Nachfrage angewendet werden
und wann nicht? Bei den angebotenen und nachgefragten Waren muss es sich
um private Güter handeln. Private Güter sind Waren, deren Nutzen teilbar
und um deren Verbrauch rivalisiert werden kann. Beispiele: Äpfel, Birnen,
Brötchen. Nur private Güter treten in der Warenform auf, d.h. sie haben
Nichtgebrauchswert für ihre Besitzer und Gebrauchswert für ihre
Nichtbesitzer. Öffentliche Güter sind dagegen Güter, deren Nutzen unteilbar
sind und um die unter den Konsumenten nicht rivalisiert werden kann.
Beispiele: saubere Luft, innere Sicherheit, Landschaftsschutz usw. Private
Güter werden in der Regel privat produziert und privat verteilt. Öffentliche
Güter können privat hergestellt und öffentlich verteilt werden. Rein private
und rein öffentliche Güter sind Extrempunkte einer Skala von Mischformen.
Wenn heute von Angebot und Nachfrage die Rede ist, dann wird eine
versteckte Annahme gemacht: es handele sich um Märkte, auf denen
vollständige Konkurrenz herrscht. Nur auf Konkurrenzmärkten können die
Anbieter die Preise nicht zu ihren Gunsten beeinflussen. Sie können nur ihre
Angebotsmengen den vom Markt vorgegebenen Preisen anpassen. Diese
Annahme entspricht der wirtschaftlichen Wirklichkeit jedoch nur noch in
Ausnahmefällen. Auf den meisten Märkten besteht durchaus die Möglichkeit,
dass Anbieter oder weniger oft auch Nachfrager die Preise beeinflussen
können. Dann handelt es sich um unvollständige Konkurrenz, die heutzutage
überwiegend von Oligopolen und seltener Monopolen gesteuert werden kann.
Die Preise werden höher als die Gleichgewichtspreise gesetzt und es wird auf
diesem Weg ein Teil der kaufkräftigen Nachfrage ausgeschlossen.
Marktradikale Ökonomen gehen meistens von der Annahme vollständiger
Konkurrenz auf allen Märkten aus, oft ohne das klar zum Ausdruck zu
bringen. Das ist nun einmal unrealistisch ist, zeigt aber die Funktionsweise
112
von Märkten in den herrlichsten Farben. Hier liegt eine der großen
Schwächen ihrer Argumentation.
Die Möglichkeit in absehbarer Zukunft die Produktion ausweiten zu können,
um eine gestiegene Nachfrage zu befriedigen, ist eine weitere Voraussetzung
für die Funktionsfähigkeit der Markwirtschaft. Kunstgegenstände sind
Unikate. Sie können bei steigenden Preisen nicht vermehrt werden. Nur ihrer
Preise können erhöht werden. Nebenbei bemerkt: bei Unikaten kann es
selbstverständlich auch keine vollständige Konkurrenz des Angebots
geben. Ein Unikat begründet ein Monopol auf der Angebotsseite.
Problematisch ist auch die Preisgestaltung von Grundstücken im
innerstädtischen Raum. Auch sie können nicht vermehrt werden. Ein Ausweg
bietet sich an: bei steigenden Grundstückspreisen wird höher gebaut.
Drei Einwände gegen die stets bestens funktionierende Marktwirtschaft
wurden aufgeführt. (a) Ein Marktgleichgewicht stellt sich nur für private
Güter her. (b) Das Marktgleichgewicht ist sinnvoll bei vollständiger
Konkurrenz, nicht unbedingt aber bei der Existenz von Oligopolen. Nur bei
vollständiger Konkurrenz ist das Marktgleichgewicht mit den Bedingungen
des allgemeinen Gleichgewichts vereinbar; (c) Angebot und Nachfrage
führen bei nicht reproduzierbaren Gegenständen nicht zu einem
Marktgleichgewicht. Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht sind keine
Idylle. Sie stellen Zwangslagen dar. Die meisten Märkte müssen direkt oder
indirekt reguliert werden. Staatseingriffe sind schon allein deshalb
unverzichtbar.
2) Ist der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere?
Die folgenden Zeilen und Abbildungen führen uns in die Vorhölle der
akademischen Arbeitsmarkttheorien. Es soll dabei versucht werden, die
Grundlagen des Standardmodells für Lohnhöhe und Beschäftigung
herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden wie Ökonomen denken, aber auch
wie brüchig die Grundlagen ihres Theoriegebäudes in diesem Bereich sind.
Zu guter letzt stellt sich dann wieder die Frage, ob es zulässig ist, von dieser
schwachen Basis ausgehend arbeitsmarktpolitische Empfehlungen
abzugeben?
Für die meisten akademischen Ökonomen des Mainstream ist der
Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere. Das Angebot der privaten
Haushalte an Arbeit richtet nach ihren Präferenzen. Die schwanken zwischen
113
mehr Einkommen oder mehr Freizeit. Der Preis der Arbeit (Lohnhöhe)
bestimmt die von den Unternehmen nachgefragte Arbeitsmenge. Steigt der
Lohn dann nimmt die von Unternehmen nachgefragte Beschäftigung ab.
Sinkt der Lohn, dann nimmt die angebotene Beschäftigung zu. Damit ist die
stark vereinfachte Ausgangslage skizziert, die Lohnsenkungen als probates
Mittel für die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgibt. Näheres dazu findet der
Leser in der Abbildung Cj.
____________________________________________________________
Abbildung Cj: (a)Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage
Abbildung Cj(a): Arbeitsangebot eines privaten Haushalts
A
Lohnhöhe
L3
L2
L1
C
A’
B3 B1 B2 Beschäftigungsmenge
Die rückwärtsgeneigte Arbeitsangebotskurve beschreibt das Verhalten eines privaten Haushalts
auf dem Arbeitsmarkt in der Sichtweise der akademischen Wirtschaftswissenschaft. Folgt man der
Arbeitsangebotskurve A’A von links unten, dann überwiegt zuerst einmal bei einer Lohnhöhe L1
der Substitutionseffekt, d.h. die Haushalte bieten bei zunehmender Lohnhöhe bis zum
Wendepunkt C d.h. bis Lohnhöhe L2 mehr Arbeit an. Sie geben einem höheren Einkommen den
Vorzug. Dann dreht sich im Punkt C bei Lohn L2 die Kurve und der Einkommenseffekt
überwiegt. Bei weiter zunehmendem Lohn, z.B. L3 nehmen die privaten Haushalte weniger
Arbeit B3 an, weil sie mehr Freizeit haben wollen.
114
In einem solchen Argumentationszusammenhang wird unterstellt, dass auch der
Arbeitnehmerhaushalt zwischen Arbeitszeit und Freizeit frei wählen kann. Er ist der Souverain
über seine Zeit. Das gilt mit Einschränkungen für Selbständige oder für eine Ich-AG. In
Industrieunternehmen dürfte eine solche Annahme nun doch ein wenig wirklichkeitsfremd sein.
Hier hat der Arbeitnehmer auch was die Arbeitszeit angeht im Rahmen der Tarifverträge den
Anweisungen der Geschäftsleitung Folge zu leisten.
Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen richtet sich an ihrem Grenzprodukt aus. Die
Grundgedanken der Grenzproduktivitätstheorie stammen aus der Landwirtschaft. Sie wurden von
dem französischen Wirtschaftswissenschaftler und Staatsmann A. R. Turgot (1727 - 1781), der
physiokratischen Schule nahe stand, zuerst formuliert. Hier soll das sog. Ertragsgesetz nur
verkürzt und auf unsere Zwecke zugespitzt dargestellt werden.
Wenn bei gegebener Ausstattung eines Landwirtschaftlichen Betriebes zusätzliche Arbeitskräfte
eingestellt werden, dann kann es sein, dass das zusätzliche Getreide (das physische
Grenzprodukt), das ein zusätzlich eingestellter Landarbeiter erzeugt vergleichsweise groß ist. Das
physische Grenzprodukt der nächsten eingestellten Arbeitskräfte nimmt mit zunehmenden
Wachstumsraten zu, bis der Höhepunkt A erreicht wird. Dann nehmen die Zuwachsraten der
physischen Grenzprodukte der zusätzlichen Arbeitskräfte ab. Man kann das als Kurvenverlauf des
physischen Grenzprodukts wie in Abb. Dj (b) zeichnen.
Abbildung Cj(b): Arbeitsnachfrage eines gewerblichen Unternehmens
Abb. Dj (b) Grenzproduktivitätskurve
eines landwirtschaftlichen
Betriebes
GrenzGesamtproProdukt
duktionskurve
Dj (c) Arbeitsnachfrage eines
gewerblichen Unternehmens
Lohnhöhe
L1
N
A
Kurve des
physischen
Grenzprodukts
Arbeitsmenge
B1
B2
Beschäftigung
Zwischen dem physischen Grenzprodukt in der Landwirtschaft und dem Grenzprodukt in einem
gewerblichen Betrieb besteht ein wichtiger Unterschied. Das landwirtschaftliche Grenzprodukt ist
ein physisches Grenzprodukt, d.h. es fällt z.B. als zusätzlich produzierte Getreidemenge an, die
gemessen d.h. gewogen werden kann. Das Grenzprodukt in einem gewerblichen Betrieb ist das
physische Grenzprodukt, multipliziert mit dem Marktpreis. Auf diese Weise entsteht das
gewerbliche Grenzprodukt. Das gewerbliche Grenzprodukt kann nicht gemessen werden.
Kromphardt hat dieses Argument in einer Auseinandersetzung im Deutschen Sachverständigenrat
in Feld geführt (Kromhardt 2005). Damit ist der Argumentationszusammenhang Lohnhöhe und
Beschäftigung im gewerblichen Bereich auf die Theorie reduziert. Es können Denkanstöße
formuliert werden aber keine konkreten empirisch fundierten wirtschaftspolitischen
Empfehlungen.
115
Versucht man, sich mit einem solchen Denkansatz auseinander zu setzen,
dann stellt man sich doch unwillkürlich die Frage, in welcher Welt die
Ökonomen denn jetzt angekommen sind? Wer kann den schon zwischen
Arbeitszeit und Freizeit frei wählen? Für Nichtökonomen sind solche
Argumentationsmuster wohl gewöhnungsbedürftig. Es ist dennoch sinnvoll,
sich damit auseinander zu setzen, weil die gegenwärtige Politik der
Lohnsenkung, Hartz IV, Zugriff auf das Familienvermögen bei
Nichtaufnahme von Arbeit etc. aus diesem Denkansatz stammen. In der
Industrie sind die Arbeitszusammenhänge fest miteinander verbunden. In der
Autoindustrie kann man nicht einfach vom Band weggehen, weil man ab 11
Uhr lieber Freizeit hat (Einkommenseffekt). Bei Dienstleistungsunternehmen
ist eine solche Vorstellung schon plausibler. Termine aber sind auch in
Dienstleistungsunternehmen einzuhalten. Das ist mit Einschränkungen
verbunden. Der Einkommenseffekt kann auch bei Dienstleistungen nur
begrenzt zum Tragen kommen. Letztendlich zieht der stumme Zwang der
ökonomischen Verhältnisse.
Der institutionelle Hintergrund der Abbildung Dj bleibt völlig unklar. Handelt
es sich um landwirtschaftliche Genossenschaft, ein großes
Industrieunternehmen, einen Klein- und Mittelbetrieb des
Dienstleistungssektors oder um eine Industriebranche? Wie dem auch sei, das
Konzept wird benutzt, ohne dass sein institutioneller Hintergrund genauer
bestimmt wird. Anwendbar ist es streng genommen nur für eine Art Ich-AG,
z.B. einen allein arbeitenden Fliesenleger. Er hat zuweilen die Möglichkeit,
sich gemäß seiner subjektiven Arbeitsangebotskurve zu verhalten. Das gilt
sowohl für den Substitutions- wie auch für die Einkommenseffekt. Der
Sprung vom Fliesenleger hin zur Gesamtwirtschaft aber scheint ein wenig zu
weit zu sein10.
Wie dem auch sei, das Konzept von Angebot und Nachfrage auf dem
Arbeitsmarkt wird zur Formulierung von arbeitsmarktpolitischen Ratschlägen
gebraucht oder besser missbraucht bis hinein in die Hartz IV Debatte. Besteht
ein System sozialer Sicherheit, dann kann das nach Ansicht der akademischen
Wirtschaftswissenschaft dazu führen, dass Arbeitslose oder
Frank Hahn, ein wichtiger britischer Vertreter der „reinen“ neoklassischen Wirtschaftstheorie, insbesondere
der Gleichgewichtstheorie, kommt zu einer überraschenden Feststellung in einer Veröffentlichung, in der er die
„nächsten hundert Jahre“ der Wirtschaftstheorie umreißt: „Zudem gibt es eigentlich keine Notwendigkeit für die
Existenz von Unternehmen. Es könnt zum Beispiel auch Kooperativen geben oder, tatsächlich, überhaupt keine
Unternehmen“(Hahn 1992:195). Den entscheidenden theoretischen Durchbruch hat es meines Wissens in der
Zwischenzeit nicht gegeben! Das Zitat belegt, auf welchem empirisch irrelevanten Niveau sich die „reine“
neoklassische Wirtschaftstheorie noch immer bewegt, selbst dann wenn sie gegenüber von Formbestimmtheiten nicht
ganz blind ist. Wie lässt sich dann ihre Anwendung zur Formulierung von wirtschaftspolitischen
Handlungsanweisungen noch rechtfertigen? (Dies ist kein Ökonomenwitz!)
10
116
Sozialhilfeempfänger nicht bereit sind, eine ihnen angebotene Arbeit
aufzunehmen.
_____________________________________________________________
Abbildung Ck: Arbeitsangebot bei Arbeitslosenversicherung oder Vermögen
A
L1
L2
A’
A’’
B1 B2
In der Abbildung Dk wird davon ausgegangen, dass es eine „großzügige“
Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe gibt. AA’ ist die
Arbeitsangebotskurve der privaten Haushalte, die in dieser vereinfachten Abbildung linear
gezeichnet ist. Arbeitssuchende werden bereit sein, bis zur Lohnhöhe L1 Beschäftigung in Höhe
B1 aufzunehmen. Ab der Lohnhöhe L2 ist der Unterschied Lohnhöhe zwischen den Zahlungen
z.B. der Sozialhilfe so gering, dass sich die Aufnahme von Arbeit nicht mehr lohnt. Die
Angebotskurve knickt in Richtung A’’ ab.
Mit Hartz IV soll die Angebotskurve wieder eine durchgezogene Gerade AA’ werden.
Transferzahlungen werden an Bedingungen gebunden, die Arbeitnehmer veranlassen oder
zwingen sollen, auch niedrigere Löhne z.B. L2 mit der Beschäftigung B2 zu akzeptieren.
Frühe theoretische Versuche im 19. Jahrhundert gingen davon aus, dass Selbständige über
Vermögen verfügen. Ein Anwalt wird dann lieber von seinem Vermögen leben, als ein Honorar
unter L1 zu akzeptieren. Bei Hartz IV ist daraus eine Drohung geworden. Arbeitslose und
Sozialhilfeempfänger müssen erst ihr Vermögen verbrauchen oder in eine billigere Wohnung
umziehen, ehe sie weitere Unterstützung erhalten.
______________________________________________________________
Die Bevölkerungsgruppe, die nach der Ansicht der Hartz-Konstrukteure keine
schlecht bezahlte Arbeit aufnehmen möchte, soll auf den Pfad der Tugend,
d.h. auf die durchgezogene Arbeitsangebotskurve AA’ zurückgebracht
werden. Der Knick muss aus dieser Kurve rausgebügelt werden. Wie geht
das? Ganz einfach, indem man die Sozialhilfe so weit absenkt, dass die
sogenannten „Drückeberger“ gezwungen sind, auch zu Niedriglöhnen Arbeit
aufzunehmen – das ganze garniert mit Vermögensverlust und
Umzugsdrohung.
117
Treffen die wirtschaftswissenschaftlichen Erörterungen über Lohnhöhe und
Beschäftigung wirklich den Kern des Problems der deutschen
Arbeitslosigkeit? Frauen erhalten bei gleicher Arbeit Löhne, die weit
unterhalb der Löhne für die männlichen Kollegen liegen. Im gewerblichen
Bereichen sind es rd. 30%, im Angestelltenbereich knapp mehr als 20%. Das
ist ungefähr der gleiche Abstand wie zwischen alten und neuen
Bundesländern. Im Gegensatz zum Unterschied zwischen den Ländern wird
der Unterschied in der Bezahlung zwischen Männern und Frauen relativ leise
akzeptiert. Bei solchen Lohnunterschieden dürfte es doch eigentlich keine
Frauenarbeitslosigkeit geben? Nach den Statistiken der OECD liegen die
Arbeitslosenquoten für Frauen in der Tat in einigen Ländern mit
kapitalistischer Marktwirtschaft geringfügig unter denen für Männer. In den
meisten dieser Länder aber ist die Frauenarbeitslosigkeit trotz niedrigerer
Löhne höher.
Ein marktradikaler Ökonom wird um eine Antwort nicht verlegen sein. Der
Preis auf dem Markt – hier der Lohn als Preis der Arbeit – sagt die Wahrheit.
Die Wahrheit wäre dann, dass die Leistung der Frauen in einigen Ländern
entsprechend niedriger liegt als die der Männer. In einigen anderen Ländern
gilt das nicht. Sind dort die Frauen bessere Arbeiterinnen als in Deutschland?
– Die Arbeitsmärkte instrumentalisieren Vorurteile zugunsten der
Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Vorurteile nicht nur gegen Frauen, auch
gegen Ausländer, ethnische und religiöse oder andere Minderheiten könnten
doch die entscheidenden Gründe für die „ungerechte“ Bezahlung sein!?
Wenn man von einem Einzelunternehmen ausgeht, das bei einem
vorgegebenen Lohn genügend Arbeiter zum Einstellen findet, sei es dass
Arbeitslosigkeit herrschte bzw. dass dieses Unternehmen genügend Arbeiter
bei anderen Unternehmen abwerben kann. Will man von einer Branche oder
der Gesamtwirtschaft ausgehen, dann ist eine solche Annahme nicht mehr
plausibel. Wir nehmen jetzt einmal an, dass Vollbeschäftigung herrscht. Dann
muss auch die Arbeitsnachfragekurve der privaten Haushalte anders
verlaufen. Bei Vollbeschäftigung einer Branche oder der Gesamtwirtschaft ist
die Arbeitsnachfragekurve positiv geneigt. Damit wird zum Ausdruck
gebracht, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz nur dann wechseln, wenn
ihnen ein Lohnangebot vorgelegt wird, dass höher ist als ihr gegenwärtiger
Lohn. Bei Arbeitslosigkeit ist die Arbeitsnachfragekurve der privaten
Haushalte dagegen negativ geneigt, d.h. die Arbeiter sind bereit, auch
niedrigere Löhne zu akzeptieren, um wieder Arbeit zu finden. In den heutigen
Diskussionen ist selbstverständlich von Massenarbeitslosigkeit auszugehen.
_____________________________________________________________
118
Abbildung Cl: Lohnhöhe und Beschäftigung bei Vollbeschäftigung
N
A’
LG
A
N’
BG
Angebotene und
nachgefragte Beschäftigung
In Abbildung Dl sind Arbeitsnachfrage NN’ und Arbeitsangebot AA’ als Geraden eingezeichnet.
Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen NN’ ist der fallende Arm der Grenzproduktivitätskurve.
Die Arbeitsnachfragekurve der privaten Haushalte ist bei Vollbeschäftigung positiv geneigt. In
diesem Kurvenverlauf kommt zum Ausdruck, dass die Arbeit anbietenden Unternehmen zum
jeweiligen Marktlohn LG kaum Arbeitskräfte einwerben können, wenn Vollbeschäftigung
herrscht. Es müssen höhere Löhne angeboten werden. Daher die positive Neigung der
Arbeitsangebotskurve. Je höher die Löhne, um so höher die Beschäftigung – bei
Vollbeschäftigung der Branche oder der Gesamtwirtschaft! Im Vergleich zu Abbildung Dk ein
überraschendes Ergebnis.
Die Lohnhöhe LG führt in der obigen Abbildung zu dem Vollbeschäftigungsgleichgewicht BG.
Rechts von BG herrscht Überbeschäftigung.
_____________________________________________________________
In Deutschland wird gegenwärtig auch der Vorschlag Mindestlöhne
einzuführen diskutiert. Es macht nun wenig Sinn, Mindestlöhne bei
Vollbeschäftigung einzuführen. Die Möglichkeiten der Lohnsenkung sind bei
Vollbeschäftigung äußerst gering. Mindestlöhne sollen deshalb in der
folgenden Abbildung Dm von einer Situation der Unterbeschäftigung mit
negativer Neigung der Arbeitsangebotskurve diskutiert werden.
____________________________________________________________
Abbildung Cm: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bei Mindestlöhnen
N
A
LM
LG
N’’
A’
BM BG
119
Bei Unterbeschäftigung ist die Arbeitsangebotskurve der privaten Haushalte AA’ und die
Arbeitsnachfrage der Unternehmen NN’ negativ geneigt. Liegt der Mindestlohn LM über dem
Gleichgewichtslohn LG, dann sinkt die Beschäftigung von BG auf BM, d.h. die Beschäftigung
nimmt ab.
Der Gleichgewichtslohn GL bezeichnet das Marktgleichgewicht für die
Beschäftigung, bei dem alle die Arbeit suchen zum Gleichgewichtslohn auch
Arbeit finden. Ein Mindestlohn mach in einem solchen Konzept offenbar nur
Sinn, wenn Arbeitslosigkeit herrscht. Dann liegt der Mindestlohn über dem
markträumenden Gleichgewichtslohn und es entstehen im Rahmen dieses
Denkansatzes Arbeitsplatzverluste.
Ähnliches soll auch für Gewerkschaften gelten, deren Lohnforderungen zu
einer Lohnhöhe führen, die ebenso wie der Mindestlohn oberhalb des
markträumenden Gleichgewichtslohns liegt. Gewerkschaften schaden in
einem so definierten Argumentationszusammenhang der Beschäftigung. Sie
werden einem Kartell auf den Gütermärkten gleichgestellt, das den Zweck
verfolgt, die Preise, hier die Löhne, über dem Marktgleichgewicht zu halten.
Deshalb sollten Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften begrenzt werden,
oder wie marktradikale Ökonomen fordern, sollten Gewerkschaften am
besten gleich verboten werden. Eine solche Politik wurde von Frau Thatcher
in Großbritannien verfolgt. Sie hat sich von diesen Gedankengängen der
akademischen Wirtschaftspolitik inspirieren lassen.
Die deutschen Gewerkschaften aber waren, wenn man in diesem
Bezugsrahmen argumentiert, in ihren Lohnforderungen eher moderat. Wenn
man innerhalb dieser Konzepte argumentiert, dann dürften die deutschen
Löhne den Gleichgewichtslohn nur selten überschritten haben.
In den bisherigen Ausführungen wurden die Grundprinzipien des Theorems
über Lohnhöhe und Beschäftigung kurz vorgestellt. Die Grundlagen der
gegenwärtigen Debatten sollten transparent gemacht werden. In den Debatten
des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Wirtschaftsentwicklung
während der letzten Jahre haben diese Argumente eine Rolle gespielt. Es
kann hier nicht in alle Einzelheiten dieser Debatte eingestiegen werden.
Wichtig ist noch der Hinweis, dass die bisherigen Ausführungen von der
Marktform der vollständigen Konkurrenz ausgegangen sind. Bei
oligopolistischer Konkurrenz sieht die Lage dann deutlich anders aus
(Kromphardt 2005).
120
Die Grundlagen der Theorie über Lohnhöhe und Beschäftigung hören sich
selbst bei gebetsmühlenartiger Wiederholung der Argumente außerhalb
wirtschaftswissenschaftlicher Zirkel, nicht für jeden überzeugend an.
Überzeugen könnte man, wenn der Nachweis gelingen würde, dass die
Theorie, die man zugrunde legt, den Mindestanforderungen genügt. Sie sollte
frei von logischen Widersprüchen sein und empirisch widerlegt werden
können. Eine empirische Widerlegung aber ist schon allein deshalb
ausgeschlossen, weil gewerbliche Grenzproduktivität nicht in Zahlen
ausgedrückt werden kann. Auf dem institutionellen Auge sind die
Auslassungen der akademischen Wirtschaftstheorie blind. Das
Lohnarbeitsverhältnis und seine Zwangslagen scheinen den neoklassischen
Theoretikern völlig unbekannt zu sein? Die Grenzproduktivitätstheorie, auf
der die Arbeitsnachfrage beruht, hat noch einige Probleme, die an anderer
Stelle weitergehend behandelt werden (Siehe Unterabschnitt E1: Die
Produktion: Perspektiven der akademischen Wirtschaftswissenschaft).
Die Betrachtungen der akademischen Wirtschaftswissenschaft sind sehr eng
angelegt. Sie berücksichtigen die Produktivitätsentwicklung nicht, die auf
Grund des technischen und des organisatorischen Wandels unvermeidlich ist.
In der längerfristigen makroökonomischen Betrachtung steigen die Löhne mit
den Produktivitätsfortschritten. Das hat weittragende Folgen. Eine
marktfundamentalistische Betrachtungsweise läuft letztendlich darauf hinaus,
dass die Produktivitätsfortschritte vollständig von den Unternehmen
angeeignet und in Gewinnerhöhungen überführt werden. Das dürfte unter den
heute vorherrschenden Bedingungen der oligopolistischen Konkurrenz
weitgehend der Fall sein.
Theorie ohne Empirie ist leer und Empirie ohne Theorie ist blind. Über die
Empirie, d.h. den gemessenen Verlauf der Arbeitangebots- und
Arbeitsnachfragekurven ist wenig bis nichts bekannt. Die Theorie, auf die
Hartz I, II, III, IV etc. und Agenda 2010 gegründet sind, ist nicht nur brüchig
sondern auch empirisch leer. Es liegt dann nahe, sich in einen Zirkelschluss
zu flüchten. Um zu erkennen, welches die richtige Lohnhöhe ist, senken wir
die Löhne so lange, bis die Beschäftigung dauerhaft zunimmt! Bis
Bangladesh, wo die Löhne nur ein Bruchteil der deutschen, die
Arbeitslosigkeit aber ungleich höher ist, ist der Weg noch weit.
Neoklassische Ökonomen sind hinsichtlich der gesellschaftlichen Formen
und Institutionen, in den die Arbeitsprozesse ablaufen, nahezu blind. Erinnert
sei in diesem Zusammenhang an die Produktionsregime diversifizierte
Qualitätsproduktion und standardisierte Massenproduktion. Mit dem Regime
der diversifizierten Qualitätsproduktion ist Deutschland international
121
außerordentlich erfolgreich und konkurrenzfähig. In diesem Regime arbeiten
gut qualifizierte, motivierte und gut bezahlte Arbeitskräfte. Lohnsenkungen in
einem solchen erfolgreichen Regime der diversifizierten Qualitätsproduktion
sind nicht erforderlich und wären demotivierend. Das Produktionsregime der
standardisierten Massenproduktion mit ungelernten und angelernten
Arbeitskräften ist in Deutschland spätestens seit den siebziger Jahren in
weiten Bereichen des verarbeitenden Gewerbes nicht mehr ausbaufähig.
Ein Blick noch auf die erfolgreiche japanische Autoindustrie, genauer gesagt
Toyota. Dort sind die wöchentlichen Arbeitszeiten vergleichsweise kurz, weil
sie den Leistungs- bzw. Produktivitätsverläufen der Arbeiter folgen. Das
Produktivitätsniveau ist hoch. Die Löhne sind deshalb ebenfalls hoch und die
Arbeitsplätze sind sicher. Die Arbeiter sind motiviert. Das Unternehmen gilt
als innovativ. Die Arbeitsprozesse sind auch dort nicht idyllisch. Die Qualität
der Endprodukte wird weltweit geschätzt und die Marktanteile steigen. Bei
deutschen Lohnsenkern sieht das anders aus. Sie können nicht einmal einen
Rußpartikelfilter entwickeln und einbauen. Deutsche Qualität lässt im
internationalen Vergleich bei einigen deutschen Marken seit einiger Zeit zu
wünschen übrig. Die Marktanteile dieser deutschen Automarken sinken. Das
war nicht immer so und ist auch sicher nicht oder nur zu einem geringen Teil
den „zu hohen Arbeitskosten“ anzulasten. Toyota hat an die Stelle der
standardisierten Massenproduktion eine „standardisierte Qualitätsproduktion“
gesetzt mit vergleichsweise hohen Löhnen auf der Grundlage hoher
Produktivität und ist damit international sehr erfolgreich. BMW ist eine
deutscher Autobauer, der die Lektionen von Toyota verstanden zu haben
scheint.
Ungelöst ist in Deutschland und nicht nur hier das Problem der
unqualifizierten Dienstleistungsarbeit. Es wäre nach Mitteln und Wegen zu
suchen, über verbesserte Qualifikation einen großen Teil der
Dienstleistungsarbeit aufzuwerten, auch um höhere Löhne zahlen zu können.
Das betrifft sicher die Bereiche der Kranken- und Altenpflege, der Bildung,
Ausbildung und Weiterbildung. Die skandinavischen Länder haben dazu
Vorbilder geschaffen.
Marx hat sich viel Mühe darauf verwandt, den wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Erscheinungsformen grundlegende gesellschaftliche
Formen zuzuordnen. Er spricht an vielen Stellen von „Formbestimmtheit“. Es
fällt engstirnigen akademischen Ökonomen nicht immer leicht, sich auf
solche eher philosophische Gedanken, manchmal wohl auch Spitzfindigkeiten
einzulassen. Die gesellschaftliche Form, die den Gedankengängen von
Lohnhöhe und Beschäftigung zugeordnet wird, ist ein isoliertes
122
Wirtschaftssubjekt bzw. ein privater Haushalt bzw. ein Markt, hier der
Arbeitsmarkt.
Den Studenten der Wirtschaftswissenschaft wird gern gesagt: „Wer seine
Äpfel zu teuer auf dem Markt anbietet und sie nicht billiger verkaufen will,
der muss sie wieder nach hause tragen!“ Übertragen auf den Arbeitsmarkt
heißt das dann: „Wer seine Arbeit zu teuer anbietet, bleibt arbeitslos“. Der
deutsche Starökonom Hans-Werner Sinn plädiert deshalb für Lohnsenkungen.
Sie sollen fürs erste einmal 10 – 15% betragen. Das entspricht ungefähr den
Vorschlägen, die der Reichkanzler Brüning in der großen
Weltwirtschaftskrise gemacht hat. Die Arbeitslosigkeit ist damals dennoch
angestiegen. Gering Qualifizierte sollten sich mit einer Lohnsenkung von
einem Drittel abfinden (Sinn 2003:94). Die Zahlen wurden vom Ifo-Institut,
dessen Direktor Sinn ist, errechnet. Bei einem solchen Ansatz wird davon
ausgegangen, dass solche schlecht bezahlten Arbeitsplätze unbesetzt
vorhanden sind. Schon Keynes hatte da seine Zweifel. Er sah nicht ein:
„...dass, falls die Arbeiter in ihrer Gesamtheit mit einer Kürzung der
Geldlöhne einverstanden wären, auch mehr Beschäftigung zum Vorschein
kommen würde“ (Keynes 1955:7).
3) Ein globalisierter Arbeitsmarkt: Schiffsbesatzungen11
Die geographische Ausdehnung der Kapitalkreisläufe und insbesondere des
Kreislaufs des produktiven Kapitals hat zu einer Erhöhung des
internationalen Handels geführt. Die Waren werden überwiegend auf dem
Seeweg in Containern transportiert. Die Zirkulation hat im doppelten Sinn
stark zugenommen: einmal als Zirkulation des produktiven Kapitals und zum
andern als Zirkulation, d.h. Transport von Waren. Die Zirkulation von
materiellen Waren hat zu einem globalisierten Arbeitsmarkt für
Schiffsbesatzungen geführt, der einige interessante aber noch mehr
beklemmende Aspekte hat.
In der christlichen und der nicht-christlichen Seefahrt sieht es zu Beginn des
21. Jahrhunderts etwas anders aus als in der Zeit, von der die Shanty-Chöre
uns singen. Es soll zunächst kurz ein Schlaglicht auf die Situation der
11
Die Ausführungen in diesem Unterabschnitt stützen sich im wesentlichen auf die ausgezeichnete Studie
von Heide Gerstenberger und Ulrich Welke, Arbeit auf See, zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung
(Gerstenberger, Welke 2004).
123
Schiffbesatzungen geworfen werden (Siehe Kasten D16: Gestrandet im
Niemandsland).
______________________________________________________________
Kasten C16: Gestrandet im Niemandsland
Das Schiff Court Carrier war mit einer Ladung Zement nach New York unterwegs, als es auf
diesem alten Schiff zu einer Explosion kam. Die Ankunft in New York verspätete sich aus diesem
Grund um zwei Wochen. Der Käufer war nicht mehr bereit, die Ladung abzunehmen. Kapitän und
Mannschaft konnten den Schiffseigner nicht erreichen, weil der Flaggenstaat den Eigentümer
nicht veröffentlicht. Obwohl die Mannschaft seit Monaten nicht bezahlt worden war, arbeitete sie
weiter. Bald waren die Nahrungsmittel aufgebraucht. Die Landung konnte nicht verkauft werden,
weil kein Rechtstitel verfügbar war. Die Mannschaft wollte zunächst nicht vor Gericht gehen,
weil ein Prozess Monate dauern konnte und die Anwaltskosten ein Viertel der ausstehenden
Heuern ausmachen würden, von denen man nicht wusste, ob sie überhaupt je gezahlt werden
würde. Am Ende blieb ihnen nichts anderes übrig. Das Schiff wurde festgelegt. Der Anwalt setzte
durch, dass sie als Bewachung für das Schiff eingesetzt wurden und dafür eine geringe Bezahlung
erhielten, solange sie auf den Ausgang des Prozesses warteten (Gerstenberger, Welke 2004:65).
______________________________________________________________
Der Kurzbericht in Kasten D16: „Gestrandet im Niemandsland“ ist kein
Einzelfall. Solche Fälle sind heute alltäglich. Die Lage der Handelsschifffahrt
hat sich dramatisch verändert. Es sind weniger die technologischen
Innovationen sondern vielmehr die marktinduzierten Veränderungen, die zu
einer dramatischen Veränderung der sozialen Lage und der
Arbeitsbedingungen der Schiffsbesatzungen geführt haben. Die Konkurrenz
hat sich auf vielfache Weise verschärft insbesondere: die Konkurrenz der
Flaggenstaaten, die Konkurrenz der Schifffahrtsunternehmen, die Konkurrenz
um Charterverträge, die Konkurrenz auf den Frachtmärkten und, was hier
besonders wichtig ist, die Konkurrenz auf dem maritimen Arbeitsmarkt.
Die heute gängige Praxis der Ausflaggung hat die ganze Welt als
Arbeitsmarkt für Schiffsbesatzungen geöffnet und damit ein Lohndumping
sondergleichen losgetreten. Gerstenberger, Welke berichten von einem
chinesischen Angebot, eine 10-köpfige Mannschaft für 2500 US $ pro Monat
anzuheuern (ebendort:44) In Publikationen der International Transport
Workers’ Union (ITF) werden für das Jahr 2000 für norwegische „ratings“,
d.h. Seeleute, 4000 US$ pro Monat, für philippinische dagegen 1250 US $,
und für einen chinesischen dagegen nur $ 930 US $ gezahlt (ebendort:351,
FN 57). Auf den Philippinen ist das ein vergleichsweise sehr hoher Lohn. Die
Folge ist klar. Die genannten Autoren stellen fest: „1999 lag der Anteil von
ratings aus europäischen Ländern an den Besatzungen der Welthandelsflotte
im Durchschnitt nur noch bei rund 1%“ (ebendort:45).
124
Die Sicherheit am Arbeitsplatz hat sich für Seeleute dramatisch
verschlechtert. Trotz gewerkschaftlicher Initiativen haben die Häufigkeit und
die Schwere der Unfälle zugenommen. Das gilt nicht nur für Personenunfälle
sondern auch für Schiffsunfälle. Die Tankerflotte ist z.T. veraltet. Gefährliche
Ladungen sind zunehmend oft unzureichend gesichert usw.
Der durchschnittliche Ausbildungsstand der Seeleute ist gesunken. Die
sprachliche Verständigung auf den „multikulturell“ besetzten Schiffen ist
problematisch. Zeichensprachen haben sich entwickelt, die zu
Ungenauigkeiten bei der Weitergabe von Anweisungen oder der Einhaltung
elementarer Sicherheitsstandards führen. Ausbildungszertifikate können in
einigen asiatischen Ländern gekauft werden. Auch in diesen Bereichen haben
gewerkschaftliche Initiativen nicht die erhofften Verbesserungen gebracht.
Was sagt die Arbeitsmarkttheorie zu solchen Entwicklungen? Man kann
versuchen – wie in Abbildung Dn: Lohnhöhe und Beschäftigung auf dem
globalisierten Arbeitsmarkt für Seeleute – die Situation in einem Diagramm
abzubilden.
______________________________________________________________
Abbildung Cn: Lohnhöhe und Beschäftigung auf dem globalisierten Arbeitsmarkt
für Seeleute
Lohnhöhe
N
N
Lm A
A’
N’
B1
N’’
B2
Beschäftigung
Die Lohnhöhe Lm für globalisierte „ratings“ z.B. für Containerschiffe dürfte der
branchenspezifischen Angebotskurve AA’ entsprechen. Sie liegt anfangs geringfügig über
dem Existenzminimum Lm und bewegt sich dann auf dem selben Niveau. Die riesige
weltweite Arbeitslosigkeit legt einen solchen Verlauf der Arbeitsangebotskurve nahe. Es
macht bei diesem Beispiel wenig Sinn, von einer Bestimmung der Arbeitsnachfragekurve
125
durch den Verlauf der Grenzproduktivitätskurve auszugehen. Die Nachfrage nach Arbeit
ist von der Menge der Containerschiffe abhängig, die wiederum abhängig ist von der
Menge der zu transportierenden Container, die ihrerseits vom Volumen des Welthandels
bestimmt wird. Eine Erhöhung des Welthandelsvolumens führt dann zu einer
Verschiebung der NN’-Kurve nach NN’’. Das Existenzminimum ist erreicht und es
kommt bei dieser Verschiebung zu einer leichten Lohnsenkung.
_______________________________________________________________________
Der globalisierte Arbeitsmarkt für Seeleute zeigt noch einmal die engen
Grenzen des Konzepts von Lohnhöhe und Beschäftigung auf. Bei
Massenarbeitslosigkeit ist das Arbeitsangebot nicht mehr von den
Präferenzen der privaten Haushalte nach Freizeit oder mehr Einkommen
abhängig sondern schlicht und einfach von der „industriellen Reservearmee“,
d.h. von dem riesigen Heer der Arbeitslosen. Mit einer solchen weltweit
verfügbaren Reserve von Arbeitskräften kann die Lohnhöhe in Richtung
Existenzminimum und zwar hier das physische Existenzminimum abgesenkt
werden. Der Begriff des Grenzprodukts, der für Fliesenleger in Deutschland
mit Einschränkungen verwendbar sein dürfte, macht beim Anheuern von
Schiffsbesatzungen keinen Sinn. Hier gelten andere Bestimmungsfaktoren.
Der vermutlich erste globalisierte Arbeitsmarkt für Seeleute führt deutlich vor
Augen, welche Bedrohung die Öffnung der Arbeitsmärkte von entwickelten
kapitalistischen Marktwirtschaften bedeutet. Ein Abgleiten in eine
abwärtsgerichtete Spirale der Lohnentwicklung von Seeleuten ist kaum zu
verhindern. Der geradezu unermesslich große Arbeitsmarkt mit sehr hoher
Arbeitslosigkeit bietet dazu die erforderlichen Voraussetzungen. Ist eine
solche Entwicklung unentrinnbar? Gibt es Alternativen? Eine mögliche
Alternative wäre die Erhöhung der Löhne von Seeleuten aus
Entwicklungsländern folgend dem Produktivitätsfortschritt, d.h. die
Einführung einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik. Doch diese Politik
scheint unter Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit nicht durchführbar zu
sein, nicht einmal mehr in den entwickelten kapitalistischen
Marktwirtschaften. Dort kann der sogenannte Verteilungsspielraum ebenfalls
wegen der Massenarbeitslosigkeit nicht ausgeschöpft werden. Der
Verteilungsspielraum wird definiert als Lohnwachstum gleich
Produktivitätswachstum plus Inflationsrate.
Dieses wirtschaftspolitische Szenario ist auch bereits in Deutschland
angekommen, zumindest in zwei Branchen: Bauindustrie und Schlachtereien.
In beiden Industrien kommt es zu Lohnsenkungen, vor allem aber zu
Verdrängungen der höher bezahlten einheimischen Arbeitskräfte durch
Arbeitsimmigranten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern. Da
126
kommen nicht nur die neuen Beitrittsländer sondern auch die Ukraine und
Weißrussland oder sogar asiatische oder afrikanische Länder in Betracht. Es
stellt sich hier die Frage, ob die Ausgestaltung der Dienstleistungsrichtlinie
der EU einen solchen marktinduzierten Prozess auf die Dauer aufhalten kann.
4) Zur Steuerungsfunktion von Finanzmärkten
Finanzmärkte werden weithin mit Misstrauen beobachtet. Ihnen haftet etwas
moralisch Anrüchiges an. Sie werden als Tummelplatz von Spekulanten und
Abzockern angesehen. Daran ist nicht alles richtig aber leider auch nicht alles
falsch.
Im Unterschied zu Warenmärkten, auf denen Stromgrößen (Kleidung,
Kartoffel) gehandelt werden, findet auf den Finanzmärkten Handel mit
Bestandsgrößen (Aktien, Devisen) statt, die überwiegend „verbrieft“ sind,
d.h. als Zertifikate aller Art gehandelt werden. Sicher liefert auch deshalb das
gewöhnliche Marktmodell, das auf Waren zugeschnitten ist, keine gute
Beschreibung für Finanzmärkte. Diese Märkte sind Börsen, zunehmend auch
sogenannte „Off-Shore-Märkte“, die von den staatlichen Organen der großen
entwickelten Marktwirtschaften nur eingeschränkt kontrolliert werden.
Den Nachfragern, die zukunftsbezogene Entscheidungen zu treffen haben,
sollen über die Finanzmärkte Möglichkeiten der Zukunftssicherung geboten
werden. In den Preisen der Papiere sollen alle verfügbaren Erkenntnisse und
Informationen über die Zukunft enthalten und bewertet werden. Wären die
Finanzmärkte in allen Fällen effizient, dann wäre in der Tat das beste Wissen
im Börsenkurs vereinigt. Das aber ist offenbar nicht, bestimmt aber nicht
immer der Fall, wie man an Blasen und Überreaktionen der Börsen erkennen
kann. Ganz abgesehen einmal von der erstaunlichen kriminellen Energie, die
selbst biedere Bürger zum Handel auf der Grundlage von Insiderwissen
verleitet.
Empfindlich gestört wird die Markteffizienz von Finanzmärkten durch
Spielleidenschaft und Geldgier, von denen sich Marktteilnehmer zu völlig
irrationalen Verhaltensweisen hinreißen lassen. Vielen weniger mit dem
Börsengeschehen vertraute Anleger, fällt der Ausstieg bei sinkenden Kursen
schwer. Finanzmärkte sind weitestgehend liberalisiert und internationalisiert
und damit nur noch von einer geringen Zahl von „Analysten“ überschaubar.
„Analysten“ haben in der letzten Blase nur allzu oft das Vertrauen von
Anlegern missbraucht. Sie hören dann lieber auf Einflussnahmen aus
Finanzhäusern, die ihre eigenen Interessen über die der Kunden stellen.
127
Die Irrationalität des Börsengeschehens ist schon früh in der
Wirtschaftsgeschichte nachweisbar, so z.B. bei den Tulpenspekulationen in
Holland (Siehe Kasten D17)
____________________________________________________________
Kasten C17: Spielleidenschaft und Tulpenzwiebel
Im 17. Jahrhundert erfreuten sich Tulpen in Europa großer Beliebtheit. Tulpenzwiebel wurden in
Holland an den Börsen gehandelt. Von 1634-1637 ereignete sich eine Tulpenblase. Die Preise von
Tulpenzwiebeln stiegen in unvorstellbare Höhen. Eine Sorte stieg von 1500 Guineen im Jahre
1634, was schon ein gewaltiger Preis war, auf 7500 Guineen im Jahr 1637. Das entsprach zu jener
Zeit dem Preis eines Hauses. Im Februar 1637 platze die Blase und die Tulpenzwiebeln wurden
nur noch (oder immerhin noch) mit einem Zehntel ihrer höchsten Notierung gehandelt. Als
Motive wurden Spielleidenschaft und Geldgier unterstellt. A propos: kleinere Börsen für
Tulpenzwiebel haben überlebt. Es gibt sie in Holland auch heute noch.
____________________________________________________________
Der Devisenmarkt ist ein weiterer problematischer Teilmarkt der
Finanzmärkte. Seit 1972/73 wurden die festen Wechselkurse zunehmend
durch flexible Wechselkurse ersetzt. Die Devisenmärkte wurden dereguliert
bzw. internationalisiert. Am Anfang des Devisenhandels steht die DreiecksArbitrage, d.h. Käufe und Verkäufe von Devisen (Siehe Abbildung Dj).
____________________________________________________________
Abbildung Dn: Dreiecks-Arbitrage
Yen/$
Yen 100 = $ 0,92
Yen 100 = € 0,73
€ 1 = $ 1,28
€/$
Yen/€
Wenn bei drei Währungen zwei Wechselkurse festgelegt sind, dann ist damit auch der dritte
rechnerisch bestimmt. Jede Abweichung, die durch Käufe und Verkäufe von Devisen an lokalen
Börsen auftreten, werden durch Dreiecks-Arbitrage zum Verschwinden gebracht. Die Kurse sind
vom 20.10.2004.
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128
Solche Devisengeschäfte machen durchaus Sinn. Aktuelle Dreiecks-Arbitrage
aber ist sicher der kleinere Teil des Devisenhandels. Der weitaus größere Teil
der Käufe und Verkäufe von Devisen bewegt sich im Rahmen von
Devisentermingeschäften. Da es sich um Zukunftswerte handelt, ist auch hier
der Spekulation Tür und Tor geöffnet. Das Volumen dieser Märkte ist sehr
groß. Die Transaktionen betragen zu Spitzenzeiten zuweilen bis zu $ 1,9 Mrd.
täglich! Die Kursschwankungen, die durch die Grundgeschäfte wie Exporte
und Importe nicht verursacht sind, sind Währungsspekulationen zuzuordnen.
Die Devisenmärkte sind wie die meisten anderen Finanzmärkte instabil. – Sie
neigen zu Überreaktionen. Das führt zu spekulativen Blasen für einzelne
Währungen. Wenn sie platzen kann es zu größeren Krisen, wie z.B. die
Asienkrise 1997 und in den folgenden Jahren kommen. Die Asienkrise war
bald nicht mehr auf asiatische Länder begrenzt sondern hat sich bis Russland
und Lateinamerika ausgebreitet. Die Verluste, gemessen in Einheiten des
Bruttoinlandsprodukts oder Beschäftigung, waren in der Asienkrise enorm.
Den Finanzmärkten wird eine Steuerungsfunktion für alle anderen Märkte
zugeschrieben. Bisher haben wir Märkte horizontal geordnet. Man kann auch
versuchen, Märkte vertikal aufzustellen. An der Basis sind die Gütermärkte,
darauf werden die Faktormärkte (Kapital, Arbeit, Boden) gesetzt. An der
Spitze stehen die Finanzmärkte. Zur Produktion von Gütern werden
Produktionsfaktoren sowie Rohstoffe und Halbfertigerzeugnisse eingesetzt.
Dazu müssen Finanzierungsmittel über die Finanzmärkte bereitgestellt
werden. Diese Bereitstellung hat einen Preis, der bei der Produktion
erwirtschaftet werden muss. Die Unternehmen müssen so gewinnträchtig
produzieren, dass sie zusätzlich den Preis für die Finanzierungsmittel zahlen
können. Da die Finanzmärkte nun keinen klar erkennbaren bzw. eindeutig
berechenbaren Beitrag zu Produktion von Gütern und Dienstleistungen
erbringen, müssen sie zum überwiegenden Teil aus den Erträgen bei der
Produktion erwirtschaftet werden. Die Ertragsanteile, die an die Finanzmärkte
fließen, erscheinen dort als abgeleitete Einkommen. Die Unternehmen
müssen diese Finanzierungskosten erbringen. Auf diese Weise werden sie
gezwungen, ihre Produktion zu rationalisieren und beispielsweise auf
„Sozialklimbim“ zu verzichten. Die sogenannten „Share-Holder-Values“ –
das sind die Interessen der Anteilseigner und der Eigeninteressen des
Managements – treten in den Vordergrund. Die sozialen Verpflichtungen der
übrigen am Unternehmensgeschehen nur indirekt beteiligten sozialen
Gruppen die sogenannten „Stake-Holders“, treten dagegen in den
Hintergrund. – Ein solcher Ansatz unterstellt die Effizienz der Finanzmärkte,
die aus vielerlei Gründen jedoch überwiegend oder zeitweise nicht gegeben
ist.
129
Der Druck des „stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse“ (siehe
Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das
ökonomische Gesetz als Macht) wird über die Finanzmärkte verstärkt.
International aktive Fonds, insbesondere Hedgefunds aber auch
Pensionsfonds, setzen die Zwangslage um. Sie verlangen von den
Unternehmen, deren Aktien sie halten, oder von Regierungen, deren
Schuldverschreibungen sie kaufen wollen, dass sie kurzfristig eine hohe
Renditen abwerfen. Größere Unternehmen werden deshalb auch oft zerlegt
und Teile des Unternehmens werden verkauft. Oft werden die übernommen
Unternehmen sich zugunsten des Hedgefunds hoch zu verschulden.
Im Wahlkampf 2005 sind die Hedgefunds – vielleicht sogar nicht ganz zu
Unrecht – mit Heuschrecken verglichen worden, die die Pflanzen ganzer
Landstriche abfressen. Beim Versuch der Frankfurter Börse, Teile der
Londoner Börse zu übernehmen, haben sie ihre Macht gezeigt, indem sie die
Übernahme verhindert und personelle Veränderungen in Vorstand und
Aufsichtsrat durchgesetzt haben. In vielen Ländern, nicht in Deutschland,
können Hedgefunds hohe Kredite aufnehmen, die sie für ihre Ankäufe und
Übernahmen nutzen. Ein rasch zunehmender Anteil des börsennotierten
Aktienkapitals ist auch in Deutschland (knapp über 20%?) bereits in ihrer
Hand. Über ihre besondere Machtposition können sie hohe Renditen
erwirtschaften, die sich auf über 20% belaufen sollen. Sie stimmen offenbar
in vielen Fällen ihre Vorgehensweise ab, obwohl das in Deutschland rechtlich
nicht zulässig ist. Sie werden als wichtige „Kapitalsammelstellen“ bezeichnet,
in die Superreiche ihr Geldvermögen anlegen. Die Strategien der Hedgefunds
sind kurzfristig orientiert. Längerfristige Perspektiven, die heute in
Deutschland nicht zuletzt aus ökologischen Gründen so wichtig sind wie
selten zuvor, fallen nicht ins Gewicht.
Im Fall von Finanzkrisen, die weitergehende Krisen in der Produktion
auslösen, können die Wohlfahrtsverluste enorme Größenordnungen
annehmen. Da Finanzmärkte instabiler sind als der Rest der Märkte, erhöht
die von ihnen ausgeübte Steuerungsfunktion die Instabilität der
kapitalistischen Marktwirtschaften. Diese Instabilitäten werden von den
Zentren auf die Peripherien oder in umgekehrter Richtung übertragen.
5) Eingeschränkte Effizienz von Märkten
Märkte stehen im Epizentrum des marktwirtschaftlichen Kapitalismus. Der
marktwirtschaftliche Kapitalismus sei die effizienteste Wirtschaftsform, die
130
die Menschheitsgeschichte bisher hervorgebracht hat. Das hat sogar zu der
Meinung geführt, dass die entwickelte kapitalistische Marktwirtschaft, wenn
sie mit einer Demokratie verbunden ist, der Höhepunkt und damit auch das
Ende der Menschheitsgeschichte sei. Wie dem auch sei, wir interessieren uns
jetzt erst einmal für die Begriff der Effizienz, der heutzutage in jeder
Sonntagsrede vorkommt. Effizienz ist sicher eines der am meisten
gebrauchten Unwörter. Das führt dann dazu, dass keiner mehr so recht weiß,
was mit dem Wort Effizienz gemeint ist.
Für die Wirtschaftswissenschaft gilt folgende Beschreibung des Begriffs der
wirtschaftlichen Effizienz. – Das Ziel wirtschaftlichen Handeln ist in der
akademischen Wirtschaftswissenschaft die Befriedigung der menschlichen
Bedürfnisse über die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Güter und
Dienstleistungen werden bereitgestellt durch Produktion und Austausch. Sie
sind begrenzt durch Knappheit von verfügbaren Mitteln. Unter diesen
Vorraussetzungen bedeutet Effizienz, dass man so weit wie nur irgend
möglich innerhalb der vorgegebenen aber begrenzten Voraussetzungen Mittel
und Techniken optimal kombiniert. – Diese Vorgehensweise sollte Paretooptimal sein. Vilfredo Pareto (1848 – 1923) war ein italienischer
Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieur. Pareto-optimal sind nur dann
wirtschaftliche Zustände, wenn eine Verbesserung der Lage eines
Wirtschaftssubjekts nicht zu Lasten eines anderen Wirtschaftssubjekts
vorgenommen wird. Pareto-optimale Zustände haben in ihrer
Gebrauchsanweisung auch „Kleingedrucktes“. Aus dem Konzept des ParetoOptimums lassen sich z.B. keine verteilungspolitischen Hinweise ableiten.
Das Pareto-Optimum ist gegenüber dem Problem der sozialen Gerechtigkeit
gleichgültig.
Das klingt nun reichlich abstrakt. Wir wollen einige Schritte in die Richtung
der Konkretisierung gehen. Die Einzelaktionen zur Erreichung der Paretooptimalen Effizienz-Zustände müssen koordiniert werden. In kapitalistischen
Marktwirtschaften werden sie über Märkte koordiniert, die sich natürlich in
der Marktform der vollständigen Konkurrenz befinden. Es lässt sich zeigen,
dass vollständige Konkurrenz in der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht
die Regel sondern in weiten Bereichen die Ausnahme ist. Weiterhin können
nur Märkte mit privaten Gütern effizient sein.
Informationen spielen bei der Marktkoordination eine entscheidende Rolle.
Die Erlangung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen sind selbst
wieder Gegenstand eines besonderen Zweigs der Wirtschaftswissenschaft
geworden, der Informationsökonomik. Von der Informationsökonomik
können gegenüber dem Effizienzkonzept schwerwiegende Vorbehalte geltend
131
gemacht werden. Sie zielen auf Marktversagen. Zwei Beispiele, die sich auf
einzelne Märkte beziehen und die bei der Entstehung der
Informationsökonomik eine Rolle gespielt haben, sollen kurz skizziert
werden.
Der Ausgangspunkt ist wieder einmal eine der Annahmen der neoklassischen
Wirtschaftstheorie, die auch Adam Smith bereits beschrieben hat. Dort wird
im allgemeinen die mehr oder weniger versteckte Annahme gemacht, dass
alle Wirtschaftssubjekte vollständig über Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft informiert sind. Die Informationen sind in einer solchen Annahme
natürlich auch gleich verteilt. Eine solche Annahme ist von unserem
Alltagsbewußtsein her gesehen geradezu lächerlich. Für
Wirtschaftstheoretiker, die ihre zunächst einfachen Modelle mit solchen
Annahmen garnieren, offenbar nicht. Die Annahme der Gleichverteilung der
Informationen wird jetzt einmal aufgehoben. An die Stelle der
Gleichverteilung tritt die für uns sicher „realistischere“ Annahme einer
asymmetrischen Verteilung der Information. Und schon ergeben sich
schwierige Probleme, die das ganze Theoriegebäude wie durch einen Erdstoß
zum Zittern bringen.
Eines der bekannteren Beispiele stammt aus der Versicherungswirtschaft. Es
ist für ältere Menschen nicht einfach und auch nicht gerade billig, eine
Zusatzversicherung zur gesetzlichen Krankenversicherung abzuschließen.
Warum? Ältere Menschen, die gesund sind und glauben, es auch zu bleiben,
werden sich nicht so häufig zusätzlich versichern wollen. Diejenigen aber, die
krank sind oder fürchten, es zu werden, sind dazu schon eher bereit.
Versicherungsgesellschaften sind schlechter informiert als die älteren
Menschen und können deren Gesundheitsrisiken schlechter einschätzen als
die älteren Menschen selbst. Sie möchte natürlich gern ältere Menschen
versichern, die gesund sind und es auch bleiben, um dann schnell zu sterben.
Statt dessen versichert sie ältere Menschen, die krank sind oder es
wahrscheinlich bald werden und dann langsam sterben. Die Prämien steigen.
Immer weniger Gesunde sind bereit, sich zu den hohen Prämien versichern zu
lassen. Die Versicherung wählt die von ihrem Standpunkt Falschen aus und
schreckt die für sie Interessanten ab. Das ist ein eklatanter Fall von
Marktversagen. Wirtschaftswissenschaftler nennen das „adverse Selektion“.
Ein weiteres Bespiel für adverse Selektion ist die Kreditvergabe über
Kreditkarten (hier nicht EC-Karten). Die Kreditzinsen sind bei Kreditkarten
erstaunlich hoch, mindestens das doppelte von Bankkrediten. Der sogenannte
Standardzins liegt bei rd. 16%. Es ist deshalb auf den ersten Blick erstaunlich,
dass Kredite über Kreditkarten überhaupt in Anspruch genommen werden. Es
132
sind darunter auch viele Kreditnehmer, die von den Banken keine Kredite
mehr erhalten und deshalb Kredite über Kreditkarten aufnehmen. Bei den
Krediten über Kreditkarten ist deshalb das Ausfallrisiko besonders hoch und
aus diesem Grund müssen auch die Zinsen hoch sein. Die Kreditkartenbanken
(American Express, Visa etc.) haben vor allem bei den Neuzugängen oft
„faule Kunden“. Kreditkartenbanken haben wie jede Bank ein vitales
Interesse, Kunden mit hoher Bonität auszuwählen. Sie erhalten jedoch einen
hohen Anteil von Kunden, die Insolvenz beantragen müssen. Die Insolvenz
muss in vielen Fällen gerade wegen der hohen Zinsforderungen angemeldet
werden. Die Kreditkartenbanken tragen über ihre hohen Zinsen zur Insolvenz
ihrer Kunden bei, obwohl sie gerade auf diesem Weg gezwungen werden,
hohe Zinsen zu nehmen. In den USA haben private Haushalte oft mehrere
Kreditkarten. Viele private Haushalte in den USA und auch in Deutschland
sind überschuldet. Die Zahl der Insolvenzen privater Haushalte steigt in fast
allen kapitalistischen Marktwirtschaften stark an. Marktversagen auf den
Kreditkartenmärkten trägt dazu bei.
Sie wollen ihr neues Auto verkaufen, weil Sie es aus irgendwelchen privaten
Gründen nun doch nicht brauchen. Die möglichen Käufer sind sehr
zurückhaltend. Sie glauben, dass sie übers Ohr gehauen werden. Sie denken
nämlich, dass mit der Karre irgendwas nicht stimmt. Wer verkauft denn
schon ein fast fabrikneues Auto? Verärgert setzen Sie den Preis herunter. Die
möglichen Käufer fühlen sich in ihrem Verdacht bestätigt und kaufen erst
recht nicht. Sie setzen weiter herunter und machen am Ende ein sehr
schlechtes Geschäft, der Käufer dagegen ein sehr gutes. Es zeigt sich auch an
diesem Beispiel, dass die Informationen über den Zustand des fast
fabrikneuen Autos asymmetrisch verteilt sind und nicht kommuniziert werden
können. Auch hier versagt der Markt.
Es werden Gegenstrategien entwickelt. Autohändler bauen einen guten Ruf
auf: „bei dem wird man wenigstens nicht übers Ohr gehauen!“ Statt gutem
Ruf sagen Wirtschaftswissenschaftler „Reputation“. Es werden vorzugsweise
standardisierte Produkte von möglichst einheitlicher Qualität hergestellt. Man
wird Stammgast in einem Restaurant, weil man dann immer(?) gut bedient
wird. Man wird Stammkunde beim Metzger oder beim Fischhändler.....Und
schon sieht man, dass das Informationsproblem, insbesondere bei
Informationen über die Qualität von Produkten in kapitalistischen
Marktwirtschaften erhebliche Probleme aufwirft. Marktversagen auf Grund
asymmetrisch verteilter Information ist nun keine Ausnahme sondern
wahrscheinlich eher die Regel. Was wird unter diesen Vorraussetzungen aus
dem allgemeinen Gleichgewicht? Die Märkte funktionieren schon irgendwie,
aber längst nicht so gut, wie Wirtschaftswissenschaftler es gerne hätten.
133
In Fällen, in denen die Reputation keinen erträglichen Ausweg bietet wie z.B.
bei der Qualität von verderblichen Lebensmitteln, der Hygiene bei der
Verarbeitung von Lebensmitteln, wird der Staat mit seinen Instrumenten
eingeschaltet oder es werden von den Produzenten sich selbst regulierende
Instanzen gegründet. Aber auch staatliche Instanzen sind nicht unfehlbar.
Immer wieder werden Lebensmittelskandale aufgedeckt. Die Etiketten für
Fleisch oder auf Weinflaschen werden gefälscht. Der Markt allein kann
offenbar keine verbindlichen Standards setzen. Den Marktteilnehmern scheint
es auch allzu oft an den moralischen Voraussetzungen zu fehlen.
Technische Neuerungen finden zuweilen bei Käufern keinen Anklang, weil
ihre Anwendung Umlernen erfordert. Der Mensch bleibt halt gern beim
Gewohnten und benutzt gern ausgetretene Pfade. In der
Wirtschaftswissenschaft spricht man von „Pfadabhängigkeit“. Ein Beispiel:
mechanische Schreibmaschinen hatten Metallstäbe mit Buchstaben am Ende,
die sich oft verhakten. Die Anordnung der Buchstaben auf der Tastatur war
so gestaltet, dass sich die Metallstäbe mit den Buchstaben , so weit es
möglich ist, nicht verhakten. Nach der Erfindung der elektrischen
Schreibmaschine sollte die Tastatur verändert werden, weil
Arbeitswissenschaftler herausgefunden hatten, dass man mit veränderten
Buchstabenfolgen schneller schreiben kann. Diese Neuerung scheiterte am
Widerstand der Nutzer, die mit zehn Fingern blind schreiben und nicht
umlernen wollten. Der „Keyboard“ unserer Laptops ist noch immer die
Tastatur der mechanischen Schreibmaschine. Das Beispiel gilt interessanter
Weise nicht nur für die deutsche Tastatur sondern auch für andere Sprachen
entsprechend. Pfadabhängigkeit führt zu suboptimalen Zuständen. – Auch
dieses Beispiel zeigt, dass die Marktwirtschaft nicht immer zu effizienten
Lösungen führt. Verbraucherschutz ist unverzichtbar, nicht weil es hier und
da einmal ein schwarzes Schaf gibt, sondern weil die Effizienz der Märkte
auf vielfache Weise stets gefährdet ist.
Kleine und mittlere Unternehmen haben weniger gute Karten, wenn es um die
Bewältigung der hier vorgestellten Probleme geht. Theoretisch können sie
nicht viel mehr als ihre Produktionsmengen den am Markt vorgefundenen
Preisen anzupassen. Unter solchen Vorraussetzungen sind die Gewinnraten
niedrig, d.h. ihr Handlungsspielraum ist sehr gering.
Anders ist die Position der Oligopole. Sie haben die Möglichkeit, sich über
Verkaufspreise zu verständigen und das tun sie auch, indem sie ihr Angebot
bei bestehender Nachfrage einschränken. Wir sehen das auf den Zapfsäulen,
den Gas- und den Elektrizitätspreisen. Die Internationalisierung der
134
Kapitalkreisläufe kann von Oligopolen am besten genutzt werden, birgt aber
auch für sie gewisse Gefahren. Ausländische Unternehmen können auf den
einheimischen Märkten der Oligopole auftreten und ihre Preispolitik stören
bzw. versuchen, ihnen Marktanteile abzujagen. Die deutsche Autoindustrie
und die Importe aus Asien und Korea sind dafür ein Beispiel. Oligopole
konkurrieren vorzugsweise über Innovationen. Hier bieten sich die
technologischen Entwicklungen bei Toyota und Volkswagen als Beispiel an.
Die neuen Technologien werden von ihnen meist als Nebenprodukte von
Rüstungsaufträgen entwickelt und vermarktet. Oligopole sind zum harten
Kern der kapitalistischen Marktwirtschaft herangereift.
6) Emissionshandel und saubere Luft
Märkte sind ziemlich weit entfernt von der oft behaupteten Markteffizienz.
Doch wird das nur ungern von marktradikalen Theoretikern zur Kenntnis
genommen. „Mehr Markt“ steht auf ihrem Panier. Märkte sind für
marktradikale Theoretiker nicht nur eine historische Erscheinung sondern
auch ein Baustein für Problemlösungen. Die globale Erwärmung ist eines der
größten Probleme unserer Zeit. Die Luft muss sauberer werden.
Treibhauseffekt und Erderwärmung haben ungeheure Gefahrenpotentiale
freigesetzt. Der Hurrikan Katrina wird mit der Erd- bzw. Meereserwärmung
in Verbindung gebracht.
Saubere Luft ist ein öffentliches Gut. Private Unternehmen stehen unter
Konkurrenzdruck. Es liegt nahe für sie, die Kosten zu senken, indem sie
Schadstoffe in die Umwelt abgeben, d.h. sie externalisieren private Kosten.
Diese privaten externalisierten Kosten müssen von der Gesellschaft beseitigt
werden. Aus der Summe der externalisierten privaten Kosten entstehen
gesellschaftliche Kosten für die Schadstoffbeseitigung. Es kann versucht
werden, diese Externalisierung durch staatliche Verbote, Strafandrohungen,
Emissionssteuern, Gebühren zu verhindern. Diese Wege sind nicht unbedingt
erfolgreich gewesen.
Deshalb wird seit rd. drei Jahrzehnten diskutiert, wie man
Schadstoffemissionen mit marktwirtschaftlichen Mitteln in den Griff
bekommen kann. Emissionshandel, d.h. Handel mit übertragbaren
Emissionszertifikaten, soll dazu tauglich sein. (siehe Kasten D18:
Übertragbare Emissionszertifikate)
______________________________________________________________
Kasten C18: Übertragbare Emissionszertifikate
135
Bei übertragbaren Emissionszertifikaten handelt es sich um eine Gesamtheit von
handelbaren Papieren, die unter Unternehmen aufgeteilt werden. Die Summe der
Zertifikate ist gleich der Gesamtmenge von Schadstoffen, deren Ausstoß vom Staat
festgelegt wird. Alle Unternehmen dürfen die Schadstoffmenge in der Höhe ausstoßen, für
die sie Zertifikate haben. Auf Überschreitungen der Emission der jeweils erlaubten
Schadstoffmenge stehen hohe Strafen. Die übertragbaren Emissionszertifikate können
gekauft und verkauft werden. Zu diesem Zweck kann eine besondere Börse geschaffen
werden.
Im Rahmen eines solchen Systems werden diejenigen expandierenden Unternehmen
Zertifikate kaufen, für die eine Umrüstung auf verringerten Schadstoffausstoß am
teuersten ist. Es werden dagegen diejenigen Unternehmen Zertifikate verkaufen, deren
Kosten für Umrüstung deutlich geringer ist als der Preis, den sie für ihre Zertifikate
erzielen können. Auf diese Weise werden die Kosten der Umrüstung so verteilt, dass die
Erreichung des vom Staat festgesetzten Gesamtvolumens an Schadstoffemissionen für
eine Schadstoffart am niedrigsten sind.
In den USA hat es schon in den siebziger Jahren solche Systeme gegeben, an denen
allerdings nicht alle den jeweiligen Schadstoff (z.B. Schwefeldioxyd) ausstoßenden
Unternehmen beteiligt waren. Untersuchungen haben gezeigt, dass das System im Prinzip
funktionsfähig gestaltet werden kann.
Auch in Leipzig gibt es eine Börse, die den Emissionshandel im Frühjahr 2005
aufgenommen hat. Dort können vor allem die vier großen deutschen Stromoligopole Eon,
RWE, Vattenfall Europe, ENBW Zertifikate verkaufen und einkaufen. Außer den
Stromoligopolen sind an der Leipziger Emissionsbörse Stromhändler, Banken,
Industriebetriebe und (Hedge)-Fond(!) vertreten. Zwischen Stromoligopolen und
Umweltminister gibt zur Zeit Auseinadersetzungen über die Verbuchung bzw. Bewertung
von Zertifikaten.
________________________________________________________________________
An welche Vorraussetzungen ist die Funktionsfähigkeit eines solchen
Marktes für Emissionszertifikate gebunden? Im Hintergrund stehen wieder
die Annahmen, die marktradikale Ökonomen gerne verschweigen. Es wird
sich wohl nicht um den Lehrbuchfall der vollständigen Konkurrenz handeln.
In diesem Fall wäre der Vorschlag vielleicht erfolgversprechend. Die
wirtschaftliche Wirklichkeit aber sieht oft so aus, dass viele kleine
Unternehmen neben einer geringen Zahl von Oligopolen existieren. Sie alle
sind Inhaber von übertragbaren Emissionszertifikaten. Ihre Marktmacht ist
sehr unterschiedlich. Man wird davon ausgehen können, dass ein großer,
wenn nicht sogar der überwiegende Teil der Schadstoffemissionen von den
oligopolistischen Großunternehmen stammt. – Was könnte aus einer solchen
Ausgangslage entstehen? Die oligopolistischen Großunternehmen werden
dank ihrer Marktmacht und ihrer Informationsvorsprünge Mittel und Wege
finden, den Preis der Emissionszertifikate zu drücken. Dann werden sie die
billigen Emissionszertifikate aufkaufen, die es ihnen erlauben, ihren
136
Schadstoffausstoß bei Produktionserhöhungen zu vergrößern. Die Chancen,
zu hohen Preisen für Emissionszertifikaten zu kommen, dürften schon allein
deshalb gering sein. Das aber wäre die Voraussetzung für die Effizienz der
Märkte für Emissionszertifikate. Nur bei hohen Preisen für
Emissionszertifikate können die Oligopole zu einem Rückgang ihrer
Schadstoffemissionen bei expandierender Produktion veranlasst werden. Bei
niedrigen Preisen für Emissionszertifikaten dagegen wird der Kauf dieser
Zertifikate günstiger sein als Investitionen für die Schadstoffbegrenzung
vorzunehmen.
Auch Informationsprobleme werden auftreten. Es dürfte nicht in allen Fällen
einfach sein, Schadstoffemissionen staatlich zu kontrollieren. Die Androhung
hoher Strafen wird nicht genügen. Die Skandale im Zuge des letzten
Börsenkrachs im Jahr 2000 lehren, dass die kriminelle Energie in den
Chefetagen der transnationalen Unternehmen überraschend groß sein kann.
Die Internationalisierung des produktiven Kapitals kann dazu missbraucht
werden, dass die Schadstoffemissionen ins Ausland verlagert werden, wo es
keine Kontrollen gibt oder die Kontrollen leichter zu umgehen sind. Saubere
Luft mittels Emissionshandel wird wohl nur über eine schärfere Regulierung
dieses Marktes erfolgversprechend sein.
D) Einzelwirtschaftliche Grundmuster
1) Die Produktion: Perspektiven der akademischen
Wirtschaftswissenschaft
Eine gängige Definition der Produktion in der akademischen
Wirtschaftswissenschaft lautet: Im Produktionsprozess verwandeln
Unternehmen Inputs (Kapital, Arbeit, Rohstoffe) in Output (Produkte).
Verwandeln? Blut, Schweiß, Tränen, Müdigkeit, Burnout, Gebrüll von
Vorgesetzten, Mobbing im Arbeitsprozess bleiben außen vor. Auch von der
Zufriedenheit, die Arbeit ja hin und wieder auch noch verschaffen kann,
reden Ökonomen selten oder nie.
Statt dessen wird eine Funktion aufgeschrieben, in der die Produktion
abhängig ist von Kapital und Arbeit:
137
Produktion = f(Kapital, Arbeit).
Die Zahl der unabhängigen Variablen kann erhöht werden, z.B. um den
technischen Wandel. Die formale Darstellung von Produktionsfunktionen
erfordert einen nicht unerheblichen mathematischen Aufwand.
____________________________________________________________
Abbildung Do: Produktionsfunktion
Produktion
je Beschäftigten
P1
P2
Kapital je Beschäftigten
In dieser Abbildung werden Kapital je Beschäftigten auf der x-Achse und Produktion je
Beschäftigten auf der y-Achse abgetragen. Mit zunehmendem Kapitaleinsatz nimmt die
Produktion je Beschäftigten zu. Die Raten der Zunahme werden jedoch geringer. In anderen
Worten: das physische Grenzprodukt nimmt ab. In der gewerblichen Wirtschaft ist das physische
Grenzprodukt jedoch nicht messbar.
Die Arbeitsnachfragekurve der Unternehmen wird aus dem abnehmenden Grenzprodukt
abgeleitet und hat deshalb die in Abbildung Cj(b) abwärts gerichtete Form (siehe Abbildung
Cj(b)).
Bei vollständiger Konkurrenz ist das Grenzprodukt niedriger als bei oligopolistischer Konkurrenz
oder Monopol auf den Absatzmärkten. Monopole und Oligopol verfügen über die Marktmacht,
ihre Preise so zu setzen, dass sie ein höheres Grenzprodukt haben.
Bei Vorliegen von technischem Wandel verschiebt sich Kurve des Grenzprodukts nach oben.
Dabei wird hier aus Gründen der Anschaulichkeit der Kapitaleinsatz pro Beschäftigten bei K
konstant gehalten. Das Grenzprodukt verschiebt sich von P1 auf P2 bzw. das Grenzprodukt nimmt
entsprechend zu.
Oligopole bringen die meisten Innovationen hervor. Das gilt nicht nur für ihre Endprodukte
sondern auch für ihre Produktionsverfahren. Damit verschieben sie auch ihre Produktionskurve
nach oben. Sie erhöhen ihr Grenzprodukt nicht nur auf Grund ihrer Marktmacht sondern auch
wegen technologische Vorsprünge. Das sollte ihnen erlauben, die Löhne ihrer Mitarbeiter zu
erhöhen.
___________________________________________________________________________
138
Ausgehend von Abbildung En sieht man, dass auch die Vorschläge für
Lohnsenkungen auch theoretisch auf schwachen Beinen stehen. Es wird von
ideologisch vernagelten Ökonomen behauptet, dass Lohnsenkungen der
einzige Weg zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit seien. Das ist ganz
offensichtlich nicht der Fall. Das zeigen selbst im neoklassischen Verständnis
simple Darstellungen der Produktionsfunktion. Sie könnten nur Gültigkeit
haben in einer Ökonomie mit vollständiger Konkurrenz ohne technischen und
organisatorischen Fortschritt. Ein solche Konstellation gibt es allerdings in
Segmenten des Dienstleistungssektors.
Es sind andere Produktionsprozesse denkbar, die von größeren Unternehmen
auch ausgearbeitet wurden. Dazu zählen Verbundvorteile. Verbundvorteile
liegen dann vor, wenn der Output eines Unternehmens, das zwei Produkte
herstellt, größer ist als die Summe der beiden Produkte, wenn sie von zwei
Unternehmen getrennt hergestellt würden. Hegel sagt es (ausnahmsweise)
einfacher: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Verbundvorteile
können technisch bedingt sein, z.B. bei einer Raffinerie. Dort fallen Kerosin,
Benzin, Teer etc. in einem festen Verhältnis an. Verbundvorteile können auch
mit dem Ziel eingeführt werden, die Produktion zu erhöhen, z.B. ein
Autohersteller gründet eine Kundenkreditbank. Bei allem guten Willen des
Managements können auch Verbundnachteile auftreten. Dann ist das Ganze
weniger als die Summe seiner Teile.
Macht denn eine Erhöhung der Produktion immer Sinn? Offenbar nur dann,
wenn die Grenzkosten noch unter dem Preis liegen. Unternehmen haben nun
(theoretisch) zwei Möglichkeiten. Einmal können sie versuchen ihre
Marktmacht zu vergrößern, um aus dem Käfig der Festpreise
herauszukommen. Darüber wird im nächsten Unterabschnitt zu sprechen sein.
Zweitens aber können sie versuchen, einen anderen Verlauf ihrer
Kostenkurve zu erreichen. Wählen sie einen anderen Verlauf ihrer
Kostenkurve, dann stoßen sie oft auf Lernkurven. Wir wissen aus unserer
Alltagsarbeit z.B. im Haushalt, dass man Dinge, die man neu anfängt, zuerst
langsam, dann aber schneller erledigen kann. Man hat dazu gelernt. Solche
Erfahrungen lassen sich auf Produktionsprozesse von Unternehmen
übertragen. Dabei wird bei Lernkurven der folgende Verlauf angenommen.
____________________________________________________________
Abbildung Dp: Lernkurve
Arbeitsstd.
Pro Tanker
139
Anzahl der Tanker
Die Produktionskosten eines Unternehmens können im Laufe der Zeit fallen, wenn die
Belegschaften und das Management lernen, die verfügbare Produktionsanlage besser und
gegebenenfalls auch materialsparender einzusetzen. Die Lernkurve zeigt, wie die benötigten
Arbeitsstunden pro Outputeinheit fallen, während der kumulierte Output zunimmt.
____________________________________________________________
In Abbildung Eq wird der Bau von Öltankern als Beispiel angeführt. Eine
Werft hat einen Auftrag von einer größeren Zahl von Tankern. Beim Bau des
ersten Tankers ist Zahl der Arbeitsstunden noch recht hoch. Über
organisierbare Lernprozesse kann die Zahl der Arbeitsstunden erheblich
gesenkt werden. Eine Verringerung der Arbeitsstunden von einem Drittel
oder sogar die Hälfte ist nicht außer der Reichweite. Die Produktivität steigt
entsprechend. Die Lohnstückkosten, d.h. die Lohnsumme, geteilt durch die
Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, fallen erheblich (siehe Kasten 17: Opel
und die Kartoffelschälerin).
Größenvorteile sind mit Lernerfolgen nicht gleichzusetzen. Größenvorteile
können auch dann entstehen, wenn ein Unternehmen seine
Lernmöglichkeiten bereits ausgeschöpft hat. Eine Maschinenfabrik, die
unterschiedliche Losgrößen (Stückzahlen) von Maschinen herstellt, findet
heraus, dass bei gegebener Ausstattung mit Produktionsfaktoren die
Stückkosten bei großen Losgrößen niedriger sind als bei kleinen. Das
Unternehmen wird dann natürlich versuchen, große Losgrößen herzustellen,
wenn dafür die mengenmäßige Nachfrage vorhanden ist. Meist aber gehen
Lernkurven und Größenvorteile Hand in Hand. Das bedeutet, dass die
Produktion erheblich ausgedehnt werden kann, ohne dass zusätzliche
Arbeitskräfte eingestellt werden. Das könnte in weiten Teilen der deutschen
Exportindustrie der Fall sein.
Von Interesse in unserem Zusammenhang ist auch die Beziehung zwischen
den gefertigten Produkten (Output) und dem Einsatz von Vorleistungen
(Inputs) aller Art. Skalenerträge geben die Rate an, mit der sich der Output
bei einer proportionale Erhöhung der Inputs erhöht. Man spricht dann von
konstanten, zunehmenden und abnehmenden Skalenerträgen in der
Produktion. Die Skalenerträge sind konstant, wenn sich der Output mit der
gleichen Rate wie die Inputs erhöht. Wenn Arbeits- und Kapitaleinsatz um
einen Prozentsatz von 10% zunehmen, dann nimmt die Produktion ebenfalls
um 10% zu. Das ist der Regelfall für die akademische Wirtschaftstheorie.
140
Unternehmen oder Wirtschaftspolitiker aber ziehen selbstverständliche
zunehmende Skalenerträge vor, d.h. dass dann der Output mit einer höheren
Rate zunimmt als die Inputs. Um beim Beispiel zu bleiben, zunehmende
Skalenerträge liegen vor, wenn bei einer Erhöhung des Arbeits- und des
Kapitaleinsatzes von jeweils 10% die Produktion um 15% zunimmt. Weniger
schön ist es natürlich, wenn der Output mit geringerer Rate zunimmt als die
Inputs. Die Problematik der Skalenerträge ist für die amerikanische
Teppichindustrie untersucht worden. Es konnte dort gezeigt werden, dass es
Großunternehmen dieser Branche nicht aber den kleinen Betrieben dieser
Branche gelungen ist, zunehmende Skalenerträge zu erreichen. Die
Großunternehmen haben große Webmaschinen eingesetzt und proportional
dazu die Arbeitskräfte erhöht. Arbeitskraft wurde in diesem Beispiel nicht
durch Maschinen ersetzt. Dagegen stieg die Teppicherzeugung schneller als
Einsatz von Kapital und Arbeit. Genau das aber bedeutet zunehmende
Skalenerträge für die Teppichindustrie.
Verbundvorteile, Lernkurveneffekt, Größenvorteile und zunehmende
Skalenerträge weisen im Vergleich zur Entwicklung des Grenzprodukts auf
ein anderes Einstellungs- und Entlassungsverhalten für die jeweils
betroffenen Unternehmen hin. Einstellungen und Entlassungen sind dann
nicht mehr direkt von den Lohnkosten abhängig. Für Einstellungen spielen
dann in der Regel auch Lohnsenkungen oder Erhöhung der Arbeitszeit ohne
Lohnausgleich eine weitaus geringere Rolle. Direkt und indirekt dürften die
Produktionsprozesse mit Lernkurven, Verbund- und Größenvorteilen,
zunehmende Skalenerträgen mit Erhöhungen der Produktivität verbunden
sein. Produktivitätsniveau und Produktivitätsentwicklung sind wichtig!
In den gegenwärtigen Debatten um Exporte von Arbeitsplätze in
Billiglohnländer wird die Lohndifferenz in den Vordergrund gestellt. Das
kann nur verwundern (siehe den folgenden Kasten E13: Opel und die
Kartoffelschälerin)
____________________________________________________________
Kasten C19: Opel und die Kartoffelschälerin
Der Spiegel hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht über Exporte von Arbeitsplätzen aus
Deutschland. In diesem Bericht steht die Produktivitätsproblematik nicht gerade im Vordergrund.
Wir werden belehrt, dass ein Arbeiter bei Opel in Gliwice brutto € 700 nach hause trägt, dass er
länger arbeitet, weniger Urlaub hat als eine Arbeiterin bei Opel, die immerhin brutto € 2900
verdient. Deshalb habe der Standort Bochum gegen den Standort Gliwice keine Chance (Der
Spiegel, Nr. 44, 25/10/2004). Reicht es wirklich nur den Bruttolohn zu vergleichen? Hätte die
Produktivität da nicht auch ein Wörtchen mitzureden?
141
Stellen Sie sich vor, Sie hätten täglich einen Berg Kartoffel zu schälen. Sie stellen eine junge Frau
ein. Sie zahlen der Frau € 10. Hin und wieder brauchen Sie eine Aushilfskraft, der sie € 8 zahlen.
Ihre Mitarbeiterin ist im Kartoffelschälen sehr geübt, schält mit einem besonderen Schälmesser
und bringt es auf rd. 400 Kartoffel die Stunde. Die Aushilfskraft hat dagegen nur ein einfaches
Küchenmesser und schafft nur 200 Kartoffel. Würden Sie die Frau wegschicken und durch die
Aushilfskraft ersetzen? Schließlich sparen sie dann doch € 2 pro Stunde! – Würden Sie
mitnichten. Die Produktivität der Mitarbeiterin ist höher (400 Kartoffel pro Stunde), die der
Aushilfskraft viel niedriger (200 Kartoffel pro Stunde) Sie rechnen sich die Lohnkosten je
Produkteinheit aus, d.h. die Kosten einer geschälten Kartoffel. Das sind 10 : 400 = 0,025 für die
Mitarbeiterin. Für die Aushilfskraft dagegen sind es 8 : 200 = 0,04. Bezogen auf die Lohnkosten
je Produkteinheit ist die Mitarbeiterin erheblich billiger als die Aushilfskraft. Moral von der
Geschichte: Nicht der Bruttolohn sondern die Lohnkosten je Produkteinheit sind die
Vergleichsgrundlage. Das gilt für die Autoproduktion genau so wie für das Kartoffelschälen.
Sie könnten jedoch eine andere Strategie einsetzen. Sie könnten auf Lerneffekte setzen. Sie statten
die Aushilfskraft mit einem besseren Kartoffelschäler aus und prüfen, wie viel Kartoffel sie nach
einer Anlernperiode schafft. Erhöht die Aushilfskraft ihre Produktivität auf 400 Kartoffel pro
Stunde, dann entlassen sie ihre Mitarbeiterin und stellen die Aushilfskraft für € 8 fest ein. Die
Lohnkosten je Produkteinheit der früheren Aushilfskraft liegen dann mit 8 : 400 = 0,02 unter
denen der ehemaligen Mitarbeiterin. Die neue Mitarbeiterin (ehemalige Aushilfskraft) tritt dann in
Streik oder sucht sich eine bessere Stelle? Sie will ihren Anteil an der Produktivitätserhöhung! Bei
Massenarbeitslosigkeit aber stehen ihre Chancen, eine Lohnerhöhung, durchzusetzen nicht gut.
Auch beim Vergleich zwischen Gliwice und Bochum sollte die Produktivität ausdrücklich
einbezogen werden. Grundlage eines Vergleichs sind die Lohnkosten je Produkteinheit und nicht
die Absolutwerte der Bruttolöhne. Es ist aber wohl nicht davon auszugehen, dass die Produktivität
in Bochum sehr viel höher ist als in Gliwice, so dass der große Lohnunterschied durch den
Unterschied in der Produktivität ausgeglichen werden könnte. Vielleicht ist die Produktivität ja in
beiden Standorten ungefähr gleich hoch. Dann sieht es auch vom Standpunkt der Lohnkosten je
Produkteinheit her gesehen in der Tat schlecht aus für den Standort Bochum.
Im übrigen ist das Problem für Opel weniger ein Problem der hohen Lohnkosten je Produkteinheit
sondern ein Nachfrageeinbruch für Opel bzw. General Motors. Weltweit sind hohe
Überkapazitäten in der Autoindustrie vorhanden. Zuerst geschlossen werden die am wenigsten
zukunftsträchtigen Standorte. Das sind nicht unbedingt die mit den höheren Löhnen. Es gilt dann
zu untersuchen, ob die Produktionsprozesse über Lernkurven, Verbund- und Größenvorteile,
zunehmende Skalenerträge noch modernisiert werden können. Das würde bedeuten, dass mehr an
der Produktivitätsschraube und vielleicht deshalb auch weniger an der Lohnschraube gedreht
wird, um die Lage des Gesamtunternehmens wieder in den Griff zu bekommen. – Doch GM hat
auch in diesem Bereich sicher noch andere Optionen. GM könnte den Wertschöpfungsanteil, der
in Bochum produziert wird, stark verringern und den wohl überwiegend importierten
Vorleistungsanteil entsprechend erhöhen. Damit steigt dann in der Regel auch die Produktivität
im verbliebenen Produktionsprozess. GM wird wohl von allem etwas tun. Ob die Maßnahmen
wirklich greifen, wird man erst in einigen Jahren sehen. Der Standort Bochum bliebe dann bei
hohen Entlassungen stark reduziert erhalten. Wie lange?
Ein möglicher, diesmal gewerkschaftlich orientierter Ausweg. Die Löhne der Bochumer Opelaner
werden nicht gesenkt sondern die der Gleiwitzer werden angehoben! Wenn die Löhne der
wirtschaftlichen Zentren auf das Niveau der Peripherien abgesenkt werden, dann stellt sich
irgendwann auch mal die Frage, wer die hübschen Autos denn kaufen soll bzw. kann? Erinnert sei
hier an Henry Ford, der sein T-Modell am Fließband produzieren ließ. Die Löhne sollten nicht
erhöht werden. Der Gewerkschaftsboss soll ihm geantwortet haben: und wer soll all die schönen
142
Autos kaufen? Das gab selbst Henry Ford zu denken. Die Löhne wurden – nicht ohne
Arbeitskämpfe – erhöht und die Automobilarbeiter konnten schließlich sogar selbst Autos kaufen.
Bei der Ansiedlung in Gleiwitz standen noch militärpolitische Zusammenhänge im Hintergrund,
die für die Entscheidung wichtig waren. Die Lohnunterschiede waren die ganze Geschichte. Wie
sonst könnte man sich die Ansiedlung von BMW in Leipzig allerdings mit einer der modernsten
Fertigungsstraßen vorstellen. Hier werden die Lohnunterschiede zu weiter östlich gelegenen
Standorten offensichtlich durch Produktivitäts- und Qualitätsunterschiede aufgewogen.
____________________________________________________________
Beim Vergleich von Kosten zur Entscheidung einer Standortwahl sollte man
die Lohnkosten je Produkteinheit in den Vordergrund rücken. Bei einer
Bewertung von zwei Standorten in unterschiedlichen Währungsgebieten ist
die zukünftige Entwicklung der Währungsrelationen von besonderer
Bedeutung. Bei flexiblen Wechselkursen sind die Schwankungen meist recht
stark, wie man zur Zeit bei dem Euro-Dollar-Kurs sehen kann. Eine
verlässliche Prognose von Währungsrelationen aber ist schlicht und einfach
nicht möglich. Vergleiche sind sogar in der Wirtschaftswissenschaft
Glückssache. Oft hat man Pech. Wo landen die Kosten der
Fehleinschätzungen?
Lohnniveau und Produktivitätsniveau hängen miteinander zusammen.
Produktivitätserhöhungen führen in der längerfristigen Betrachtung zu
Lohnerhöhungen. Auf diese Weise entstehen unter marktwirtschaftlichen
Bedingungen Aufholprozesse. In asiatischen Wirtschaftssonderzonen werden
die Reallöhne trotz Produktivitätserhöhungen auf niedrigem Niveau
eingefroren. Das geht in Diktaturen offenbar ganz gut. Dort nämlich werden
Gewerkschaften verboten, die Lohnerhöhungen erkämpfen könnten. Die
Aufholprozesse werden beeinträchtigt. Ob das der wirtschaftlichen
Entwicklung der betroffenen Länder auf Dauer dient?
2) Marktform und Wettbewerbsstrategie
Im vorangegangenen Unterabschnitt wurde überwiegend mit dem Konzept
der vollständigen Konkurrenz gearbeitet. Die Preise können bei dieser
Marktform von den Unternehmen nicht beeinflusst werden. Sie sind
vorgegeben. Das kann den Unternehmen nicht gefallen. Sie suchen stets
nach Wegen, um sich aus der Zwangsjacke der vorgegebenen Preise zu
befreien und die Preise in gewissem Umfang selbst festzulegen. Das hat
schon Adam Smith missfallen. Der erste Schritt wäre die Bildung von
Kartellen. Die Unternehmer setzen sich zusammen und treffen
143
Preisabsprachen. Sie setzen dann Preise durch, die oberhalb des
Marktgleichgewichts liegen. Nur ein Teil der Nachfrage wird befriedigt.
Diese Zusammenhänge können mithilfe der Abbildung Di erarbeitet
werden. Besonders auffällig sind Bieterkartelle bei der Vergabe von
öffentlichen Aufträgen. Sie sind verboten. Ein solches Kartell ist deshalb
auch geheim. Bieter verteilen die öffentlichen Aufträge in einer
bestimmten Reihenfolge und geben ihre Gebote in entsprechender Höhe
ab. Die Preise sind überhöht, versteht sich. Jeder kommt einmal dran. Wir
befinden uns an der sogenannten Schnittstelle zwischen Markt und Staat.
Dort ist der gesellschaftliche Ort, an dem viel Korruption angesiedelt ist.
Die akademische Wirtschaftswissenschaft aber ist der vollständigen
Konkurrenz nach wie vor sehr zugetan. Vollständige Konkurrenz, auch
atomistische Konkurrenz genannt, ist eine Art Denksportaufgabe, mit der
man seine Denkfähigkeit üben kann aber nicht unbedingt einen Zugang zur
wirtschaftlichen Wirklichkeit suchen sollte oder finden könnte. Vollständige
Konkurrenz wäre dann gegeben, wenn eine Wirtschaft nur von kleineren oder
mittleren Unternehmen bevölkert wäre. Diese Unternehmen können keinen
Einfluss auf die Preise ihrer Waren nehmen sondern der Preis wird ihnen vom
Markt signalisiert. Sie können nur die Menge ihrer Waren variieren. Deshalb
werden sie auch Mengenanpasser genannt. Sie werden die von ihnen
angebotene Menge so lange vergrößern bis die Grenzkosten gleich dem Preis
sind. Was heißt das?
Holen wir uns einmal mehr unseren alten Bekannten den Fliesenleger an den
Tisch. „Also wenn ich“ so sagt der uns dann, „einen zusätzlichen Auftrag
hereinnehmen will, dann schau ich mir zunächst mal an, was mich die Sache
kostet. Ich muss Platten kaufen, Mörtel und noch ein paar Kleinigkeiten.
Dazu nehme ich einen Kredit auf. Hoffentlich kriege ich überhaupt einen
Kredit von einer Bank. Der kostet mich so und so viel Zinsen. Ich rechne
meine Arbeitsstunden aus. Ich rechne mir einen kleinen Unternehmerlohn
dazu für die Zeit, die ich darauf verwende, den Auftraggeber ausfindig zu
machen, ihn zu überzeugen, dass er bei mir gute Arbeit kriegt usw. Dann
schlage ich die Mehrwertsteuer drauf, die ich zu zahlen habe. Das sind meine
Kosten für den zusätzlichen Auftrag oder meine Grenzkosten, wie es die
Ökonomen nennen – Und dann schau ich mir den Auftragswert an, den Preis,
den ich für den Auftrag kriege. Ist Preis höher als die Grenzkosten meines
zusätzlichen Auftrags, dann nehme ich den Auftrag herein. Unter die
Grenzkosten lasse ich mich in Verhandlungen nicht drücken“. Wir entgegnen:
„Grenzkosten gleich Preis. So steht es in den Lehrbüchern“. „In
Ausnahmefällen würde ich sogar unter die Grenzkosten gehen, z.B. um einen
144
Kunden zu halten oder um in einen neuen Markt hinein zu kommen. Aber im
Normalfall möchte ich schon einen Gewinn machen. So funktioniert die
Marktwirtschaft nun mal. Was auch immer in euern Lehrbüchern stehen
mag!“
Wäre die Wirtschaft nur mit Unternehmen bevölkert, die sich mit
Grenzkosten gleich Preis, d.h. Nullgewinn zufrieden geben, dann stellt sich
ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht über die Märkte her. Ja, wenn sich
alle Unternehmen rational verhalten, wenn sie in vollem Umfang informiert
sind, wenn ihre Kostenfunktionen konstante Skalenerträge haben, wenn es
nur private und keine öffentlichen Güter gibt. Ja, dann werden die Märkte
geräumt. Dann braucht man keinen Staat, der Allokations-, Distributions- und
Verteilungsfunktionen wahrnimmt.
Eine besonders problematische Marktform ist das Monopol, ein
Alleinanbieter, der nicht nur den Preis seiner Erzeugnisse, sondern auch die
Qualität und auch andere Bedingungen setzen kann. Auch hier gilt verschärft,
dass der Monopolist wegen seiner überhöhten Preise nur einen Teil der
Nachfrage bedient. Ein Unternehmen in der Marktform der vollständigen
Konkurrenz kann seine Preis natürlich nicht so setzen wie ein Monopolist.
Ein Monopolist dagegen könnte seinen Preis so setzen wie es ein
Unternehmen der vollständigen Konkurrenz tun muss. Ein privater
Monopolist wird das nicht tun. Ein verstaatlichtes Monopol dagegen kann
unter staatlichem Einfluss sich verhalten als ob es ein Unternehmen der
vollständigen Konkurrenz wäre. Dann würde das staatliche Monopol den
Gleichgewichtspreis von Abbildung Di verwirklichen. Es kann also durchaus
sinnvoll sein, private Monopole zu verstaatlichen. Wenig sinnvoll aber ist es,
ein staatliches Monopol zu privatisieren, wenn daraus ein privates Monopol
entsteht. Das verstaatlichte Monopol sollte vor seiner Privatisierung
zerschlagen werden, damit ein Preis zustande kommen könnte, der mit dem
Gleichgewichtspreises der vollständigen Konkurrenz übereinstimmt. Nur
dann wird die gesamte Nachfrage bedient, die bereit ist zum
Gleichgewichtspreis zu kaufen.
Es gibt nicht nur Monopole auf der Angebotsseite sondern auch auf der
Nachfrageseite. Es handelt sich dann um einen Alleinnachfrager, der die
gleiche Preispolitik betreibt wie ein Monopol nur mit umgekehrtem
Vorzeichen. Ein Markt, auf dem sich nur ein Angebotsmonopol und ein
Nachfragemonopol befindet, heißt bilaterales Monopol. Auf diesem „Markt“
gibt es kein Gleichgewicht. Preise und Mengen werden auf dem
Verhandlungsweg festgelegt.
145
Ein geringe Zahl von Anbietern auf einem Markt wird Oligopol genannt.
Oligopole konkurrieren und kooperieren gleichzeitig. Sie kooperieren bei den
Preisen. Sie haben dabei mit der Preisführerschaft eine besondere Form der
Preissetzung gefunden, mit der sie dem Kartellamt zu entgehen hoffen. Mehr
oder weniger ohne Auftrag aber mit stillschweigendem Einverständnis der
übrigen Oligopolisten erhöht ein Unternehmen den Preis. Es steigt zum
Preisführer auf. Wenn sich der Preis durchsetzen lässt, dann folgen die
anderen. Preisführerschaft kann man jeden Sommer kurz vor Beginn der
Urlaubszeit auf dem Benzinmarkt beobachten. Dann erhöht sich die
mengenmäßige Nachfrage nach Benzin, die die Oligopolisten für
Preiserhöhungen nutzen wollen. Ein Oligopolist erhöht den Benzinpreis und
testet den Markt. Wenn die Preiserhöhung durchgesetzt werden kann und die
Spielräume der Preissetzung ausgecheckt sind, folgen die anderen. Das
funktioniert fast immer. Die Argumente für die Erhöhung der Benzinpreise
sind oft abenteuerlich. Nur selten kann die Preiserhöhung nicht durchgesetzt
werden. Nach der Urlaubszeit werden die Preiserhöhungen zum
überwiegenden Teil wieder zurückgenommen, weil die mengenmäßige
Nachfrage der Autofahrer wieder ungefähr auf den alten Stand gesunken ist.
Die Koalition der Oligopole bei ihrer Preispolitik verfolgt das Ziel, die Preise
höher zu halten als sie bei vollständiger Konkurrenz wären. Das führt dazu,
dass von den Oligopolen weniger Nachfrage befriedigt als von den
Unternehmen der vollständigen Konkurrenz. Oligopole grenzen durch ihre
Preispolitik einen erheblichen Teil der zahlungsfähigen Nachfrage aus, denen
die Preise der Oligopole zu hoch sind bzw. die sich die von ihnen
angebotenen Waren nicht leisten können.
Die bekanntesten Oligopole sind in der verarbeitenden Industrie angesiedelt.
Sie haben besondere Produktionsfunktionen. Sie können Größenvorteile
erwirtschaften. Das heißt sie können größere Mengen ohne
Kostenerhöhungen herstellen. Sie produzieren im Bereich zunehmender
Skalenerträge, d.h. ihre Produktion wächst schneller als ihre Faktoreinsätze.
Sie können Lernkurven für sich organisieren. Damit sind sie den Klein- und
Mittelbetrieben aus der vollständigen Konkurrenz deutlich unterlegen. Da
meldet sich der Fliesenleger noch mal zu Wort. Lernkurven, ja das kann er
auch vorweisen. Wenn er in Hochhäusern hundert Badezimmer zu verfliesen
hat, dann arbeitet er im ersten Badezimmer mindestens doppelt so lang wie
im letzten.
Oligopole sind die Träger des technischen Wandels, der immer weniger mit
dem technischen Fortschritt gleichgesetzt werden kann. Sie setzen
zunehmend kapitalintensive Produktionsverfahren ein. Das führt zu
146
sinkenden Anteilen der Lohnkosten an den Gesamtkosten. Kapitalintensive
Produktionsverfahren ermöglichen, wie bereits bemerkt, zunehmende
Skalenerträge und Größenvorteile, die mit Produktivitätsfortschritten
verbunden sind. Oligopole können deshalb – auch angesichts der Tatsache,
dass sie höhere Preise durchsetzen können – auch höhere Löhne zahlen. Für
sie sind aus diesen Gründen Lohnerhöhungen kein großes Problem.
Lohnsenkungen, die auch in den Oligopolen des verarbeitenden Gewerbes
keine Ausnahme mehr sind, dürften in diesen Fällen nur schwer zu begründen
sein.
In der oligopolistischen Konkurrenz wird der Motor der Innovation
angesiedelt. Unter Bezugnahme auf Schumpeter ist zwischen Erfindung und
Innovation zu unterscheiden. Erfindungen sind neue wissenschaftlich
gewonnene Erkenntnisse aus allen nur möglichen wissenschaftlichen
Bereichen. Innovationen sind die Nutzungen von Erfindungen für
warenförmige neue Produkte und Produktionsverfahren, die meist auch mit
neuen Organisationsformen verbunden sind. Auch neue Organisationsformen
gehören dazu. Erfindungen sind auch in vorkapitalistischen Gesellschaften
zahlreich gewesen. In diesen Gesellschaften fehlte aber nur allzu oft die
Nutzung für neue warenförmige Produkte und Dienstleistungen. Deshalb
sieht der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William J. Beaumol in
der oligopolistischen Konkurrenz die „die Innovations-Maschine der freien
Märkte“ (Beaumol 2002). Damit haben die Oligopole eine Schlüsselfunktion
in der kapitalistischen Marktwirtschaft inne. Aus der großen Menge der
Erfindungen wählen sie diejenigen aus, die in neue Produkte eingearbeitet
werden können, die voraussichtlich marktgängig und für sie gewinnbringend
sein werden. Nach welchen Kriterien wählen die Oligopole aus? Es sind
selbstverständlich erwerbswirtschaftliche Kriterien. Welche neuen Produkte
lassen sich mit hohen Gewinnchancen auf die Märkte bringen? – Werden
dabei auch die zukünftigen Bedürfnisse der kommenden Generationen
berücksichtigt? Wie steht es um die ökologische Nachhaltigkeit und die
Sozialverträglichkeit der ausgewählten Innovationen? Diese Fragen sind für
transnationale Oligopole offenbar von untergeordneter Bedeutung.
Es gibt da noch eine weniger angenehm klingende Tatsache, von der
Ökonomen seltener sprechen. Die wichtigen Erfindungen sind in der
Kooperation von Staat und Markt entstanden. Genauer gesagt es sind
Erfindungen aus dem militärisch-industriellen Sektor. Sie entstanden aus der
Finanzierung von militärisch orientierten Forschungsvorhaben und
Rüstungsaufträgen. Sie sollen den Staaten eine militärische Überlegenheit
bringen. Die Beispiele sind evident: Raketen, Düsenflugzeuge, Laser,
Atomkraftwerke, Internet usw. aus denen die Innovationen für neue Produkte
147
hervorgegangen sind. Diese Umwege über die militärische Forschung sind
äußerst aufwendig. Forschung und Entwicklung sollte besser direkt an den
heutigen und zukünftigen menschlichen Bedürfnissen ansetzen.
Wenn das System des marktwirtschaftlichen Kapitalismus effizient wäre,
dann würden die neuen Produkte den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand
mehren und den Optimalzustand des allgemeinen Gleichgewichts in Richtung
einer Erweiterung verschieben, ohne die Kriterien der ökologischen
Nachhaltigkeit und der Sozialverträglichkeit zu verletzen. Es bleibt nur noch
die Frage zu beantworten, ob dieses System und die Märkte dieses Systems
denn tatsächlich effizient sind. Wir wissen allerdings bereits, dass die
oligopolistische Konkurrenz weniger Nachfrage befriedigt als das
Marktgleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz. Damit führt
oligopolistische Konkurrenz auf dem Markt ihres Produkts zu einer dem
Marktgleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz eindeutig unterlegenen
Lösung.
Oligopole haben gegenüber den Klein- und Mittelbetrieben der vollständigen
Konkurrenz größere Gestaltungsspielräume. Es handelt sich fast
ausschließlich um Aktiengesellschaften. Das Management nimmt diese
Gestaltungsspielräume offenbar zunehmend wahr. Allerdings auch zu
Aktivitäten, die mit dem Buchstaben des Gesetzes oder gar dem „gesunden
Rechtsempfinden aller recht und billig denkenden“ kaum in Einklang zu
bringen sind. Die gegenwärtigen Skandale in der Autoindustrie liefern dafür
traurige Beispiele. Die Ausgestaltung von Verträgen zwischen Eigentümern
(Aktionären) und Geschäftsführern (Managern) mit konsistenten
Anreizsystemen stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Bestürzend ist die
Selbstbedienungsmentalität, die heutzutage viele Manager an den Tag legen.
Über ihre Innovationspolitik bestimmen Oligopole die längerfristige Zukunft
der kapitalistischen Marktwirtschaft. Marktgängigkeit und militärische
Aufträge sind die Motivationen für die Auswahl neuer Produkte, neuer
Produktionsverfahren und neuer Organisationsformen. Auf diesen Wegen
wird eine Zukunft unter vielen möglichen ausgewählt. Unter dem Druck der
liberalisierten Finanzmärkte tritt die kurzfristige Sichtweise auch in diesen
Bereichen in den Vordergrund. Die einfache Tatsache, dass über die
Entscheidungen von heute auch die wirtschaftliche und weitergehend die
gesellschaftliche Lage von morgen und übermorgen geprägt wird, wird oft
übersehen.
In den neuen Produkten, Produktionsverfahren und Organisationsformen ist
viel von der unseligen Vergangenheit und den Versäumnissen der Gegenwart
148
aufbewahrt. Das stets Neue auf vielen Märkten verstellt uns den Blick auf die
lange Frist, in der die Lasten der Vergangenheit weiter transportiert werden.
Die transnationalen Oligopole gestalten die Zukunft der Wirtschaft und
Gesellschaft, in der einmal unsere Kinder und Kindeskinder leben müssen.
Die Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, Hort der Demokratie zu
sein, hat die Gestaltung ihrer Zukunft an eine Gruppe oligopolistischer
Unternehmen delegiert, die die längerfristige Zukunft nach kurz- und
bestenfalls mittelfristigen Gewinnperspektiven gestaltet!
3) Von der einzelwirtschaftlichen Betrachtung zurück zur
gesamtwirtschaftlichen Ebene
Wir betreten abschließend noch einmal die gesamtwirtschaftliche Ebene. Dort
sieht vieles plötzlich ganz anders aus als auf der einzelwirtschaftlichen
Bühne. Auf dem Rückweg zur makroökonomischen Ebene droht uns
zunächst einmal eine Rationalitätsfalle.
____________________________________________________________
Kasten D20: Rationalitätsfalle und Sparparadox
Rationalitätsfalle. Die Idee hinter dem „wissenschaftlichen“ Begriff der Rationalitätsfalle ist
relativ einfach. Ein Beispiel aus dem Alltagsleben. Wir gehen ins Konzert, sitzen in der ersten
Reihe. Nach der Zugabe stehen wir auf: „standing ovation!“ Hinter uns Gemecker. Wir reagieren
nicht. Hinter uns stehen alle auf. Nach und nach erhebt sich der ganze Saal. Die Stehenden sehen
etwas schlechter und sind weil stehend schlechter dran! Sitzend hätten es alle bequemer gehabt
und Klatschen kann man auch im Sitzen. Moral von der Geschichte: was für den einzelnen –
einzelwirtschaftlich – als gut und richtig empfunden wird, muss nicht für alle –
gesamtwirtschaftlich – gut sein.
Für die gegenwärtige wirtschaftspolitische Diskussion ist das Sparparadox ein schönes Beispiel
für eine Rationalitätsfalle. Eine Familie spart, um ihr Bankkonto wieder auszugleichen. Die
Familie kauft weniger, isst schlechter, geht seltener aus, verbringt den Urlaub zu hause. Größere
Käufe werden aufgeschoben usw. Das kann vorübergehend durchaus sinnvoll sein, wenn man von
seinen Schulden runter will. – Wenn alle oder die Mehrheit der Haushalte anfangen zu sparen,
dann ist das gesamtwirtschaftlich betrachtet nachteilig. Die Käufe des einen sind die Verkäufe des
anderen. Schränken alle privaten Haushalte ihre Einkäufe ein, dann müssen alle Verkäufer ihre
Verkäufe ebenfalls einschränken und in der Folge ihre Einkäufe etc. Die Gesamtwirtschaft wächst
langsamer, stagniert, kann sogar schrumpfen. Arbeitskräfte werden entlassen. Die Kaufkraft sinkt
weiter etc.
____________________________________________________________
Keynes hattebereits auf das Sparparadox hingewiesen. Seine Einsichten sind
im heutigen Deutschland aktuell. Löhne sind nicht nur Kosten, an denen die
Unternehmen sparen sollen, sondern sie sind makroökonomisch im
Kreislaufzusammenhang gesehen die Grundlage der effektiven Nachfrage
(Siehe Abbildung Bb). Deutschland ist trotz der beklagten hohen
149
Arbeitskosten international durchaus konkurrenzfähig. Das zeigt der noch
immer allzu hohe Überschuss der deutschen Handelsbilanz. Schließlich sind
„wir“ Exportweltmeister für Güter, nicht aber von Dienstleistungen.
Andererseits ist die deutsche Binnennachfrage mit einer „hartnäckigen
Kaufzurückhaltung“ konfrontiert, die schon seit rd. fünf Jahren andauert und
der Hauptgrund für das niedrige Wirtschaftswachstum ist. Einer
Nachfrageschwäche aber kann man mit Lohnsenkungen, Hartz IV und einer
verunsichernden Diskussion über die Zukunft des Sozialstaats und des
Wirtschaftstandorts Deutschland offenbar nicht beikommen. Deutschland
könnte wegen der Schwäche seiner Binnennachfrage ähnlich wie Japan in
eine Deflation rutschen und/oder in einer weiter andauernden Stagnation
verharren – mit unabsehbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen.
Gegenwärtig wird die Rationalitätsfalle zwischen einzelwirtschaftlicher und
gesamtwirtschaftlicher Begründung wieder einmal hochgekocht und zwar in
zwei Veröffentlichungen von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des IfoInstituts für Wirtschaftsforschung in München, und Peter Bofinger, Mitglied
des Sachverständigenrates zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung. Sinn kann man dem marktradikalen Spektrum zuordnen.
Bofinger dagegen ist ein aufgeklärter Keynesianer. Sinn fordert zur
Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit Lohnsenkungen. Das soll zu mehr
Beschäftigung führen. Bofinger sucht nach Möglichkeiten, auch über
produktivitätsorientierte Lohnpolitik die effektive Nachfrage zu stärken.
Dadurch soll mehr Beschäftigung zustande kommen. Sinn argumentiert
nahezu ausschließlich einzelwirtschaftlich und tappt dabei von einer
Rationalitätsfalle in die andere. Bofinger dürfte die Möglichkeiten der
keynesianischen Wirtschaftspolitik überschätzen. Seine Argumentation gilt
weithin nur für geschlossene Wirtschaften (Siehe hierzu Kasten B4:
Multiplikatoranalyse).
Hans-Werner Sinn steht für einen marktradikalen Lösungsansatz, ein
marktradikales wirtschaftspolitisches Regime. Im Zusammenhang mit den
Transferzahlungen an die neuen Bundesländer schreit er sein Credo heraus:
„Es gibt nur einen einzigen Weg, und der heißt Markt, Markt und noch
einmal Markt!“(Sinn 2003:258). Damit enthüllt er einen der Grundpfeiler
seiner ideologischen Überzeugungsarbeit: es gibt nur einen einzigen Weg!
Eines der Probleme jeder Wirtschaftspolitik aber ist, dass es aus mehreren
Wegen auszuwählen gilt oder dass Wirtschaftspolitik durchaus auch mehrere
Wege einschlagen kann.
Der Arbeitsmarkt ist für Sinn ein Markt wie jeder Gütermarkt. Konsequent
setzt er die Märkte für Äpfel und Arbeit gleich.
150
„So wie der Apfelpreis umso niedriger sein muss, je größer die Apfelernte ist,
damit alle Äpfel ihre Abnehmer finden, muss auch der Lohn der Arbeitnehmer mit
einer bestimmten beruflichen Qualifikation umso niedriger sein, je mehr es von
ihnen gibt, damit keine Arbeitslosigkeit entsteht“ (Sinn 2003:177).
Diesem „Gesetz der Nachfrage“ wohne keine moralische Qualität inne. Marx
hat da noch ein „historisches und moralisches Element“ gesehen, das die
Lohnhöhe oder im Marxschen Verständnis den Wert der Ware Arbeitskraft
mit bestimmt.
„Es gehört zu den fast naturgesetzlichen Gegebenheiten dieser Welt,
mit denen man sich abfinden muss, ob man sie mag oder nicht“(Sinn
2003:178).
Aber doch nur „fast“, was auch immer dieses „Fast“ bedeuten mag. Und
schon schnappt die Rationalitätsfalle zu. Der Einzelne mag den Arbeitsmarkt
schicksalhaft erfahren, „fast“ wie ein Naturgesetz. Er muss sich zuweilen
Lohnsenkungen unterwerfen, vor allem wenn er nicht gewerkschaftlich
organisiert ist. Auf der makroökonomischen Ebene führen Lohnsenkungen
für alle „fast“ immer zu weniger Arbeitsplätzen. Das ist dann keine
naturgesetzliche Gegebenheit sondern im keynesianischen Verständnis das
Ergebnis einer falschen Wirtschaftspolitik. Eine Politik der Lohnsenkungen
wird gegenwärtig in Deutschland praktiziert.
Peter Bofinger fordert: „Deutschland braucht eine Renaissance des
makroökonomischen Denkens“(Bofinger 2005:225). Seine „Kernaussage“ ist:
Wer über eine Volkswirtschaft nachdenkt, darf dies nicht nur aus der
Sicht eines einzelnen privaten Haushalts, eines einzelnen
Unternehmens oder auch eines bayrischen Ministerpräsidenten tun.
Richtiges volkswirtschaftliches Denken besteht immer darin, dass man
die Rückwirkungen einzelwirtschaftlicher Entscheidungen auf die
wirtschaftliche Lage anderer Akteure und damit der Volkswirtschaft
insgesamt betrachtet“(Bofinger 2005:234).
Dann bleibt nur noch die heikle Frage, welche wirtschaftliche Lage welcher
Akteure berücksichtigt werden soll und welche nicht. Bofinger schätzt den
außenwirtschaftlichen Einfluss offenbar sehr gering ein. Seinem
„makroökonomischen Denken“ sind Grenzen gesetzt, die viel enger sein
könnten, als er zu glauben scheint. Auch ist die Wahl des Zeitpunkts und des
Interventionsvolumens ein Problem. In Japan war die keynesianisch
orientierte Fiskalpolitik nicht gerade von Erfolg gekrönt. Die genormte
151
Antwort der Keynesianer auf ein solches Versagen ihrer Wirtschaftspolitik
lautet dann wie eh und je: „zu wenig und zu spät“ – „to little and to late“!
Auch bei einer Renaissance des makroökonomischen Denkens sollte man es
sich nicht zu einfach machen.
Die Debatte zwischen Sinn und Bofinger ist Schnee von vorgestern. Sie
wurde schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter dem
Einfluss von Keynes geführt. Reichskanzler Brüning hat in den frühen
dreißiger Jahren (1930 – 1932) des vorigen Jahrhunderts Senkungen der
Staatsausgaben und der Löhne durchgesetzt. Die Auswirkungen auf
Wachstum und Beschäftigung waren katastrophal. Aber er hat es nicht nur
freiwillig getan. In seinem berühmten Brief aus dem Jahr 1954 nimmt er zu
der deutschen Wirtschaftspolitik der frühen dreißiger Jahre noch einmal recht
ausführlich Stellung. Versuche, die damaligen Verhältnisse günstig für ihn
darzustellen, sind nicht zu übersehen. Nicht falsch aber ist mit Sicherheit,
dass die hohen Reparationszahlungen über kurzfristige Dollarkredite
finanziert werden mussten, die selbstverständlich in Dollar zurück zu zahlen
waren. Dollarkredite waren nur erhältlich, wenn der Kurs der Reichmark zum
Gold stabil gehalten werden konnte. Um Abwertungen zu vermeiden, musste
deshalb eine restriktive Wirtschaftspolitik praktiziert werden. Diese
Wirtschaftspolitik hat dazu beigetragen, dass Deutschland in die
gesellschaftliche Katastrophe des dritten Reiches geriet. Das war damals nicht
vorauszusehen.
Aber es sollte heute auch nicht vergessen werden, wenn gegenwärtig bei
steigendem Eurokurs empfohlen wird, Staatsausgaben und Löhne zu senken.
Die deutsche Wirtschaftspolitik ist makroökonomisch gesehen auch heute
wieder stark restriktiv. Hans-Werner Sinn erwähnt diesen Aspekt der
deutschen Geschichte nicht, der ihm von der einzelwirtschaftlichen Warte her
gesehen irrelevant zu sein scheint. Peter Bofinger dagegen spricht die
binnenwirtschaftlichen Aspekte der Brünningschen Notverordnungen
mehrfach an. Die außenwirtschaftlichen Zwangslagen werden von Bofinger
allerdings weitgehend übersehen.
Beide Autoren geben sich kompromisslos. Entweder Verbesserung der
Konkurrenzfähigkeit, d.h. Angebotspolitik, oder Erhöhung der effektiven
Nachfrage, d.h. Nachfragepolitik. Ein Kompromiss wäre angezeigt: sowohl
Angebots- als auch Nachfragepolitik. Beide Politiken sind so zu kombinieren,
dass eine Annäherung an das Vollbeschäftigungsziel längerfristig möglich
wird. Dann ist Beschäftigungspolitik eine Gratwanderung.
152
Bisher stand die Angebotspolitik weit – allzu weit? – aber erfolglos im
Vordergrund. Es wäre jetzt an der Zeit, die Nachfragepolitik zu stärken. Das
Problem bleibt die Dosierung beider Politiken. Sie verlangt nicht nur
Fingerspitzengefühl, sondern auch eine vertiefte empirische Kenntnis der
Zusammenhänge, die auch über Prognosen und Simulationen mit
makroökonometrischen Modellen erarbeitet werden sollte. Die ökonomische
Analyse sollte dabei im Mittelpunkt stehen. Mit visionären
Glaubensbekenntnissen kommt man nicht weiter. Davon ist so viel im
Angebot, dass keiner mehr so recht daran glauben kann. Sinn und Bofinger
sind dafür schlagende Beispiele.
Ökologische Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit werden von beiden
Autoren bestenstenfalls am Rande erwähnt.
F) Die Wirtschaftswissenschaft ein unvollendetes Mosaik aber kein
Kaleidoskop
Man kann den Begriff der Wirtschaftswissenschaft Schumpeter folgend
einteilen in einerseits Vision (voranalytischer Erkenntnisakt) im Sinn von
wertender Weltanschauung und andererseits als Werkzeugkasten, in dem die
analytischen Instrumente enthalten sind. Ökonomen tummeln sich gern in
dem visionären Teil, in dem Weltanschauungen, die durchaus nicht wertfrei
sind, dargeboten werden. Visionen allein aber machen noch keine
Wissenschaft aus. Sie eignen sich eher für dogmatische Debatten und
Talkshows, die weitab von der wirtschaftlichen Wirklichkeit geführt werden.
Auch bei Sonntagsreden sind sie offenbar hilfreich. Ökonomen sind sehr viel
weniger oft anzutreffen beim Gebrauch ihrer Werkzeuge. Das „trostlose
Ungefähr“ (Kant) der dogmatischen Visionsdebatten aber ist genau der
Raum, in dem Ökonomen den Lobbyisten begegnen, um ihren
„Sachverstand“ an den Mann zu bringen. Dort werden dann die
interessenorientierten Konzepte gebastelt, die meist mit dem Satz eingeleitet
werden: „was wir brauchen, ist“.. Ein Wirgefühl lässt sich jedoch in einer
Gesellschaft mit stark zunehmenden Einkommens- und
Vermögensunterschieden so leicht nicht vermitteln. Es gibt wohl kaum eine
andere wissenschaftliche Disziplin, die dem Zugriff von
Wirtschaftsinteressen und deren Vertretern so brutal ausgesetzt ist wie die
Wirtschaftswissenschaft.
Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich noch immer auf dem Weg von der
Ideologie hin zur Wissenschaft. Ideologie ist eine teilweise Fehlmeinung mit
153
gesellschaftlicher Adresse. Wissenschaft wird dagegen begriffen als
organisierte Form von Erforschung, Sammlung und Auswertung von Daten
und Zusammenhängen. Hinter den Ideologien stehen meist wirtschaftliche
Interessen, die von Lobbyisten vertreten werden. Gegen die
Wirtschaftsinteressen hat die Wirtschaftswissenschaft einen schweren Stand.
Ohne Beratung, die auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht,
können die wirtschaftlichen Akteure (Unternehmer und ihre Verbände,
Gewerkschaften, Staat, private Haushalte) in der heutigen Zeit weder ihre
Interessen klar definieren noch rational handeln. Adam Smith konnte noch
davon ausgehen, dass die Unternehmer seiner Zeit ohne
wirtschaftswissenschaftliche Beratung auskommen konnten. Keynes sprach
in den dreißiger Jahren noch von Unternehmern als „animal spirits“, die sich
ähnlich wie Tiere instinktgeleitet im Dschungel der Wirtschaft zurecht finden.
Auf regionalen Märkten, die heutzutage allerdings immer seltener werden,
mag es solche Unternehmer auch heute noch geben. In offenen Wirtschaften
mit internationalisierten Finanzmärkten ist die wirtschaftliche Existenz ohne
Wirtschaftswissenschaft gefährdet. Wirtschaftliche Daten und
Zusammenhänge müssen in organisierter Form gesammelt, erforscht
ausgewertet vorliegen und über Beratung zugänglich gemacht werden.
Andere Wissenschaften haben es offenbar leichter gehabt, sich aus den
vorwissenschaftlichen Fesseln zu befreien (Gloy 1995). Die Chemie hat sich
sicher nicht mühelos Mühe gegen Alchemie und Zauberei durchsetzen
können. In der Wirtschaftswissenschaft fällt die Vergrößerung des Anteils der
Wissenschaft zulasten des Anteils an Ideologie offenbar viel schwerer. Die
wirtschaftlichen Interessen, die „vested interests“ im Verständnis von Keynes
können viel Energie bei der Durchsetzung ihrer Interessen und bei
Verteidigung ihres Besitzstandes einbringen. Die Verschiebung der Anteile
zugunsten der Wirtschaftswissenschaft und zulasten der Ideologie ist keine
leichte Arbeit. Sie ist die Hauptaufgabe der Ideologiekritik, die in der
heutigen Zeit nicht leicht zu leisten ist..
Ideologie hat vor allem zwei Grundmuster. Einmal wird versucht zu zeigen,
dass ein Partialinteresse in wesentlichen Bereichen deckungsgleich ist mit
dem Gemeinwohl: was gut ist für General Motors, ist gut für die USA. Zum
zweiten wird unterstellt, dass der mit viel PR-Aufwand vorgeschlagene
ideologische Weg der einzige richtige ist, der nach Rom d.h. zum Ziel führt.
Nur Lohnsenkung kann zu mehr Beschäftigung führen. Nur Lohnsenkung
kann vor Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer schützen usw. Doch
ist dem nicht so. Viele – nicht alle – Wege führen nach Rom. Es gib nicht nur
eine Wirtschaftspolitik, mit der ein Ziel wie die Senkung der Arbeitslosigkeit
154
erreicht werden kann. Stoßen wir in wirtschaftspolitischen Debatten auf eines
der beiden Grundmuster, dann ist ein Anfangsverdacht auf Ideologiebildung
gerechtfertigt.
Kurzum die Unternehmen können auf wirtschaftswissenschaftliche
Einsichten und Erkenntnisse nicht verzichten. Das gilt auch für
Gewerkschaften und staatliche Organe. Jeder „mündige Bürger“ braucht
letztendlich ein wissenschaftlich fundiertes Orientierungswissen über
wirtschaftliche Zusammenhänge, um sich im Alltag zurecht zu finden. Ohne
eine gewisse Übersicht über die möglichen Entwicklungen von
Wechselkursen fällt selbst die Urlaubsplanung schwer. Die
Wirtschaftswissenschaft wird gebraucht, damit alle am Wirtschaftsprozess
Beteiligten sich über die eigenen wirtschaftlichen Interessen ein einigermaßen
klares Bild machen zu können. Auch im Wirtschaftsleben ist das Streben
nach Wahrheit und Klarheit durchaus vorhanden.
Wirtschaftsinteressen aber haben die Eigenschaft, dass sie im Nachtschatten
der Halbwahrheiten besser gedeihen als unter der hellen Sonne
wissenschaftlicher Klarheit. Deshalb scheuen sie das Tageslicht.
Wirtschaftsinteressen leben in einem Paradox. Sie brauchen die
Wirtschaftswissenschaft, um ihr Situation richtig bestimmen zu können. Bei
der Durchsetzung ihrer Interessen dagegen verleugnen sie wenn nötig die
Einsichten der Wirtschaftswissenschaft, um in die Arme der Ideologie zu
fliehen. Wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse werden erarbeitet, um
rationale Entscheidungen fällen zu können. Anschließend werden sie
verfälscht, um Interessen besser durchsetzen zu können. In anderen
Wissenschaften, die sich außerhalb des Dunstkreises der
Wirtschaftsinteressen frei entfalten können, ist ein solches Paradox kaum
vorstellbar.
Die kapitalistische Marktwirtschaft besitzt die glänzenden Eigenschaften, die
ihr von der Wirtschaftswissenschaft zugeschrieben oder von Ideologen
vorgegaukelt werden, nur zum Teil. Dabei geht es in diesem Text um die
kapitalistische Marktwirtschaft, wie die akademische Wirtschaftswissenschaft
sie sieht. Die Sichtweise der akademischen Wirtschaftswissenschaft mag
unvollkommen sein. Sie deckt sich nicht immer mit unseren
Alltagserfahrungen. Von Wirtschaftsinteressen verschandelt tritt sie uns als
ideologische Halbwahrheit gegenüber.
Die akademische Wirtschaftswissenschaft geht bei der theoretischen Arbeit
oft von versteckten Annahmen aus. Dazu gehören beispielsweise die
Annahmen der automatischen Rückkehr zu Gleichgewichtslagen bei
155
vollständiger Konkurrenz. Nur allzu oft geht sie von konstanten
Skalenerträgen aus. Wirtschaftspolitische Strategien werden nur selten auf
ihre Wirkungsverzögerungen oder ihre unterschiedlichen regionalen
Auswirkungen hin untersucht. Damit provoziert die akademische
Wirtschaftswissenschaft gerade eine immanente Kritik, d.h. eine Kritik, die
mit genau den analytischen Instrumenten arbeitet, die zum Nachweis der
vermeintlichen Vorzüge der kapitalistischen Marktwirtschaft entwickelt und
eingesetzt werden. Auf diese Weise können viele ökonomische
Grundprobleme aufgedeckt werden und neue Zugänge zur wirtschaftlichen
Wirklichkeit erschlossen werden.
Der marktradikale Koloss kippt leicht, theoretisch und historisch
nachweisbar. Aber er steht noch immer, wenn auch zuweilen schwankend
und hin und wieder von der Gefahr einer schweren wirtschaftlichen
Depression bedroht. Nur weiß man nicht, wann und wo eine Depression
eintritt. Seit einiger Zeit scheint sich die Bedrohung wieder zu erhöhen.
Sarkastisch formuliert: mit der Nachhaltigkeit der Blattschneiderameisen
wird es die Menschheit mit einem solchen Wirtschafts- und
Gesellschaftssystem nicht aufnehmen können (Siehe Kasten C3: Ein
Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart). Die historisch
erfahrenen und durchlittenen Krisen, die Katastrophen des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts werden uns wohl auch noch weit ins 21.
Jahrhundert hinein begleiten. Sie spiegeln auch die Unvollkommenheiten der
Wirtschaftswissenschaft.
Marxens wissenschaftliche Intentionen gingen weit über den heute üblichen
begrenzten Kernbereich des Ökonomischen hinaus. Er hat versucht, das
falsche Bewusstsein von der Warenwelt mit dem Begriff des
Fetischcharakters dingfest zu machen. Die nicht für alle verfügbaren Waren
schweben uns als Belohnung für unsere Mühen vor, können aber weder die
Zufriedenheit noch den Nutzen verschaffen, die uns versprochen werden. Die
Kehrseite der Medaille ist der stumme Zwang der ökonomischen
Verhältnisse, der uns alle in der kapitalistischen Marktwirtschaft unterjocht,
wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß.
So unvollkommen die Wirtschaftswissenschaft bei der Berücksichtigung all
der Kritik auch sein mag, so hat sie doch einige Inseln, vielleicht sogar
kleinere Kontinente gesicherten Wissens von Daten und wirtschaftlichen
Zusammenhängen entdeckt, mit denen sie zum Überleben des
marktwirtschaftlichen Kapitalismus in erheblichem Maß beigetragen hat und
beiträgt. Das wird sich auch in Zukunft wohl nicht ändern. Der
untergegangene Sozialismus hatte diese Chance nicht. Ihm fehlte entgegen
156
allen Beteuerungen, dass es sich um einen „wissenschaftlichen Sozialismus“
handele, gerade das Element der Wissenschaftlichkeit. Auch das könnte zu
seinem Untergang beigetragen haben.
In der Hitze der dogmatischen Debatten schießen viele Ökonomen vorschnell
und oft übers Ziel hinaus. Sie verbiegen ihre eigenen Theoreme, die recht
kompliziert sein können. Hört man genauer hin, dann antwortet dem Schrei
nach „Markt, Markt und nochmals Markt“ ein Echo, in dem ein idyllischer
völlig wirklichkeitsferner Markt sich bemerkbar macht. Auf diesem Markt
herrschen vollständige Konkurrenz, vollständige Information, rationales
Verhalten aller Marktteilnehmer, konstante Technik selbsttätige Rückkehr zu
Gleichgewichtslagen nach äußeren Schocks wirksam sein sollen. Leider gibt
es solche Märkte nur in Textbüchern und nur als äußerst seltene
Ausnahmesituation in der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Einmal in einer
solchen idealen Welt angekommen, finden Wirtschaftswissenschaftler weder
die Zeit, die Forschungsmittel, noch ist der gute Wille vorhanden, sich auf
den schwierigen Weg der empirischen Überprüfung von Hypothesen
einzulassen.
Ist die Wirtschaftswissenschaft vielleicht doch nur eine „schreckliche
Wissenschaft“, eine „dismail science“? Nein! Einige der Mosaiksteine, die im
vorangegangenen Text skizziert wurden, seien noch einmal aufgezählt als da
sind:
Wirtschaftshistorische Perspektiven, die unser Problembewusstsein
schärfen können;
Kapitalkreisläufe, die die geographische Ausbreitung der
kapitalistischen Marktwirtschaft erklären können;
Der Unterschied zwischen Wirtschaftswissenschaft und Ideologie, der
uns auf den verhängnisvolle Umgang von Interessengruppen mit
wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen hinweist;
Innovationscluster, die uns Zusammenhänge zwischen Erfindungen und
Innovationen aufzeigen und uns die große Bedeutung des technischen
Wandels aufzeigen können;
Geldpolitik, die uns mit den Problemen der Geldwertstabilität
konfrontiert und die Kontrolle der Inflation ermöglicht;
Fiskalpolitik, die uns zeigt, dass der Staat Aufgaben und Funktionen in
einer Marktwirtschaft zu erfüllen hat, die weit über der Erfüllung der
Wünsche von Interessengruppen hinausreichen;
Makroökonometrische Modelle, die die komplexe Vernetzung
wirtschaftlicher Variablen darstellen und die uns erste Hinweise liefern
können, wie sich Zukunftsperspektiven bei alternativen Wirtschaftspolitiken
gestalten lassen;
157
Wechselkursregime. Fixkursregime, Regime flexibler Wechselkurse.
Ohne eine Kenntnis von Wechselkursveränderungen kann man heute nicht
einmal mehr seinen Urlaub planen;
Kaufkraftparitäten, die uns mit den längerfristigen Entwicklungen von
Einkommen und Ländervergleichen unterrichten können;
J-Kurve, die uns die Folgen von Währungsveränderungen im Zeitablauf
aufzeigen kann. Sie wird hilfreich sein, die Folgen der längst überfälligen
Dollarabwertung zu verstehen;
Vollständige und oligopolistische Konkurrenz, deren Unterschiede zu
wenig berücksichtigt werden, obwohl sie zu unterschiedlichen Ergebnissen
von Marktprozessen führen können;
Informationsökonomik, die uns darauf hinweist, dass die Ergebnisse
von Marktprozessen stark von der Verfügbarkeit und von der Verteilung von
Informationen abhängen;
Konstante und zunehmende Skalenerträge von Produktionsfunktionen,
die uns auf die Bedeutung unterschiedlicher Produktionstechniken hinweisen;
Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, der uns aufzeigt,
dass der materielle Reichtum in Gesellschaften, in denen kapitalistische
Marktwirtschaft herrscht, auch ihre besonderen Zwangslagen entwickelt.
Produktionsregime: diversifizierte Qualitätsproduktion, standardisierte
Massenproduktion, standardisierte Qualitätsproduktion.
Soweit eine Auswahl aus den in diesem Text vorgestellten Konzepte. Diese
Konzepte können – vor allem dann, wenn sie empirisch ausgefüllt sind –
zeigen, dass nicht alles möglich ist, was uns an meist sogar gutgemeinten
Vorschlägen angedient wird.
Die Wirtschaftswissenschaft hat noch längst keinen geschlossenen Kanon,
wenn es etwas Ähnliches in den Wissenschaften überhaupt geben kann.
Wissenschaft ist grundsätzlich ein offener Prozess. Noch immer ist die Zahl
der Theorien in der Wirtschaftswissenschaft (zu) groß und die Zahl der
analytischen Instrumente (zu) klein. Die Landkarte der wirtschaftlichen
Wirklichkeit, die sich wie ein Flussdelta ständig ändert, weist noch immer
allzu viele und allzu große weiße Flecken auf. Die Wirtschaftswissenschaft
hinkt den Veränderungen des Flussdeltas hinterher. Versuche das Delta der
wirtschaftlichen Wirklichkeit vorausschauend zu regulieren waren bisher
nicht gerade von Erfolg gekrönt.
Die Veränderungen des Flussdeltas der wirtschaftlichen Wirklichkeit müssen
wissenschaftlich erforscht werden, um die Veränderungen im Delta
voraussagen zu können. Dazu ist eine wissenschaftliche Untersuchung im
Sinne einer „organisierte Form der Erforschung, Sammlung und Auswertung
von Fakten und Zusammenhängen“ über das Delta erforderlich. Eine
158
verlässliche Voraussage der Fakten und Zusammenhänge ist die
Voraussetzung für Eingriffe und Regulierungen des Deltas. Dazu ist die
Wirtschaftswissenschaft heute nur eingeschränkt fähig.
Die Wirtschaftswissenschaft kann vom Delta der wirtschaftlichen
Wirklichkeit nur ein unvollendetes Mosaik zusammensetzen. Das Mosaik
kommt einer Momentaufnahme der wirtschaftlichen Wirklichkeit gleich.
Unerforschte Bereiche erscheinen als leere Flächen. Die Interpretation eines
solchen Mosaiks – als Momentaufnahme der wirtschaftlichen Wirklichkeit –
ist unter vielen Aspekten problematisch. Unterschiedliche Sichtweisen sind
möglich, sicher aber nicht beliebig. Die Sichtweisen, die die
Wirtschaftswissenschaft zu bieten hat, sind deshalb aber durchaus kein
Kaleidoskop, das jedes Kind oder jeder Vertreter von Wirtschaftsinteressen
vor seinem Auge so lange drehen kann, bis die Bildelemente erscheinen, die
ihm gefallen.
Aus den nicht sehr zahlreichen mehr oder weniger gesicherten
Wissensbeständen lassen sich schemenhaft immerhin Zukunftsentwürfe
entwickeln und erahnen. Im Vergleich zu den Erlösungshoffnungen, die einst
in den Sozialismus gesetzt wurden, nehmen sich die heute aktuellen
Zukunftsentwürfe bescheiden aus.
F) Zukunftsentwürfe: Marktradikalismus – soziale Marktwirtschaft –
Marktsozialismus - Lebensweltökonomie?
Nach einem schnellen Durchgang durch einige gesamtwirtschaftliche und
einige einzelwirtschaftliche Grundmuster der Wirtschaftswissenschaft, so wie
sie in den Hauptströmungen diskutiert werden, stellt sich die Frage, in welche
Richtung sich die kapitalistische Marktwirtschaft bewegt bzw. welche
Vorschläge zu ihrer Verbesserung oder Überwindung in der heutigen Zeit
diskutiert werden. Vier Hauptrichtungen von unterschiedlicher Bedeutung
sollen kurz skizziert werden.
Die marktradikale Orientierung ist in der Gegenwart auf dem Vormarsch.
Das ist für jeden von uns auch im Alltagsleben deutlich erkennbar. Nach dem
Zusammenbruch des sog. real existierenden Sozialismus, der in der
wirtschaftlichen Realität der absolutistischen Befehlswirtschaft näher stand
als den sozialistischen Idealen des ausgehenden 19. und der ersten Jahrzehnte
des zwanzigsten Jahrhunderts, ist das nicht überraschend. Umrisse einer
159
Entwicklungslogik der kapitalistischen Marktwirtschaft zeichnen sich ab. Die
Kapitalkreisläufe haben sich geographisch in andere Staaten, Kontinente oder
Währungsgebiete ausgedehnt. Auf diese Weise können sich die großen
transnationalen Oligopole der staatlichen Kontrolle und insbes. der
Besteuerung (noch) leichter entziehen. Auf dem Wege der Entbettung
entstehen neue Produkte bzw. Branchen. Überdies bietet die in einigen
Sektoren schnell wachsende Dienstleistungsgesellschaft stets neue
Dienstleistungspakete an. Tätigkeitsfelder, die außerhalb der
kommerzionalisierten Sphäre lagen, werden zunehmend
erwerbswirtschaftlich gesteuert. Das bedeutet nicht unbedingt eine
Verbesserung der Qualität der dann warenförmig produzierten
Arbeitsprodukte oder der warenförmig erbrachten Dienstleistungen.
Der Staatsanteil soll sinken. Staatseigentum und Staatsaufgaben sollen
privatisiert werden. Die Schnittstelle zwischen Staat und Markt soll neu
organisiert werden. Private Unternehmen wickeln zunehmend über
Staatsaufträge Staatsaufgaben ab. Das lässt sich auch an Beispielen im
Irakkrieg zeigen. Selbst für die Folter gibt es ein Outsourcing. Die Vergabe
öffentlicher Aufträge, die stets anfällig für Korruption war, erfolgt nach
schwer überschaubaren und noch schwerer zu kontrollierenden Verfahren.
Die erhofften Effizienzgewinne aber drohen auszubleiben.
Auch die Alterssicherung wird zügig aus dem staatlichen Bereich
herausgenommen und privaten erwerbswirtschaftlich betriebenen Fonds
überantwortet. Werden die Renten dadurch sicherer?
Die soziale Marktwirtschaft gilt in Deutschland auch heute verstärkt wieder
als Erfolgsmodell. Die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft MüllerArmack und Ehrhard haben die soziale Marktwirtschaft im Stil der
Nachkriegszeit wie folgt definiert:
„Auf der Grundlage der Wettbewerbswirtschaft erbringt die freie Entschlusskraft
des Einzelnen in einem von ihm frei erwählten Betätigungsfeld eine
marktwirtschaftliche Leistung; die dazu gehörende Rahmenordnung sichert diesen
Wettbewerb und zugleich die Umsetzung dieser Einzelleistung in einen allen
zugute kommenden gesellschaftlichen Fortschritt sowie ein vielgestaltiges System
sozialen Schutzes für die wirtschaftlich schwachen Schichten“ (Erhard, MüllerArmack 1972: 43).
Die allgemeine Gleichgewichtstheorie und zwei Staatsfunktionen, die
Allokations- und Distributionsfunktion stehen im Hintergrund dieser
Definition. In der reinen neoklassischen Wirtschaftstheorie ist das ein
160
Widerspruch. Das allgemeine Gleichgewicht ist das wirtschaftliche Optimum,
die beste aller möglichen Welten. In diesem Marktsystem wirken
geheimnisvolle Marktkräfte, die Abweichungen vom Gleichgewicht
selbsttätig korrigieren. Das Gleichgewicht stellt sich von selbst wieder her.
Eingriffe von außen in den Prozess des Zustandekommens des allgemeinen
Gleichgewichts können nur Ergebnisse hervorbringen, die unterhalb des
Gleichgewichts liegen. Wirtschaftspolitische Eingriffe in den
Wirtschaftsprozess sind deshalb auch gar nicht erforderlich. Umverteilung
und Umlenkung der Allokationsprozesse sind als überflüssig abzulehnen. Die
Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse aber entsprechen hinsichtlich der
Einkommens- und der Vermögensverteilung nicht den Vorstellungen von
sozialer Gerechtigkeit, die in der Bevölkerung entwickelter kapitalistischer
Marktwirtschaften noch immer vorherrschend sind. Das kann zu schweren
sozialen Konflikten führen.
Um des sozialen Friedens Willen hatten die Initiatoren der Sozialen
Marktwirtschaft deshalb Korrekturen der Marktprozesse vorgesehen. Wichtig
für sie war – mehr oder weniger unausgesprochen – auch die
Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus, der damals noch als wirtschaftlich
erfolgreich und sozial galt. Sicher aber war der damals real existierende
Sozialismus von der heutigen Warte aus gesehen nicht ökologisch nachhaltig.
Mit seinen klassenkämpferischen Dogmen kann er wohl auch nicht als
sozialverträglich bezeichnet werden.
Die Vertreter der Konzepte für eine Soziale Marktwirtschaft, von denen es
heute vor und besonders nach der Wahl wieder mehr zu geben scheint,
diskutieren ihr Modell überwiegend als geschlossene Wirtschaft. Realistisch
daran war, dass ein für heutige Begriffe sehr hoher Anteil des Wiederaufbaus
auf binnenwirtschaftliche Leistungen zurück geführt werden konnte. Über
den Marshallplan wurden amerikanische Exporte bzw. deutsche Importe
ermöglicht. Unrealistisch hohe Preise und bürokratische Eingriffe haben den
Marshallplan behindert. Seine Wirkung war viel geringer als es die politische
Glorifizierung auch heute noch wahrhaben will (Abelshauser 2005:137).
Die Kriegszerstörungen deutschen Städten waren katastrophal. Überraschend
ist, dass der deutsche Kapitalstock nicht nur weitestgehend intakt geblieben
war. Das besiegte Deutschland hatte einen der weltweit modernsten und nach
dem Durchschnittsalter der Maschinen und Ausrüstungen auch jüngsten
Kapitalstock. Ähnliches galt für Japan, den zweiten großen Verlierer im
zweiten Weltkrieg. Deutschland hat den Krieg zweifelsfrei moralisch,
militärisch und politisch verloren, paradoxer Weise aber nicht wirtschaftlich.
1945 stand vor allem in Westdeutschland die modernste verarbeitende
161
Industrie Europas, die nicht ohne einige Schwierigkeiten von der Kriegs- auf
die Friedensproduktion umgestellt werden konnte. Mit dem modernen
Kapitalstock, den gut ausgebildeten, erfindungsreichen und hoch motivierten
Kriegsheimkehrern und dem gut funktionierenden Weltwährungssystem war
das deutsche Wirtschaftswunder im Rückblick so wundersam auch wieder
nicht. Die Phase des Wiederaufbaus in Deutschland, in Europa und auch in
Japan hat für die deutsche Wirtschaft, insbes. natürlich die Bauindustrie, viele
Impulse hervorgebracht. Die Soziale Marktwirtschaft hat als institutioneller
Rahmen sicher ihren Beitrag geleistet, der vielleicht aber angesichts der
durchaus nicht nachteiligen Voraussetzungen der deutschen Wirtschaft
weniger bedeutend sein dürfte als es die Anhänger dieses Ansatzes wahr
haben möchten. Die Wirkung von institutionellen Rahmenbedingungen auf
Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung ist – nebenbei bemerkt – nur sehr
unvollkommen messbar.
Kann die „alte“ Soziale Marktwirtschaft heute wiederbelebt werden und sich
gegen den Ansturm des Marktradikalismus behaupten? Zweifel sind
angebracht. Zunächst einmal stimmt das internationale Umfeld nicht mehr.
Die Geldpolitik der damaligen Zeit entsprach den Zwangslagen des
Fixkurssystems mit Einlösungspflicht von Exporterlösen, die von der
Zentralbank vorgenommen wurde. Devisen gelangten nicht in die Hände von
Exporteuren. Es handelte sich um eine Variante der
Devisenzwangswirtschaft. Das alles ist in einem System flexibler
Wechselkurse mit liberalisierten Devisen- und Kapitalmärkten ganz anders.
Eine Soziale Marktwirtschaft braucht eine aktive Fiskalpolitik, insbesondere
ein Steuersystem, das eine deutliche Progression hat. Das ist eine
unverzichtbare Voraussetzung für Umverteilungspolitik. Auch ist hohes
Wachstum eine günstige Voraussetzung, wenn eine Allokationspolitik
durchgesetzt werden soll. Die Soziale Marktwirtschaft hatte übrigens nie eine
ökologische Perspektive. Wichtige Voraussetzungen und Problemlagen, mit
denen sich eine Soziale Marktwirtschaft in der heutigen Zeit auseinander zu
setzen hätte, waren damals noch nicht gegeben. Deshalb dürfte auch die
Einführung einer modernisierten Sozialen Marktwirtschaft auf nahezu
unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen.
Es gibt heute auch eine „Initiative: neue soziale Marktwirtschaft“. Hinter
diesem Label tummeln sich jedoch nur marktradikal gesonnene Personen und
Gruppierungen. Von ihnen ist eine Wiederbelebung der „alten“ Sozialen
Marktwirtschaft wohl nicht zu erwarten. Die „alte soziale Marktwirtschaft“
stand dem Konkurrenzkapitalismus näher als der modernen kapitalistischen
Marktwirtschaft, die von transnationalen Oligopolen geprägt wird. Die
Mitschuld der Konzerne am Hitlerfaschismus war nach Kriegsende
162
weitgehend unbestritten. Konzerne wurden nicht zuletzt mit dieser
Begründung von den Besatzungsmächten entflochten.
Die „Initiative: neue soziale Marktwirtschaft“ ist ein Erzeugnis von
Oligopolen, die sich hinter dieser Projektionsfläche zusammengefunden
haben. Sie wollen sich eine unverfängliches Äußeres verschaffen, das von
ihrer Marktmacht und von ihren Gestaltungsmöglichkeiten ablenkt.
Transnationale Oligopole konstituieren den harten Kern der heutigen
kapitalistischen Marktwirtschaft. Soll der scheinheilige Label „neue soziale
Marktwirtschaft“ aggressive transnationale Oligopole als Wölfe im
Schafspelz erscheinen lassen?
In linken Zirkeln werden die Konzepte des Marktsozialismus hin und wieder
diskutiert. Ein mögliches Modell ist eine Marktwirtschaft mit Unternehmen,
in denen Arbeiterselbstverwaltung praktiziert wird. Dazu gehört ein Staat, der
mit einem Steuersystem ausgestattet ist, das interpersonelle und
interregionale Umverteilung ermöglicht. – Im Hintergrund stehen die
jugoslawischen Erfahrungen. Wirtschaftswissenschaftler dieses Landes haben
einige sehr gute Studien über Arbeiterselbstverwaltung und Marktsozialismus
geschrieben, die aber mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Realitäten Jugoslawiens wenig zu tun hatten (stellvertretend Horvath 1982).
Der Prager Frühling 1972 hat in der Literatur Spuren hinterlassen
(stellvertretend Sik 1979).
In der US amerikanischen Literatur taucht das Thema der Alternativen zum
Kapitalismus immer wieder einmal auf. 1993 erschien ein Tagungsband zu
diesem Thema, an dem bekannte neoklassisch orientierte Ökonomen,
darunter zwei Nobelpreisträger, teilgenommen haben (Atkinson (Hrsg. )
1993). Die Diskussionen waren offenbar überraschend undogmatisch und
keineswegs vergleichbar mit den rechthaberischen Auftritten deutscher
Ökonomen in der gegenwärtigen Reformdebatte. Auffällig in den Debatten
ist, dass nahezu ausschließlich mit der Annahme der vollständigen
Konkurrenz gearbeitet wird. Die volle Funktionsfähigkeit von Märkten –
Marktmechanismus – wird vorausgesetzt. Die Probleme, die von der
Informationsökonomik auch im Zusammenhang mit sozialistischen
Marktwirtschaften aufgeworfen werden, finden keine Beachtung (Stiglitz
1996).
Der grauenvolle Untergang der jugoslawischen Variante des
Marktsozialismus verweist auf ein allgemeines Problem von
Marktwirtschaften. Märkte sind nicht immer und überall friedenstiftend. Oft
können sie den sozialen Zusammenhalt nicht nur nicht sicherstellen sondern
163
im Gegenteil sogar gefährden. Die historisch älteren religiösen und
nationalistischen Differenzen sind von der sozialistischen Marktwirtschaft
Jugoslawiens nicht überwunden sondern offenbar sogar noch verschärft
worden. Das wirft auch einen dunklen Schatten auf die Bemühungen der
Integration von Minderheiten. Eingewanderte Minderheiten werden oft
diskriminiert, um die Arbeitskosten zu senken oder ausgegrenzt, wenn sie
nicht unmittelbar gebraucht werden. Die möglichen Folgen zeigen sich in den
„Bannmeilen“, den banlieus von Paris. Marktwirtschaft garantiert
Sozialverträglichkeit und den sozialen Zusammenhalt nicht. In den Debatten
über die sozialistische Marktwirtschaft findet man so gut wie keine Hinweise
auf ökologische Problemlösungen.
Eine Lebensweltökonomie ist dagegen eine Wirtschaft mit gezähmten d.h.
stark regulierten Märkten, die die zivile Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt.
Das Konzept einer Lebensweltökonomie thematisiert Umwelt und
Sozialverträglichkeit ebenso wie das Geschlechterverhältnis. Einige Hinweise
auf eine „sozialökologische Wirtschaftspolitik“ fehlen nicht (Jochimsen et al.
2004). Das Konzept einer Lebensweltökonomie ist aus der Perspektive der
heutigen wirtschaftlichen Lage eine moralisierende Utopie, die allerdings den
unbestreitbaren Vorzug hat, dass sie die Defizite der marktradikalen Option
offen legt, die uns sonst meist hinter schwer nachvollziehbaren Behauptungen
von Effizienz verborgen bleiben.
Eine neuere Variante der Lebensweltökonomie ist die Zeitpolitik, die eine
neue Zeitgestaltung zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft und der
Lebenswelt anstrebt. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse
zwingt den Subjekten der zivilen Gesellschaft einen Zeitrhythmus auf, der
nicht der ihnen genehme oder der menschlichen Natur entsprechende ist. Bei
Schichtarbeit ist das offensichtlich. Zeitpolitik hat es sich zur Aufgabe
gemacht, die Zeitstrukturen des Alltags zu verändern und wieder in die
Verfügungsmacht der Subjekte zurückzuverlagern (Mückenberger 2004).
Veränderung von Zeitstrukturen ist ein gutes und für jeden unmittelbar
nachvollziehbares Beispiel, wie moderne kapitalistische Marktwirtschaften
über die direkte und indirekte Vorgabe von Zeitabläufen tief in das
individuelle Verhalten eingreifen. Die Vorgabe von Zeitstrukturen ist als
Ansatzpunkt für Fragen über den scheinbar schicksalhaften Sinn und Unsinn
unseres Alltagslebens wie kaum ein anderes Thema geeignet. Die Folgen des
stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse werden offensichtlich. Die
Menschen werden gezwungen, ihre Lebenszeit den Marktprozessen direkt
oder indirekt anzupassen. Wo bleibt die Freiheit? Das Reich der Freiheit liegt
offenbar nicht – wie Marx noch glaubte – jenseits des Arbeitstags, sondern
164
außerhalb der Reichweite des stummen Zwangs der ökonomischen
Verhältnisse.
Die heute existierende kapitalistische Marktwirtschaft und die Reformen, die
in Deutschland vorgesehen sind, deuten in die marktradikale Richtung. Ihre
theoretische Basis des marktradikalen Kapitalismus ist noch immer sehr
abstrakt und an wichtigen Stellen brüchig. Die empirische Überprüfung ist
nur in Ansätzen vorhanden. Aus einem solchen Kontext heraus muss es
schwer fallen, eine konsistente Wirtschaftspolitik zu formulieren, die ihre oft
wohlgemeinten Ziele auch umsetzen kann. Es stellt sich vielmehr eine
Tendenz zur Beliebigkeit ein. Alles ist mehr oder weniger machbar, wenn
man nur die politische Basis dazu finden kann. Die Lage in Deutschland nach
der Wahl 2005 ist dafür ein trauriges Beispiel. Einiges von dieser
problematischen Situation ist in dieses Papier eingeflossen.
G) Statt eines Schlusswortes
In diesem kritisch angelegten Text wurde versucht, die heutige
Wirtschaftswissenschaft an ihrem Selbstverständnis, ihren Absichten und
Versprechungen zu messen. Die Ergebnisse sind nicht in allen wichtigen
Bereichen des Wirtschaftslebens überzeugend. Bei aller Kritik aber darf nicht
übersehen werden, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft und die aus
ihren Einsichten entwickelte Wirtschaftspolitik in weiten Bereichen die
Existenzfähigkeit der entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften nicht
unerheblich unterstützt hat. Sie hat auch Verfahren und Instrumente
entwickelt, die marktkonforme Reformen ermöglichen sollen. Gerade in
diesen Bereichen zeigt sich, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft
weit über die ihr unterstellte Verschleierung durchaus existierender
Missstände hinausgreifen kann. Schon deshalb reicht es nicht, alles was dort
erdacht und umgesetzt wurde in Bausch und Bogen abzulehnen. Den oberen
Schichten der Einkommens- und Vermögensbesitzer sind mit der
Wirtschaftswissenschaft immerhin gut gefahren. Sie haben unter dem Mantel
der Marktmythologien ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Ihre Anteile an
Einkommen und Vermögen nehmen zu. Sie widersetzen sich mit oft
fragwürdigen Argumenten, die ihnen von der akademischen
Wirtschaftswissenschaft angedient werden, zunehmend erfolgreich allen
Umverteilungsversuchen.
Unter den Visionen und im Werkzeugkasten, die von der
Wirtschaftswissenschaft bereitgestellt werden, steht einiges zur Verfügung,
das auch für wirtschaftliche Alternativen zur bestehenden kapitalistischen
165
Marktwirtschaft eingesetzt werden kann. Organisierte Wirtschaftsinteressen
haben immer viel Talent gezeigt, sich das für sie Brauchbare herauszulesen.
Manches kann in eine Zukunft hinüber gerettet werden können, in der andere
Ziele als die ausschließlich erwerbswirtschaftlichen Zwecke der
kapitalistischen Marktwirtschaft verfolgt werden. Die Trennung von „guter“
und „böser“ Wirtschaftswissenschaft wäre fiktiv und kann deshalb auch nicht
Aufgabe eines solchen Textes sein. Die politischen Individuen und ihre
Organisationen müssen den Ausleseprozess ausgehend von ihren
gesellschaftspolitischen Projekten selber leisten.
In einer Zukunftsvision, in der die marktradikale, d.h. erwerbswirtschaftliche
Variante transnationaler Oligopole der kapitalistischen Marktwirtschaft und
„shareholder values“ im Vordergrund steht, ist allerdings nur wenig oder kein
Raum für die Prinzipien einer erneuerten Sozialen Marktwirtschaft und noch
weniger für die Konzepte einer Lebensweltökonomie.
Eine akzeptable marktwirtschaftliche Perspektive wäre eine, die glaubhaft
von sich behaupten kann, dass innerhalb der Grenzen der kapitalistischen
Marktwirtschaft mit Hilfe der verengten akademischen
Wirtschaftswissenschaft all unsere wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
ökologischen Probleme – und warum nicht mit „mehr Markt und weniger
Staat“ – gelöst werden können! Die „shareholder values“ müssten durch
„stake holder values“ ersetzt und erweitert werden. Mit anderen Worten, nicht
nur die Interessen der Eigentümer (d.h. der share holder, das sind die Besitzer
von Eigentumstiteln) sondern auch die im weiteren Sinn von den Aktivitäten
eines Unternehmens betroffenen Interessen (d.h. der stakeholder) müssten
Berücksichtigung finden.
Die heute dringend zu lösenden Problemen sind nicht vom Himmel gefallen.
Es sind Probleme, die aus der Funktionsweise der kapitalistischen
Marktwirtschaft heraus entstanden sind. Es wurden unter der Vorherrschaft
der Hauptströmungen der akademischen Wirtschaftswissenschaft schließlich
mehr Probleme geschaffen als gelöst werden konnten. Die Probleme reichen
von der Massenarbeitslosigkeit in den Zentren, der vielerorts als
untererträglich empfundenen gesellschaftlichen Ungleichheit über die
Umweltzerstörung bis hin zu den Hunderttausenden von Kindern in den
Ländern der Peripherie, die dort jedes Jahr verhungern. Die akademische
Wirtschaftswissenschaft und die von ihr angeleitete Wirtschaftspolitik stehen
offenbar hilflos vor vielen dieser wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
ökologischen Probleme. Kommt es zu keinen Lösungen, dann ist die
marktradikale Perspektive längerfristig nichts anderes als eine Utopie im
166
schlechten Sinn, deren Ideale „nirgendwo“ ihre Verwirklichung gefunden
haben und auch nicht finden werden.
Deutschland schwimmt vor und nach den Wahlen 2005 auf einer
nostalgischen Welle. Die Vergangenheit wird verklärt und mit ihr auch die
soziale Marktwirtschaft. Eine Rückkehr zu dieser Ausprägung der
kapitalistischen Marktwirtschaft wird beschworen. Doch hat sich die
wirtschaftliche Realität so grundlegend verändert, dass die Rückkehr zu
den hehren Prinzipien und der weniger schönen wirtschaftlichen
Wirklichkeit der „alten“ sozialen Marktwirtschaft die erhoffte Erlösung
von den Übeln der Gegenwart nicht bringen kann. Eine Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung aber ist nicht reproduzierbar wie eine beliebige
Ware, ein Auto oder ein Suppenteller. Es gibt nicht nur linke oder
keynesianische Illusionen über die Gestaltbarkeit von Wirtschaft und
Gesellschaft. Auch konservative Kreise haben an dieser Illusion ihren
Anteil, wenn sie in der Gegenwart mit ihren rückwärts gerichteten
Reformen im Vormarsch sind.
Die Kreise, die die Konzepte der „‚neuen’ sozialen Marktwirtschaft“
fördern, ziehen die Fäden in einem Marionettentheater. Die Puppen treten
in altertümlichen Kostümen auf. Das mag amüsant sein, vor allem dann
wenn in dem trostlosen Stück frühbürgerliche Versatzstücke im Sinne
einer „Kultur der Freiheit“ (Fabbio 2005) eingebaut werden. Sie erinnern
uns recht daran erinnern, dass das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft zur
Zeit der französischen Revolution etwas anders aussah als die weltweite
wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirklichkeit des vergangenen und des
beginnenden neuen Jahrhunderts. Die Versprechungen der bürgerlichen
Gesellschaft, so wie sie z.B. in den Menschenrechten niedergelegt wurden,
sind zum überwiegenden Teil noch immer nicht eingelöst. Der Text der
Souffleuse in diesem Marionettentheater aber stammt aus den
Ausarbeitungen über den eisigen Gletscher der kapitalistischen
Marktwirtschaft, der sich fortbewegt, sich dabei stets verändert aber doch
immer der alte eisige Gletscher bleibt.
167
168
G) Anhang
1) Erklärung wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe
Arbeitslosenquote: Quotient aus der Zahl der Arbeitslosen und der Zahl der
Erwerbspersonen.
Arbeitskräftepotential: Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 16 –65 Jahren.
Arbeitsproduktivität: Produktion je Beschäftigten oder je Beschäftigtenstunde.
Arbitrage: Forderung, dass der erwartete Kurs oder die erwartete Rendite einer Aktie
oder einer sonstigen Finanzanlage gleich sein müssen.
Armut: Menschen werden als arm bezeichnet, wenn sie über ein Einkommen
verfügen, das weniger als 50% des Durchschnittseinkommens beträgt.
Blasen (spekulative): Abweichungen des Aktienkurses vom Fundamentalwert in der
Erwartung, dass die Aktie zu einem späteren Termin noch teurer weiterveräußert
werden kann. Fundamentalwerte sind die Werte, die auf Grund der vorliegenden
Informationen errechnet werden können. Dazu gehört z.B. das Kurs-GewinnVerhältnis (siehe dort).
Beschäftigte: Personen (Arbeitnehmer und Selbständige), die einer Erwerbstätigkeit
nachgehen.
Erwerbspersonen: Beschäftigte und Arbeitslose.
Erwerbsquote: Verhältnis von Erwerbspersonen zur Bevölkerung im erwerbsfähigen
Alter.
Defizitquote: Anteil des Budgetdefizits am nominalen Bruttoinlandsprodukt.
Generationenvertrag: Ungeschriebener Vertrag im Rahmen des Umlagesystems
(siehe dort) einer Rentenversicherung. Die gegenwärtig aktive Generation finanziert
die Rentner über Beitragszahlungen. Im Gegenzug wird die heute aktive Generation
im Rentenalter von der dann aktiven Generation unterstützt.
Kapitaldeckungsverfahren: System der Alterssicherung, in dem sich die heute aktive
Generation einen Kapitalstock anspart, den sie im Alter für ihre Versorgung verwendet
(siehe Umlagesystem).
Konsumentensouverainität: Grundprinzip der Marktwirtschaft, wonach das Angebot
von Gütern von den Konsumenten bestimmt wird.
169
Kurs-Gewinn-Verhältnis: Beziehung zwischen Aktienkurs und den Gewinnen eines
Unternehmens. Das KGV ist eine wichtige Orientierungsgröße – Fundamentalwert –
zur Bewertung von Aktien. Das KVG ist der Kehrwert der Gewinnrendite.
Lobbies: Interessengruppen, die durch unterschiedliche Formen der Einflussnahme
politische Entscheidungsprozesse zu ihren Gunsten beeinflussen.
Staatsschuldenquote: Anteil der Staatsschuld am nominalen Bruttoinlandsprodukt.
Glaubwürdigkeit: Vertrauen der Wirtschaftssubjekte, dass eine angekündigte
Wirtschaftspolitik den vorgesehenen Erfolg bringt.
Opportunitätskosten: Bewertung eines Projekts mit den entgangenen Gewinnen einer
nicht verwirklichten Altenative.
Say’s Gesetz: Gesetz, nach dem sich das Angebot von (neuen) Gütern und
Dienstleistungen immer eine ausreichende Nachfrage schafft.
Schocks (äußere): Änderungen von unbeeinflussbaren Variablen wie Ölpreis etc., die
eine Verschiebung der Angebots- bzw. der Nachfragekurve zur Folge haben. Wichtig
für eine gegen Schocks angesetzte Wirtschaftspolitik ist die Unterscheidung zwischen
vorübergehenden oder endgültigen Schocks.
Umlageverfahren: Ein Rentenversicherungssystem, bei dem die Beiträge der
Beschäftigten im gleichen Jahr als Leistungen an die Rentner ausbezahlt werden.
Unsichtbare Hand: Von Adam Smith in die Wirtschaftswissenschaft
eingebrachter Begriff, mit dem die beabsichtigten und die unbeabsichtigten
Wirkungen eines Marktmechanismus dargestellt werden.
2) Skizzen für weitere Fallbeispiele
Die hier vorgeschlagenen Themenbereiche werden nur kurz skizziert. Sie
sollten mit den Kursteilnehmern diskutiert werden.
1) Mindestlohndiskussion:
Die aktuelle Diskussion kann auf der Grundlage von Zeitungsberichten nachvollzogen
werden. Wichtig ist die Berücksichtigung der Bauindustrie, in der es schon seit Mitte der
neunziger Jahre Mindestlöhne gibt. Zusätzlich Lektüre des Unterabschnitts C3 „Ein
globalisierter Arbeitsmarkt: der Arbeitsmarkt für Schiffsbesatzungen“.
2) Entwicklungsperspektiven des Ölpreis
170
Der Ölpreis war schon immer auch ein politischer Preis. Auch spekulative Bewegungen,
aufgebrauchte Reserven haben zu der Preiserhöhung auf zeitweise nahezu 60$ beigetragen.
Zahlreiche Hinweise finden sich in der Wirtschaftspresse, Handelsblatt, Spiegel, Zeit.
3) Alternde Gesellschaften und Wirtschaftspolitik
Alternde Gesellschaften werfen zahlreiche politische und wirtschaftliche Probleme auf, die
von der gesellschaftlichen Dynamik, Innovationsfreudigkeit, Gesundheitsvorsorge bis zur
Rentenfinanzierung reichen. Das Thema sollte auf dem Hintergrund der neueren
demographischen Entwicklungen behandelt werden. Einstieg über den World Economic
Outlook des IMF, Herbst 2004, der über das Internet zugänglich ist.
4) Japans deflatorische Stagnation
Japan, die Erfolgsstory der achtziger Jahre, leidet seit Beginn der neunziger Jahre unter einer
hartnäckigen Stagnation, die mit einer leichten Deflation verbunden ist. Vergleiche mit
Deutschland drängen sich auf. Einstieg über die letzten beiden Jahresberichte der Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich, Basel und die letzten beiden World Economic Outlook des
IMF. Beide Quellen sind über das Internet zugänglich.
5) Opels Überlebenschancen
Siehe Kasten E17: „Opel und die Kartoffelschälerin“ dieses Papers und den dort angegebenen
Bericht des Spiegel.
6) Hartz IV:
Auf der Grundlage von Pressemitteilungen und Internetportalen der Gewerkschaften und
anderer Organisationen soll eine Darstellung der Maßnahmen von Hartz IV erarbeitet werden.
Die lohntheoretischen Grundlagen können ausgehend von Abbildung Cl: Arbeitsangebot bei
Arbeitslosenhilfe oder Vermögen erkundet werden.
7) Mögliche Folgen der amerikanischen Zwillingsdefizite
Die USA haben ein hohes Haushaltsdefizit und ein hohes Handels- bzw.
Leistungsbilanzdefizit. Die weltwirtschaftlichen Folgen sind erheblich. Sie können auf der
Grundlage von Presseberichten, Internetportalen und ausgehend von Kasten B14: Der
Absorbtionsansatz aufbereitet werden.
3) Grobgliederung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, des
Staatshaushaltes und der Zahlungsbilanz
171
A) Grobgliederung der Herkunftsseite des Bruttoinlandsprodukts
(BIP Mrd. €, 2002)
________________________________________________________________
Vom BIP zum Volkseinkommen
(1) Bruttoinlandsprodukt (BIP)
2a) + Primäreinkommen aus der übrigen Welt
2b) – Primäreinkommen in die übrige Welt
2c) Saldo der Primäreinkommen mit der übrigen Welt
3) = Bruttosozialprodukt
4) – Abschreibungen
5) Nationaleinkommen (Primäreinkommen)
6a) + laufende Transaktionen aus der übrigen Welt
6b) – laufende Transaktionen in die übrige Welt
7) = Verfügbares Einkommen der Inländer
5) Nettonationaleinkommen (Primäreinkommen)
8) – indirekte Steuern
9) + Subventionen
10) = Volkseinkommen
2.108,20
115,47
–124,56
–9,09
2.099,11
–318,48
1.780,63
9,80
33,11
1.757,32
1.780,63
–249,51
30,92
1562,04
Die Komponenten des Volkseinkommens
11) Arbeitnehmerentgelt
12) Bruttolöhne und Gehälter
13) Arbeitgeberbeiträge
14) Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen
1.130,03
911,46
218,57
432,01
172
B) Grobgliederung der Verwendungsseite des Bruttoinlandsprodukts
(BIP in €, 2002)
____________________________________________________________
1) Konsum privater Haushalte
2) + Konsum privater Organisationen
ohne Erwerbszweck
3) + Staatlicher Konsum
4) + Bruttoanlageninvestitionen
5) Ausrüstungen
6) Bauten
7) Sonstige Anlagen
8) Vorratsveränderungen
9) = Inländische Verwendung Gütern
10) + Außenbeitrag (Exporte – Importe)
11) Exporte von Waren und Dienstleistungen
12) Importe von Waren und Dienstleistungen
13) = Bruttoinlandsprodukt
1.199,58
42,30
402,79
387,78
150.90
212,75
24,13
– 7,78
2.025,17
83,03
748,27
665,24
2.108,20
173
C) Grobgliederung des Staatshaushalts (Mrd. €, 2002)
____________________________________________________________
1) Einnahmen
darunter:
2) Steuern
3) Sozialbeiträge
4) Ausgaben
darunter:
5) Vorleistungen
6) Arbeitnehmerentgelt
7) Zinszahlungen auf Staatsschuld
8) Subventionen
9) Monetäre Sozialleistungen
10) Bruttoinvestitionen
11) =Finanzierungssaldo
12) Finanzierungssaldo in % des BIP
948,17
476.60
388,13
- 1.024,36
84,31
125,86
67,20
30,29
409,88
23,65
- 76,19
- 3,6%
174
D) Grobgliederung der Zahlungsbilanz (Mrd. €, 2002)
Leistungsbilanz
Warenexporte
Warenimporte
(1) Handelsbilanz
648,3
522,1
Dienstleistungsexporte
Dienstleistungsimporte
(2) Dienstleistungsbilanz
114,2
152,5
126,1
–38,3
(3) Außenbeitrag
(1 + 2)
87,9
(4) Nettoerwerbseinkommen
(5) Nettovermögenseinkommen
(6) Saldo der Erwerbs- und
Vermögenseinkommen (4 + 5)
–0,4
–6,3
–6,7
–26,6
(7) Laufende Übertragungen
9) Saldo der Leistungsbilanz
(3 + 6 + 7 + 8)
48,9
Kapitalbilanz
10) Kapitalexport
11) Kapitalimport
12) Saldo der Kapitalbilanz
(10 – 11)
13) Saldo der Devisenbilanz
255,8
177,1
–78,7
2,0
____________________________________________________________
175
4) Kommentierte Basisliteratur
Die Bücher, die hier als Basisliteratur vorgestellt und kurz kommentiert werden, können
parallel als Einstieg zu dem Text gelesen bzw. durchgearbeitet werden. Sie sind meist ein
wenig einfacher gestrickt und vielleicht deshalb auch verständlicher. Für Einsteiger werden
die Bücher von Bofinger, Krugman und Galbraith. Sie ergänzen sich in mehreren
Bereichen. Sie können auch eingesetzt werden, wenn neue Fallbeispiele entwickelt werden
sollen.
Bofinger, Peter 2003: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine
Einführung in die Wissenschaft von Märkten. München: Pearson/Studium
Bofinger legt in seinem Buch eine gelungene Einführung in die Makroökonomik vor, die auf
dem deutschen Markt ihresgleichen sucht. Sie ist für Studenten in den Anfangssemestern
gedacht, kann aber auch von nicht akademischen interessierten Lesern als Einführung
erfolgversprechend genutzt werden. Man findet Fallstudien, oft mit Zahlenbeispielen,
Simulationsmodelle auf einer CD-Rom, biographische Hinweise oft berühmte deutsche und
ausländische Ökonomen, informative Schaubilder und Tabellen über die deutsche Wirtschaft
usw. Das Buch ist auch im Rahmen eines Erwerbs ökonomischer Grundkompetenz gut zu
gebrauchen. In einigen Bereichen übersteigt es jedoch das in diesem Papier angestrebte
Niveau. Das Buch gibt sich wertfrei. Emanzipatorische Hinweise wird man vergeblich
suchen. Dem Buch beigefügt ist eine CD-Rom, mit der man anschauliche Simulationsläufe
machen kann.
Filc, Wolfgang 2001: Gefahr für unseren Wohlstand. Wie
Finanzmarktkrisen die Weltwirtschaft bedrohen. Frankfurt am Main:
Eichborn
In gut verständlicher Sprache beschreibt Filc in historischer Perspektive und analytisch klar
begründet die Finanzmarktkrisen des letzten Jahrzehnts. Er zeigt die Schwächen der
Steuerung der Weltwirtschaft über Finanzmärkte auf und geht mit dem Internationalen
Währungsfonds in Gericht. Bei der Beschreibung der Möglichkeiten eines internationalen
Krisenmanagements bleibt er recht verhalten. Er begibt sich (nicht allein) auf die Suche nach
Verbesserungen der internationalen Finanzarchitektur – ein Thema, das Ende der neunziger
Jahre breit diskutiert wurde. Es geschah bisher wenig bis nichts. Oskar Lafontaine hat ein
kurzes Schlusswort beigesteuert. Ein informatives Buch, das bei der Diskussion von
Brennpunkten im Gegensatz zu Stiglitz recht zurückhaltend wirkt.
Fusfeld, Daniel R. 1975: Geschichte und Aktualität ökonomischer
Theorien. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. Vorwort des
Herausgebers H. G. Nutzinger. Erstausgabe 1972: The Age of the
Economist). Frankfurt: Campus
176
Der Autor versucht Beziehungen zwischen Aktualität und Theoriegeschichte herzustellen,
was ihm jedoch nur teilweise gelingt. In der älteren Theoriegeschichte findet man in diesem
Buch einsichtige Darstellungen. Wenn er von der „gegenwärtigen Krise“ spricht, dann meint
er die des Endes der sechziger und der frühen siebziger Jahre. Das Buch erschien 1972. Der
letzte Unterabschnitt meldet milde Zweifel an der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus an.
Im letzte Satz seines Buches behauptet der Autor: „Ob wir es wollen oder nicht, wir haben ein
revolutionäres Zeitalter erreicht“. Im Rückblick kann man ein müdes Lächeln kaum
unterdrücken. Vorsicht bei der Anwendung von alten Theoriebeständen zur Deutung der
Zukunft! Das kann Heilbroner besser (Heilbroner 1994).
Galbraith, John Kenneth 2005: Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs.
Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen
von Thorsten Schmidt. Originalausgabe 2004: The Economics of innocent
Fraud: Truth for Our Time. Berlin: Siedler
Galbraith untersucht die Folgen von Begriffsverwirrungen. Der Begriff „Kapitalismus“ wurde
in den USA aufgegeben und durch Marktwirtschaft ersetzt. Der Autor zeichnet die
weitreichenden Folgen auf und fördert dabei einige für marktradikale Ökonomen
unangenehme Tatsachen aus der jüngeren amerikanischen Wirtschaftsgeschichte zutage.
Auch Galbraith ist einer der „großen alten Herren“ der Wirtschaftswissenschaft in den USA,
dem es immer auch auf die möglichst weite Verbreitung wirtschaftswissenschaftlicher
Kenntnisse ging. Er befleißigt sich deshalb einer klaren Darstellung und einer einfachen
Sprache, die auch in der Übersetzung erhalten bleibt. Ein lesenswertes Buch – durchaus nicht
nur für Anfänger. Stiglitz (siehe unten) gibt von der jüngeren amerikanischen
Wirtschaftsgeschichte einen detaillierteren Überblick.
Heilbroner, Robert L. 1994: Kapitalimus im 21. Jahrhundert. Aus dem
Amerikanischen von Yvonne Badal. Originalausgabe 1993: 21st Century
Capitalism. München: Carl Hanser
Heilbroner ist einer der „großen alten Herren“ der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft
mit einer profunden Kenntnis der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur. Er ist wie kaum ein
anderer in der Lage, komplexe wirtschaftswissenschaftliche Denkmuster auf ihre
Kernprobleme zu reduzieren und verständlich zu machen. Aus der Kenntnis der Literatur
steuert er Szenarien möglicher wirtschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert an. Heiße
Eisen wie „Die Lehren der Geschichte“ werden angepackt und mit bei Ökonomen seltenem
Fingerspitzengefühl für die humanistischen Traditionen der bürgerlichen Kultur und
Wissenschaft behandelt.
Hirsch, Joachim 1998: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen
Wettbewerbsstaat. Berlin: ID Verlag
Schon am Titel erkennt man, dass Hirsch sein Buch vor dem 11. September verfasst hat.
Heute wird der Sicherheitsstaat verstärkt und der Staat gleichzeitig zum Wettbewerbsstaat
ausgebaut. Daraus müssen sich Finanzierungsprobleme ergeben, zu denen sich bei Hirsch
keine Hinweise finden. Dennoch lesenswert, u.a. weil der Autor Grundbegriffe genau
definiert.
Krugman, Paul 2002: Schmalspur-Ökonomie. Die 27 populärsten Irrtümer
über Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen von Herbert Allgeier.
177
Erstausgabe 1998: The Accidental Theorist and Other Dispatches from the
Dismail Science. München: List, Ullstein
Krugmans Buch zeigt auch, dass die Wirtschaftswissenschaft nicht über nur einen Königsweg
zur Erkenntnis von wirtschaftlicher Wirklichkeit und Wahrheit verfügt. Viele Wege führen
nach Rom. Der Autor zeigt aber auch, dass sich die Wirtschaftswissenschaft Erkenntnisse
erarbeitet hat, mit deren Hilfe man Irrtümer vermeiden und einseitige Interessenpositionen
entlarven kann. Krugmans Buch sollte nicht zuletzt deshalb herangezogen werden, wenn
zusätzliche Fallbeispiele ausgearbeitet werden sollen.
Stiglitz, Joseph E. 2004: Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom. Aus
dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Erstausgabe 2003:
The Roaring Nineties. A New History of the World’s Most Prosperous
Decade. Berlin: Siedler
Der Autor, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Stanford
(Spezialisiert auf Informationsökonomik), war Berater des Präsidenten Clinton, Chefökonom
der Weltbank, und wortgewaltiger, d.h. gefürchteter Gegner der Politik des Internationalen
Währungsfonds. 2001 erhielt er den Nobel-Preis. Er vertritt eine kritische Position gegenüber
dem Mainstream, den er als Washington Konsens bekämpft. Seine Darstellung der
amerikanischen Prosperitätsphase in den neunziger Jahren spart die dunklen Seiten dieser
Periode nicht aus, und dunkle Seiten hat es weiß Gott gegeben. Das Buch ist interessant auch
weil es Stiglitz meisterhaft gelingt, die Misserfolge der neunziger Jahre mit den Positionen
des Mainstream zu verbinden. Seine Ausführungen zu Gewinnern und Verlierern der
Globalisierung und über den betrügerischen Zusammenbruch des Enron-Konzerns sind m.E.
besonders gut gelungen.
Zinn, Karl Georg 1997: Jenseits der Markt-Mythen. Wirtschaftskrisen:
Ursachen und Auswege. Hamburg: VSA
Die Arbeit von Zinn zerreist den Schleier der Markteffizienz. Der Autor schreckt vor
schwierigen, kontrovers diskutierten Themen nicht zurück. Er fandet nach Ursachen und
skizziert mögliche Lösungsansätze. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen ist, dass
„laissez-faire“, den Märkten ihren Lauf lassen, nicht automatisch aus der Krise führt
Weiterführende Literatur
Die aufgeführte Literatur ist die Grundlage des Textes. Sie beschränkt sich auf Bücher. Aus
dieser Literaturliste kann ersehen werden, welche wissenschaftspolitische Position der Autor
des Textes einnimmt. Einige der Bücher können auch als weiterführende Literatur
herangezogen werden. Besser wäre es für diesen Fall jedoch, erst einmal einen Blick auf die
Liste der kommentierten Basisliteratur zu werfen.
Die hier vorgelegte Literaturliste ist nicht als Keule zu verstehen, mit der Leute erschlagen
oder abgewehrt werden sollen, die an der Ökonomie interessiert sind, aber (noch) Probleme
178
mit der englischen Sprache haben. Am Lesen Interessierte Kursteilnehmer können sich dies
oder das heraussuchen. Der Leser findet einige Bücher in deutscher Sprache, z.T.
Übersetzungen aus dem Amerikanischen. Auch das hat einen Grund. Es gibt eine Reihe von
vorzüglichen amerikanischen Ökonomen, die eine liberale Auffassung von
Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik vertreten. In Deutschland ist diese Richtung
selten geworden. „Liberal“ heißt im Amerikanischen Kulturkreis ungefähr das, was in Europa
mit „linksliberal“ bezeichnet wird. Aktuelle wirtschaftliche und wirtschaftspolitische
Probleme können deshalb auch für Deutschland ohne Rückgriff auf amerikanische Autoren
kaum noch ausgewogen behandelt werden.
Auch in der Wirtschaftswissenschaft gibt es nicht nur einen Weg zur Wahrheit. Die Auswahl
der Literatur ist leicht linkslastig, ohne die pluralistische Option aufzugeben. Autoren des
„aufgeklärten“ Mainstream wie Bhagwati (Bhagwati 2002, 2004) oder Blinder (Blinder 1990,
1999) spielen durchaus eine Rolle. Mainstream ist in der Wirtschaftswissenschaft die
selbsternannte neoklassisch orientierte Hauptströmung mit dem Anspruch, allein und
eingleisig zur Erkenntnis der Wahrheit und der wirtschaftlichen Wirklichkeit zu führen. Doch
auch für die Wirtschaftswissenschaft gilt: es führen viele Wege nach Rom. Das gleiche gilt
für die deutschen Arbeiten. Hier dürfte das Buch von Sinn (Sinn 2004) zur Kategorie des
Marktfundamentalismus im Sinne von Soros zählen (Soros 1998:19). Nebenbei bemerkt,
Soros ist ein sehr erfolgreicher Spekulant, der dem marktwirtschaftlichen Kapitalismus, an
dem er Milliarden Dollar verdient hat, erstaunlich kritisch gegenübersteht. Weiter links stehen
sicher Bowles und Gintis (Bowles, Gintis 1986). Marx erscheint mit den Konzepten der
Kapitalkreisläufe, die analytisch interessante Perspektiven eröffnen aber wohl kaum geeignet
sind, die Volksmassen mit revolutionärem Elan zu beflügeln (Marx 1893). Die Liste enthält
auch einige ältere Titel. Ein zarter Hinweis darauf, dass in der Wirtschaftswissenschaft das
Rad mehrmals erfunden wurde. – Die Literaturliste soll auch Auskunft geben, wo der Autor
des Textes seinen Most holt.
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