Hinweis: Dieser Text hat noch immer den Charakter einer Materialsammlung. In einigen Bereichen ist er durch die neue Weltwirtschaftskrise überholt bzw. ergänzungsbedürftig. Eine Neufassung ist in Arbeit und soll bis Ende 2009 fertig gestellt werden. Die Drucklegung ist für Anfang 2010 vorgesehen. Eine Kurzfassung des überarbeiteten Texts ist ebenfalls geplant. Ökonomisches Orientierungswissen zum Verständnis aktueller wirtschaftstheoretischer und wirtschaftspolitischer Debatten aus Wissensbeständen der akademischen Wirtschaftswissenschaft ausgewählt und kommentiert von Prof. Dr. Gerhard Leithäuser (Universität Bremen, Akademie für Arbeit und Politik Bremen) i Ökonomisches Orientierungswissen Gliederung A) Vorbemerkung S. 5 1) Was hat es mit dem ökonomischen Orientierungswissen auf sich? 2) Ökonomisches Orientierungswissen als Beitrag zur Aufklärung und zur Emanzipation 3) Ein kurzer Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Wirtschaftswissenschaft S. 5 4) Anmerkungen zur Gliederung S. 8 5) Didaktische Hinweise S. 10 B) Gesamtwirtschaftliche Grundmuster 1) Orientierungshilfen für den langen Marsch zur wirtschaftlichen Wirklichkeit 2) Ein Beispiel für einen Gesamtzusammenhang aus der evolutorischen Ökonomik 3) Allgemeines Gleichgewicht und Kapitalkreisläufe als Abbildungen von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen 4) Wachstum ohne Grenzen? 5) Unvollständige Reproduktion in entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften 6) Zyklische Bewegungen der wirtschaftlichen Aktivität 7) Krise, Prosperität, Depression und Stagnation 8) Staatstätigkeit: vom absolutistischen zum bürgerlichen Staat? 9) Staatsfunktionen 10) Wirtschaftspolitik 11) Vom Budgetdefizit zur Staatsschuld und ihren wirtschaftlichen Wirkungen 12) Entweder Inflation oder Arbeitslosigkeit: die Phillipskurve und die „natürliche“ Arbeitslosigkeit 13) Wechselkursregime und Währungspolitik 14) Zentren und Peripherien der wirtschaftlichen Entwicklung 15) Macht und ökonomisches Gesetz – ökonomisches Gesetz als Macht 16) Zur Entwicklungslogik kapitalistischer Marktwirtschaften 17) Einige Zwischenergebnisse S. 13 S. 13 S. 44 S. 47 S. 56 S. S. S. S. S. S. 59 60 63 64 66 68 S. 74 S. 76 S. 79 S. 91 S. 93 S. 96 S. 98 ii C) Zur Funktionsweise einzelner Märkte 1) Angebot und Nachfrage auf Gütermärkten 2) Ist der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere? 3) Ein globalisierter Arbeitsmarkt: Schiffsbesatzungen 4) Zur Steuerungsfunktion von Finanzmärkten 5) Eingeschränkte Effizienz in kapitalistischen Marktwirtschaften 6) Emissionshandel und saubere Luft D) Einzelwirtschaftliche Grundmuster 1) Die Produktion: Perspektiven der akademischen Wirtschaftswissenschaft 2) Marktform und Wettbewerbsstrategie 3) Von der einzelwirtschaftlichen Betrachtung zurück zur gesamtwirtschaftlichen Ebene S. 102 S. 102 S. 105 S. 115 S. 118 S. 122 S. 126 S. 128 S. 128 S. 134 S. 140 E) Die Wirtschaftswissenschaft ein unvollendetes Mosaik der Lage aber kein Kalleidoskop S. 144 F) Zukunftsentwürfe: Marktradikalismus – soziale Marktwirtschaft – Marktsozialismus – Lebensweltökonomie S. 156 G) Statt eines Schlusswortes S. Listen der Kästen und Abbildungen 1) Liste der Kästen Kasten B1: Kann die Marktwirtschaft Wunder vollbringen? Kasten B2: Der Fetischcharakter der Ware und sein (offenkundiges) Geheimnis Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren Kasten B4: Ein Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart Kasten B5: Was ist Geld? Kasten B6: Outsourcing und der Transfer von Arbeitsplätzen S. 15 S. S. S. S. S. 24 43 45 52 54 iii Kasten B7: Die vorrevolutionäre „taille“, eine Repartitionssteuer mit kontraproduktiven Anreizen und einige Hinweise auf die Salzsteuer Kasten B8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik Kasten B9: Multiplikatoranalyse Kasten B10: Internationale Organisationen, Nationalstaaten, Märkte angesichts der Bedrohung durch die Vogelgrippe Kasten B11: Kurssicherungsgeschäfte (hedging) Kasten B12: Wirtschaftspolitische Reaktionsmöglichkeiten auf einen äußeren Schock Kasten B13: Kaufkraftparitäten und der Big-Mac-Standard Kasten B14: Der Absorbtionsansatz Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht S. 65 S. 68 S. 70 S. 72 S. 83 S. 85 S. 88 S. 88 S. 95 KastenC16: Gestrandet im Niemandsland Kasten C17: Spielleidenschaft und Tulpenzwiebel Kasten C18: Emissionszertifikate S. 115 S. 119 S. 127 Kasten D19: Opel und die Kartoffelschälerin Kasten D20: Rationalitätsfalle und Sparparadox S. 133 S. 140 2) Liste der Abbildungen Abbildung Ba: Innovationscluster Abbildung Bb: Einkommenskreislauf mit Vermögensänderung, Ausland und Staat Abbildung Bc: Kapitalkreisläufe nach Marx Abbildung Bd: Konjunkturzyklus auf steigendem Trend Abbildung Be: Lange Wellen der wirtschaftlichen Aktivität Abbildung Bf: Die Phillipskurve und die „natürliche“ Arbeitslosigkeit Abbildung Bg: Dreieck der Unvereinbarkeiten Abbildung Bh: J-Kurve und Dollarabwertung S. 30 Abbildung Ci: Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht Abbildung Cj: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage Abbildung Ck: Arbeitsangebot bei Arbeitslosenhilfe oder Vermögen Abbildung Cl: Lohnhöhe und Beschäftigung bei Vollbeschäftigung Abbildung Cm: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bei Mindestlöhnen Abbildung Cn: Lohnhöhe und Beschäftigung auf dem globalisierten Arbeitsmarkt für Seeleute Abbildung Cn: Dreiecks-Arbitrage S. 102 S. 106 S. 108 S. 110 S. S. S. S. S. S. S. 35 52 61 62 76 84 86 S. 111 S. 117 S. 120 iv Abbildung Do: Produktionsfunktion Abbildung Dp: Lernkurve S. 129 S. 131 G) Anhang S 160 1) Erklärung wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe 2) Skizzen für weitere Fallbeispiele 3) Grobgliederung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, des Staatshaushalts und der Zahlungsbilanz 5) Kommentierte Literatur 6) Weiterführende Literatur S. S. S. S. S. v vi Ökonomisches Orientierungswissen A) Vorbemerkung 1) Was hat es mit einem ökonomischen Orientierungswissen auf sich? Der Begriff der Orientierung stammt aus der Seefahrt. Eine Himmelsrichtung, z.B. der Sonnenaufgang im Osten (Orient) wird angesteuert. Das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm ordnet dem Verb „orientieren“ drei Bedeutungsrichtungen zu (Grimm 2004). Einmal steuert man andere Weltgegenden an, um sich einen Überblick zu verschaffen. Zum zweiten versucht man, sich in Bereichen oder Verhältnissen zurechtzufinden. Drittens aber soll man sich im Denken orientieren1. Diese drei Bedeutungsrichtungen des ökonomischen Orientierungswissens sollen diesem Text zugrunde gelegt werden. Wir brechen auf aus der engen Weltgegend unseres Alltagsbewusstseins. Wir wollen uns in Richtung auf die Wirtschaftswissenschaft hin orientieren und versuchen, uns dort einen Überblick zu verschaffen. Wir werden dabei einige ökonomische Gebiete betreten und in einige gesellschaftliche Verhältnisse eindringen. Dort wollen wir zweitens anhand von Fallbeispielen einige Aspekte ökonomischer Theorien und Wirtschaftspolitiken näher kennen lernen. Drittens wollen wir lernen zu verstehen, wie Ökonomen denken, oder wie Ökonomen versuchen, wirtschaftliche Probleme zu erkennen und zu lösen. Das ist alles andere als einfach. Vielleicht geht uns selbst dabei ein Licht auf, das uns bei der Orientierung hilft? Ökonomisches Orientierungswissen ist erforderlich, um aus dem Labyrinth des Alltagsbewusstseins, das sich besonders gern über ökonomische Zusammenhänge äußert, herauszukommen. Thomas Leithäuser und Birgit Volmerg bestimmen den Begriff des Alltagsbewusstseins folgendermaßen: „Alltagsbewusstsein ist demnach die individualisierte, d.h. von den Mit dieser Frage hatte sich Kant in seinem Aufsatz „Was heißt sich im Denken orientieren?“ aus dem Jahr 1786 auseinandergesetzt (Kant, Band 5,1983: 267ff.) 1 1 Individuen in Sozialisationsprozessen erworbene Form eines allgemeinen, gleichwohl partikularisierten und parzellierten (an aktuelle soziale Situationen gebundenen) gesellschaftlichen Bewusstseins.“ (Leithäuser, Volmerg 1981:18/19). Sie unterscheiden zwischen einem depositären und einem thematisierenden Das Alltagsbewusstsein hat sowohl depositären als auch thematisierenden Charakter(ebendort:19ff.). Die depositäre Seite des Alltagsbewusstseins verfestigt die von den Massenmedien übermittelten und sonst irgendwie aufgeschnappten ökonomischen Wissenspartikel. Die thematisierende Seite dagegen auf und benennt ökonomische Probleme. Dazu ein Beispiel. „Wir müssen sparen“! Das gilt sicher für einen privaten Haushalt, der sein Konto überzogen hat und von der seiner Bank aufgefordert wird, das Konto auszugleichen. Der Kauf eines neuen Autos muss verschoben werden, der Auslandsurlaub fällt dieses Jahr flach und wir bleiben zu hause usw. Wenn aber alle privaten Haushalte anfangen zu sparen, auch wenn das Konto in Ordnung ist, dann hat das wirtschaftliche Folgewirkungen. Die Wirtschaft erhält weniger Aufträge. Sie kauft weniger Vorprodukte und Rohstoffe. Auf allen Produktionsstufen kommt es zu noch weniger Aufträgen. Arbeitskräfte werden entlassen. Ihre Kaufkraft nimmt ab und sie müssen nun sparen. Die Wirtschaft erhält noch weniger Aufträge und so fort. Die Wirtschaft wächst nicht mehr. Sie stagniert oder schrumpft sogar. In der Wirtschaftswissenschaft spricht man dann von einer Rationalitätsfalle. Was für den einzelnen privaten Haushalt richtig ist, wird zum Problem, wenn alle Haushalte es tun. Das Alltagsbewusstsein kann mit dieser Situation wenig anfangen. Einerseits ist doch sparen richtig, wirtschaftlich und moralisch doch auch: „Das ist doch wohl jedem klar...“. Andererseits aber thematisiert das Alltagsbewusstsein, dass mit dem Sparen vielleicht doch Probleme verbunden sein könnten. Aus der Perspektive des Alltagsbewusstseins ist nicht leicht einzusehen, dass das, was für den einzelnen Haushalt eindeutig richtig ist – Sparen! – auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene ausgerechnet falsch sein soll (Siehe Kasten D20: Rationalitätsfalle und Sparparadox. S. §§§§). Ein ökonomisches Orientierungswissen hält Elemente für weitere Fragen und für Antworten bereit. Wir müssen das bequeme, oft auch lieb gewonnene Gartenhäuschen unseres Alltagsbewusstsein verlassen und uns auf den steinigen Weg zur wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis begeben. 2 Vielleicht werden wir fündig? Könnte es uns nicht sogar Spaß machen, die albernen Halbwahrheiten des Alltagsbewusstseins zu knacken? Von weitem wird eine Wissenschaft oft wie eine riesengroße Ansammlung von Kenntnissen wahrgenommen. Die einzelnen Wissensbereiche – Pakete mit Kenntnissen – scheinen abgepackt bereitzustehen. Ähnlich wie bei einem Supermarkt braucht man sich offenbar nur einen Wagen zu nehmen, an den Regalreihen entlang zu gehen und aufzuladen, was man zu brauchen glaubt. Ein Blick auf das Verfallsdatum ist sicher nicht falsch. Auch in den Wissenschaften ist manches veraltet und vergammelt. Und jetzt raus hier. Die Sachen ins Auto. Nach hause. Abladen, in die Wohnung schleppen, auspacken, wegräumen. So, das war’s. Entspannung ist angesagt. Wo hab ich die Fernbedienung wieder hingelegt? Ausstrecken, Füße hoch. Auf dem Bildschirm geht das wahre und wirkliche Leben dann endlich weiter!? Die ständige Wiederholung der alltäglichen Gesten wird von unserem Alltagsbewusstsein gesteuert und gibt ihm eine Routine, die wir brauchen und die wir gern auf andere Bereiche übertragen. Das ist bequem. Doch leider geht das nicht immer. So einfach wie in den Supermärkten ist die Sache mit den Wissenschaften nicht. Da liegt nichts abgepackt bereit, das man mir nichts dir nichts in seinen Wagen laden und dann getrost nach hause tragen kann. In ihrer Darstellung des Alltagsbewusstseins haben Thomas Leithäuser und Birgit Volmerg eindringlich auf die „Übertragung alltagspraktischer Regeln“ hingewiesen. Sie stellen fest: „Das Alltagsbewusstsein ist dadurch charakterisiert, dass es keine neuen Horizonte erschließt; es bewegt sich im Rahmen unwesentlicher Horizontverschiebungen.....Es ordnet sich den gesellschaftlichen Verhältnissen vor, weiß immer, was geschieht und wie etwas gemacht werden muss. So macht es sich zu einem bornierten Alleswisser“(Leithäuser, Volmerg 1981:47). Zu einem bornierten Alleswisser wohlgemerkt, der im Gartenhäuschen sitzt und mit einer Flasche Bier in der Hand uns mit dem Brustton der Überzeugung die Welt erklärt. Ihm ist mit Argumenten gar nicht so leicht beizukommen. Mit einem milden Lächeln zieht er sich auf seine Alltagsweisheiten zurück und weiß es eben besser. 3 Schon früh in der griechischen Antike sorgte der Gegensatz zwischen Besserwisser und Wissenschaftler für Heiterkeit. Der „bornierte Alleswisser“ ist dem weltfremden Wissenschaftler zuweilen überlegen. Neben der Vernunft kannte schon die griechische Philosophie für den Alltag die listige Intelligenz, mit der man sich im Leben auch ohne Philosophie und Wissenschaft, vielleicht sogar besser ohne sie, behaupten kann. Alltagsbewusstsein plus eine Prise Schlauheit? Warum soll das denn zur Bewältigung des Alltags denn nicht reichen? Mit Schlauheit und Gerissenheit kommt man im Wirtschaftsleben doch ganz gut zurecht. Auch bornierte Besserwisser können bekanntlich schnell und unverschämt reich werden. Wozu dann ökonomisches Orientierungswissen? Der britische Ökonom John Maynard Keynes nannte solche oft sehr erfolgreichen Unternehmer „animal spirits“ (Tiergeister). Bei Hegel bewohnen solche Menschen das „geistige Tierreich“. In der antiken griechischen Literatur verkörpert der listenreiche Odysseus auch diese Schlauheit, die ihm schließlich den Rückweg in die finden hilft, allerdings mit jahrelanger Verspätung und über weite Strecken orientierungslos. Der griechische Philosoph, Astronom und Mathematiker Thales (627 – 547 v. Chr.) dagegen wäre beinahe sogar Opfer seines Wissensdurstes geworden. Bei der Beobachtung der Gestirne fiel er in eine Ziterne und wäre fast ertrunken, wenn ihn nicht eine Sklavin auf seine Hilferufe hin aus dem Wasser gezogen hätte. Sie fragte ihn, wie ihm denn bei Nacht so etwas passieren konnte. „Ich habe die Bahnen der Gestirne beobachtet!“ war seine Antwort. – Sie lachte ihn aus: „Wie willst du denn die Bahnen der Sterne erkennen, wenn du nicht einmal deinen Weg hier unten auf der Erde findest?“ Die Geschichte von Thales hatte bereits zur Zeit der griechischen Antike Jahrhunderte für Spott gegen die scheinbar weltfremde Philosophie gesorgt. Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) hat mit einer Anekdote eine Ehrenrettung des Thales versucht. Thales habe herausgefunden, dass zwischen dem Stand der Sterne und den Ernteerträgen eine Beziehung besteht. Er habe nicht nur die Sonnenfinsternis vom 28. 05. 585 v. Chr. richtig vorausgesagt sondern einmal auch eine sehr gute Olivenernte vorausgesehen. Er habe in seiner Heimatstadt Milet und der Umgebung sämtliche Ölmühlen billig gepachtet und als die reichliche Olivenernte zu Öl gepresst werden sollte, habe er hohe Preise verlangt. Auf diese Weise habe er ein Vermögen gewonnen. Der große Thales als mieser Spekulant, der sein „Insider-Wissen“ nutzt, um hart arbeitende bzw. ihre Sklaven 4 antreibende Olivenbauern über den Tisch zu ziehen? Das konnte schon damals so nicht stehen bleiben. Thales habe – so behauptet Aristoteles in seiner Anekdote – das auf zweifelhafte Weise gewonnene Vermögen verschenkt, da er am Reichtum nicht interessiert gewesen sei (nach Blumenberg 1987: 24/25). Ohne Astronomiekenntnisse, ohne wirtschaftliche Kenntnisse hätte Thales den Coup nicht landen können... Auch unter den modernen Wirtschaftswissenschaftlern gibt es Gewinner und Verlierer. John Maynard Keynes war einer der den großen Gewinner. Er war nicht nur ein bedeutender Theoretiker sondern er hat nicht nur sein eigenes sondern auch das Vermögen seiner Universität an der Börse stark vermehrt. Irving Fisher dagegen, als Vater der Quantitätsgleichung ebenfalls ein anerkannter Wirtschaftstheoretiker, hatte im praktischen Wirtschaftsleben sogar großes Pech (Siehe Kasten B8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik). Er hatte bei der Familie seiner Frau, die aus dem New Yorker Geldadel stammte, sehr hohe Kredite für Börsenspekulationen aufgenommen und 1929 beim großen Börsenkrach sehr hohe Verluste eingefahren. Keynes Ruhm als großer Ökonom wurde noch größer. Fisher hatte die Spötter gegen sich, die auch seine Kompetenz als Wirtschaftswissenschaftler ins Lächerliche zogen. Wenn er nicht einmal an der Börse mit fremdem Geld zurecht kommt, wie kann er dann...Marx, der zum praktischen Wirtschaftsleben wenig Begabung zeigte, hätte ohne die materielle, emotionale und intellektuelle Unterstützung des geschickten Wirtschaftspraktikers und Förderers Friedrich Engels, seine Werke weder schreiben noch veröffentlichen können. Engels hatte Marxens Genie frühzeitig erkannt. Er war dem charakterlich schwierigen Marx ein treuer Freund, darüber hinaus aber auch ein bemerkenswerter Gesellschaftswissenschaftler und ein hervorragender Organisator. Wenn man selbst aus seinem starren und begrenzten Alltagsbewusstsein heraus spontan wirtschaftlich erfolgreich handeln kann, wozu dann ökonomisches Orientierungswissen oder gar Wirtschaftswissenschaft? Eine neue Debatte um das Werk von Adam Smith greift diese Frage auf. Adam Smith unterstellt, dass Unternehmer wie Bäcker, Metzger und andere Klein- und Mittelbetriebe seiner Zeit in der Lage waren, ihre Interessen ohne Beratung durch Politiker oder Gesetzgeber: Smith formuliert im Zusammenhang mit der Beschreibung der „unsichtbaren Hand“, d.h. den Marktmechanismus, der das allgemeine Gleichgewicht herstellt: 5 „In welchem Zweig der heimischen Erwerbstätigkeit er sein Kapital anlegen kann, und bei welchem das Erzeugnis den größten Wert zu haben verspricht, das kann offenbar jeder einzelne je nach den Ortsverhältnissen weit besser beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann (Smith 1776, IV. Buch: 236). Das mag in einer Wirtschaft von städtischen Handwerkern im ausgehenden 18. Jahrhundert so gewesen sein. Hier mag das Alltagsbewusstsein gereicht haben, um Geschäfte anzubahnen und abzuschließen. Widerstand gegen die Unwirtlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangt in unserer Zeit einiges mehr an ökonomischem Wissen und Orientierungsvermögen. Ein ökonomisches Orientierungswissen kann bei Ausbruchsversuchen aus den Gefängnissen des Alltagsbewusstseins, in denen die Wirtschaftssubjekte gefangen sitzen, durchaus hilfreich sein. Die weithin unbekannten wirtschaftlichen Wirklichkeiten, die so nicht sein müssten, wie sie leider sind, können vom Alltagsbewusstsein vielleicht stabilisiert nicht aber analysiert werden. Das Weltverständnis des Alltagsbewusstseins ist viel zu eng begrenzt, um die schnell sich verändernde wirtschaftliche Wirklichkeit im weltwirtschaftlichen Zusammenhang erfassen zu können. In der heutigen komplexen international verflochtenen kapitalistischen Marktwirtschaft trifft die Annahme von Adam Smith über die Überschaubarkeit der wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht mehr zu. Der Bedarf an Orientierung und Beratung ist groß und er vergrößert sich schnell. Auch die animal spirits von Keynes haben unter den heutigen Bedingungen nur die Chance eines blinden Huhns, das hin und wieder auch einmal ein Korn findet. Uns geht es im Alltag auf Schnäppchenjagd auch nicht anders. Dreistufig organisiertes ökonomisches Orientierungswissen führt uns zu einer Ortsbestimmung. Wir können einen Überblick über die Wirtschaftswissenschaft gewinnen. Wir versuchen, uns in Teilbereichen der Wirtschaftswissenschaft zurecht zu finden. Wir versuchen uns einen Einblick zu verschaffen, wie Ökonomen denken. Damit haben wir uns in eine Position gebracht, die uns hilft, unsere Stellung in der Welt der Wirtschaft zu verstehen. Wir können versuchen, unser Selbstverständnis und unser Weltverständnis genauer zu fassen. 6 2) Ökonomisches Orientierungswissen als Beitrag zur Aufklärung und zur Emanzipation?2 Ähnlich wie der Begriff der Orientierung bezieht sich auch die Wortbedeutung von Aufklärung auf Licht und Erleuchtung. Kant hat in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?“ die folgende berühmte Definition an den Anfang gestellt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“(Kant 1784:53)...Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ (ebendort), ruft er uns zu! In unserem Alltagsbewusstsein findet eine solche Aufforderung keinen großen Widerhall. Aufklärung ist nicht zuletzt deshalb für Kant ein langwieriger Prozess. Er schreibt: „Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen“ (ebendort S. 54/55). Kant sah sich nicht in einem aufgeklärten Zeitalter sondern in einem Prozess der Aufklärung, der auch für uns heute noch längst nicht abgeschlossen ist (ebendort S. 59). Geradezu prophetisch für das neunzehnte, das zwanzigste Jahrhundert und unsere Zeit sagt er bereits 1784, also schon vor der französischen Revolution: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen“(ebendort:55). Das Alltagsbewusstsein, mit der Kants Bemerkung über Denkungsart und Vorurteile weitgehend deckungsgleich ist, ist zäh und langlebig! In derselben Schrift sieht Kant klar, dass sein Geschäft der Aufklärung nicht nur langwierig ist, sondern auch Fleiß, Interesse und Motivation voraussetzt. Im „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ von Wolfgang Pfeifer wird Aufklärung definiert als „Belehrung, Wissensvermittlung, Erkundung“. Emanzipation bedeutet in diesem Wörterbuch: Befreiung von Bevormundung“. Beide Begriffe werden dort in den historisch-politischen Zusammenhang des Kampfes gegen die absolutistische Willkür gestellt. 2 7 „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“...“Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“ (ebendort:55). Ganz ähnlich wie diejenigen, die heute glauben, sie könnten Wissenschaft oder Wissensbestände im Supermarkt der Lehranstalten abgepackt aufladen und nach hause schaffen3. Vielleicht aber ist das Geschäft des Denkens gar nicht so verdrießlich, wie Kant es hier beschreibt. Vielleicht ist es sogar ein Vergnügen. Wirft man auch nur einen kurzen Blick auf Kants gesammelte Werke, dann muss man wohl annehmen, dass ihm das Denken ungewöhnlich großen Spaß gemacht hat! Horkheimer und Adorno vertreten die Ansicht, dass Aufklärung selbst in den Mythos umschlägt, den sie zu bekämpfen vorgibt. Was ist unter Mythos zu verstehen? Die Autoren gehen mit Definitionen sehr sparsam um. Für die folgende Betrachtung können wir uns fürs erste mit der folgenden einfachen Begriffsbestimmung begnügen. Der Mythos stammt aus einer Vorzeit, in der die Lebenszusammenhänge der Menschen von Dämonen, Göttern und Helden bestimmt zu sein schienen. Menschen erlebten und erlitten ihre Lebenszusammenhänge abergläubisch als Schicksal, das für sie rational nicht fassbar war. Horkheimer und Adorno haben darauf hingewiesen, dass Aufklärung auch in einen spiralähnlichen Prozess einmünden kann, der in die Barbarei abstürzt. Sie beziehen sich auf dialektische Denkfiguren, mit denen sie versuchen, widersprüchliche Entwicklungen zu entschlüsseln. In ihrer Studie „Dialektik der Aufklärung“ haben sie diese Methode angewendet (Horkheimer, Adorno 1944). Sie konnten zeigen, dass Aufklärung in instrumentelles Wissen umgewandelt wurde, das nicht wie beabsichtigt zur Befreiung sondern zur Herrschaft über Menschen und Natur Verwendung findet. Industrielle oder militärische Arbeitsorganisation und Transportlogistik wurden in Deutschland sogar zur massenhaften Vernichtung von Menschen eingesetzt. Von diesen historischen Erfahrungen bestätigt gilt die Autoren gilt: „Aufklärung ist totalitär“ 3 Oder jene, die in den Universitäten die Studiengänge reformieren und glauben, dass Wissenschaften in Module zerhackt und wie Legosteine stets neu zu bunten, werbewirksamen und marktgängigen Studienabschlüssen zusammengesteckt werden können. Hoffentlich spielt ihnen der Arbeitsmarkt, das ihnen meist ganz und gar unbekannte Wesen, keinen Streich. Es wäre doch blamabel für sie und eine Katastrophe für die gutgläubigen Studenten, wenn die frisch gebackenen Kulturwissenschaftler oder die berittenen Hochgebirgsmanager mit Taucherfahrung am Ende keinen Job finden würden, weil ihre exotischen Berufsbezeichnungen in der Wirtschaftspraxis völlig unbekannt sind. 8 (ebendort: 12) oder: „Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System“ (ebendort: 31). Selbst ein beispielloser Absturz in die Barbarei wie der in den dreißiger und vierziger Jahren in Deutschland aber ist nach unserem Verständnis von Aufklärung und Emanzipation nicht zwangsläufig. Nicht einmal den Göttern Homers gelang es in den Sagen aus dem klassischen Altertum immer, den Menschen ihren göttlichen Willen aufzuzwingen, sie mochten sich anstrengen wie sie wollten. Ein Absturz in die Barbarei kann aber er muss nicht eintreten. Das Naziregime war kein unabwendbares Schicksal der Deutschen. Der Absturz in die Barbarei kann verhindert werden, bleibt weiterhin eine ständige Bedrohung und hat sich bereits mehrfach wiederholt (Kambodscha, Ruanda, Kongo, Darfur). Die Dimension der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber wurden dabei bei weitem nicht erreicht. Überraschend ist, dass Horkheimer und Adorno den Prozess der Vereinnahmung der Aufklärung durch den Mythos ausgehend von Homers Odyssee darstellen. Das scheint uns eine Art Versteckspiel zu sein, um die zu ihrer und unserer Zeit aktuellen Mythen nicht beim Namen nennen zu müssen. Zwischen den Zeilen kann man lesen, dass der Mythos sich sehr wohl auch auf die kapitalistische Marktwirtschaft beziehen lässt, auch wenn die Autoren gerade das nur am Rande tun. Die Ergebnisse von Marktprozessen sind für unseren Text das näherliegende Beispiel. Die kapitalistische Marktwirtschaft war einmal die Grundlage des Programms einer bürgerlichen Gesellschaft gegen die Willkür des Fürsten von Gottes Gnaden. Ein solcher Fürst oder Prinz galt als allwissend und sollte in der Lage sein, die Wirtschaftsabläufe zum Besten hin zu lenken – falls erforderlich auch mit seiner eisernen Faust. Die für alle sichtbare Willkür des absolutistischen Prinzen sollte durch eine sich selbst regulierende Marktwirtschaft ersetzt werden. Aus der eisernen Faust wurde die unsichtbare Hand, die das allgemeine wirtschaftliche Gleichgewicht herstellen sollte. Das allgemeine Gleichgewicht ist dabei die beste aller möglichen wirtschaftlichen Welten. Die absolutistischen Fürsten sind verschwunden. Ihre Willkür aber lebt in den Ergebnissen der Marktprozesse weiter. Aus den Untertanen, die die Willkür des Prinzen als unerträglich empfanden, sind Wirtschaftssubjekte geworden, die Ergebnisse von Marktprozessen z.B. bei der Einkommensund Vermögensverteilung für ungerecht halten. Schon Marx konnte zeigen, 9 dass die kapitalistische Marktwirtschaft nicht ins Reich der Freiheit führte. Die kapitalistische Marktwirtschaft wurde vielmehr zum Hort eines stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse, der viel lückenloser zugreift als der kurzatmige schlecht informierte absolutistische Prinz mit seinen begrenzten Herrschaftsinstrumenten es je gekonnt hatte. Von den lichten Höhen des homerischen Epos stürzt die Dialektik der Aufklärung und landet auf dem harten Boden der kapitalistischen Marktwirtschaft. Auch dort kann diese dialektische Denkfigur ihre Potenzen entfalten. In der historischen Entwicklung vom Absolutismus zur marktwirtschaftlich fundierten bürgerlichen Gesellschaft hat die Aufklärung zur Überwindung der absolutistischen Willkür geführt sondern genau diese Willkür in die Marktwirtschaft katapultiert. In Marktprozessen ist die Willkür als stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse wieder auferstanden. Die Wirtschaftsform der kapitalistischen Marktwirtschaft hat sich vom stummen Zwang der ökonomischen Verhältnis nie gelöst. Sie hat ökonomischen Zwangslagen zu immer größerer Perfektion ausgebaut und geographisch weiter ausgebreitet. Die kapitalistische Marktwirtschaft preist uns zwar ihre vermeintlich wohlstandmehrende Freiheit an, zieht sich aber schnell in die Hochburgen der Barbarei zurück, wenn sie in Bedrängnis gerät. Dort wird dann zusätzlich zur ökonomischen behände auch zur außerökonomischen Gewalt gegriffen, die im Zeitalter des Absolutismus längst nicht so massenhaft ausgeübt und so weit verbreitet gewesen ist wie in unserer Zeit. Das zwanzigste Jahrhundert ist nur allzu reich an Beispielen. Ökonomisches Orientierungswissen kann zu einem wichtigen Beitrag einer Aufklärung über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände bzw. Missstände ausgebaut werden. Aufklärung als „Erkundung“ wird zur Basis für Emanzipation als „Befreiung von Bevormundung“ – Bevormundung durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse – auch von ökonomischen Alltagsbewusstsein, das den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse weder kennt noch zur Kenntnis nehmen will. Ökonomisches Orientierungswissen kann auch zu einer beschränkten marktfähigen Kompetenz verkommen, wenn die emanzipatorischen Ansprüche, die die klassische politische Ökonomie im Kampf gegen die absolutistische Willkür stets in sich trug, ein für alle Mal aufgegeben werden. Eine solche Entwicklungsmöglichkeit wird von Marx in einer berühmten Textstelle skizziert: 10 Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkenn. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Überbevölkerung halt das Gesetz der Zufuht von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem der Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang Der ökonomischen Verhältnisse (Hervorhebung G. L.) besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang kann der Arbeiter den „Naturgesetzen der Produktion“ überlassen bleiben, seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital (Marx 1867: 765). Marx erweist sich in dieser Vorausschau als Optimist und als Pessimist zugleich. In beiden Rollen hat er nicht recht behalten. Trotz der enormen ökonomischen Fortschritte in den Zentren der kapitalistischen Marktwirt konnte die von Marx beschriebene Stabilität nicht erreicht werden. Die Weltwirtschaftskrise 1929 zerstört die idyllischen Perspektiven der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die imperialen Weltkriege des zwanzigstens Jahrhunderts bringen in der Geschichte nie gekannte Katastrophen über die Völker. Außerökonomische Gewalt ist an den Peripherien der kapitalistischen Marktwirtschaft auch heute noch die Regel und nicht die Ausnahme. Marxens optimistische Sichtweise der kapitalistischen Entwicklung erwies sich als unzutreffend. Andererseits haben bis heute große Teile der Arbeiter sich weder durch Erziehung, noch durch Tradition oder Gewohnheit von den emanzipatorischen Versprechen des antiabsolutistischen Kampfes abgewandt. Sie haben sich zwar noch längst nicht von den idiotischen Behauptungen des wirtschaftlich orientierten Alltagsbewusstseins lösen können aber so manches davon wird gerade im Frühjahr 2006 wieder infrage gestellt. Auch die „selbstverständlichen Naturgesetze“ haben sich nicht als allgemein verbindliche Zwangsgesetze dauerhaft etablieren können. Marxens Pessimismus über die Unterwerfung der Arbeiter unter die Fuchtel des Kapitals hat sich in den Zentren – vielleicht mit Ausnahmen in den USA oder Deutschland – ebenfalls nicht bewahrheitet. Marx ist in diesem Zusammenhang als Optimist und auch als Pessimist gescheitert. Hinter diesen verfehlten Prognosen verbirgt sich ein tiefergehendes Scheitern. Das Projekt der Aufklärung, in dem an die Stelle der absolutistischen Fürsten mit ihrer Willkür eine sich selbst regulierende Marktwirtschaft, die deshalb auf Willkür verzichten kann, ist gescheitert mit katastrophalen Folgen. 11 Durch dieses Scheitern hindurch aber bleibt der emanzipatorische Anspruch der politischen Ökonomie erhalten und wird heute noch gegen die Willkür des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse in den kapitalistischen Marktwirtschaften geltend gemacht. Der Basistexts des ökonomischen Orientierungswissens lenkt den Blick stets aufs Neue auf die Notwendigkeit der Aufklärung über und der Emanzipation vom stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse (siehe Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht. S.§§§§§§). Ein ökonomisches Orientierungswissen kann helfen, die Hieroglyphen des Alltagsbewusstseins über ökonomische Zusammenhänge und Zwangslagen zu entziffern. Das unsägliche Gerede vom Gürtel, der enger geschnallt werden muss, vom Geiz, der geil sein soll, vom Sparen als Tugend in allen Lebenslagen, vom Leben über unsere Verhältnisse etc. kann leicht als ideologischer Müll erkannt und entsorgt werden. An die Stelle solcher Sprechblasen kann dann eine ernsthafte Diskussion über wirtschaftspolitische Strategien treten, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage zielt. 3) Ein kurzer Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Wirtschaftswissenschaft In den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Wirtschaftswissenschaft in den USA zuweilen als „schreckliche Wissenschaft“ (dismal science) bezeichnet, mit der man letztendlich gar nichts anfangen könne. Das hat einige und nicht wenige Ökonomen wachgerüttelt. Sie bemühen sich seitdem verstärkt, die wissenschaftlichen Anteile der Wirtschaftswissenschaft klarer zu fassen und empirisch abzusichern. Eine wissenschaftlich orientierte Wirtschaftswissenschaft kann gar nicht schrecklich sein und man braucht sich vor ihr nicht zu fürchten. Von einer Wissenschaft sollte man erwarten, dass sie bei offenen Türen für alle sichtbar und nachvollziehbar betrieben werden kann. Oder vielleicht gibt es im Fall der Wirtschaftswissenschaft Kreise, die wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse fürchten und sich in Halbwahrheiten wohler fühlen? Was heißt eigentlich Wissenschaft, oder genauer Wirtschaftswissenschaft? Wissenschaft bedeutet, allgemein gesprochen, „organisierte Form der Erforschung, Sammlung und Auswertung von Fakten und Zusammenhängen“. So oder so ähnlich findet man die Definition von Wissenschaft in Wörterbüchern. Wirtschaftswissenschaft wäre dann zunächst ganz einfach die organisierte Form der Erforschung, Sammlung und der 12 Auswertung von Fakten und Zusammenhängen von wirtschaftlichen Aktivitäten. Wirtschaftliche Aktivität bedeutet in einem verengten akademischen Verständnis Produktion und Verteilung von knappen Gütern. Werden menschliche Gesellschaften mit der allgegenwärtigen Knappheit konfrontiert, dann muss produziert und verteilt bzw. umverteilt werden. Knappheit ist ein historisch und schichtenspezifisch zu relativierender Begriff. Vom Gesichtspunkt eines Arbeiterhaushalts im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts leben wir heute in einer Überflussgesellschaft. Bezieher von Hartz IV aus der Gegenwart dürften anderer Ansicht sein. Es scheint Kreise zu geben, die ihre Interessen besser in vagen Behauptungen und Halbwahrheiten aufgehoben sehen. Sie versuchen – leider allzu oft erfolgreich – , wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse mit Interessenpolitik zu vermischen. Hinter verschlossenen Türen wird an wirtschaftspolitischen Rezepten formuliert, in denen die Wirtschaftswissenschaft zur Magd der Wirtschaftsinteressen degradiert wird. Die Dienste von Wirtschaftswissenschaftlern werden gern herangezogen, wenn es darum geht, Interessen von Großunternehmen oder Branchen zu rechtfertigen. Beliebt ist es, das Eigeninteresse als Gemeinwohl darzustellen: „was gut ist für General Motors, ist gut für die USA!“ Solche Einsichten werden reich belohnt – in klingender Münze – wenn sie im Fachjargon abgefasst werden und sich den Anschein von Wissenschaftlichkeit geben können. Es ist gewiss nicht leicht, solche Statements kritisch zu durchleuchten. Ein Mindestmaß an ökonomischer Kompetenz ist dazu unverzichtbar. Ein großer Teil der Arbeit mit der Wirtschaftswissenschaft muss deshalb dazu verwendet werden, die ideologische Spreu vom wissenschaftlichen Weizen zu trennen. Ideologische Spreu? Unter Ideologie wird in diesem Text verstanden: eine absichtliche falsche Aussage oder eine Halbwahrheit mit einer gesellschaftlichen Adresse. Ein Beispiel: die deutschen Löhne sind zu hoch. Die abhängig Beschäftigten in Deutschland müssten sich angesichts der internationalen Konkurrenz durch asiatische Niedriglohnländer auf ein sinkendes Einkommensniveau einstellen (stellvertretend: Miegel 2005: 30). Wäre es denn nicht denkbar, die Hungerlöhne der asiatischen Arbeitskräfte zu erhöhen? Irgendetwas scheint an dem stets wiederholten Hinweis auf die zu hohen deutschen Löhne nicht zu stimmen. Deutschland ist doch seit vier Jahren „Exportweltmeister“! Wie ist das trotz zu hoher Löhne möglich? Die Aussage, dass die deutschen Löhne zu hoch seien, scheint unzutreffend zu sein? Sie könnte absichtlich irreführend sein? Die gesellschaftliche Adresse ist sicher nicht die Gewerkschaftsseite. Die Unternehmerseite, der 13 Kostensenkungen aller Art stets willkommen sind, könnte sich mit einer solchen Aussage schon eher befreunden. Wer eine solche Aussage wie „in Deutschland sind die Löhne zu hoch“ ohne wissenschaftliche Überprüfung hinnimmt, geht einem Verständnis von Wissenschaft auf den Leim, in dem die Wirtschaftswissenschaft zur Rechtfertigungslehre zu verkommen droht. Rechtfertigung von Lohnsenkungen vor allem aus Kostengründen! Löhne sind schließlich auch das Hauptelement der Nachfrage der privaten Haushalte. Lohnpolitik hat auch dieses Argument angemessen zu berücksichtigen. Lohnpolitik ist eine Gratwanderung zwischen dem einzelwirtschaftlich orientierten Kostenargument und dem gesamtwirtschaftlich orientierten Nachfrageargument. Ohne kostengünstiges Angebot keine zufriedenstellende Nachfrage und ohne ausreichende Nachfrage kein Wirtschaftswachstum und kein Beschäftigungszuwachs. Auch hier gelten Einschränkungen. Die Nachfrage der privaten Haushalte wird zunehmend importierten Waren befriedigt. Seit einigen Jahren ist die hartnäckige Kaufzurückhaltung der privaten Haushalte im Vergleich zur Kostenentwicklung wohl das größere Problem der deutschen Wirtschaft. Mit der Beschränkung auf das Kostenargument für Löhne wird eine Halbwahrheit im wahrsten Sinn des Wortes in die Welt gesetzt. Eine Halbwahrheit, die vor allem der Unternehmerseite gefallen könnte. Ob das nun im wohlverstandenen längerfristigen Interesse der Unternehmen ist, sei einmal dahingestellt. Schließlich brauchen die Unternehmen auch Nachfrage für ihre Erzeugnisse. In diesem Text finden sich an verschiedenen Stellen Argumente, die an die Lösung dieses Problems heranführen können. Keine andere wissenschaftliche Disziplin ist einem vergleichbaren parteilichen Druck der „Furien des Privatinteresses“ (Marx) ausgesetzt wie die Wirtschaftswissenschaft. Auch Keynes hat 1936 in seinem Hauptwerk eindringlich vor den Machenschaften der „vested interests“ (besitzstandswahrende Interessen) gewarnt, die er nicht für unbesiegbar hielt. Er glaubte vielmehr, dass sich die wirtschaftswissenschaftliche Ideen gegenüber den Interessen durchsetzen würden (Keynes 1964:383/4). Die Wirtschaftswissenschaft hat es jedoch auch heute immer noch schwer, sich eine eigenständige Basis schaffen und gegen die Einflussnahmen von Interessen zu erhalten. Viele Wirtschaftswissenschaftler glauben nicht zuletzt deshalb, dass ihre Disziplin noch immer nicht zu einer Wissenschaft herangereift ist. 14 Die Organisation von Wissenschaft trägt noch immer ein wenig von der Priesterverschwörung der frühen antiken Welt mit sich, des geheimen Wissens, das nur den Eingeweihten zugänglich ist. „Wissenschaftler“ treten uns auf unseren Fernsehbildschirmen gern als verschworene Gemeinschaft gegenüber. Sie scheinen sich große Mühe zu geben, uns ihr großes Wissen in verständliche Alltagssprache zu übersetzen. Nicht selten artet das in Wichtigtuerei und Besserwisserei aus. Banalitäten werden mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragen4. Merke: nicht jeder Akademiker ist ein Wissenschaftler! Umgekehrt: nicht jeder, der keinen akademischen Abschluss hat, kann deshalb nicht wissenschaftlich denken! Bösartiger wirken sich die sozialen Verengungen von Zugängen zur wissenschaftlichen Ausbildung aus. Wer kein Geld hat, sich keins beschaffen kann und deren (dessen) Eltern auch nicht auf Rosen gebettet sind, hat keine guten Karten. Viele Spieler gewinnen auch mit weniger guten Karten. Eine wissenschaftliche Ausbildung ist teuer und verlangt Einsatz und Fleiß, d. h. „deutsche Tugenden“ der alten Art. Eine durchschnittliche Intelligenz reicht meistens, wie man aus dem Auftreten von zuweilen auch selbsternannten„Wissenschaftlern“ im Fernsehen schließen kann. Das hartnäckige Interesse an der Sache ist wichtig: „ich will rauskriegen, wie das funktioniert...“. Wissenschaft ist keine Hexerei. Sie ist erlernbar, aber sie muss erst einmal zugänglich gemacht werden. Der Zugang zu wissenschaftlicher Erkenntnis ist heutzutage meist sorgfältig versperrt, nicht nur von sozialen Hürden, sondern auch mit dornigem Gestrüpp aus „Fachchinesisch“ oder einem unüberschaubaren Labyrinth aus Mindestvoraussetzungen von Wissen. Das kann die sogenannten Laien schon abschrecken. Zuweilen soll das wohl so sein. Wissenschaft ist generell eine Verschwörung gegen die Laien. Exemplarisches Lernen verfolgt auch den Zweck, Schneisen in dieses Gestrüpp zu schlagen und Interessierten einen Leitfaden für den Weg durch das Labyrinth an die Hand zu geben. Zusammenhänge können dann sichtbar gemacht werden, Neugierde geweckt, Fragen gestellt werden. – Wissenschaft, auch die Wirtschaftswissenschaft, soll nicht unzugängliches Privatgrundstück von etablierten Wissenschaftlern bleiben, die ihr Wissen nur ungern unentgeltlich rausrücken. Dazu aber sollte man sie gegebenenfalls ein bisschen zwingen. 4 Über Ökonomenwitze lachen Ökonomen nur ungern und wenn überhaupt dann meist verkniffen. Dennoch hier ein Ökonomenwitz. Zwei Ökonomen gehen in der Natur spazieren. Da nähert sich ihnen von oben ein Heißluftballon, der sich verirrt hat. „Wo sind wir hier?“ fragen die Ballonfahrer. Nach kurzer Überlegung antworten die Ökonomen bierernst: „Sie befinden sich zur Zeit im Korb eines Heißluftballons“. 15 Ohne einen Zugang zu einem ökonomischen Orientierungswissen lebt es sich wie in einem Labyrinth. Oft ohne es zu wissen aber hat auch der Laie ein Expertenwissen, das nämlich seiner persönlichen Erfahrung im Wirtschaftsleben. Um diesen „Schatz an Expertenwissen“ zu heben und der Arbeitsgruppe zugänglich machen zu können, ist die Auseinandersetzung mit der Wirtschaftswissenschaft unerlässlich. An der Wirtschaftstheorie kommt man bei dieser Beschäftigung nicht ganz vorbei. 4) Anmerkungen zur Gliederung Die vorliegende Fassung des Basistexts zur Erarbeitung eines ökonomischen Orientierungswissens in fünf Hauptteile gegliedert, die einer didaktischen Absicht folgen. Im Abschnitt B werden wirtschaftshistorische Aspekte, gesamtwirtschaftliche Problemfelder und Versuche skizziert, sie wirtschaftswissenschaftlich zu durchdringen. In Abschnitt C folgen zweitens Betrachtungen über die Funktionsweise unterschiedlicher Märkte. In Abschnitt D werden drittens einzelwirtschaftliche Grundfragen erörtert. Daran anschließend wird viertens in Abschnitt E ein Mosaik vorgeführt, in dem die gegenwärtige wirtschaftliche, wirtschaftstheoretische und vor allem die wirtschaftspolitische Perspektive in Deutschland bruchstückhaft in Erscheinung tritt. In Abschnitt F werden fünftens die Schwierigkeiten umrissen, die die heutige Wirtschaftswissenschaft bei der Entwicklung von Zukunftsperspektiven hat. Die akademische Wirtschaftswissenschaft konzentriert sich auf die bestehende kapitalistische Marktwirtschaft, die sie erklären und in einem gewissen Umfang auch rechtfertigen soll. Die akademische Wirtschaftswissenschaft hat es niemals als ihre Aufgabe angesehen, die Instrumente zur Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft bereitzustellen. Systemüberwindende Perspektiven wachsen nicht von selbst aus der Gemengelage der akademischen Wirtschaftswissenschaft heraus. Sie müssen aus ihr heraus entwickelt und politisch umgesetzt werden. Auch dazu ist ein ökonomisches Orientierungswissen unverzichtbar. Makroökonomisches Orientierungswissen, das zur Verständnis wirtschaftspolitischer Strategien notwendig ist, steht in diesem Basistext im Vordergrund. Die Ausführungen sind so angelegt, dass keine der gegenwärtig wichtigen wirtschaftswissenschaftlichen Hauptströmungen unberücksichtigt bleiben muss. Für den Abschnitt über gesamtwirtschaftliche Grundmuster bedeutet das, dass weder der neoklassische, noch der keynesianische, der 16 evolutorische oder der marxistische Ansatz, bzw. der von Schumpeter oder umweltökonomische Grundlagen usw. von vorn herein ausgeschlossen werden. Es wird vielmehr versucht, den Kursteilnehmern Wege zu den verschiedenen theoretischen Ansätzen aufzuzeigen. Das Gleiche gilt für den Abschnitt über einzelwirtschaftliche Grundfragen. Im Fachjargon ausgedrückt bedeutet das, dass ein pluralistischer bzw. heterodoxer Ansatz zu Anwendung kommt. Es versteht sich von selbst, dass in dem vergleichsweise kurzen Papier keine detaillierten Darstellungen vorgelegt werden können. Ein weitergehendes Studium im Rückgriff auf Fachliteratur soll angeregt werden. Auf diesem Weg können die gesamt- und einzelwirtschaftlichen Ausführungen erweitert und ergänzt werden. Mit anderen Worten: das Konzept zielt auf einen offenen Prozess des exemplarischen Lernens, denn die Wirtschaft entwickelt sich weiter. Die Wirtschaftswissenschaft folgt ihr mehr oder weniger schnell. Es gelingt ihr nur selten, der wirtschaftlichen Entwicklung vorauszueilen. Selbstverständlich konnten nicht alle Bereiche der Wirtschaftswissenschaft in diesen vergleichsweise kurzen Text aufgenommen werden. Bei der Auswahl der wirtschaftswissenschaftlichen Theorien für diesen Basistext wird vor allem auf vier aktuelle wirtschaftspolitische Probleme Bezug genommen. Sie prägen die gegenwärtigen wirtschaftswissenschaftlichen Debatten in besonderer Weise. Es handelt sich um die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, die brüchige wirtschaftliche Dominanz der USA, die Stagnation in Japan, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Katastrophe in Afrika südlich der Sahara. Es gibt Arbeitstechniken für Lernprozesse im Bereich der Wirtschaftswissenschaft, die Teil der ökonomischen Kompetenz sind, aber hier nicht eingebracht werden können. Dazu zählen einzelwirtschaftliche, d.h. betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse, wie Buchführung, Bilanzkunde, Kostenrechnung, die Nutzung von PC-Programmen (word, excel), Erfahrungen im Umgang mit dem Internet. Auch sollte Mathematik und Statistik nicht beiseite geschoben werden. Englisch ist die Wirtschaftssprache weltweit. Darüber hinaus ist Englisch die Wissenschaftssprache schlechthin. Das gilt selbstverständlich auch für die Wirtschaftswissenschaft. Ohne Grundkenntnisse von PC-Programmen ist der Zugang zu Informationen aus dem Internet, die meist in englischer Sprache abgefasst sind und deren Aufbereitung kaum möglich. Da diese Techniken in weiten Bereichen nicht einfach sind, sollten sie in entsprechenden Lehrgängen vermittelt werden. 17 5) Didaktische Hinweise Wirtschaftliche Problemlagen, Wirtschaftstheorien und wirtschaftspolitische Instrumente können von Fallbeispielen, die man auch „Mini-Projekte“ nennen könnte, ausgehend angesteuert werden5. Auf diese Weise soll es Arbeitsgruppen ermöglicht werden, sich eine ökonomisches Orientierungswissen anzueignen. Dieses Orientierungswissen soll dazu beitragen, die wirtschaftliche Wirklichkeit Deutschlands im Rahmen internationaler ökonomischer Zusammenhänge besser zu verstehen. Doch ein Beispiel allein reicht nicht, um den Zugang zur Vielfalt der wirtschaftswissenschaftlichen Möglichkeiten zu finden. Deshalb sollten mehrere Fallbeispiele an den Basistext herangetragen werden. Dabei kann auf die im Anhang knapp skizzierten Fallbeispielen zurückgegriffen werden. Presseberichte sind ebenfalls geeignet. Auch kann von den Kästen im Basistext ausgegangen werden. Fallbeispiele sollten sich auf aktuelle wirtschaftliche oder wirtschaftspolitische Fragestellungen beziehen, die mit dem Alltagsleben von Kursteilnehmern in Verbindung gebracht werden können. Sie sollten den Wünschen der Kursteilnehmer entsprechend erarbeitet oder verändert werden. Auf diesem Wege soll ein Prozess des exemplarischen Lernens eingeleitet werden, der es den Kursteilnehmern ermöglicht, ihre Alltagserfahrungen aus dem Wirtschaftsleben in einen wissenschaftlich offenen Zusammenhang einzubringen. Auf keinen Fall sollten Kursteilnehmer auf einen theoretischen Schienenstrang gesetzt werden, der sie, ohne dass sie es wissen, eingleisig zu verengten einseitigen oder wissenschaftlich fragwürdigen Konzepten führt. Der Lernprozess verläuft in zwei Richtungen. Fallbeispiele sollen auf wirtschaftswissenschaftliche Grundmuster hingesteuert werden. Die wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse werden auf diesem Weg erweitert und vertieft. Dann geht es wieder zurück zu den Fallbeispielen. Mit den erweiterten oder vertieften Grundkenntnissen kann dann ein besseres in wirtschaftliche Gesamtzusammenhänge eingeordnetes Verständnis der Fallbeispiele erreicht werden. Wie bereits gesagt liegt es nahe, diese Wanderung vom Besonderen (Fallbeispielen) zum Allgemeinen (Basistext) und wieder zurück mehrfach zu wiederholen. Abschließend sollte der Basistext als ganzes gelesen werden. Damit wird exemplarisch vollzogen, was in jedem Forschungsprozess stattfindet: Eine Problemstellung wird 5 Der Verfasser ist Hochschullehrer für Wirtschaftspolitik an der Universität Bremen und hat dort im Projektstudium Erfahrungen sammeln können, die in das Konzept eingeflossen sind (Herzbruch, Hickel 1977). 18 beschrieben, dann wird in der Literatur nachgesucht, ob oder wie ähnliche Probleme bisher behandelt bzw. wie das Problem von der theoretischen Ebene aus gesehen einer Lösung zugeführt werden kann. Die gesamtwirtschaftlichen und einzelwirtschaftlichen Grundmuster des Basistextes können angesichts des problematischen Zustands der Wirtschaftswissenschaft kein ein für alle mal festgelegter Kanon sein. Das Hauptproblem des Basistexts besteht daraus, dass einerseits die Darstellung nicht durch einen allzu hohen Schwierigkeitsgrad abschrecken soll, andererseits aber der Weg zur wissenschaftlichen Weiterarbeit nicht abgeschnitten werden darf. Überzogene Vereinfachungen lassen den Eindruck entstehen, dass man sich das Wissen und die Wahrheit über den Zustand der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft mit dem Anlernen von ein paar Begriffen an Land ziehen kann. Auf diesem Weg wird leichtfüßig der Verbreitung ideologischer Wirtschaftswissenschaft Vorschub geleistet. Komplexität und Unübersichtlichkeit, die die Wirtschaftswissenschaft wie kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin auszeichnen, sollten dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht eben mal alles mögliche behauptet werden kann. Leider liefert die wirtschaftspolitische Diskussion im Sommer 2005 im einer Vorwahlzeit reihenweise Beispiele für eine ideologielastige Wirtschaftswissenschaft ab. Es werden in der allerlei merkwürdige und einander widersprechende Rezepte zur Verbesserung der deutschen wirtschaftlichen Lage feilgeboten. Sie reichen von Lohnsenkungen oder warum eigentlich nicht Lohnerhöhungen, der Verkürzung der Arbeitszeit oder warum nicht der Verlängerung der Arbeitszeit bis hin zur Senkung der Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer, verbunden mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer usw.. Jedem das, was er mal eben so brauchen könnte. So werden die wirtschaftspolitischen Teile von Wahlprogrammen weitmaschig gestrickt. Im Hintergrund steht die Hoffnung überzeugen zu können. So einfach aber ist es nicht zu einem politisch konsensfähigen und wirtschaftspolitisch umsetzbaren Wahlprogramm zu kommen. Mit einer einigermaßen soliden ökonomischen Kompetenz lässt sich das sehr wohl zeigen. Als Ergebnis des exemplarischen Lernens soll eine und ein vertieftes Verständnis der wissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft ermöglicht werden. Auf diesem Weg können neue Zugänge zur wirtschaftlichen Wirklichkeit erarbeitet werden. In einem solchen Lernprozess lernen die Kursleiter von den Lernenden und die Lernenden von den Kursleitern. Ausgetauscht werden die jeweiligen Erfahrungen aus der erlebten und 19 erlittenen Welt der Wirtschaft. Die Auseinandersetzung mit aktuellen Wirtschaftsproblemen auf dem Hintergrund von Texten ist Mittel zu diesem Zweck. Bei näherem Hinsehen ist es in der Tat erstaunlich, wie viel wirtschaftswissenschaftliche Vorkenntnisse bei einem Leser des Wirtschaftsteils einer Regionalzeitung vorausgesetzt wird. Ohne diese Mindestvoraussetzungen bleiben solche Texte nur allzu oft undurchsichtig. Überregionale Berichte bestehen meist aus Berichten von Presseagenturen, die von eiligen Redakteuren umgeschrieben und kommentiert werden. Was dabei zustande kommt, spottet zuweilen jeder Beschreibung. Die Texte sind oft falsch bis unverständlich, und das nicht nur für wirtschaftswissenschaftliche Laien. Es wird im Stil der ideologischen Wirtschaftswissenschaft zu allzu oft versucht, den Leser ohne Rückfahrkarte auf ein Schienenfahrzeug zu setzen, um ihn an einen ihm unbekannten aber wirtschaftlichen Interessen umso genehmeren Ort zu verfrachten. Das macht die Arbeit mit Texten nicht gerade einfacher. Um solche nicht unbedingt zufälligen Missverständnisse auszuräumen wird im folgenden Text eine Sammlung von wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten vorgelegt, die es erlauben soll, mehr Klarheit in das Dunkel der Auseinandersetzung von Interessen zu bringen. Es gibt in der wissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft eine Reihe von Erkenntnissen, die gebraucht werden, um wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, um wirtschaftspolitische Strategien zu definieren und wirtschaftspolitische Instrumente auf diese Ziele hin zu trimmen. Dieses Wissen kann kritisch gegen jene gewendet werden, die es hinter den Vorführungen von ideologischen Schaukämpfen durchaus nicht ungeschickt für ihre Interessen einzusetzen verstehen. Eine moderne kapitalistische Marktwirtschaft kommt ohne wissenschaftliche Wirtschaftswissenschaft nicht aus. Am Ende des Kurses sollten die Teilnehmer in der Lage sein, Berichte aus der Wirtschaftspresse kritisch durchleuchten zu können und einzelne Bereiche von Gutachten wie z.B. die Frühjahrs- und Herbstgutachten der sechs wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute zu interpretieren. Das ist ein hochgestecktes Ziel, an das man sich heranpirschen sollte, ohne der Illusion aufzusitzen, dass es einfach zu erreichen wäre. Wenn wir in Sichtweite des Zieles vordringen können, wäre das sicher ein großer Erfolg. 20 B) Gesamtwirtschaftliche Grundmuster 1) Orientierungshilfen für den langen Marsch zur wirtschaftlichen Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung mit Wirtschaftstheorien soll uns Wege zur wirtschaftlichen Wirklichkeit zeigen. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Sie beginnt ihr Eigenleben mit der Entstehung der kapitalistischen Marktwirtschaft um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Damit ist gerade einmal 250 Jahre alt. Die Astronomie dagegen kann auf eine Vergangenheit von mehreren Tausend Jahren zurückblicken. Schon die Maya in Zentralamerika konnten Mondfinsternisse voraussagen. Doch selbst die Astronomie zieht noch immer eine Schleppe aus astrologischem Aberglauben hinter sich her. Noch immer erfreuen sich Horoskope großer Beliebtheit „Die Sterne lügen nicht!“ Selbst Investoren und hochgestellte Politiker, u.a. der amerikanische Präsident Reagan, lassen sich vor wichtigen Entscheidungen ihr Horoskop erstellen. Die Pharmazie hat in Wunderheilungen und allerlei Glückspillen noch immer einen kommerziell ernst zu nehmenden Gegner. Warum sollte das in der Wirtschaftswissenschaft anders sein? Wie jede Wissenschaft hat auch die heutige Wirtschaftswissenschaft eine vergleichsweise allerdings kurze Geschichte. Die Wirtschaftswissenschaft hat Im Vergleich zur Astronomie hat die Wirtschaftswissenschaft zwei schwer lösbare Probleme. Erstens verändert sich ihr Forschungsgegenstand – die wirtschaftliche Wirklichkeit – kurzfristig, andauernd und deshalb im Vergleich zu den Galaxien sehr schnell. In der Entwicklung vom Agrarkapitalismus über den Industriekapitalismus zum heutigen Dienstleistungskapitalismus haben in nur rd. zweihundert Jahren gewaltige Veränderungen stattgefunden. Die Wirtschaftswissenschaft hinkt notgedrungen hinter her. Zweitens aber würde es einem Astronomen oder selbst einem Astrologen nie einfallen, den Lauf der Gestirne verändern zu wollen. Das genau aber wollen Wirtschaftswissenschaftler. Wirtschaftswissenschaftler wollen nicht nur die Entwicklung der wirtschaftlichen Wirklichkeit erkennen – nein – sie wollen sie mit einer geeigneten Wirtschaftspolitik auch verändern. In der wirtschaftlichen Wirklichkeit spielt die Zukunft eine zentrale Rolle. Marktprozesse sind von der einzelwirtschaftlichen und der wirtschaftspolitischen Perspektive her gesehen stets zukunftsorientiert. Die 21 Wirtschaftstheorie jedoch verzichtet bei der Analyse von Zusammenhängen meist und überraschenderweise auf eine Zeitperspektive. Risiko und Unsicherheit spielen dann keine große Rolle. Der Illusion wird Vorschub geleistet, die Wirtschaftswissenschaft sei eine Art Physik der wirtschaftlichen Zusammenhänge, die dauerhaft stabil sind, wie die Bahnen der Planeten unseres Sonnensystems. Die Unterscheidung zwischen langfristigen und kurzfristigen Zukunftsperspektiven ist jedoch von zentraler Bedeutung. Ein Kraftwerk hat in der Regel eine Bauzeit von rund acht Jahren. Um die Rentabilität einer solchen Investition abschätzen zu können, müssen Annahmen über den Elektrizitätsverbrauch gemacht werden, die weit über zehn Jahre hinausgehen. Liberalisierte und internationalisierte Finanzmärkte aber schauen nur auf die Höhe der kurzfristigen Rendite. Die Folge davon kann sein, dass längerfristig wirksame Investitionen unterbleiben. In den folgenden Ausführungen wird nahezu ausschließlich von der kapitalistischen Marktwirtschaft die Rede sein, zu der es gegenwärtig noch keine ausgereifte Alternative gibt. Der sogenannte „real existierende Sozialismus“, ist an sich selbst gescheitert. Daraus folgt natürlich nicht, dass wir mit der Marktwirtschaft plus Demokratie auf einem dauerhaft stabilen Entwicklungspfad oder gar in der besten aller möglichen Welten angekommen sind6. An der kapitalistische Marktwirtschaft gibt es einiges zu kritisieren. Doch so lange wir nichts besseres auf Lager haben, müssen wir uns wohl oder übel mit dem auseinandersetzen, was uns als wirtschaftliches Schicksal auferlegt wird. Das heißt aber durchaus nicht, dass alles wortlos und widerstandslos hingenommen werden muss. Ein kurzer Überblick über einige wirtschaftswissenschaftliche Denkmuster wird zeigen, dass die Meinungen innerhalb dieser „schrecklichen Wissenschaft“ (dismail science) über ihren Forschungsgegenstand, die kapitalistische Marktwirtschaft, weit auseinandergehen. Doch werfen wir zunächst einmal einen naiver Blick auf unsere Alltagserfahrung mit der Marktwirtschaft (Siehe Kasten B1: Kann die Marktwirtschaft Wunder vollbringen?). ____________________________________________________________ Kasten B1: Kann die Marktwirtschaft Wunder vollbringen? Ökonomen glauben viel – aber nicht unbedingt an Wunder. In Marktprozessen sehen sie jedoch wunderbare Fügungen am Werk. Man kann sich vor sein Telefon setzen, es anschauen und sich In Moskau soll folgender Witz Furore gemacht haben: Zwei Beamte treffen sich. Der eine sagt: „alles was die Kommunisten uns über den Sozialismus erzählt haben war völliger Quatsch“. Der andere antwortet: „Das stimmt. Aber das, was sie uns über den Kapitalismus erzählt haben, war goldrichtig“. 6 22 wundern, dass es auf dem Arbeitstisch steht. Na ja, man hat’s gekauft und dort hingestellt. Aber dass man das konnte, ist keine Selbstverständlichkeit. Das Telefon musste produziert werden. Dazu sind unterschiedlichsten Rohstoffe erforderlich. Woher stammen sie? Überwiegend wohl aus erdölproduzierenden Ländern. In der Petrochemie wurde aus diesem Rohstoff Plastik und Farben hergestellt. Leitungen mussten produziert und verlegt werden. Woher kommt das Kupfer? Vielleicht aus Chile? Die Zahl der Teile in einem Telefon ist im Vergleich zum Auto oder gar zum Flugzeug nicht sehr groß. Um diese Teile herzustellen, mussten Arbeitsleistungen der unterschiedlichsten Art erbracht werden. Von Forschungs- und Designertätigkeiten über die unterschiedlichsten gewerblichen Berufsarbeiten, Angestelltentätigkeiten bis hin zur Verpackungsarbeit, Transportarbeit und der Arbeit des Verkaufspersonals. Übrigens mein Telefon kommt aus Japan. Jedenfalls steht eine japanisches Markenzeichen drauf. Vielleicht wurde es in einer der Wirtschaftssonderzonen in Südchina zusammengebaut. War die Produktion sozialverträglich? Im Zweifel nein: in den Wirtschaftssonderzonen sind die Löhne der jungen Chinesinnen sehr niedrig, die Arbeitszeiten sehr lang. Es gibt Gewerkschaftsverbote und soziale Sicherheit ist weitgehend unbekannt. Auch die Teile meines PC reisen weit. Bis alle Teile am Ort des Zusammenbaus sind, dann ist die Summe der zurückgelegten Wege aller Einzelteile ungefähr gleich einer Reise um die Welt. Muss das sein? Ist das ökonomisch rational? Bei der Koordination all dieser Teilarbeiten treten natürlich Reibungsverluste auf. Darüber ist wenig bekannt. Ist die Produktion ökologisch nachhaltig? Im Zweifel, nein. Dem Telefon sieht man das „Arbeitsleid“ der unmittelbaren Produzenten nicht an. Sicher hat die Marktwirtschaft mit meinem Telefon kein Wunder vollbracht. Bei näherem Nachdenken scheint es mir aber doch erstaunlich und durchaus nicht mehr selbstverständlich zu sein, dass mein Telefon vor mir steht. Um es überhaupt kaufen zu können, musste ich mir übrigens Geld beschaffen, verdienen. Was passiert bei einer Wirtschaftskrise? Kann ich mir dann noch ein neues Telefon kaufen, wenn das alte kaputt geht? Kann der internationale Terrorismus diese weit verzweigte Marktkoordination lahm legen? – Man stelle sich einmal vor, dass ein Planungskommissariat die Produktion all dieser unterschiedlichen Teile planen und die verschiedenen weltweit verstreuten Teilarbeiten koordinieren soll, so dass ich mein Telefon heute auch tatsächlich auf meinen Arbeitstisch stellen kann. – Dann verlasse ich mich vielleicht doch besser auf die Marktkoordination, selbst dann, wenn ich weiß, dass auch auf die Märkte nicht immer Verlass ist? So mag das auf den ersten Blick erscheinen. Doch eine weitergehende Analyse der Ware wird zeigen, dass hinter der einfachen Gegenständlichkeit des Telefons einiges verborgen ist. Marx spricht in diesem Zusammenhang vom Fetischcharakter der Waren (Siehe Kasten B2: Der Fetischcharakter der Ware und sein (offenes) Geheimnis). – Der Warentausch vollzieht sich über Marktprozesse, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten entfalten. Sie ziehen sich zu einem stummen Zwang zusammen, der sich die Menschen unterwirft und dem sich die Menschen unterordnen. (Siehe Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht). ______________________________________________________________ Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, dass die wirtschaftliche Wirklichkeit uns allen oder doch zumindest den Wirtschaftswissenschaftlern mehr als in groben Zügen oder in einigen Details bekannt sei. Fragt man nach, dann gehen die Meinungen – erst recht unter Wirtschaftswissenschaftlern – darüber, wie wirtschaftliche Zusammenhänge funktionieren weit auseinander. Die Gesetzmäßigkeiten, die Wachstum, Beschäftigung, Geldwertstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht bestimmen, wurden und werden 23 kontrovers diskutiert. Das ist wissenschaftlicher Alltag, nicht nur in der Wirtschaftswissenschaft. Mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit geht die Forderung einher, die Zukunft auf der Grundlage der Kenntnis von Zusammenhängen der wirtschaftlichen Vergangenheit und der Gegenwart zu prognostizieren. Wie jedermann weiß, sind die Wirtschaftswissenschaftler aber durchaus nicht (noch nicht?) in der Lage, den nächsten Aufschwung des Konjunkturzyklus oder gar dessen Wendepunkte treffsicher vorauszusagen. Von der Fähigkeit von Astronomen, die nächste Mondfinsternis genau zu berechnen, sind Ökonomen bei ihren Konjunkturprognosen noch Lichtjahre entfernt. Wirtschaftstheorien bestehen nach Joseph A. Schumpeter (1883 – 1950) aus „Visionen“ und analytischen Instrumenten. Eine Vision ist auf einen nicht weiter begründeten „voranalytischen Erkenntnisakt“ gegründet. Sie ist eine Art von „Welt-Anschauung“, eine besondere Sichtweise der Wirtschaftstätigkeit. Visionen fließen mehr oder weniger unbewusst als Werturteile in jede Theoriebildung ein. Die Rolle des Wirtschaftssubjekts im Wirtschaftsprozess, die Effizienz von Märkten, Möglichkeiten und Grenzen von Staatstätigkeit in einer Marktwirtschaft – all das kann Gegenstand von solchen Visionen sein. – Der zweite Aspekt der Theoriedefinition von Schumpeter, die analytischen Instrumente, „der Werkzeugkasten“ zielt auf Methoden der Gewinnung von Erkenntnissen, wie mathematische Modelle des Wirtschaftsprozesses, statistische Verfahren, der Aufbau einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wirtschaftsgeschichtliche Vergleiche usw. Wie in jeder Wissenschaft müssen auch in der Wirtschaftswissenschaft Theorien so dargestellt werden, dass sie widerlegt („falsifiziert“) werden können! Bei Glaubensbekenntnissen ist das nicht der Fall. Dafür zwei Beispiele: der Sozialismus ist ewig, weil er richtig bzw. wissenschaftlich ist. Die Marktwirtschaft ist der Höhepunkt der Menschheitsgeschichte und deshalb auch ihr Endstadium, weil sie die effizienteste vorstellbare Wirtschaftsweise ist (Fukuyama 1992). Doch inzwischen hat die Geschichte ihren Lauf wieder aufgenommen. Nicht nur in akademischen Debatten wird die Bedeutung von Wirtschaftstheorien sehr hoch gehängt. Es scheint eine besondere Eigenschaft von wirtschaftlich interessierten Personen zu sein, dass sie gern und mit tiefer Überzeugung über Theorien sprechen, die ihrer Meinung nach den Wirtschaftsablauf erklären. Nur gehen die Meinungen über die Funktionsweise kapitalistischer Marktwirtschaften in der Regel weit 24 auseinander, ohne dass die Diskutierenden sich dessen bewusst sind. Selbst im Gouverneursrat einer Zentralbank sind die Meinungen über die Wirkung geldpolitischer Instrumente durchaus nicht deckungsgleich. Auch heute erwarten die Menschen mehr als zu Zeiten der Hochkonjunktur eine grundlegende Diagnose. Keynes hat dazu sarkastisch und mit warnendem Unterton angemerkt: „Von dieser zeitgenössischen Stimmung abgesehen, sind aber die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im Unrecht sind, einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste“ (Keynes 1936:323). Theorien sind in der Wirtschaftswissenschaft wichtig, weil sie die Sichtweise der wirtschaftlichen Agenten und letztendlich der Bevölkerung vom Wirtschaftsprozess prägen. Überraschend aber ist, wie überwältigend der Anteil der Visionen und wie viel geringer der Anteil der überprüfbaren analytischen Einsichten in den meisten öffentlichen Debatten, über Wirtschaftsprobleme ist, die heute meist in Talkshows stattfinden. Das öffnet den Wirtschaftsinteressen bzw. ihren Lobbyisten Tür und Tor, setzt sie aber auch vermeidbaren Verdächtigungen aus. Wenn z.B. ein Politiker mehr Eigenverantwortung der mündigen Bürger bei der Gestaltung der Alterssicherung fordert, ohne genauer zu werden, dann wird er schnell zu Recht oder zu Unrecht in die Nähe der Interessen der privaten Versicherungswirtschaft gerückt. Solchen Ideologien entgegenzuwirken, ist auch auf der Grundlage der noch immer um Wissenschaftlichkeit ringenden Wirtschaftswissenschaft in vielen Fällen möglich. Um Ideologien, d.h. Fehlmeinungen mit gesellschaftlicher Adresse, entgegentreten zu können, müsste das ökonomische Wissen der Bevölkerung auf eine solidere Grundlage gestellt werden. Eine wissenschaftliche Disziplin, die wie die Wirtschaftswissenschaft noch nicht ausgereift ist, zeichnet sich oft dadurch aus, dass nicht ein Mangel sondern ein Überfluss an Theorien herrscht. Sie reichen von ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Bemühungen bis hin zur Bildung von Sekten auf der Grundlage „heiliger Texte“. Ein Beispiel dafür ist Silvio Gesells (1862 – 1930) Freigeldlehre. Sein Text „Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“(1916) wird von vielen seiner Anhänger wie eine mystische Offenbarung gelesen. Das Schwierige in Diskussionen mit Sektierern über deren heilige Texte ist nun, dass diese Texte auch einige 25 Wahrheiten enthalten. Das gilt auch für Gesell, insbesondere angesichts der stagnativen Tendenzen in der Gegenwart. Auch Keynes hat positive Aspekte in Gesells Werk hervorgehoben. In dem hier vorgelegten Text können theoretische Positionen nur kurz skizziert werden. Dabei sollen zwei Perspektiven in den Vordergrund gerückt werden, einmal die historische Bedeutung des „Regimewechsels“ von der absolutistischen Befehlswirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zum anderen die Bedeutung der jeweiligen Wirtschaftstheorie für die Formulierung von wirtschaftspolitischen Strategien in der Gegenwart. Parallelen zum Staatssozialismus drängen sich geradezu auf. In einigen weniger entwickelten realsozialistischen Ländern wurde versucht, die Allmacht des absolutistischen Staates wieder zu beleben. Der Erfolg war mehr als mäßig. Das absolutistische Frankreich konnte es damals besser! Folgende Theoriebildungen sollen erwähnt werden: vorklassische Ansätze wie der merkantilistische und und der physiokratische Ansatz, die klassische Theorie, die neoklassische Theorie, der Marxismus, Schumpeters Innovationstheorie und seine Skepsis über den Weiterbestand des Kapitalismus, der Keynesianismus, die evolutorische Ökonomik, Umweltökonomik, Institutionenökonomik und die aktuelle Theoriesituation. Für die merkantilistische Position stand die Begründung der absolustischen Befehlswirtschaft und ihre Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt. Der Prinz regelte die Wirtschaft mit der „eisernen Faust“. Adam Smith hat sie später durch die „unsichtbare Hand“ ersetzt. Die Einnahmen und Ausgaben des Fürstenhaushalt standen im Vordergrund. Der Aufbau von Manufakturen für militärische Produktion, Flottenbau oder für die Ausstattung der fürstlichen Schlösser war eine wichtige wirtschaftspolitische Aufgabe. Frankreich war für die europäischen Länder das große Vorbild. Jean-Baptiste Colbert (1619-1683) war zwanzig Jahre Finanzminister unter Ludwig XIV. Er hat seine Epoche geprägt wie kaum ein anderer und die wirtschaftlichen Grundlagen des vorbürgerlichen Frankreich gelegt (Anderson 1977). Eingriffe in den Wirtschaftsablauf waren eine Selbstverständlichkeit. Colbert führte Qualitätsnormen und Berufsausbildung ein. Er versuchte Frankreich zu modernisieren. Er „erfand“ neue Steuern und andere Zwangsabgaben, um die enormen Finanzierungsmittel für die Staatsausgaben bereitzustellen. Ohne die wirtschaftliche Grundlage, die die Wirtschaftspolitik Colberts geschaffen hat, hätte Ludwig XIV. seine Kriege nicht führen können. Auch das Schloss von Versailles wäre wohl nicht gebaut worden. Colberts Staatsverständnis hat den Merkantilismus und den Absolutismus in abgeschwächter Form bis in die Gegenwart hinein überlebt. Die Idee vom Staat als Instrument der 26 Gestaltbarkeit des Wirtschaftsprozesses ist in staatsorientierten Marktwirtschaften noch immer präsent und hat in staatssozialistischen Gesellschaften viel wirtschaftliches Unheil gestiftet. Im ausgehenden Absolutismus dagegen hat die merkantilistische Wirtschaftspolitik viel zur Durchsetzung des marktwirtschaftlichen Kapitalismus in Frankreich beigetragen. Noch heute ist in Frankreich ein vergleichsweise großes Vertrauen in staatliche Handlungsmöglichkeiten zu beobachten. Für merkantilistische Theoretiker ist ein dauerhafter Handelsbilanzüberschuss ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel. Der englische politische Philosoph David Hume (1711 – 1776) hat vor den Folgen gewarnt und dabei ein Konzept einer sich selbst regulierenden internationalen Wirtschaft und eine frühe Version der Quantitätstheorie des Geldes vorgelegt (siehe Kasten C8: Quantitätstheorie und Geldpolitik). Bei Goldwährung führt ein Handelsbilanzüberschuss zu eine Erhöhung der Exporteinnahmen und damit der einheimischen Geldmenge. Die Erhöhung der Geldmenge setzt inflationäre Tendenzen im Inland frei. Das führt auch zur Erhöhung der Exportpreise. Die verteuerten Exportpreise verringern die Exportmengen und die Verbilligung der Importe erhöhen die Importmengen. Das Handelsbilanzdefizit wird negativ. Gold fließt ab und die einheimischen Preise sinken. Auf diese Weise wird ein sich selbst regulierender Handelsbilanzausgleich erreicht. Humes Ansatz inspiriert noch heute die Debatten über internationale Währungsprobleme. Man denke nur an die gegenwärtige Diskussion über das amerikanische Leistungsbilanzdefizit und Abwertung des Dollar. Hume geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass die Handelspartner ungefähr gleich groß sind und sich auf dem gleichen Entwicklungsniveau befinden. Auf zwei Länder wie die USA und Guatemala ist ein solches oder ein ähnliches Theorem nicht anwendbar. Das merkantilistische Modell geriet in den Jahrzehnten vor der französischen Revolution in eine Krise. Die physiokratische Theorie entwickelte ein Gegenmodell mit einer marktwirtschaftlich verfassten Landwirtschaft, die auf großen Pachtbetrieben basiert. Der Vordenker Francois Quesnay (1694 – 1794) war Hofarzt im Schloss von Verseilles. In seinen späten Lebensjahren befasste er sich mit Ökonomie und gründete den intellektuell anspruchsvollen Zirkel der Physiokraten. Der Begriff des „Laissez-faire“ stammt aus dieser Zeit. Freihandel und uneingeschränkte Konkurrenz wurden von den Physiokraten propagiert und sind von englischen Theoretikern übernommen worden. Wichtiger aber ist die Übertragung des Kreislaufkonzept vom Blutkreislauf auf den Wirtschaftskreislauf, die die Wirtschaftswissenschaft dem Hofarzt verdankt. Auch andere ökonomische Fachausdrücke oder Konzepte aus der Medizin wie z.B. Krise, Diagnose, Therapie, 27 Selbstheilungskräfte der Natur bzw. des Marktes, Gleichgewicht usw. finden sich bereits in den physiokratischen Debatten. Physiokratische Theoretiker haben ein radikales Konzept der Steuervereinfachung vorgeschlagen: die Einführung einer einzigen Steuer auf die Grundrente. Dieses Steuerprojekt ist als Gegenposition zum merkantilistischen Steuerchaos des Absolutismus zu verstehen. Es ist ein wenig überraschend, dass ein angesehener Hofarzt, der im königlichen Schloss wohnt, und am Hof eine einflussreiche Position innehat, eine der scharfsinnigsten Kritiken am Merkantilismus verfasst und öffentlich vertreten hat. Sein Ziel war jedoch nicht revolutionär. Er strebte vielmehr eine tiefgreifende Reform der absolutistischen Befehlswirtschaft an. Der absolutistische Staat sollt auf ein marktwirtschaftliches Fundament gestellt und mittels einer einzigen marktkonformen Steuer finanziert werden. Eine einzige Steuer und dazu möglichst einfach! Das treibt selbst heutigen Steuerreformern Tränen in die Augen. Undurchführbar war dieses Steuerreformprojekt schon damals, politisch wie technisch. Adam Smith (1723 – 1790) gilt als der Begründer der „klassischen“ modernen Nationalökonomie. Er ist auf seinen Reisen offenbar auch in Paris gewesen und hat mit physiokratischen Ökonomen diskutiert. Es ist nicht auszuschließen, dass er diesen Gesprächen einige Einsichten in marktwirtschaftliche Prozesse verdankt, die in den französischen Debatten damals schon weit entwickelt waren. Wie dem auch sei, Debatten über Wirtschaftsprobleme waren bereits vor der französischen Revolution seit dem Zeitalter des Merkantilismus international vernetzt. Das Hauptwerk von Adam Smith hat mit seinem Werk „Eine Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Wohlstands der Nationen“( kurz gefasst: „Wohlstand der Nationen“) schon bald nach seinem Erscheinen im Jahr 1776 eine große internationale und dauerhafte Popularität gewonnen. Heute wird er gern zitiert aber kaum noch gelesen. Seine Konzepte über die Funktionsweise und die Entwicklung von Marktwirtschaften aber sind auch heute noch von Interesse. Die physiokratische Theorie wird in Smiths Werk mit einem schwer verständlichen und sarkastischen Kapitel kritisiert. Ein wichtiger Teil seines Werkes, das im fünften Band seines Buches zu finden ist, ist dem Aufbau eines rationalen, marktkonformen Steuersystems gewidmet. Das kann nach den Desastern des merkantilistischen Steuerchaos nicht überraschen. In den gebildeten Schichten war die Lektüre des Werks von Adam Smith weit verbreitet. Für Hofbeamte an deutschen Fürstenhöfen soll Adam Smith sogar Pflichtlektüre gewesen sein. Englands wirtschaftliche Erfolge haben große Bewunderung hervorgerufen. Im rückständigen Deutschland sollten 28 wirtschaftliche Reformen durchgeführt werden, damit die Fürsten aus der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Vorteile zielen konnten. Ähnlich wie bei der physiokratischen Theorie zielten die deutschen Fürsten offenbar auf die Reproduktion ihrer absolutistischen Herrschaft mit den Möglichkeiten der kapitalistischen Marktwirtschaft. Smith sah in der Marktwirtschaft seiner Zeit, die noch überwiegend aus Klein- und Mittelbetrieben bestand und im Handwerk verwurzelt war, eine ökonomische Rationalität am Werk. Die Unternehmer dieser Epoche der frühen Marktwirtschaft waren nach den Vorstellungen von Adam Smith in der Lage, die für sie wesentlichen marktwirtschaftlichen Prozesse zu überschauen, ohne die Hilfe von Staatsmännern oder Gesetzgebern (Fleischhacker 2004). Im Umfeld seiner Erörterung über die Wirkung der „unsichtbaren Hand“ argumentiert Adam Smith wie folgt: „In welchem Zweig der heimischen Erwerbstätigkeit er sein Kapital anlegen kann, und bei welchem das Erzeugnis den größten Wert zu haben verspricht, das kann offenbar jeder einzelne je nach den Ortsverhältnissen weit besser beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun könnte“(Smith, zweiter Band 2000:236). Die Fähigkeiten, die eigenen Interessen zu formulieren und über Märkte umzusetzen, mag in der damaligen Zeit im schottischen Glasgow, der Heimatstadt von Adam Smith, oder vielleicht sogar noch in England plausibel gewesen sein. Hier liegt die Quelle für die Annahme der neoklassischen Theorie, dass der „homo oeconomicus“ über alle für seine Entscheidungen wichtigen Information verfügt. In der heutigen internationalisierten kapitalistischen Marktwirtschaft trifft das wohl nicht mehr zu. Heute nimmt der Beratungsbedarf schnell zu. Während bei Smith noch ein fast naives und überschwängliches Vertrauen in das marktwirtschaftliche Projekt einer bürgerlichen Gesellschaft mit einem reduzierten „Nachtwächterstaat“ überwiegt, analysierte der Londoner Ökonom und Börsenmakler David Ricardo (1772 – 1823) die kapitalistischen Marktwirtschaft seiner Zeit zurückhaltender. Er ist Zeitzeuge von Krisen und sozialen Unruhen gewesen, die im Zuge der industriellen Revolution entstanden sind. Ihm verdankt die aufstrebende Wirtschaftswissenschaft ein vorbildliches Werk. Auch er weicht der Steuerproblematik nicht aus. Schließlich lautet der Titel seines Hauptwerkes: „Die Prinzipien der politischen Ökonomie und der Besteuerung“ (1817). 29 Selbst heute noch fehlt sein kurzer Hinweis auf die Maschinerie und seine Außenhandelstheorie (die Theorie der komparativen Kosten), die sogenannte Ricardo-Äquivalenz in kaum einem Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaft. Ein weiterer Theoretiker der klassischen politischen Ökonomie, der trotz seines moralisierenden und heute schwer lesbaren Werkes bis in die Gegenwart hineinwirkt, war Thomas Robert Malthus (1766 - 1834). Malthus hat eine Bevölkerungstheorie entwickelt und sie in ein Katastrophenszenario eingebaut. Die Bevölkerung wächst in geometrischer Reihe (2, 4, 8, 16....). Die landwirtschaftliche Produktion wächst dagegen nur in arithmetischer Reihe (2, 4, 6, 8, 10.....). Die Folge ist, dass das Prokopfeinkommen von einem gewissen Punkt an sinkt und bald das Existenzminimum unterschreitet. Kriege, Seuchen, Hunger beseitigen die Überbevölkerung. Dieses Katastrophenszenario gilt heute als überholt. In unserer Zeit kann die Produktivität in der Landwirtschaft schnell genug gesteigert werden, um eine in geometrischer Reihe wachsende Bevölkerung zu ernähren. Das gilt auch für große Staaten wie Indien. Voraussetzung ist in der Regel allerdings, dass in den Ländern demokratische Zustände durchgesetzt werden konnten, wie der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen (1933 – ; Sen 2001; Nobelpreis 1998) gezeigt hat. Diese Bedingung ist in den meisten Ländern Afrikas südlich der Sahara nicht erfüllt. Dort überwiegen Diktaturen. Die Katastrophen, die rasante Ausbreitung von AIDS, Malaria, Kinderlähmung, Tuberkulose und vielen Tropenkrankheiten, die verheerenden Bürgerkriege, Mangel an Trinkwasser, und Hungersnöte sind der internationalen Gemeinschaft seit Jahrzehnten bekannt. Diese Katastrophen in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von dem Szenario, das Malthus im Sinn hatte. Nicht die Bevölkerungsexplosion und die langsamer als die Bevölkerung wachsende oder stagnierende, oft sogar sinkende landwirtschaftliche Produktion hat Afrika südlich der Sahara in die Katastrophe geführt sondern umgekehrt: die überwiegend von außen ausgelösten Katastrophen haben ein Absinken der landwirtschaftlichen Produktion pro Kopf zur Folge gehabt und auf diese Weise die Katastrophen verschlimmert. Diese überwiegend von außen ausgelösten Katastrophen wurden nie erfolgversprechend bekämpft. Sie sind im Grunde nichts anderes als „unterlassene Hilfeleistungen“ der Länder mit entwickelten Marktwirtschaften gegenüber verarmten afrikanischen Ländern. Vergleichbar ist diese Situation mit einem Verkehrunfall. Der Mitverursacher macht sich 30 aus dem Staub, nachdem er sich ein oberflächliches Bild gemacht hat und kapituliert vor den Katastrophen, denen seine Opfer ausgesetzt sind. Karl Marx (1818 – 1883) hat das Gebäude seiner Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie auf den Grundlagen einer Kritik der klassischen politischen Ökonomie errichtet, die in diesem Text im einzelnen nicht dargestellt werden kann. Die Kritik der klassischen politischen Ökonomie aber ist deren „Aufhebung“, im doppelten Sinn. Marx glaubte, dass die klassische politische Ökonomie nach seiner Kritik einerseits überwunden (aufgehoben = überholt) sei, andererseits aber auch aufbewahrt (aufgehoben) wäre. Der deutsche idealistische Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 – 1831) hatte dem Begriff der Aufhebung diesen doppelten Aspekt in dialektischer Absicht zugeordnet. In der folgenden Skizze über die Marxsche Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie soll stärker auf den bewahrenden Aspekt eingegangen werden, der durch Marx hindurch noch einmal auf einige Aspekte der klassischen politischen Ökonomie hinweist. Deshalb fallen die Hinweise zur Marxschen Theorie etwas länger aus als die zu anderen Ökonomen. Die Marxsche politische Ökonomie kennt drei Ebenen der Analyse. Zunächst einmal die Wertebene, auf der die wertschöpfenden Potentiale der Arbeitskraft einschließlich der Ausbeutungstheorie untersucht werden. Über den Transformationsprozess werden Werte in Produktionspreise umgewandelt. Gemessen wird auf den Ebenen der Werte und Produktionspreise mit Arbeitswerten, in denen gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit ausgedrückt wird. Smith und Ricardo haben bereits mit diesem Ansatz gearbeitet. Die Arbeitswertlehre ist noch immer umstritten. Die dritte Ebene der Marxschen Theorie ist die Ebene der Marktpreise, die auch der Tummelplatz der akademischen Wirtschaftstheorie ist. Sie ist die Ebene der subjektiven Wertlehre. Die Ebene der Marktpreise ist auch die Ebene, die für die direkte Beobachtung der wirtschaftlichen Wirklichkeit im Sinn der Erfassung von Preisen und Mengen zugänglich ist. Das gilt nur mit erheblichen Einschränkungen für Arbeitswerte. Marx geht in der Regel in seinen Schriften davon aus, dass Produktionspreise und Marktpreise sich parallel entwickeln. Das setzt vollständige Konkurrenz und eine weitestgehend staatsfreie Wirtschaft voraus. Unvollständige Konkurrenz, einmal abgesehen von dem Konzentrations- und Zentralisationstendenzen, werden von ihm nur am Rande in die Analyse einbezogen. Auch Staatseingriffe in den Wirtschaftsprozess im heutigen Umfang, wie sie in einigen europäischen Staaten zu beobachten sind, werden von ihm nicht behandelt. Auf der Ebene der Marktpreise ist Marx in den 31 Traditionen der klassischen politischen Ökonomie verwurzelt, die von Adam Smith als ein möglichst staatsfreier Raum konzipiert wurde. Der Rückgriff auf Arbeitswerte hat bei Marx (im Gegensatz zu Autoren der klassischen politischen Ökonomie wie Smith oder Ricardo) eine moralphilosophische Absicht, die über die Analyse der eng wirtschaftlich definierten Beziehungen hinausgeht. Die Arbeitskraft ist für Marx die einzige Quelle des Wertes und deshalb auch des absoluten und des relativen Mehrwertes. Eine Marktwirtschaft setzt die Existenz von Waren voraus. Waren müssen Nichtgebrauchswert für ihren Besitzer und Gebrauchswert für ihren Nichtbesitzer haben, wenn es zum Tausch kommen soll. Im Tauschprozess entsteht in den Köpfen der Tauschenden ein falsches Bewusstsein, das Marx auf den Fetischcharakter der Ware zurückführt. (Siehe Kasten B2: „Der Fetischcharakter der Ware und sein (offenkundiges) Geheimnis“). ____________________________________________________________ Kasten B2: Der Fetischcharakter der Ware und sein (offenkundiges) Geheimnis Im ersten Satz seines Hauptwerkes Das Kapital sagt Marx, dass der Reichtum in Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, als eine ungeheure Warensammlung erscheint (Marx 1972:49). Erscheint als, ist aber nicht. Um welche Erscheinungsform handelt es sich? Offenbar um der Fetischcharakter der Ware. Der Begriff des Fetisch stammt aus der westafrikanischen Anthropologie und bezieht auf sich Götzenbilder, denen eine magische Kraft zugesprochen wird. Durch besondere Riten können die Götzenbilder veranlasst werden, menschliche Schicksale positiv oder negativ beeinflussen. Noch heute wird in einigen westafrikanischen Gesellschaften mit Fetischzauber zuweilen versucht, menschliche Schicksale zu beeinflussen, z.B. Beförderungen im Staatsdienst oder Heiraten. Es handelt sich bei solchen Götzenbildern um scheinbar selbständige Gestalten. Sie entspringen – so Marx – der menschlichen Phantasie. Waren sind ebenso wie die geschnitzten oder in Ton geformten Götzenbilder „Produkte der menschlichen Hand“, die sich im menschlichen Bewusstsein verselbständigen. Der Besitz der Waren soll Bedürfnisse befriedigen, ohne die dazu erforderlichen Eigenschaften zu besitzen. In arbeitsteiligen Marktgesellschaften stellen Tauschpartner Tauschbeziehungen zwischen den warenförmigen Arbeitsprodukten her. Voraussetzung für den Tausch ist, dass Besitzer einer Ware Nicht-Gebrauchswert an ihr hat und der Nicht-Besitzer dieser Ware einen Gebrauchswert für sich zuordnet. An den warenförmigen Arbeitsprodukten aber „klebt“ ein Fetischismus, der wie bei den westafrikanischen Götzenbildern mittels Kaufritualen Macht über menschliches Verhalten gewinnen kann und es auch soll. Ein Beispiel: Kinder brauchen Turnschuhe einer gewissen Marke, um „in“ zu sein. Sie hoffen auf einen guten Platz in ihrer Clique oder ihrer Mannschaft. Doch halten die Fetischgötzen nicht immer das, was sie versprechen. Durch den Kauf von Turnschuhen einer besonderen Marke wird man nicht unbedingt ein guter Fußballspieler. Nur allzu oft bleibt der vom Tauschwert versprochene Gebrauchswert weit hinter den hinter dem erhofften Genuss zurück. Für Geld ist alles zu haben!? Die Kauf Waren gegen Geld lässt die Dinge nicht so, wie sie vorher lagen. Menschen und Dinge werden über Käufe oder Tauschgeschäfte in veränderte Beziehungen gebracht. Ersehnte Zärtlichkeit und Sexualität werden auf Märkten von Sexworkern als Dienstleistungen angeboten. In den Konsumsphären der heutigen 32 entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften hat der Warenfetischismus eine nahezu allumfassende Gültigkeit erlangt. Den Waren werden Eigenschaften zugeschrieben, die in jedem Werbetext nachgelesen werden können. Mit dem Gebrauchswert der warenförmigen Arbeitsprodukte aber besteht nur allzu oft kaum noch eine Verbindung. Marx sagt wenig bis nichts dazu, über welche psychologischen Pfade der Fetischcharakter der Waren ins Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten gelangt. Die Analyse des Fetischcharakters kann auf Dienstleistungen, die heute den überwiegenden Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ausmachen, ausgeweitet werden. Genau das wird von Marx selbst und weiten Teilen der marxistischen Theoretiker bestritten. Angesichts des zunehmenden Anteils der in Dienstleistungsberufen Beschäftigten verdammen sie sich dann aber selbst zur Bedeutungslosigkeit. Hartnäckig und überwiegend erfolgreich wird im Bereich der gegenständlichen Arbeitsprodukte durch den Warenfetischismus die Tatsache verdrängt, dass Waren mit menschlicher Arbeitskraft produziert werden, die Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit sind. Im Bereich der Dienstleistungsarbeit ist die Verdrängung der Arbeit nicht ganz so einfach. Die problematischen Arbeitsverhältnisse, die niedrigen Löhne und das himmelschreiende Elend der einheimischen Bevölkerung vieler touristischer Zielorte kommen nicht von ungefähr. Sie können auch nicht nur dem korrupten politischen System vor Ort angelastet werden. Sie werden vor den Touristen so gut es geht versteckt, wenn es sein muss auch hinter hohen Mauern oder sie werden von brutalen Polizisten auf Distanz gehalten. Die in den Waren enthaltenen Teilarbeiten fügen sich über Marktprozesse zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit zusammen. Der gesellschaftliche Reichtum gerinnt zur ungeheuren Warensammlung. Auf diesem Weg stiftet der Warenfetischismus eine ungesellschaftliche Gesellschaft, deren nur allzu oft unhaltbare Zustände hinter einem Schleier von gefälliger Warenästhetik verborgen gehalten werden. Die über Waren konstituierte gesellschaftliche Gesamtarbeit droht sich zu einem „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ zu verfestigen. Die Gesetze der Marktprozesse lasten wie ein Bleideckel auf der Gesellschaft. Wenn der Schleier der verkehrten Welt, die der Warenfetischismus zustande bringt, mal zu knapp wird und die Wahrheit ans Tageslicht zu kommen droht, dann stehen andere wirksame Mittel der Zurichtung der Menschen bereit, um die Ordnung der Dinge bzw. den Zwang der ökonomischen Verhältnisse über die Menschen wieder herzustellen. Hartz IV kann als Beispiel dafür herangezogen werden. (Siehe auch und Kasten B15: der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht“). Die akademische Wirtschaftswissenschaft beginnt ihre Erkundung der wirtschaftlichen Wirklichkeit an der Oberfläche der ökonomischen Erscheinungen, der Welt der Waren, deren Preisen und Mengen. Genau das aber ist die verkehrte Welt des Fetischcharakters der Waren, den die Wirtschaftswissenschaft beschreibt, zählt und misst, ordnet und rationalisiert. Die wirtschaftswissenschaftliche Arbeit zielt auf die Sicherung und die Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen ist das Ziel immer auch Bereitstellung von Herrschaftswissen, d.h. ein Wissen, mit dem die herrschenden Kreise (Herrschaftseliten?) ihre Position erhalten und verbessern können. Es wäre vermessen zu glauben, dass der Wirtschaftswissenschaft das nicht gelingt. Die Wirtschaftswissenschaft ist bei ihren Bemühungen sogar recht erfolgreich. Nicht zuletzt deshalb ist es unverzichtbar, sich ein ökonomisches Orientierungswissen zu erarbeiten, um unser Verständnis von der Welt der Wirtschaft zu erweitern und unsere Position in der Welt der Wirtschaft besser zu verstehen. In der ungeheuren Warensammlung, die die Erscheinungsform des gesellschaftlichen Reichtums in Gesellschaften ist, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, liegt der wirkliche 33 Reichtum eben dieser Gesellschaften verborgen. Es ist die potentielle Vielfalt an menschlichen Beziehungen in ihren kulturellen Denkmustern und ihren sozialen Erfahrungen, die in einem Arbeitsprodukt bzw. in die gesellschaftlichen Gesamtarbeit eingearbeitet sind und zur Sprache gebracht werden kann. Je umfangreicher, vielfältiger und geographisch weiter gespannt die gesellschaftliche Gesamtarbeit ist, um so größer ist auch der potentielle Reichtum an menschlichen Beziehungen. Erst wenn der Warenfetischismus allmählich durchschaut und von den Arbeitsprodukten abgelöst wird, lässt sich dieser Reichtum an menschlichen Beziehungen fruchtbar machen. Die Entfaltung einer besseren Gesellschaft als die vom Warenfetischismus gelenkte aber kann kein schneller Selbstläufer sondern nur ein (langsamer?) bewusst gesteuerter Entwicklungsprozess sein. Die Reregulierung der Märkte hat hier ihren gesellschaftlichen Ort. Es wäre eine der Hauptaufgaben nachkapitalistischer Gesellschaften, die unmittelbaren oder direkten menschlichen Beziehungen, die unter der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen zustande gekommen sind, offen zu legen und so zu verändern, dass sie mit der wahren menschlichen Natur wieder vereinbar werden und einer bewusst selbstbestimmten Vorstellung von einer menschenwürdigen Gesellschaft entsprechen. Das ist kein einfacher und sicher auch kein konfliktfreier Weg. Ob er wohl in ein Paradies mit angegliedertem Schlaraffenland führt? (In Anlehnung Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. 1 Abschnitt. Unterabschnitt 4: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. 1972:85-98). ______________________________________________________________ Der Arbeitskraft in ihrer Warenform als Lohnarbeit kommt bei Marx eine besondere historische und moralische Qualität zu. Ein Arbeiter, der nichts anderes besitzt als seine Arbeitskraft, ist gezwungen, sie bald möglichst zu verkaufen, um seine Familie und sich ernähren zu können. Für den Arbeiter hat seine Arbeitskraft Tauschwert aber nur wenig Gebrauchswert. Für einen Kapitalisten, der nur Maschinen und Rohstoffe besitzt, hat die Arbeitskraft Gebrauchswert. Deshalb wird er Arbeiter so bald wie möglich einstellen. Die Einführung zusätzlicher Produktionsfaktoren wie Kapital und Boden hat Marx als Mystifikation der für seine Analyse der grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen angesehen. Die Analyse von Formen und gesellschaftlichen Verhältnisse sind im Marxschen Werk eine weitere zentrale Aufgabe. Für Marx ist das Kapital ein besonderes gesellschaftliches Verhältnis zwischen dem Kapitalbesitzer und „seinen“ Arbeitern und Angestellten. Die akademische Wirtschaftswissenschaft ist einer solchen Sichtweise gegenüber blind. Sie beharrt auf einer eng zugeschnittenen Definition von der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft. Kapital und Arbeit sind dann nichts anderes als Produktionsfaktoren, die in eine Produktionsfunktion eingebunden werden können. Gesellschaftliche Verhältnisse treten nur noch ausnahmsweise in Erscheinung. Ausgehend von dem „tableau économique“ (Darstellung eines Wirtschaftskreislaufs) der physiokratischen Theorie hat Marx Kapitalkreisläufe konzipiert, den Kreislauf des Geld- und des Warenkapitals 34 sowie des produktiven Kapitals. Mit ihrer Hilfe kann auch der wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesamtzusammenhang dargestellt werden. Kreislaufdarstellungen sind weiterhin in besonderer Weise geeignet, einigen wichtigen Entwicklungssträngen der modernen kapitalistischen Markwirtschaften auf die Spur zu kommen. Im Vergleich zur Analyse der kapitalistischen Marktwirtschaft hat Marx wenige und wenn überhaupt dann nur sehr abstrakte Hinweise auf nachkapitalistische d.h. sozialistische oder kommunistische Zustände gegeben. Das war nicht anders zu erwarteten, denn Marx war kein spekulativer Zukunftsforscher. Die Dogmatisierung der Marxschen Theorie, die einst versteinerte gesellschaftliche Verhältnisse zum Tanzen bringen sollte, hin zu einem rigiden Sowjetmarxismus, ist mit dieser Theorie völlig unvereinbar. Eine totalitäre Herrschaftsideologie wie unter Lenin und vor allem unter Stalin, in Kambodscha unter Pol Pot, steht in völligem Gegensatz zu den wie auch immer vorläufigen Ergebnissen von Marxens wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Analyse. Von den emanzipatorischen Einsichten des Marxismus, die den Untergang des im eigenen Selbstverständnis real existierenden Sozialismus überlebt haben könnten, ist in Deutschland weit und breit nichts mehr zu entdecken. Dogmatische marxistische Theoretiker scheinen auch nicht in der Lage oder bereit zu sein, den Untergang „ihres Sozialismus“ mit der Möglichkeiten marxistischer Analyse verständlich zu machen. In den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildete sich die subjektive Wertlehre (Grenznutzentheorie) als Reaktion auf die klassischen und die marxistischen Theorien heraus. Sie geht vom abnehmenden Grenznutzen aus. Beim Verbrauch von zusätzlichen Einheiten von Konsumgütern nehmen die zusätzlichen Nutzen, d.h. die Grenznutzen ab. Das kann man sich am Verzehr von Äpfeln klar machen. Der erste Apfel, den man isst, liefert den höchsten Nutzen. Beim zweiten, dritten,....zehnten nimmt der Nutzenzuwachs, der Grenznutzen, eines jeden zusätzlich verzehrten Apfels ab. Unabhängig voneinander entwickelten in England Stanley W. Jevons (1835 – 1885), in der Schweiz Léon Walras (1834 – 1910) und in Österreich Carl Menger (1840 – 1929) erste Grundlagen. Es bestand offenbar zu Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein Bedürfnis, die subjektive bzw. die individuelle Seite der wirtschaftlichen Akteure stärker in den Vordergrund zu rücken. Von diesem Ausgangpunkt aus hat sich die heute vorherrschende Wirtschaftswissenschaft entwickelt. Schon frühzeitig suchte diese Schule, besonders die österreichische Variante, die Auseinandersetzung mit der Arbeitswertlehre. 35 Der Versuch, Subjektivität oder Individualität ins Zentrum der ökonomischen Theorie zu rücken, führt u.a. zu einem kläglichen Ergebnis, der Konstruktion eines Wirtschaftssubjekts, dem sogenannten „homo oeconomicus“. Das ist eine Gestalt aus der Retorte, ähnlich wie der Homunculus in Goethes Faust II. Der homo oeconomicus verhält sich rein rational, d.h. er optimiert auf der Grundlage der ihm vollständig verfügbaren Information und seiner unbegrenzten Rechenkapazitäten pausenlos vor sich hin. Dabei denkt er an Preise und Mengen. Gefühle sind dabei offenbar nicht erforderlich. Nicht einmal Angst vor Verlusten und Freude an Gewinnen? Er weiß alles. Nur in einem solchen Zustand passt er in die Theorie. Nur mit solchen Kreaturen ist das allgemeine Gleichgewicht möglich. In neueren Theorieansätzen finden sich Einschränkungen. Man spricht dann von der „eingeschränkten Rationalität“ (bounded rationality) der Wirtschaftssubjekte. Die theoretischen Grundlagen dazu hat Herber A. Simon geschaffen (Simon 1916 – 2001; Nobelpreis 1978). Neuerdings werden endlich auch psychologische Tests und Experimente gemacht. Die Ergebnisse werden zunehmend in die ökonomische Analyse einbezogen. Im Laufe der Jahrzehnte seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der neoklassisch Ansatz mit immer differenzierteren mathematischen Methoden dargestellt und weiter entwickelt. Die Marginalanalyse, z.B. von Nutzenzuwächsen, lädt zum Gebrauch der Differenzialrechnung ein. Mit ihrer Hilfe können Optimierungsprobleme gelöst werden. Damit aber erhält die Darstellung eine deterministische Komponente. Die neoklassische Wirtschaftstheorie sollte eine „exakte Wissenschaft“ werden, wie es die Astronomie oder die Physik des 19. Jahrhunderts war. Das führte in weiten Bereichen dieses Theorieansatzes zu unrealistischen Ergebnissen, wie das Beispiel des homo oeconomicus zeigt. Heute wird versucht dem, was unter Realität verstanden werden kann, mit stärker empirisch orientierten Methoden näher zu kommen. Dabei kommt es dann auch zum Einsatz anderer mathematischer Verfahren. Eine zwar abnehmende aber noch immer existierende Wirklichkeitsferne kann man der Neoklassik sicher nicht absprechen. Erst spät, d.h. nach dem zweiten Weltkrieg, wurde eine neoklassische Wachstumstheorie erarbeitet, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein verbessert wurde. Nebenbei erwähnt: Marx hatte schon fast ein Jahrhundert vorher mit seinem Konzept der Akkumulation des Kapitals eine einfache Wachstumstheorie dargestellt. Die neoklassisch orientierte Wirtschaftspolitiker räumt der Höhe und den Veränderungen von Preisen für wirtschaftliche Entscheidungen einen hohen – und wie hier angenommen – wird allzu hohen Stellenwert ein. Das gilt besonders für die Beziehung zwischen Lohnhöhe und die Beschäftigung. Die 36 Lohnkosten je Produkteinheit seien zu hoch. Das gefährde die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Es sei daran erinnert, dass Deutschland 2003 Exportweltmeister bei Waren des verarbeitenden Gewerbes (ohne Dienstleistungen) war. „Wir“ waren auch 2004 und 2005 international wieder sehr gut aufgestellt. Für die Theorie der relativen Preise, d.h. des Verhältnisses von Preisen zueinander, gilt ähnliches. Der Preis für Arbeit sei im Verhältnis zum Preis des Kapitals zu hoch. Deshalb werde Arbeit durch Maschinen ersetzt. Die generelle Überschätzung der Preiswirkungen hat möglicherweise in erheblichem Umfange zu einer Wirtschaftspolitik beigetragen, mit der die Stagnationstendenz in Deutschland bisher nicht überwunden werden konnte. Das gilt wohl auch für die Wirkung von wirtschaftlichen Anreizen auf das Verhalten wirtschaftlichen Akteure7. Die Arbeitslosenunterstützung sei zu hoch und liege zu nahe an den Niedriglöhnen. Deshalb gebe es keinen Anreiz, bei niedrigen Löhnen Arbeit aufzunehmen. Ein Arbeit Suchender wird sich sehr genau überlegen, einen Job nur deshalb abzulehnen, weil das Anfangsgehalt zwar niedrig die Arbeit aber für ihn interessant und die Aufstiegsmöglichkeiten gut sind. Der Preis, hier in diesem Beispiel der Lohn, ist ein wesentliches Argument bei Entscheidungen aber sicher nicht das einzige. Eine andere offene Flanke der neoklassischen Theorie war anfangs das völlige Fehlen des technischen Wandels. Joseph A. Schumpeter (1883 – 1950) hat diese diesen weißen Fleck auf der Landkarte der Wirtschaftstheorien besetzt. Er hat den Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ eingeführt, der als Prozess zu begreifen ist. Dynamische Unternehmer lassen aus den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung neue Produkte sowie neue Produktionsverfahren entwickeln und sie erschließen für diese Produkte neue Märkte. Ältere Produkte werden aus den Märkten verdrängt. Auf diese Weise verschaffen sich die dynamischen Unternehmer, die sich in der Marktform der vollständigen Konkurrenz bewegen, einen vorübergehenden Extraprofit. Der Extraprofit wird länger zur Verfügung stehen, wenn ein Patentwesen besteht und die dynamischen Unternehmer in die Marktform des Oligopols übergewechselt sind. 7 Noch ein Ökonomenwitz: ein Wirtschaftsprofessor und ein Student gehen durch die Stadt. Der Student sieht einen 20 € Schein auf der Straße liegen und sagt es dem Professor. „Das kann nicht sein,“ antwortet der Professor. „Hätte wirklich ein Geldschein auf der Straße gelegen, dann wäre er sofort aufgehoben worden!“ (Merke: wirtschaftliche Anreize wirken sofort!) 37 Innovationen treten Schumpeter folgend gebündelt auf. Sie nehmen meist die Form eines Clusters an, das sich um eine Basisinnovation schart. Die Computertechnologie und die auf dieser Basistechnologie entwickelten Informations- und Kommunikationstechnologien, Hardware, Software, Bürosysteme, Industrieelektronik usw. ist ein dafür zutreffendes Beispiel. Siehe hierzu Abbildung Ca: Innovationscluster. Abbildung Ba: Innovationscluster Kommunikationstechnik Industrieelektronik Bürosysteme Computer-Technologie Unterhaltungselektronik Militärtechnologie Software- Hardware Die Basistechnologie dieses Cluster ist die Computertechnologie. Sie steht im Zentrum der Abbildung. Aus der Basistechnologie sind die Technologien hervorgegangen, die mit der Basistechnologie in einem mehr oder weniger komplexen Zusammenhang stehen. Sie überschneiden sich teilweise.. Tiefergehende Untergliederungen sind denkbar. – Siehe hierzu auch Abbildung Ce: Lange Wellen der Konjunktur). Viele der modernen Innovationen wurden im Rüstungsbereich entwickelt. Das gilt nicht nur für Atomkraft, Lasertechnologien usw. sondern sogar für das Internet. Nach einer verhältnismäßig langen Lernphase haben die Informations- und Kommunikationstechnologien besonders in den USA ab 1996 zu einer Verdreifachung des Produktivitätswachstums auf rd. 4,5% geführt. In der Wirtschaftswissenschaft kommt es oft darauf an, an der richtigen Stelle Begriffe einzuführen, die für den weiteren Gang der Untersuchung von Bedeutung sein können. Dazu ein Beispiel. Abelshauser unterscheidet zwischen „diversifizierter Qualitätsproduktion“ und „standardisierter Massenproduktion“ (Abelshauser 2003). Bei der diversifizierten Qualitätsproduktion handelt es sich um Einzelfertigungen auf hohem 38 technologischen Niveau, z.B. im Maschinenbau. Die Maschinen sind mit Dienstleistungspaketen verbunden, wie Anlernen, Reparatur, Instandhaltung etc. Diversifizierte Qualitätsproduktion findet mit hochqualifizierten Arbeitskräften statt. Diversifizierte Qualitätsproduktion ist das Rückgrat der deutschen Exporterfolge. Standardisierte Massenproduktion dagegen ist Fließbandproduktion. Sie kann überwiegend mit angelernten Arbeitskräften betrieben werden. Sie findet vor allem bei der Produktion von langlebigen Konsumgütern von Haushaltsgeräten bis hin zu Kraftfahrzeugen Anwendung. Standardisierte Massenproduktion geht auf die Autoproduktion von Ford zurück und hat das Produktionsregime des Fordismus hervorgebracht. Im Fordismus sind große Produktivitätsfortschritte möglich, die als Lohnzuwächse verteilt werden, aus denen der Kauf von Autos durch Automobilarbeiter möglich wird. Asiatische Länder wie China oder Korea sind mit der standardisierten Massenproduktion erfolgreich. Sie erwirtschaften sich Vorteile in der internationalen Konkurrenz, indem sie die Produktivitätsfortschritte nicht in Lohnzuwächse verwandeln. Von der diversifizierten Qualitätsproduktion ist China noch weit entfernt. In Korea dagegen scheint dagegen der Einstieg in die diversifizierte Qualitätsproduktion gelungen zu sein. Deutschland kann seine Stellung in der internationalen Konkurrenz nur durch den Ausbau der diversifizierten Qualitätsproduktion behaupten. In diesem Produktionsregime werden hohe Löhne gezahlt. Sie sind Voraussetzung für den Erwerb hoher Ausbildungsstandards. Mit Lohnstagnation oder Lohnsenkung wird in diesem Produktionsregime die Quelle des technischen Wandels – der hohe Ausbildungsstandard und die Motivation zur Innovation – tendenziell zum Versiegen gebracht. Sinkende Löhne im Regime der standardisierten Massenproduktion dagegen sind nicht in allen Fällen ungeeignet, die Konkurrenzfähigkeit vorübergehend zu verbessern. Das Beschäftigungsproblem der standardisierten Massenproduktion aber ist wohl weniger die Lohnhöhe als vielmehr die Ersetzung der repetitiven Teilarbeiten durch Roboter, die im Gegensatz zur lebendigen Arbeit fehlerfrei funktionieren und produktiver sind. Schumpeter hat ähnlich wie Marx die Innovationskraft der kapitalistischen Marktwirtschaften bewundert. Ähnlich wie Marx aber hat er auch nicht an die dauerhafte Lebensfähigkeit des Kapitalismus geglaubt. In einem grundlegenden Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ aus dem Jahr 1942 fragt er: „Kann der Kapitalismus weiterleben?“ Seine Antwort: „Nein meines Erachtens nicht“ (Schumpeter 1950:105). Bei Marx wird der Kapitalismus durch eine Revolution des Proletariats überwunden. Bei 39 Schumpeter geht er, hier verkürzt formuliert, an sich selbst zugrunde. Schumpeter hat an das Überleben des Sozialismus geglaubt. Nun ist der Sozialismus an sich selbst zugrunde gegangen und der Kapitalismus überlebt (bis auf weiteres). Prognosen sind schon schwierig, wenn es sich um Zeitreihen handelt. Voraussagen über die Überlebensfähigkeit von Wirtschaftssystemen sind was sie sind: Weissagungen. Da fällt das Irren dann um so leichter. Schumpeter hat mit großer Intensität immer wieder auf die Bedeutung des Unterschiedes zwischen vollständiger und unvollständiger Konkurrenz hingewiesen (stellvertretend Schumpeter 1950:143). Wichtige theoretische Grundlagen der Wirtschaftspolitik bis hinein in die Beschäftigungspolitik sind auch heute noch geprägt von der Annahme der vollständigen Konkurrenz. Lässt man diese Annahme fallen, dann erscheinen viele der heutigen wirtschaftspolitischen Aussagen in einem ganz anderen Licht. Davon wird später in diesem Papier die Rede sein. In dem oben aufgeführten Buch spricht Schumpeter von „monopolistischen Praktiken“. Seine Gedankengänge können auf oligopolistische Konkurrenz übertragen werden. Transnationale Oligopole sind heute Innovationsmaschine Baumol (Baumol 2002).Sie sind zum dynamischen Kern der kapitalistischen Marktwirschaft herangereift und bestimmen die wesentlichen ökonomischen Lebenszusammenhänge der kapitalistischen Marktwirtschaft. In den Grundmustern der neoklassischen Wirtschaftstheorie spielt das allgemeine Gleichgewicht eine zentrale Rolle. Abweichungen vom allgemeinen Gleichgewicht werden automatisch durch die Selbstheilungskräfte der Märkte beseitigt. In einer solchen heilen Welt kommen große Krisen nicht vor. Deshalb war die Überraschung der Ökonomen groß, als sich 1929 der Börsenkrach ereignet und ihm die bisher schwerste Krise der kapitalistischen Marktwirtschaften folgte. Die Selbststeuerung der Märkte hätte zu einer Überwindung der Krise führen müssen. Die Krise wurde von vielen amerikanischen Unternehmern, hohen Regierungsbeamten und Wirtschaftswissenschaftlern als Reinigungskrise verstanden. Doch offenbar waren nach ihrer Einschätzung die Selbstheilungskräfte der Märkte blockiert. Die Schuldigen wurden gesucht und schnell identifiziert. Gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der Ratschlag des damaligen Finanzministers Andrew Mellon an den Präsidenten Hoover aus dem Jahr 1930: „Liquidieren Sie die Arbeiterorganisationen, liquidieren Sie die Börse, liquidieren Sie die Organisationen der Farmer, liquidieren Sie den Grundstücksmarkt 40 säubern Sie das System von seiner Verrottung...“. Dann wird „das Volk härter arbeiten, (und) ein moralischeres Leben führen“ (Eichengreen, Temin 1997:21. Übersetzung G.L.). Wer bei der heutigen wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland genau hinhört, nimmt unterschwellig ähnliche Begründungsmuster wahr. Bei einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von nahezu 35% in den USA und entsprechender Massenarbeitslosigkeit wurde das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes tief erschüttert. Nach der Wahl von F.D. Roosevelt 1931 wurde der Dollar abgewertet und es wurden umfangreiche geld- und fiskalpolitische Eingriffe (New Deal) in den Marktmechanismus vorgenommen, um die Krise zu überwinden. Die Theorie für eine solche Politik wurde von John Maynard Keynes (1883 – 1946) in seinem Werk „die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ 1936 nachgereicht. Bei Keynes spielt die effektive Nachfrage eine herausgehobene Rolle. Unter effektiver Nachfrage ist die zahlungkräftige Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu verstehen. Eine Zunahme der effektiven Nachfrage ist erforderlich, um das System aus seiner Krise herauszuführen. Auch hier wiederum wird man an die gegenwärtige Diskussion zwischen den deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn, der die neoklassisch orientierte Position vertritt, und dem Keynesianer Peter Bofinger geführt wird. Sinn vertritt die Auffassung, dass über Kostensenkungen, insbesondere auch Lohnsenkungen, die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen erhöht werden soll. Die verbesserte Konkurrenzfähigkeit wird als entscheidende Voraussetzung für die Überwindung der Krisentendenzen in Deutschland gesehen. Die effektive Nachfrage spielt in seinen Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle (Sinn 2003). Bofinger besteht dagegen auf einer Erhöhung der effektiven Nachfrage, um die Stagnationstendenzen in Deutschland zu überwinden (Bofinger 2005). Doch offenbar reichten selbst massive wirtschaftspolitische Programme nicht aus, um die USA wieder in eine dauerhafte Prosperitätsphase zurück zu führen. Wirtschaftshistoriker sind deshalb der Ansicht, dass die Weltwirtschaftskrise in den USA erst mit den Rüstungsprogrammen zur Vorbereitung des zweiten Weltkrieges überwunden werden konnten. – In Deutschland setzte die Aufrüstung ab 1935 massiv ein, als sich die deutsche Wirtschaft bereits im Aufschwung befand. Der Aufschwung wurde demnach nicht von der Rüstungspolitik eingeleitet sondern nur verstärkt. Die nationalsozialistische Kriegspolitik wäre damit vom wirtschaftlichen Standpunkt her gesehen unnötig gewesen. Das stimmt nur für die Mitte der dreißiger Jahre. Auf Grund der intensiven Kriegsvorbereitungen kam es in 41 Nazideutschland im Unterschied zu den USA 1938 nicht zu einem konjunkturellen Rückschlag. Rüstungsprogramme sind leider bis in die heutige Zeit ein erfolgversprechendes wirtschaftspolitisches Programm. Das wussten damals auch maßgebliche Kreise der deutschen Wirtschaft, als sie Hitler in der Weltwirtschaftskrise gefördert haben. Selbst in der heutigen Zeit hat der Irakkrieg zur konjunkturellen Stabilisierung in den USA einen wesentlichen Beitrag geleistet. Keynes hat vor allem in drei Bereichen der Wirtschaftswissenschaft innovativ gewirkt: (1) Stabilität des Marktsystems insbesondere im Hinblick auf Vollbeschäftigung; (2) die Rolle des Geldes in einem solchen System; (3) die langfristige Dynamik von Marktwirtschaften. Besonderes Gewicht hat in diesen drei Bereichen die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft. Keynes hat weiterhin die konzeptuellen Grundlagen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gelegt. Die Theorie von Keynes gibt der Analyse des gesamtwirtschaftlichen Verhaltens den Vorrang. Dazu ist die Zusammenfassung von einzelwirtschaftlichen zu makroökonomischen Variablen notwendig wie das gesamtwirtschaftliche Konsumverhalten, das gesamtwirtschaftliche Sparverhalten oder das gesamtwirtschaftliche Investitionsverhalten usw. Die Zusammenhänge zwischen den Variablen können dann in der Form von Stromdiagrammen dargestellt werden (Siehe Abbildung Bb). ____________________________________________________________ Abbildung Bb: Einkommenskreislauf mit Vermögensänderung, Ausland und Staat Verbrauch Käufe Güter u. Dienstleistg.. Löhne und Gehälter Staat Steuern minus Subventionen Steuer minus Transfers Investition Unternehmen Ersparnis Vermögensänderungskonto unverteilte Gewinne Importe Auslandsforderungen Haushalte Auslandsverpflichtungen Ausland Exporte Löhne und Gehälter 42 Abbildung Cb enthält den Kernprozess der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Unternehmen schaffen Arbeitsplätze und zahlen Löhne und Gehälter an die Haushalte. Ihr Motiv ist Gewinnerzielung. Von den Löhnen bzw. Gehältern kaufen die Haushalte Konsumgüter bei den Unternehmen und sie sparen. Ihre Ersparnisse fließen auf ein fiktives Vermögensänderungskonto. Die einbehaltenen Gewinne werden ebenfalls auf das fiktive Vermögensänderungskonto verbucht. Das wäre das einfachste Kreislaufdiagramm, das man sich vorstellen kann. Es wird in Abbildung Cb um die Positionen Staat und Ausland erweitert. Dann erhöht sich die Zahl der Verbindungen schon erheblich. Die Steuerung mit wirtschaftspolitischen Instrumenten wird entsprechend schwieriger. (Siehe Anhang: Grundgleichungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung). Die Theorie von Keynes hat drei Mängel. Sie berücksichtigt die Kapazitätseffekte von Investitionen nicht, d.h. sie bezieht nicht ein, dass sich der Kapitalstock durch die jährlich durchgeführten Investitionen vergrößert. Dann nämlich kann mehr produziert werden. Auch der technische Wandel wurde von Keynes in seine Untersuchung nur am Rande erwähnt. Drittens spielt die Außenwirtschaft in der „Allgemeinen Theorie“ eine untergeordnete Rolle, nicht aber in Keynes’ wirtschaftspolitischer Beratungstätigkeit. Damit hat er selbst seine „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ stark eingeengt und seinen Kritikern ein Einfallstor geöffnet. Das Werk von Keynes erwies sich als weniger „allgemein“ als er vorgegeben hatte. Schließlich wurde sein Beitrag zur Grundlage einer antizyklischen Konjunkturpolitik umfunktioniert. Er selbst hatte noch behauptet, dass die neoklassische Wirtschaftstheorie ein Spezialfall seiner allgemeinen Theorie sei. Seine neoklassischen Gegner dagegen behaupteten, dass umgekehrt ihre Theorie die allgemeine, die von Keynes dagegen nur ein Spezialfall der ihren sei. Keynes legt in seiner Theorie ein besonderes Gewicht auf die effektive Nachfrage, d.h. die zahlungskräftige Nachfrage, im wesentlichen der privaten Haushalte. Für Keynes hatte das sogenannte Saysche Gesetz keine Gültigkeit. Dieses „Gesetz“ geht auf den französischen Ökonomen und Staatsmann Jean-Baptiste Say (1756 – 1832) zurück und wurde auf die Kurzformel gebracht: „jedes Angebot schafft seine Nachfrage“. Stockungen beim Absatz, „verstopfte Absatzwege“ können das Gesetz zeitweise außer Kraft setzen (Sowell 1972). Nach Keynes dagegen kann ein Ausfall der effektiven 43 Nachfrage langdauernd sein und zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Deshalb hat der Staat mit einer entsprechenden Wirtschaftspolitik zu reagieren. Seit nahezu vier Jahren leidet Deutschland unter einer „hartnäckigen Kaufzurückhaltung“ der privaten Haushalte. Sie dürfte der Hauptgrund für die gegenwärtigen Stagnationstendenz sein. Mit einer Verbesserung der Funktionsbedingungen marktwirtschaftlicher Prozesse allein mittels Deregulierung, so wie sie von der gegenwärtigen Regierung vorgeschlagen wird (Agenda 2010, Hartz I - IV) dürfte diesem Problem nicht beizukommen sein. Eine Rückbesinnung auf Keynes könnte sich auch in Deutschland als hilfreich erweisen. An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, wie wichtig die Anwendung der richtigen, d.h. zur Problemlösung richtigen Theorie ist. Die deutsche Wirtschaftspolitik krankt daran, dass sie mehr auf einen Regimewechsel als auf eine Problemlösung aus ist. Die mehr oder weniger marktradikalen wirtschaftspolitischen Ratschläge, die der Regierung in den letzten Jahren wie Rezepte für bittere Medizin ausgeschrieben wurden, transportieren eine gesellschaftspolitische Botschaft, die in der deutschen Bevölkerung offenbar nicht mehrheitsfähig ist: mehr Markt und weniger Staat. Keynes war eine geniale und vielschillernde Persönlichkeit. Er hat nicht nur die Wirtschaftswissenschaft innovativ weitergebracht sondern auch in der praktischen Wirtschaftspolitik richtungweisende Beiträge formuliert. Er war Delegationsleiter des britischen Finanzministeriums bei den Versailler Friedensverhandlungen. Er ist von diesem Amt zurückgetreten, weil er die Reparationsleistungen, die Deutschland 1919 im Versailler Vertrag auferlegt wurden, für viel zu hoch und wirtschaftlich für nicht vertretbar hielt. Er hat recht behalten! Keynes hat weiterhin die Konferenz von Bretton Woods (1944) stark beeinflusst, auf der die Regeln des Weltwährungssystems der Nachkriegszeit festgelegt wurden. Keynes war sicher der Ökonom, der die wirtschaftliche Entwicklung seiner Zeit wie bisher kaum ein anderer Wirtschaftswissenschaftler geprägt hat. Die Blütezeit des Keynesianismus war das „goldene Zeitalter“ in der Nachkriegszeit (Marglin, Schor 1990). Nie zuvor oder bis heute hatte die kapitalistische Marktwirtschaft eine solche Phase der Prosperität gekannt. Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts konnte das „magische Viereck“ der Wirtschaftspolitik – angemessenes Wachstum, Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, Außenhandelsgleichgewicht – nahezu gleichzeitig und mit geringfügigen Abweichungen verwirklicht werden. Gelegentliches Verfehlen von Zielen konnte von der Wirtschaftspolitik in der Regel korrigiert werden. Die finanziellen Folgen des Vietnamkrieges, die zur 44 Aufhebung der Goldeinlösungspflicht für Dollarauslandsguthaben führte, haben zur Entfesselung einer Inflation beigetragen, die die keynesianische Ära beendet hat. Der Monetarismus von Milton Friedman (1912 – Nobelpreis 1976) schloss sich an (siehe Kasten C8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik). Die Inflation konnte im Lauf der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit großen Einbußen an Wachstum und Beschäftigung niedergekämpft werden. Anfang der achtziger Jahre war die neoklassische Wirtschaftstheorie wieder zur herrschenden Lehre und der Lehre der Herrschenden aufgerückt. Sie schien der Entwicklungslogik kapitalistischer Marktwirtschaften besser angepasst zu sein als die keynesianische Botschaft. Den Märkten wurde durch Deregulierung und Privatisierung mehr Wirtschaftsfreiheit eingeräumt. Insbesondere wurden die Finanzmärkte (Kapital- und Devisenmärkte) weitgehend liberalisiert und internationalisiert. Die kapitalistischen Marktwirtschaften stehen heute ungefähr wieder da, wo sie vor 1913 zur Blütezeit der Goldwährung standen. Damals war die Globalisierung bereits ähnlich weit fortgeschritten wie heute. Das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm 1995) – das zwanzigste Jahrhundert mit seinen verheerenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Katastrophen – kann nicht unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Epoche gesehen werden. In den achtziger und den neunziger Jahren spielte die Keynessche Botschaft nur noch eine untergeordnete Rolle. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler waren zur neoklassischen Wirtschaftstheorie übergelaufen. Der Keynesianismus spaltete sich in Schulen und Sekten auf. Der amerikanische Neukeynesianismus scheint zur Zeit die einzige Richtung zu sein, die sich etablieren konnte und heute vor allem in den USA wieder eine relevante Rolle für die Formulierung wirtschaftspolitischer Strategien spielt. Auch in Deutschland zeichnet sich eine vorsichtige Rückbesinnung auf das Werk von Keynes und Ansätze ab, die sich auf ihn beziehen. Der aus den USA importierte stärker empirisch orientierte neukeynesianische Ansatz scheint auch in Deutschland auf dem Vormarsch zu sein. Ausgelöst wurde diese Rückbesinnung auf keynesianischen Ansatz im weitesten Sinn durch die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Marktwirtschaften. Der Auftakt war ein Börsenkrach im Jahr 1987, der in keine weitergehende Krise einmündete. Es folgte die Asienkrise 1997, ein Zusammenbruch asiatischer Devisenmärkte, der sich bis nach Russland und Lateinamerika ausbreitete. In den meisten betroffenen Ländern kam es zu Einbrüchen des Wirtschaftswachstum und erheblichem Anstieg der 45 Arbeitslosigkeit. Im März 2000 platzte die spekulative Blase an den Börsen und es wurde mehr an Börsenkapitalisierung vernichtete als im Börsenkrach von 1929. Die „roaring nineties“ der Prosperität in den neunziger Jahren in den USA waren zunächst einmal zu Ende (Stiglitz 2004). Seit einigen Jahrzehnten spielt auch die Evolutionsökonomik eine nicht unwichtige Rolle. Die Beziehung zwischen Biologie und Ökonomie ist nicht neu. Charles Darwin (1809 – 1882) hat sich offenbar in einigen Aspekten seiner Selektionstheorie von der Bevölkerungstheorie des Ökonomen Malthus inspirieren lassen. In seiner „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ (1859) wird der „Kampf ums Dasein“ auf die „geometrisch fortschreitende Vermehrung“, wie Malthus annahm, zurückgeführt (Darwin 2004:27). Früh beeinflusste die politische Ökonomie die Entstehung der Evolutionstheorie. Heute verläuft der Transfer in umgekehrter Richtung. Auch Marx und Engels haben für Darwins Lehren bereits früh Interesse gezeigt. 1860 schrieb Marx an Engels: „Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturgeschichtliche Grundlage für unsere Ansicht enthält.“(MEW 30, 131). Die frühe akademische neoklassisch orientierte Wirtschaftswissenschaft macht da keine Ausnahme. Die politische Ökonomie, die ihre ideologischen Scheuklappen noch immer nicht abgelegt hat, ist von der inzwischen zur ausgebildeten Wissenschaft gereiften Evolutionsbiologie fasziniert, die noch immer und in den USA verstärkt von religiös fundamentalistischen Bestrebungen bekämpft wird. – Nicht unbedenklich ist die Hinwendung einiger Ökonomen auf stark vereinfachte Zusammenhänge zwischen genetischer Ausstattung und sozialer Position oder Sozialverhalten. Da gibt es böse rassistische Vorläufer, nicht zuletzt im dritten Reich. Es könnte sich wieder einmal herausstellen, dass die Anleihen der Wirtschaftswissenschaft bei der Evolutionsbiologie zu Strategien der Diskriminierung und Ausgrenzung missbraucht werden. In den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts traten drängende Umweltprobleme in den Vordergrund. Sie gaben Anlass für die Formulierung umweltökonomischer Ansätze und Theorien. Der vielschillernde Begriff der Nachhaltigkeit steht im Mittelpunkt. Er wurde von der akademischen Wirtschaftswissenschaft erst später aufgenommen. Nachhaltigkeit kann über vier Kriterien beschrieben werden: ökologische, soziale, ökonomische und institutionelle (Spangenberg 2003). 46 In den achtziger und neunziger Jahre schoben sich dann marktwirtschaftliche Konzepte weiter in den Vordergrund. Privatisierungen von staatseigenen Unternehmen wurden vorgenommen, oft mit zweifelhaftem Erfolg (ein negatives Beispiel: Britische Eisenbahn). Die Deregulierung von Märkten wurde intensiviert. Auch sie verlief nicht unproblematisch, wie das Beispiel der Finanzmärkte zeigt. Die vorhandenen Institutionen waren diesen Aufgaben oft nicht gewachsen und die Wirtschaftswissenschaft hattewieder einmal nichts recht Brauchbares in ihrer Schublade. Die Disziplin der Institutionenökonomik, die zuvor eher ein Schattendasein geführt hatte, erlebte eine neue Blütezeit. Wie funktionieren Institutionen? Wie steht es mit dem Design neuer Institutionen? Wie lernen Institutionen? Das sind Fragestellungen, mit denen sich die Institutionenökonomik auseinandersetzt. Das Rezept der achtziger und neunziger Jahre lautete aus neoklassischer Sicht: weniger Staat, mehr Markt, besonders die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte! Das war wohl ein wenig simpel gestrickt und hat zu schweren Misserfolgen, vor allem in Afrika und in postsozialistischen Ländern beigetragen. Es besteht einmal mehr Nachholbedarf, dem sich die Wirtschaftswissenschaft auf ihre Weise gestellt hat. Doch zeigt auch dieses Beispiel, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft reagiert, verspätet und mit welchem Erfolg auch immer (Fukuyama 2004). Doch zurück zu der Beziehung zwischen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftswissenschaft. Schon 1989 platzte die spekulative Blase auf dem japanischen Aktienmarkt. Es folgte ein Preisverfall von Grundstücken in Großstädten. Um die Mitte der neunziger Jahre tauchte in Japan ein altes Gespenst wieder auf, die Deflation. Sie ist das Gegenteil von Inflation. Bei Deflation sinkt und bei Inflation steigt das allgemeine Preisniveau. Deflation wurde zum letzten Mal in der schweren Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre gesichtet. Ab 1996 herrscht in Japan eine leichte Deflation, die –2% nicht unterschreitet. Das Wirtschaftswachstum verringerte sich deutlich, und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Die japanische Geld- und Fiskalpolitik hat versucht, massiv gegenzusteuern. Die Defizitquote stieg auf 8% und der Interventionszinssatz wurde von der japanischen Zentralbank auf nahezu 0% reduziert und bis heute nicht erhöht. Der Erfolg dieser Politik ist zweifelhaft. Die leichte Deflation hat sich kaum verändert. Die Phase der Preisstabilität oder sogar der milden Deflation ist in der Regel von einer mehr oder weniger hartnäckigen Stagnation begleitet. Eine deflationäre Stagnation ist ebenfalls ein Problembereich, der von Keynes in seiner „Allgemeinen Theorie“ behandelt wurde, allerdings im Zusammenhang mit Fragen der damaligen Zeit, die sich von den heutigen 47 erheblich unterscheiden. Die Deflation in Japan hat dennoch der Keynesschen Theorie zu einer Wiederbelebung verholfen. Geldpolitik war vom Monetarismus und der neoklassisch orientierten Wirtschaftspolitik zum einzig effizienten Instrument der Inflationsbekämpfung gekürt worden. Fiskalpolitik war verpönt und galt als weitgehend wirkungslos. Deflation ist angesichts der japanischen Erfahrungen offenbar schwerer zu bekämpfen als Inflation. Sie ist nur schwer zu erkennen und nur frühzeitig mit einer energischen und koordinierten Geld- und Fiskalpolitik zu bekämpfen. Die amerikanische Wirtschaftspolitik hat diese Lehren aus dem japanischen Desaster beherzigt. Der Interventionszinssatz wurde für längere Zeit auf 1% abgesenkt und ab Mitte 2004 in Trippelschritten von 25 Basispunkten erhöht. Die Defizitquote fiel unter Bush II. von einem Überschuss von 2% schnell auf –5%. Die USA haben das japanische Desaster offenbar vermeiden können. Das Risiko einer Deflation oder einer Stagnation ist in den USA gegenwärtig (Winter 2005) nur noch sehr gering. Erneut stellt sich auch heute wieder die Frage nach dem militärischen Keynesianismus. Im Rahmen dieses Konzepts fließen die zusätzlichen Staatsausgaben, die den konjunkturellen Aufschwung oder auch die Rückkehr zur langfristigen Prosperität bewirken sollen, in den Rüstungssektor. Das steht durchaus nicht im Gegensatz zur ökonomischen Rationalität kapitalistischer Marktwirtschaften. Keynes hat das Problem sarkastisch formuliert. Die zusätzlichen Staatsausgaben sollten zum Bau von Pyramiden verwendet werden, oder es sollten Löcher gegraben werden, in die Geld hinterlegt würde, das die Arbeiter dann wieder ausgraben. Merke: es kommt auch auf die Erhaltung der Arbeitsdisziplin an, welcher Unsinn auch immer produziert wird. Akademischer Zynismus! Nicht nur. Hinter diesen Formulierungen verbirgt sich ein Verdrängungsproblem. Baut der Staat Wohnungen, um die Konjunktur anzuheizen, dann verdrängt er zumindest teilweise den privaten durch den staatlichen Wohnungsbau. Das staatliche Konjunkturprogramm verpufft, wenn nicht mehr gebaut wird als vorher. Zusätzliche Investitionen, die von der Bauindustrie ausgehen, sind dann ebenfalls nicht zu erwarten. Die zusätzlichen Käufe von militärischen Ausrüstungen dagegen lösen keine Verdrängungseffekte aus. Es kommt zu zusätzlichen Einkommen und es werden zusätzliche Investitionen getätigt. Der Multiplikator dürfte relativ hoch sein. Es soll hier nicht behauptet werden, dass die USA den Irakkrieg insgeheim als Konjunkturprogramm ausgelöst haben, um ihr Problem einer drohenden deflatorischen Stagnation aus der Welt zu schaffen. 48 Nichtsdestoweniger hat sich der Irakkrieg im keynesianischen Verständnis auf die wirtschaftspolitische Lage der USA positiv ausgewirkt. Es ist für eine demokratisch gewählte Regierung schwierig, in Friedenszeiten mit umfangreichen wirtschaftspolitischen Programmen zu überzeugen, die finanzpolitisch unsolide aussehen. Ein militärisches Bedrohungsszenario kann bei der Beschaffung von Legitimität sehr hilfreich sein. Dann nämlich kommen die Mehrheiten in Parlament und Bevölkerung fast immer zustande. Die drohende leichte Deflation mit Stagnationstendenzen ist schwer zu identifizieren und kann nur frühzeitig mit massiven wirtschaftspolitischen Programmen erfolgversprechend bekämpft werden. Die Zentralbank hatte in den USA den Interventionszins in Trippelschritten auf 1% abgesenkt. Das hat es seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr gegeben. Die militärkeynesianische Fiskalpolitik des Präsidenten Busch passte nahtlos in das antideflationäre Programm. Das gilt nicht unbedingt für Bushs beträchtliche Steuerermäßigungen für die oberen Einkommensschichten. Die USA haben im ganzen gesehen und im Vergleich zu Japan dennoch die bessere Wirtschaftspolitik gemacht. Die USA sind offenbar in eine Prosperitätsphase eingeschwenkt. Japan verharrt trotz wirtschaftspolitischer Programme vergleichbaren Umfangs, die zeitlich allerdings weiter gestreckt waren, seit über zehn Jahren in einer deflationären Stagnation, deren Ende möglicherweise 2006 erreicht sein könnte. Deutschland befindet sich in einer ähnlichen wirtschaftspolitischen Situation, hat aber nicht die Instrumente und die finanziellen Mittel, über die Japan verfügt hat, ohne nennenswerte Erfolge erzielen zu können. Historische Parallelen im Bereich des Militärkeynesianismus drängen sich geradezu auf. Ihnen soll hier nicht nachgegangen werden. Das würde eine genaue wirtschaftshistorische Untersuchung verlangen, die hier nicht geleistet werden kann. Auch für die Wirtschaftsgeschichte gilt, dass Parallelen, die besonders naheliegend zu sein scheinen, nicht allein deshalb schon zu einem korrekten Ergebnis führen. Wichtiger ist hier die Frage nach einer Alternative zur militärkeynesianischen Wirtschaftspolitik. Die Antwort ist klar und eindeutig. Ökologische Programme, u.a. gegen den Treibhauseffekt. Sie wurden von den USA mit der Weigerung, das Protokoll von Kyoto zu unterzeichnen, ausgeschlossen. Von zentraler Bedeutung ist besonders im Zusammenhang mit der instabilen Lage im vorderen Orient die Entwicklung alternativer Energiequellen. Wichtig wären Programme zur Energieeinsparung, die der Bauindustrie neue Impulse geben. Die Erhöhung der Energieeffizienz ist in vielen kapitalistischen Marktwirtschaften ein plausibles Ziel. Ein grober Indikator für Energieeffizienz ist das Verhältnis von Energieverbrauch zu Bruttoinlandsprodukt. Japan nimmt in dieser 49 Hinsicht eine Spitzenposition ein. Ökologische Programme können ohne Schwierigkeiten so konzipiert werden, dass keine nennenswerten Verdrängungseffekte auftreten. Nur ist die Beschaffung von Legitimation für umfangreiche ökologische Programme noch immer viel schwerer als für hohe Militärausgaben. Die Fiskalpolitik wurde auch in der Wirtschaftstheorie teilweise rehabilitiert. Neu-Keynesianer sind in den USA ins Rampenlicht getreten. Sie versuchen die keynesianische Theorie den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Die postkeynesianische Schule in Deutschland ist dagegen zersplittert und angesichts der neuen Lage, die den Weg zurück zu Keynes und den Weiterentwicklungen seiner Theorie weist, fast nicht präsent. Auch die Bedrohung durch eine Deflation, ebenso die Schwierigkeiten mit der gegenwärtigen Stagnation in Deutschland werden weitgehend ignoriert. Sie dürften heute an Aktualität eingebüßt haben. Die Rückbesinnung auf Keynes, d.h. die Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer Weiterentwicklung und Anpassung der Keynesschen Lehre an die deutschen Besonderheiten beruht, steckt noch in den Anfängen. Im Gegensatz zu den USA verharrt die überwiegende Mehrheit der maßgeblichen deutschen Ökonomen in noch immer in verengten neoklassischen Denkmustern. Neuerdings (Sommer 2005) wird von maßgeblichen Kreisen der Geldpolitik schon wieder mit der Inflationsgefahr gedroht. Zinserhöhungen zum Zweck der Inflationsbekämpfung haben begonnen. Der ohnehin schwache Konjunkturaufschwung, der schon durch Erdölpreiserhöhungen angeschlagen ist, würde mit Zinserhöhungen weiter gedämpft. Das Wirtschaftswachstum wäre zu schwach, um zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Es bliebe günstigstenfalls bei geringem Wachstum ohne Schaffung von Arbeitsplätzen (jobless growth). Die Auflistung einiger wirtschaftshistorischer Zeitabschnitte, denen neue oder wiederbelebte Theoriemuster zugeordnet wurden, zeigt, dass der Untersuchungsgegenstand der Wirtschaftswissenschaft nicht stillsteht. Die Regelmäßigkeiten aber, von der die Astronomie bei der Beobachtung von Planeten und ihren Monden ausgehen kann, sind in der wirtschaftlichen Wirklichkeit offenbar nicht vorhanden. Die Genauigkeit einer astronomischen Prognose z.B. einer Sonnenfinsternis bleibt für Ökonomen ein Wunschtraum. Ökonomen sind auf Modelle angewiesen, mit denen die wirtschaftliche Wirklichkeit jedoch nur unvollkommen abgebildet werden kann. Deshalb sind sie auch für Prognosen und Simulationen nur mit vielen Einschränkungen verwendbar (Siehe Kasten B3: Makroökonometrische Modelle). 50 Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren Modelle werden in vielen Wissenschaften angewendet. Bei den Architekten war es üblich, niedliche kleine Häuser zu basteln, um sichtbar zu machen, wie das geplante Haus aussieht. Heute wird das mit Computerprogrammen gemacht, die viel flexibler sind. Die Modelle von Ökonomen sind Gleichungssysteme, die mit statistischen Daten angereichert sind. Die Gleichungssysteme bestehen in der Regel bei ökonomischen Prognosen aus mehreren Hundert Gleichungen. Es wird versucht, mit diesen Modellen die Zukunft vorherzusagen (Prognose). Es wird auch versucht, Fragen, wie die Zukunft unter besonderen Bedingungen aussieht, zu beantworten, z.B. wenn der Zinssatz der Zentralbank erhöht wird oder die Steuern gesenkt werden. Dann spricht man von Simulationen. Die Ergebnisse sind ungenau. Spötter vergleichen sie mit langfristigen Wettervorhersagen, die so gut wie immer falsch sind. Der Vergleich ist insofern nicht falsch, als Meteorologen ebenfalls Prognosemodelle einsetzen8. Die Modelle der Ökonomen sind allerdings sehr viel kleiner. Der Einsatz von Modellen führt nun dazu, dass auch Ökonomen die meiste Zeit vor Bildschirmen sitzen und Kurvenverläufe betrachten, die schwer zu deuten sind. Aus der Biologie und anderen Wissenschaften haben Ökonomen inzwischen Modelltypen übernommen, die eine weitergehende Analyse des Schwingungsverhaltens erlauben. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, seien drei Beispiele für unerwünschtes Schwingungsverhalten kurz aufgeführt. Gottfried Haberler (1900 – 1995), ein zu seiner Zeit bekannter österreichischer Ökonom hat das Beispiel Schaukelstuhls zur Diskussion über wirtschaftliche Schwingungen herangezogen. Ein gut konstruierter Schaukelstuhl dämpft auch starke äußere Anstöße (exogene Schocks). Schlecht konstruierte Schaukelstühle können starke äußere Anstöße nicht mehr aus ihrer Beschaffenheit heraus (endogen) dämpfen. Die Schwingungen werden stärker oder explosiv und der Schaukelstuhl kippt nach vorn oder hinten (Haberler 1955:22/23). Das kann auch in einer kapitalistischen Marktwirtschaft z.B. durch eine starke Aufwertung der Währung vorkommen. Ein zweites Beispiel: eine von dem berühmten Architekten Norman Foster entworfene Fußgängerbrücke über die Themse wurde im Jahr 2000 eingeweiht. Eine große Zahl von Neugierigen wollte gleich am ersten Tag über die Brücke gehen. Die Brücke geriet in starke nahezu explosive Schwingungen. Sie musste geschlossen und umgebaut werden. Es wurden Vorrichtungen eingebaut, die die Schwingungen abfangen und dämpfen. Sie sind mit den sogenannten eingebauten Stabilisatoren vergleichbar, die in der Wirtschaftspolitik zum Ausgleich von Konjunkturschwankungen eingebaut werden. Ein drittes Beispiel: In der Ökologie wird das Überschreiten einer Klimaschwelle mit dem Umkippen eines Kanus verglichen. Wenn man sich allmählich zur Seite lehnt, beginnt das Boot sich zu neigen. Durch diese Bewegung wird das Boot zur Kippschwelle hin gedrückt. Lehnt man sich weiter nach außen, dann kentert es (Alley 2005:45). Das System gerät in eine schwere Krise. ___________________________________________________________________________ In den neunziger Jahren hat sich eine pragmatische und empirische Form der Lösung wirtschaftlicher und vor allem wirtschaftspolitischer Probleme in den Vordergrund geschoben. Sie hat in den USA ihren Ausgangspunkt. Wer sich Noch ein Ökonomenwitz: „Warum schuf Gott die Ökonomen?“ – „Damit die Meteorologen mit ihren Modellen besser aussehen.“ 8 51 heute über das Internet zu den Arbeitspapieren von Zentralbanken oder Forschungsinstituten traut, der wird mit einer Flut von Arbeitspapieren konfrontiert, die überwiegend Detailprobleme behandeln. Auf den ersten Blick sind sie mit einem erheblichen mathematischen und statistischen Aufwand hergestellt. Ihre Aufgabe ist es, Arbeitshypothesen quantitativ zu überprüfen. Dabei werden oft auch makroökonometrische Modelle eingesetzt. – Für diese Modelle spielt der makroökonomische Zusammenhang eine ausschlaggebende Rolle. Die Vernetzung von Variablen in einem Gleichungssystem stützt sich überwiegend auf die Verhangenheit. Die Ergebnisse sind deshalb vergangenheitslastig. Es ist schon paradox, wenn man die Zukunft, die ja stets besser oder anders sein sollte als die Vergangenheit oder die Gegenwart, als verlängerte Vergangenheit begreift. 2) Ein Beispiel für einen Gesamtzusammenhang aus der evolutorischen Ökonomik Die Gesamtwirtschaft, von der hier überwiegend die Rede ist, ist eine gedankliche Konstruktion, die eine riesige Vielfalt von Einzelentscheidungen zusammenfasst. Es ist der Versuch, die ungeheure Zahl von Einzelentscheidungen in ein stark vereinfachtes Modell zurückzuführen. Millionen und aber Millionen von Einzelentscheidungen (je nach Größe des Landes, der Bevölkerung, des Entwicklungsniveaus usw.) werden auf wenige Hundert Gleichungen reduziert! Ein solches Verfahren hat seine Tücken. Das kann nicht anders sein. Man hat diesen Vorgang mit der Herstellung einer Landkarte verglichen. Es macht keinen Sinn, eine Landkarte im Maßstab 1:1 zu zeichnen. Meistens reicht 1:100 000. Der ADAC-Atlas gibt sich mit 1:300000 zufrieden. Wanderer wollen mehr Details und wünschen sich 1:10000. Jede Erhöhung des Maßstabs ist mit Informationsverlusten verbunden. Das ist ähnlich so in der Wirtschaftswissenschaft. Je weniger Gleichungen unser Modell der Wirtschaft, um so geringer ist im Prinzip sein Informationsgehalt. In vielen Landkarten gibt qualitative Hinweise. Grün gerandete Straßen weisen auf schöne Landschaften hin. Ähnlich ist das bei ökonomischen Darstellungen. Leider herrschen in der Ökonomie vage Beschreibungen vor wie: der Wirtschaft geht es besser, die Stimmung hat sich weiter eingetrübt, der Motor der Wirtschaft will nicht anspringen, die Zinsen sind zu hoch, die Löhne sind auch zu hoch und so weiter und so fort. Landkarten bieten mit Höhenlinien, Angaben von Entfernungen meist nützlichere Informationen... 52 Die wirtschaftliche Wirklichkeit ist das Ergebnis von vielen Millionen Einzelentscheidungen. Sie können über eine „Reduktion der Komplexität“ zu Modellen zusammengefasst werden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass der innere Zusammenhalt der Wirtschaft brüchig ist. Ohne gesamtwirtschaftlichen und weitergehend ohne einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang wäre auch ein einzelnes Unternehmen überhaupt nicht lebensfähig. Die nahe liegende Frage stellt sich jetzt: wie wird in der Wirtschaftswissenschaft ein wirtschaftlicher bzw. gesellschaftlicher Gesamtzusammenhang dargestellt, von dem ausgehend ein makroökonometrisches Modell erarbeitet werden kann? Dafür ist die Makroökonomik zuständig. Wir beginnen mit einem Beispiel aus der Biologie bzw. evolutorischen Ökonomik. Wie entsteht aus der marktwirtschaftlichen Vielfalt einzelwirtschaftlicher Aktivitäten ein gesamtwirtschaftlicher und weitergehend ein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang, der dauerhaft funktionsfähig ist? Funktionsfähig ist ein solcher Gesamtzusammenhang, wenn er vollständig reproduziert wird und stabil ist. Warum zerbricht ein solcher Zusammenhang nicht in inselähnliche Einzelteile, Teile eines Puzzles, die sich nicht wieder zusammenfügen lassen? Ökonomen, die sich unter Berufung auf Darwin der Evolutionsökonomik verschrieben haben, stellen das Problem gern anhand von Beispielen von Insektenstaaten dar. Eines ihrer Lieblingsbeispiele sind die Blattschneiderameisen, die in sehr großen Populationen vorkommen. (Siehe Kasten B4: Ein Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart). ___________________________________________________________ Kasten B4: Ein Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart Nicht umsonst sind Ökonomen von „Staaten bildenden Insekten“ fasziniert. Die Blattschneiderameisen haben in den letzten Jahrzehnten in der Biologie ein besonderes Interesse gefunden. In tropischen Gebieten wurden Populationen von weit mehr als einer Million Ameisen beschrieben. Sie sind arbeitsteilig organisiert. Sie betreiben Landwirtschaft in ihren Bauten. Sie suchen und zerschneiden Blätter, die sie in ihre unterirdischen Bauten tragen. Auch dieser Prozess ist arbeitsteilig organisiert. Die Kaste der Großgewachsenen zerteilen Blattteile und reichen sie an kleinere Ameisen weiter, die sie in kleinere Teile zerlegen usw. Dann werden die Blattfetzen von einer weiteren Arbeiterkaste zerkaut. Auf dem Brei werden Pilzkulturen angelegt, von denen die Ameisen sich überwiegend ernähren. Die Bauten werden systematisch belüftet, um die Temperatur konstant zu halten. Es besteht ein System von Schloten, durch die frische Luft eingeführt und verbrauchte Luft abgeführt wird. Die Bauten werden von Abfall und Ameisenleichen entsorgt. Blattschneiderameisen führen Kriege, um von Nachbarvölkern Pilzkulturen zu rauben oder deren Bauten wegen der Anbauflächen zu übernehmen. Pilzkulturen werden in der Regel schnell von parasitären Schimmelpilzen vernichtet. Den Blattschneiderameisen würde in wenigen Tagen die Lebensgrundlage entzogen. Sie wehren sich 53 gegen den Befall von parasitären Schimmelpilzen, indem sie ein Antibiotikum (Streptomycin von Bakterien) einsetzen!! Dieses Antibiotikum beseitigt die parasitären Schimmelpilze und fördert das Wachstum der Pilzkulturen. Es wird übrigens auch von Gärtnern (Menschen) verwendet. Nur waren die Ameisen den Menschen um viele Jahre voraus – möglicherweise um viele Millionen Jahre! In der Regel reagieren parasitäre Schimmelpilze mit Resistenz auf Antibiotika. Möglicherweise nutzen die Blattschneiderameisen in diesem Bereich Zusammenhänge der Koevolution, die heute eines der wichtigen Forschungsfelder der Evolutionsbiologie ist. Blattschneiderameisen haben ihren Stoffwechsel mit der Natur im Gegensatz zur heutigen menschlichen Gesellschaft gut im Griff. Blattschneiderameisen reproduzieren nicht nur ihr Volk sondern auch ihre Art. Ausfliegende Königinnen tragen Pilzkulturen in einer Höhle ihres Kiefers, die nur bei Königinnen vorzufinden ist, bei sich und nehmen offenbar auch das Antibiotikum mit. Nach der Befruchtung gräbt sich die neue Königin in die Erde ein, legt ihre Eier ab und ein neues Ameisenvolk kann entstehen und wachsen (Zimmer 2001:204-207). ____________________________________________________________ In Selektionsprozessen, die im Vergleich zur Menschheitsgeschichte sehr lang sind, hat sich dieser Gesamtzusammenhang herausgebildet. Ökonomen vergleichen einen solchen Selektionsprozess gern mit der Konkurrenz auf Märkten. Nur der Bestangepasste überlebt (survival of the fittest). Wer solche Vergleiche wagt, sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass 99% aller Arten ausgestorben sind. Die einzelne Ameise scheint von dem Gesamtzusammenhang nichts zu wissen, für den und von dem sie lebt. Man kann davon ausgehen, dass der Gesamtzusammenhang so stabil ist, dass er nach äußeren Schocks seine Ausgangssituation wieder erreichen kann. Der Untergang einzeln Bauten findet sicher statt. Die Art aber wird reproduziert. Zeiträume von einer vergleichbaren Dauer stehen der Entwicklung menschlicher Wirtschaften und Gesellschaften nicht zur Verfügung. Der marktwirtschaftliche Kapitalismus ist höchstens 250 Jahre alt und bereits mit bedrohlichen, überwiegend selbst produzierten Problemen überlastet. Ein evolutionsgesteuerter Entwicklungsprozess liegt schon allein wegen der Zeithorizonts, den darwinistische Anpassungsprozesse brauchen, für menschliche Gesellschaften außerhalb der Reichweite. Auch in der Wirtschaft weiß das einzelne Wirtschaftssubjekt meist wenig von dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang. In entwickelten Marktwirtschaften haben Wirtschaftssubjekte nur ein sehr ungenaues oft ein falsches Bewusstsein ihrer Einbindung in Zusammenhänge. Viel weiter geht die Analogie aber dann auch nicht. Ökonomen haben sich eine abstrakte Vorstellung vom Wirtschaftssubjekt gemacht – dem „homo oeconomicus“ –, der mit seinem verengten rationalen Verhalten ironisch gesehen einer Ameise mit ihrem winzigen Gehirn schon recht nahe kommt. Ökonomen benutzen gern Hinweise auf einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Naturzustand, wie z.B. die natürliche Arbeitslosigkeit oder den natürlichen 54 Zins. Die Sehnsucht mancher Ökonomen nach einer biologischen Verankerung von Verhaltensweisen zielt auch auf dauerhaft stabile Verhaltensweisen. Wo bleibt die individuelle Freiheit in einem solchen deterministischen Zusammenhang? Ähnliches gilt für die Steuerung von wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen über Selektionsprozesse. In der heutigen Diskussion steht im Vordergrund, dass der Zufall bei der Selektion eine große Rolle spielt und deshalb auch der Selektionsprozess nicht unbedingt zum Überleben des Fittesten führt. Dann kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Unternehmen, die im Konkurrenzkampf überleben, im nachhinein gesehen die produktivsten, innovativsten und zukunftsfähigsten sind. Letztendlich überlebt, wer überlebt – und das ist alles!? 3) Allgemeines Gleichgewicht und Kapitalkreisläufe als Abbildungen von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen Adam Smith (1723 – 1790), der „Vater“ der akademischen politischen Ökonomie, hat das Problem des wirtschaftlichen Gesamtzusammenhangs in seinem 1776 erschienenen Werk über den Ursprung und die Natur des Reichtums der Nationen angesprochen. Gegen die Verfolgung von Eigeninteressen hatte er im Gegensatz zu den damals weit verbreiteten moralischen Bedenken nichts einzuwenden. Er hat die Wahrnehmung von Eigeninteressen vielmehr nachdrücklich befürwortet. Wie von einer „unsichtbaren Hand“ geleitet fügen sich die Eigeninteressen dann in einem zweiten Schritt zu einem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang, der den bestmöglichen Zustand der Wirtschaftsgesellschaft darstellt. Dieser Optimalzustand wird über den Marktmechanismus hergestellt. Im Marktmechanismus werden die einzelwirtschaftlichen Pläne so lange korrigiert, bis sie sich zu einem allgemeinen Gleichgewicht fügen. Der Begriff der „unsichtbaren Hand“ gehört zu den am meisten gebrauchten Schlagwörtern der Wirtschaftswissenschaft. Adam Smith definiert ihn in seinem Hauptwerk, dem „Wohlstand der Nationen“, mit den folgenden Sätzen: „Da nun jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital in der heimischen Erwerbstätigkeit und diese Erwerbstätigkeit selbst so zu leiten, dass ihr Erzeugnis den größten Wert erhält, so arbeitet auch jeder notwendig dahin, das jährliche Einkommen der Gesellschaft so groß zu machen, als er kann. Allerdings strebt er in der Regel nicht danach, das allgemeine Wohl zu fördern, und weiß auch nicht, um wie viel er es fördert. Indem er die einheimische Erwerbstätigkeit der fremden vorzieht, hat er nur 55 seine eigene Sicherheit im Auge und indem er diese Erwerbstätigkeit so leitet, dass ihr Produkt den größten Wert erhalte, verfolgt er lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand (Hervorhebung G.L.) geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hat. Verfolgt er sein eigenes Interesse, so fördert er das der Gesellschaft weit wirksamer, als wenn er dieses wirklich zu fördern beabsichtigt. Ich habe niemals gesehen, dass diejenigen viel Gutes bewirkt hätten, die sich den Anschein gaben, um des Gemeinwohls willen Handel zu treiben.“ (Smith, zweiter Band 2000: 235/6). Dieser kurze Text soll stellvertretend zeigen, dass die alten Ökonomen nicht leicht zu lesen und nicht ohne weiteres zu interpretieren sind. Wichtig für uns ist die zweistufige Argumentation. Die Verfolgung des einzelwirtschaftlichen Eigeninteresses ist moralisch nicht verwerflich, weil damit auf einer zweiten höheren Ebene das gesamtwirtschaftliche Allgemeinwohl maximiert wird. Dieses Argumentationsmuster zieht sich auch heute noch durch nahezu alle wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Debatten. Es wird vor allem gegen diejenigen gewendet, die auch heute noch immer glauben, der Verfolgung des einzelwirtschaftlichen Interesses – Gewinnmaximierung oder Kostenminimierung – Schranken setzen zu müssen. In der Sprache der Marktradikalen heißt das, dass jede auf der einzelwirtschaftlichen Ebene noch so wohl gemeinte Beschränkung der Marktkräfte auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene zu einem suboptimalen Ergebnis führen muss. Das allgemeine Gleichgewicht, denn darum geht es hier, ist die beste aller möglichen wirtschaftlichen Welten. Die Verfolgung des Eigeninteresse hat jedoch eine Voraussetzung. Die Wirtschaftssubjekte müssen ihr Eigeninteresse erkennen und umsetzen können. Dazu müssen sie in vollem Umfang informiert sein. Das hat Adam Smith durchaus gesehen und wohl auch für selbstverständlich gehalten. Machen sie dabei oft Fehler, dann kann auch die unsichtbare Hand ihre Wirkung nicht entfalten und das allgemeine Gleichgewicht bleibt unerreichbar. Wir haben gesehen, dass eine solche Voraussetzung für die Welt von Adam Smith vielleicht noch plausibel war. Heute in einer internationalisierten Wirtschaft mit liberalisierten Finanzmärkten kann man von dieser Voraussetzung sicher nicht mehr ausgehen. Damit aber ist die Konstruktion des allgemeinen Gleichgewichts infrage gestellt. Es ist widersinnig heute davon ausgehen zu wollen, dass alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten über alle für ihre Entscheidungen erforderlichen Informationen verfügen, das wären Informationen über die Vergangenheit, die Gegenwart und vor allem auch über die Zukunft. Das wird in der gegenwärtigen Informationsökonomik diskutiert (siehe auch Unterabschnitt D5: Eingeschränkte Effizienz in kapitalistischen Marktwirtschaften). 56 Ameisen kennen keine Märkte. Sie sind genetisch eingestellt und werden über Duftstoffe ihrer Königin geleitet. Wie die Königin an ihre Informationen kommt, wie sie ihre Entscheidungen trifft und wie sie ihren Untertanen ihre Anweisungen erteilt, konnte ich nicht ermitteln. Die Möglichkeiten von Ameisen miteinander zu kommunizieren, sind eng begrenzt. Lernprozesse stehen ihnen nicht oder nur sehr begrenzt offen. Die akademische mathematisch orientierte Wirtschaftstheorie hat sich ausgehend von den Gedankengängen Adam Smiths dem Problem des allgemeinen Gleichgewichts zugewandt. Es konnte schließlich der mathematische Beweis geliefert werden, dass ein allgemeines Gleichgewicht logisch möglich ist. Nicht alles aber, was logisch möglich ist, existiert deshalb auch in der wirtschaftlichen Wirklichkeit – so auch das allgemeine Gleichgewicht. Das allgemeine Gleichgewicht mag wünschenswert sein – erreichbar ist deshalb noch nicht. Die zum Beweis erforderlichen mathematischen Methoden erfordern gewisse Einschränkungen bzw. Annahmen, die wirklichkeitsfern sind9. Dazu gehören vollständige Information aller am Marktprozess Beteiligten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, strikt rationales Verhalten aller Wirtschaftssubjekte. Abweichungen vom allgemeinen Gleichgewicht werden selbsttätig korrigiert. Auf diesen Wegen konnte die Idee des allgemeinen Gleichgewichts präzisiert werden. Der Preis dafür ist hoch: die Entfernung des allgemeinen Gleichgewichts von der wirtschaftlichen Wirklichkeit könnte sehr groß sein. Die Gleichgewichtskonzepte der klassischen und der neoklassischen Theorie sind statischer Natur, d.h. sie haben keine Zeitachse sondern beziehen sich ausschließlich auf einen Zeitpunkt. Sie enthalten jedoch eine Optimierungsvorstellung. Im Rahmen der mathematischen Darstellung gilt es zu beweisen, dass das allgemeine Gleichgewicht existiert, dass es einzig und stabil ist. Das allgemeine Gleichgewicht ist die beste aller wirtschaftlich möglichen Welten. Adam Smith hat – und das ist kennzeichnend für seine theoretische Grundeinstellung – den Begriff der „unsichtbaren Hand“ zum ersten Mal in einer frühen Schrift über Astronomie benutzt. Auch er strebte offenbar eine für die damalige Zeit „naturwissenschaftliche“ Wirtschaftswissenschaft an. 9 Auch hier darf ein Ökonomenwitz nicht fehlen. Ein Ökonomieprofessor und sein Assistent gehen nachts über den Campus und fallen in eine Baugrube. Die Wände der Grube sind hoch und steil und sie wissen nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen. Da sagt der Professor: „Stellen wir uns einmal vor, wir hätten hier unten eine Leiter“. Und schon ist das Problem gelöst. Sie steigen die erdachte Leiter hoch, klettern aus der Grube heraus, gehen weiter und setzen ihr Gespräch fort. 57 Sein Interesse an den Arbeiten Newtons ist belegt. Seine Vorstellung von einer „sozialen Harmonie“ hat er dagegen aus der römischen stoischen Philosophie übernommen. Dort waltet die Vorsehung eines „guten Gottes“, der jedes Ereignis in einen notwendigen Teil des Universums einbaut. Leibnitz hat diese deterministische Denkfigur zu einer „prästabilisierten Harmonie“ ausformuliert. Voltaire hat sich schon 1759 in seinem „Candide oder der Optimismus“ über diesen Ansatz lustig gemacht (Voltaire 1957:14). Diderot ist ihm in seinem „Jacques der Fatalist und sein Herr“ 1795 gefolgt. Ein System des allgemeinen Gleichgewichts ist für Ökonomen eindeutig bestimmt. Es ist deterministisch. Wäre dem so, dann brauchte man nur noch einige Daten, um die Funktionsweise des Systems für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft exakt zu bestimmen. Voltaire wandte sich auch gegen einen solchen heillosen Zukunftsoptimismus, den ein allgemeines Gleichgewicht als beste aller möglichen Welten auch heute noch ausstrahlt. Die deterministische Komponente des allgemeinen Gleichgewichts war im 19. Jahrhundert in vielen Wissenschaftszweigen anzutreffen. In der Wirtschaftswissenschaft ist sie auch heute noch weit verbreitet und gehört zur Grundausstattung der neoklassischen Hauptströmung. Doch auch in der Wirtschaftswissenschaft sind heute alternative Konzepte auf dem Vormarsch (siehe Kasten C3: Makroökonometrische Modelle). Ein ähnliches und für unseren Zweck – die Konstitution eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang – nützlicheres Konzept kann aus der Marxschen Analyse der Zirkulationssphäre entwickelt werden. In einer politischen Ökonomie, die sich auf Marx bezieht, kann der wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesamtzusammenhang über die drei Kapitalkreisläufe und seine Zusammenführung in den Gesamtkapital Kreislauf hergestellt werden (Marx 1972). Die drei Kapitalkreisläufe können in Abbildung Cc: „Kapitalkreisläufe nach Marx“ nachvollzogen werden. Wir beginnen mit dem Geldkapitalkreislauf G – G’. Geld wird vorgeschossen, mit dem Ziel, mehr Geld zurückzuerhalten (G’ > G). Der Geldkapitalkreislauf legt das Ziel der Produktion in kapitalistischen Markwirtschaften offen: Das Motiv, sich auf Geldgeschäfte einzulassen, ist Gewinnerzielung. Von dem vorgeschossenen Geldbetrag werden Waren gekauft und vorgeschossen, mit dem Ziel, Waren zurückzuerhalten, die höherwertig sind als die vorgeschossenen: W – W’ (W’ > W). Der Warenkapitalkreislauf zeigt stofflich veränderte Waren. Das Ziel der stofflichen Veränderung ist nach wie vor die Gewinnerzielung. Bei diesen Waren handelt es sich um Produktionsmittel (PM) aller Art und um Arbeitskraft (A). Um höherwertige Waren erhalten zu können, müssen die 58 vorgeschossenen Waren im unmittelbaren Produktionsprozess P mit Wert angereichert werden. Bei Marx ist diese Werterhöhung das Ergebnis des Ausbeutungsprozesses. Zur Reproduktion der Arbeitskraft wird weniger Wert eingesetzt als der Wert, der vom Arbeiter dem Produkt zugesetzt wird. Wird die Produktion mit dem Konzept der Produktionsfaktoren erklärt, dann leistet jeder Produktionsfaktor einen Beitrag zum Produkt und die von Marx behauptete Ausbeutung der Arbeitskraft erscheint nicht mehr. In unserem Zusammenhang sind die Kapitalkreisläufe zunächst einmal eine Anordnung von Verbindungen, die unabhängig von der Werttheorie verwendet werden können. Die drei Kapitalkreisläufe erlauben es, Theoreme der akademischen Wirtschaftswissenschaft in einen gesamtwirtschaftlichen bzw. weitergehend in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, der funktionsfähig ist. Funktionsfähig bedeutet hier, dass dieser Zusammenhang reproduzierbar sein muss und dass Aussagen darüber möglich sind, ob er stabil oder instabil ist. Damit ist auch gesagt, dass es sich nicht um einen Optimalzustand handelt. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die einen Optimalzustand darstellt. Der Optimalzustand der allgemeinen Gleichgewichtstheorie ist statisch, d.h. auf einen Zeitpunkt fixiert. Den Kapitalkreisläufen kann dagegen eine Zeitachse und damit auch eine historische Dimension zugeordnet werden. ___________________________________________________________ Abbildung Bc: Kapitalkreisläufe nach Marx 59 A G W A =P W’ PM G’ W =P W’ G’ PM G = Geld; G’>G; A = Arbeitskraft; W =Ware: W’>W; PM = Produktionsmittel; P = unmittelbarer Produktionsprozess; Geldkapitalkreislauf Warenkapitalkreislauf Kreislauf des produktiven Kapitals Gesamtkapitalkreislauf Die Warenförmigkeit von Arbeitsprodukten ist Voraussetzung für die Existenz von Kapitalkreisläufen. Immer mehr Waren werden in die Kreisläufe einbezogen. Geldkapitalkreisläufe, die historisch zuerst ausgebildet wurden, haben stets neue meist geprägte Geldsorten einbezogen. Spätmittelalterliche regionale Prägungen waren meist auch nur regional als Geld anerkannt. Ihr Gold- oder Silbergehalt musste konstant sein, um in ein dauerhaft festes Tauschverhältnis zu einer überregionalen Währung treten zu können. Nur unter dieser Vorraussetzung konnte Geld vorgeschossen werden und um die Zinserträge vermehrt zurückfließen (Siehe Kasten B5: Was ist Geld?) ___________________________________________________________ Kasten B5: Was ist Geld? In der konventionellen, akademischen Geldtheorie wird Geld über drei Funktion definiert: Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel. Geld ist eine Ware, die gegen alle sonstigen Waren getauscht werden kann. Insofern ist es Tauschmittel. Die Tauschmittelfunktion hat sich offenbar historisch spontan an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten herausgebildet und als zweckmäßig erwiesen. In vielen Kulturkreisen haben Edelmetalle, vorzugsweise Gold die Tauschmittelfunktion erfüllt. Gold ist als Geld zweckmäßig wegen seines hohen spezifischen Gewichts, wegen seiner Teilbarkeit und weil es nicht oxidiert. Geld ist Recheneinheit, denn es erlaubt der Menge einer Ware einen Preis zuzuordnen. Bei Metallgeld kann die Menge einer Ware auch dem Metallgewicht zugeordnet werden. Ein Meter Wolltuch kostet z.B. x Gramm Gold. – Schwieriger ist das Problem des Wertaufbewahrungsmittels, da der Wert des Geldes bekanntlich nicht konstant ist. Werden große Goldvorkommen entdeckt, dann sinkt der Preis des Goldes. Die Güterpreise steigen entsprechend und es kann eine inflationäre 60 Tendenz entstehen. Besitzer von Geldvermögen versuchen dann in Sachwerte zu fliehen, wie z.B. Immobilien, weil sie davon ausgehen, dass sie als Hausbesitzer keine Wertverluste erleiden müssen. Da Metallwährungen in größeren Beträgen nur mit Gefahren transportiert werden können, wurden Quittungen für Golddepots ausgestellt, die übertragbar waren. Das sie auf den Namen des Besitzers ausgestellt waren, konnten gefahrlos mitgeführt und am Bestimmungsort der Reise bei befreundeten Institutionen eingelöst werden. Aus solchen und ähnlichen Zusammenhängen bildete sich Papiergeld heraus. Angesichts der problematischen Wertaufbewahrungsfunktion wird die Tauschmittelfunktion in vielen Ländern gesetzlich garantiert: Papiergeld wird gesetzliches Zahlungsmittel, das Gläubiger für die Rückzahlung von Schulden annehmen müssen. Neuere Entwicklungen werfen besondere Probleme auf, z.B. „Plastikgeld“ oder „elektronisches Geld“ oder inoffizielles, gesetzlich nicht geschütztes Geld wie z.B. der „Roland“. ____________________________________________________________ Im Zuge seiner Verbreiterung wurde der Geldkapitalkreislauf in Teilkreisläufe zerlegt. Sie reichen von einfachen Banktransaktionen bis zu komplizierten Geldmarktpapieren, ganz zu schweigen von den riesigen Transaktionen auf Devisenmärkten. Die Zahl der wirtschaftlichen Akteure und ihre Spezialisierung im Geldgeschäft nehmen zu, und das macht die Vertiefung der Kapitalkreisläufe aus. Sie reichen von Banken bis hin zu Geldmarktfonds bzw. hedge funds. Polanyi spricht bei diesem Spezialisierungsprozess von einer „Entbettung“ (Polanyi 2001). Der Beitrag von entbetteten Unterbranchen zur Wertschöpfung ist oft nur schwer auszumachen. Sie stellen im Idealfall wichtige Informationen zu Verfügung, wirken aber wegen irrationaler spekulativer Aktivitäten auch oft destabilisierend (Filc 2001). In frühen historischen Erscheinungsformen mögen die Kapitalkreisläufe regional eng begrenzt gewesen sein. Der Geldkapitalkreislauf ist wohl der erste gewesen, der sich aus den regionalen oder städtischen Begrenzungen herausgearbeitet hat. Spätestens im 16. Jahrhundert waren Geld- und Warenkapitalkreisläufe grenzüberschreitend schon weiträumig ausgebildet. Historisch folgte der Warenkapitalkreislauf dem Geldkreislauf. Die wirtschaftliche Entwicklung in den nördlichen Wirtschaftszentren machte schon früh die Einfuhr von Rohstoffen erforderlich. Die geografische Lage der Fundorte von mineralischen Rohstoffen (Gold, Kupfer etc.) und die klimatischen Voraussetzungen des Anbaus von landwirtschaftlichen Rohstoffen (Baumwolle, Zuckerrohr, Gewürze usw.) machten die geographische Ausdehnung der Warenkapitalkreisläufe erforderlich. Auch Menschen als Ware, das sind Sklaven, haben Anreize zur Ausdehnung von Warenkapitalkreisläufen hervorgebracht. Die Gestaltung und geographische Ausdehnung von Warenkapitalkreisläufen fand besonders in den 61 Kolonialreichen Spaniens, Portugals, Großbritanniens oder Belgiens statt. „Kolonialwaren“ spielten bei der Versorgung der Bevölkerung in den nordeuropäischen Wirtschaftszentren eine wichtige Rolle. Die geographische Ausdehnung der Warenkapitalkreisläufe führte bereits vor dem ersten Weltkrieg zu einer Bedeutung der „Globalisierung“, die mit der Gegenwart vergleichbar ist (Flandreau 2004). In der Entstehungsphase der kapitalistischen Marktwirtschaften wurden mineralische und landwirtschaftliche Rohstoffen in ihren Ursprungsländern noch im Rahmen von traditionellen Produktionsverfahren hergestellt und von Händlern aufgekauft, ehe sie in die Warenkapitalkreisläufe eingeschleust wurden. Die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Formen führte bald zur Einführung erwerbswirtschaftlich organisierter Produktion, wie Plantagen und manchmal auch der Weiterverarbeitung von Rohstoffen, z.B. Zuckerrohr vor Ort zur Produktion von Zucker. Im Kreislauf des produktiven Kapitals ist die Produktion von Waren und Dienstleistungen der Teil des Gesamtkapitalkreislaufs, der historisch und geographisch zuletzt geschaffen wurde. Unternehmen werden in Betriebsstätten zerlegt, die an geographisch breit gestreute Orte ausgelagert werden können (outsourcing). Anreize für Outsourcing sind Zugang zu Märkten oder Lohnunterschiede. Der Anreiz des besseren Markzugangs überwiegt bei weitem. Nur in lohnintensiven Branchen spielen Lohnunterschiede eine Rolle (Siehe Kasten B6: Outsourcing und der Transfer von Arbeitsplätzen). Beispiele dafür sind Spielzeugindustrie, Sportartikel, Textil, Schuhe usw. Japan hat diese Form der Globalisierung in den letzten Jahren aus währungspolitischen Gründen besonders intensiviert (made in Japan – assembled in China!). Ähnliches gilt für Deutschland mit schnell zunehmender Tendenz. ____________________________________________________________ Kasten B6: Outsourcing und der Transfer von Arbeitsplätzen Outsourcing, d.h die Verlagerung von Unternehmensteilen ins Umland einer Stadt, eine andere Region, ein anderes Land oder einen anderen Kontinent kann absatz- oder kostenorientiert sein. Ungefähr 80% der Verlagerung in andere Länder sind absatzorientiert. Die Unternehmen wollen einen möglichst direkten Zugang zu den Auslandsmärkten. Sie versprechen sich davon bessere Absatzchancen. Ein kleiner Teil der Verlagerungen ins Ausland folgt Kostengesichtspunkten. Die Unternehmen versprechen sich niedrigere Arbeitskosten. Mittelfristig aber folgt die Lohnentwicklung der Produktivitätsentwicklung. Es findet dann ein Aufholprozess der Löhne statt. Nur in Diktaturen mit Gewerkschaftsverboten, ohne Umweltauflagen etc. bleibt der Kostenunterschied tendenziell erhalten. Die Vertiefung und die geographische Ausdehnung von Kreisläufen des produktiven Kapitals bzw. des Gesamtkapitalkreislaufs führt zu sog. Exporten und Importen von Arbeitsplätzen, die die 62 Arbeitsmärkte der Ursprungsländer belasten können. Es kommt beim Outsourcing jedoch zu einer Reihe von Kompensationen, die schwer zu überblicken sind, und netto zu erheblich geringeren Arbeitsplatzverlusten führen können. Bisher beschränkte sich lohnorientiertes Outsourcing überwiegend auf gering qualifizierte Arbeitsplätze. Gering qualifizierte Arbeitnehmer führen heute in den meisten Fällen repetitive Teilarbeiten aus, die ohnehin relativ leicht durch Maschinen bzw. Automaten ersetzt werden können. Das ist auch in den Empfängerländern möglich. Der Export von gering qualifizierten Arbeitsplätzen ist dann nur mit vorgezogenen Arbeitsplatzverlusten verbunden. Ein erheblicher Teil der gering qualifizierten Arbeitsplätze würden in der Industrie des Ursprungslandes ohnehin früher oder später wegrationalisiert. In den letzten Jahren werden zunehmend auch hoch qualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, so z.B. Arbeitsplätze von Programmierern aus den USA nach Indien. Ähnliche Bewegungen beschleunigen sich im Zuge der Erweiterung der EU. Messungen der Arbeitsplatzverluste und Gewinne sind schwieriger als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die im Inland verbliebenen Unternehmensteile eines transnationalen Konzerns erhöhen nach dem Outsourcing in der Regel ihre Produktion. Das kann im Ursprungsland zu Einstellungen führen. Im gleichen Zug erhöhen sie meist auch ihre Produktivität. Steigt die Produktivität schneller als die Produktion, dann kommt es zu Entlassungen. Zusätzlich aber sinkt der Wertschöpfungsanteil in den im Ursprungsland verbliebenen Unternehmensanteilen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Autoindustrie, die ihren inländischen Wertschöpfungsanteil von heute knapp über 30% auf unter 25% absenken will. Auch das kann dann zu massiven Entlassungen führen. In einigen wenigen Bereichen der deutschen Wirtschaft tendiert die einheimische Wertschöpfung gegen Null. Eine Bazarökonomie sei im Entstehen, in der nur noch gehandelt aber nicht mehr produziert wird? Es ist letztendlich fallweise zu untersuchen ob der Saldo von Arbeitsplatzgewinnen und Arbeitsplatzverlusten für das Ursprungsland positiv oder negativ ist. Insgesamt gesehen dürfte Outsourcing über alle Kompensationen hindurch zu Arbeitsplatzverlusten im Ursprungsland führen. Neuerdings ist zu beobachten, dass die Unternehmen in den Empfängerländern die verbliebenen Unternehmensteile in den Ursprungsländern aufkaufen. Dann kann es den Ursprungsländern zu weiteren Entlassungen kommen, die allerdings dann mit den wirtschaftspolitischen Problemlagen und politischen Absichten der Empfängerländer zu tun haben. ____________________________________________________________ Die Analyse der Kapitalkreisläufe hat den großen Vorzug dynamisch zu sein. Sie lässt eine Zeitachse zu, die sowohl logische als auch historische Analysen erlaubt. Logische Zeit bedeutet in der Wirtschaftswissenschaft die Verkettung von auf einander folgenden Zeitabschnitten, die sich zu einem Kapitalkreislauf „logistisch“ zusammenfügen lassen. Der Geldkapitalkreislauf muss vorhanden sein, wenn der Warenkapitalkreislauf das Stadium des Naturaltauschs überwinden soll. Ein Warenkapitalkreislauf ist die logische Voraussetzung für Existenz des Kreislaufs des produktiven Kapitals. Erst dann folgt die historische Analyse, die auf der Grundlage der Quellenlage den Nachweis zu erbringen hat, wie, wann und wo die Kreisläufe entstanden sind und wie sie sich entwickelt haben. 4) Wachstum ohne Grenzen? 63 Dauerhaft stabile Kapitalkreisläufe sind eine wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftswachstum. Wirtschaftswachstum ist definiert als der prozentuale Zuwachs des BIP oder des BIP pro Kopf. Wirtschaftswachstum wird noch immer als ein Allheilmittel für allerlei Wirtschaftsprobleme gesehen. Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze, warum nicht gleich Vollbeschäftigung? Wirtschaftswachstum erhöht den Wohlstand eines Landes usw. Menschheitsgeschichtlich ist Wirtschaftswachstum vergleichsweise neu. Über sehr lange Epochen haben Menschen als Jäger und Sammler gelebt. Ihre Technologien waren mehr oder weniger konstant. Sie haben keine Überschüsse produziert, aus denen Kulturleistungen im heutigen Verständnis geschaffen werden konnten. Sie haben rd. sechs Stunden täglich für ihre Reproduktion im weiteren Sinn gearbeitet. Der Rest soll „arbeitsfrei“ gewesen sein. Die arbeitsfreie Zeit damals ist sicher anders zu verstehen als unsere heutige Vorstellung von Freizeit. In Europa soll das Wachstum vom Ende des römischen Reiches bis etwa zum Jahr 1500 nicht gestiegen sein. Auch die Wirtschaftsgeschichte ist eurozentrisch. Ob es in den frühen Reichen Indiens oder Chinas Wachstum gegeben hat, ist hierzulande kaum bekannt aber wahrscheinlich. Sogar während der industriellen Revolution scheinen die Wachstumsraten in Europa niedrig gewesen zu sein. In den USA könnte die jährliche Wachstumsrate von 1820 bis 1950 jahresdurchschnittlich 1,5% betragen haben. Erst in den zwanziger Jahren und nach dem zweiten Weltkrieg hat das Wirtschaftswachstum erkennbar zugenommen. Von 1950 bis 2000 hat sich das BIP pro Kopf in den USA um das 2,6fache, in Deutschland um das 4,7fache und in Japan sogar um das 11,4fache erhöht. Die Wachstumsraten waren ungefähr bis zur Mitte der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts vergleichsweise hoch. Danach hat sich das Wachstum abgeflacht. In den neunziger Jahren haben die USA noch einmal einen Wachstumsschub erlebt. Im selben Zeitraum hat Japan und verlängert bis heute eine Phase hartnäckiger Stagnation gekannt. Für eine Reihe von Ländern, vor allem in Asien, nicht aber in Afrika, haben Aufholprozesse stattgefunden. China glänzt seit Beginn der achtziger Jahre mit sehr hohen Wachstumsraten zwischen 7% und 10%. Die entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften der nördlichen Hemisphäre aber konnten bisher nicht eingeholt werden. Die Messung des Wirtschaftswachstum stößt auf erhebliche Probleme. Sie entstehen zum Teil aus der Tatsache, dass stets neue Produkte im BIP 64 enthalten sind. Zu Vergleichen muss das BIP preisbereinigt werden. Das stößt, wenn es sich über längere Zeitabschnitte handelt, aus ähnlichen Gründen auf mindesten ebenso große Schwierigkeiten. Deshalb wird bei internationalen Vergleichen vorzugsweise mit sogenannten Kaufkraftparitäten gearbeitet, mit denen international unterschiedliche Konsumniveaus genauer dargestellt werden können (Siehe Kasten B13: Kaufkraftparität und Big-Mac-Standard). Wo sucht und findet die akademische Wirtschaftstheorie die Quellen des Wachstums? Einmal in der Akkumulation von Kapital, vor allem aber im technischen Wandel. Dabei ist der technische Wandel bei weitem die wichtigere Voraussetzung. Kapitalakkumulation allein ist nur wirksam in der kürzeren oder mittleren Frist. Nur wenn technischer Wandel mehr oder weniger kontinuierlich ist, kann Wachstum auch langfristig stattfinden. Dazu ist es weiterhin erforderlich, dass Ökonomien in der Lage sind die Arbeitskräfte entsprechend auszubilden und zu motivieren. – Diese Ergebnisse werden in der Wachstumstheorie ausgehend von einer Produktionsfunktion dargestellt, in der die Produktion abhängt vom Einsatz von Kapital und Arbeit, bzw. vom technischen Wandel. Produktionsfunktionen können auf der gesamt- und der einzelwirtschaftlichen Ebene eingesetzt werden. Näheres über Produktionsfunktionen wird bei der Vorstellung der einzelwirtschaftlichen Grundmustern gesagt (siehe Unterabschnitt D1). Kann von der Hypothese eines mehr oder weniger kontinuierlichen technischen Wandels ausgegangen werden, dann wird ein akademischer Wirtschaftswissenschaftler kaum auf die Idee kommen, dass es Grenzen des Wachstums geben könne. Die Berücksichtigung der Langzeitperspektive steht in modernen kapitalistischen Marktwirtschaften nicht im Vordergrund. Die Erzielung kurzfristiger Gewinne auf den Finanzmärkten ist heutzutage offenbar wichtiger als die Existenzgrundlage der zukünftigen Generationen. Taucht die Frage nach den Grenzen des Wachstums tatsächlich einmal im Zusammenhang mit der Wachstumstheorie auf, dann sind Wachstumstheoretiker schnell bei der Hand, ihre Funktionen so auszubauen, dass Wachstum zumindest in der Theorie „grenzenlos“ ist. Was draußen in der weltweiten wirtschaftlichen Wirklichkeit vor sich geht, ist eine andere Geschichte, die den reinen Theoretiker beim Brüten über mathematischen Modellen am Ende doch noch stören könnte. Spätestens wenn das kalte Wasser von den schmelzenden Polen im Studierzimmer seine Füße erreicht. Es gibt sie nämlich, die Grenzen des Wachstums! Die sozialen Grenzen der akademischen Wirtschaftswissenschaft ziehen sich wie ein roter Faden durch 65 diesen Text. Hier soll auf die „ökologischen Grenzen“ des Wachstums an einem Beispiel kurz eingegangen werden. Die ökologischen Grenzen des Wachstums hat der „Club of Rome“ früher einmal sehr ungenau und in einer Perspektive des baldigen Weltuntergangs zu bestimmen versucht. Damit hat er mehr als deutlich auf die Probleme hingewiesen, die auch nach der falschen Prognose nicht aus der Welt geschafft sind. Am Beispiel der globalen Erwärmung kann jedoch gezeigt werden, dass es zumindest in diesem Bereich nicht nur relativ genaue Prognosen großer Gefahrenpotentiale sondern auch Lösungsansätze gibt. Es ist seit langem bekannt, dass das Klima auf Änderungen der äußeren Bedingungen reagiert. Getrieben von Treibhausgasen, Ruß und anderen klimawirksamen Stoffen, die in der Wirtschaftsgesellschaft ihren Ursprung haben, erwärmt sich die Erde in der Gegenwart sehr schnell. Die globale Mitteltemperatur sollte nicht um mehr als ein Grad steigen, sonst werden die großen Eisdecken in Grönland und der Antarktis instabil. Sie werden unterspült, brechen zusammen, schwimmen Richtung Süden und schmelzen. Das kann sogar zur Veränderungen der Strömungsverhältnisse in den Weltmeeren führen. Dann droht weltweit eine Überflutung der niedrig gelegenen Küstenregionen. – Der Klimawandel vollzieht sich nicht kontinuierlich. Aus Eiskernen, die aus tieferen Schichten entnommen wurden, lässt sich ablesen, dass das Klima oft dramatische Sprünge gemacht hat. Sie werden auf die Erderwärmung zurückgeführt und können zu Dürreperioden oder Kälteperioden von mehreren Jahrhunderten oder Jahrtausenden führen. Eine länger dauernde Dürre in den USA und weiten Teilen Asiens oder sibirische Verhältnisse in Europa werden nicht mehr ausgeschlossen (Alley 2005). Die globale Erwärmung lässt sich durch ein Bündel international abgestimmter Maßnahmen zum Stillstand bringen (Hansen 2005). Sie sind im Kyoto-Protokoll in ihren Grundzügen enthalten, das von vielen Ökologen als unzureichend angesehen wird. Leider weigern sich die USA – sie sind der weltweit größte Verursacher des Treibhauseffektes – selbst dieses Protokoll zu unterschreiben. Es ist erstaunlich, dass die den kapitalistischen Marktwirtschaften unterstellte Rationalität sogar bei der Regierung des kapitalistischen Musterlands offenbar nicht ausreicht, sich längerfristigen Perspektiven und Konsequenzen von Grenzen des Wachstums zu stellen. Ähnlich ist die Situation beim Abbau nicht-erneuerbarer Rohstoffe, für die es meist nur teure Alternativen gibt. Es wird vorgebracht, dass sie nicht „wirtschaftlich“ seien. Offenbar wird vorgezogen, die noch verfügbaren Reserven erst einmal aufzubrauchen. Pfadabhängigkeit mag einer der ökonomischen Gründe sein (Siehe Unterabschnitt D5: Eingeschränkte 66 Effizienz in kapitalistischen Marktwirtschaften). Die kapitalistischen Marktwirtschaften sind nicht durchgängig innovativ, sondern halten sich in einigen Bereichen auch gern länger als nötig an erprobte Verfahren. 5) Unvollständige Reproduktion in kapitalistischen Marktwirtschaften Reproduktion heißt Wiederherstellung der Ausgangsbedingungen nach Ablauf einer Produktionsperiode. In frühen geschichtlichen Zusammenhängen lebten Jäger und Sammler in kleineren Gruppen. Wenn sie in neue Kontinente eingedrungen sind, haben sie ganze Arten von Großwild ausgerottet. Ihr Jagdverhalten veränderte die Natur nicht unerheblich. Doch hielten sich ihre Eingriffe in die ökologischen Reproduktionszusammenhänge in Grenzen. Sie haben die Fähigkeit der Natur sich zu regenerieren zwar verändert aber offenbar nicht entscheidend beeinträchtigt. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte reichte das jagdbare Wild und die pflanzliche Nahrungsgrundlage nicht mehr aus. Die „Erfindung“ der Landwirtschaft löste diese Probleme weitgehend. Die Reproduktion der Produktionsvoraussetzungen gelang im ganzen gesehen. Konzepte für Reproduktionszusammenhänge stammen meist aus der traditionellen Landwirtschaft. Ein landwirtschaftlicher Betrieb muss nach der Ernte in der Lage sein, in der nächsten Saison wieder zu produzieren. Dazu sind Saatgut, landwirtschaftliches Gerät, Zugtiere, Düngemittel usw. erforderlich. Die bäuerliche Familie mit ihrem Gesinde und das Vieh müssen genug Nahrung haben, um den Winter zu überstehen usw. – Der bäuerliche Betrieb braucht für Familie und Arbeitskräfte, sowie für das Vieh den Zugang zu einer gesundheitlichen Versorgung und eine Altersvorsorge (Altenteil). – Schließlich müssen Rechtsordnung, Kultur und Religion erhalten bleiben, damit der gesellschaftliche Zusammenhalt der ländlichen Bevölkerung weiterbestehen kann. Auch die ökologischen Voraussetzungen der landwirtschaftlichen Produktion müssen erhalten werden. Fehlen Teile in diesem Zusammenhang, dann ist eine vollständige Reproduktion dauerhaft nur noch eingeschränkt möglich, und es droht die Gefahr einer Krise. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts haben die physiokratischen Theoretiker sich dieser Problematik bereits zugewandt. Moderne kapitalistische Marktwirtschaften haben die Reproduktionsprobleme noch immer nicht vollständig gelöst. Das gilt auch für den „Stoffwechsel mit der Natur“, wie Marx es ausgedrückt hat. Die Probleme der Überfischung oder des Artensterbens weisen darauf hin. – Die Reproduktion der Arbeitskraft ist in den weniger entwickelten Ländern der Peripherien für 67 verarmte Bevölkerungsschichten stark gefährdet. In weiten Teilen Afrikas südlich der Sahara ist beispielsweise das physische Existenzminimum für die gesamte Bevölkerung schon lange nicht mehr gesichert. Auch die gesundheitliche Lage der Bevölkerung ist dort vor allem für Kinder katastrophal. 6) Zyklische Bewegungen der wirtschaftlichen Aktivität und der intersektorale Strukturwandel Die allgemeine Gleichgewichtstheorie der akademischen Wirtschaftswissenschaft hat den Nachweis geliefert, dass ein allgemeines Gleichgewicht logisch möglich ist. Doch nicht alles was logisch möglich ist, existiert deshalb auch schon in der Wirklichkeit. Auch in der wirtschaftlichen Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Dort fällt zunächst einmal auf, dass es einen Konjunkturzyklus gibt. Die zyklische Bewegung der wirtschaftlichen Aktivität steht außer Frage. Von der Hypothese, dass der Konjunkturzyklus regelmäßig sei, sind die meisten Wirtschaftswissenschaftler jedoch seit langem abgerückt. Der Begriff der zyklischen Bewegung der wirtschaftlichen Aktivität ist ein wenig vage. Wir wollen versuchen, etwas genauer zu werden. Ein Konjunkturzyklus dauert ungefähr fünf bis sieben Jahre. Er besteht aus einem Aufschwung oder im positiven Bereich Boom, dem oberen Wendepunkt, dem Abschwung, im negativen Bereich auch Rezession genannt, und dem unteren Wendepunkt. Ein Konjunkturzyklus überlagert einen Trend. Der Trend kann steigend, stagnierend oder fallend sein. ____________________________________________________________ Graphik Bd: Konjunkturzyklus auf steigendem Trend BIP 68 Konjunkturzyklus Trend Zeit _________________________________________________________ Der Konjunkturzyklus kann mit einer Variable ausgedrückt werden, z.B. dem Bruttoinlandsprodukt als Absolutwert oder als Wachstumsrate. Wenn das preisbereinigte BIP während zweier Quartale sinkt, spricht man von einer Rezession. Wichtig für den Konjunkturverlauf sind die privaten Investitionen in Maschinen und Ausrüstungen. Sie zeigen in der Regel einen recht instabilen Verlauf. Weiterhin werden politische Konjunkturzyklen diskutiert. Politiker haben im Konjunkturaufschwung bessere Chancen wiedergewählt zu werden. Das gilt nicht nur für die USA. Bush I. wurde auf dem Hintergrund (falscher) Prognosen über die Dauer einer Konjunkturflaute nicht wieder gewählt und musste Clinton weichen. Die wirtschaftliche Lage vor der Wahl, im Wahlkampf ist für den Ausgang der Wahl von Bedeutung. Was Wunder, dass Politiker, die wiedergewählt werden wollen, versuchen, den Konjunkturverlauf zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das kann, muss aber nicht gelingen. Der Konjunkturverlauf wird dann tendenziell den Wahlterminen angepasst und es entsteht ein politischer Konjunkturzyklus. Der Konjunkturzyklus steht im Vordergrund bei der Betrachtung zyklischer Bewegungen der wirtschaftlichen Aktivität. Es gibt kürzere Zyklen der Lagerhaltung. Sie sind von erheblicher Bedeutung für den Konjunkturverlauf. Springt die Konjunktur über eine Zunahme der Nachfrage nicht gleich an, dann kann das daran liegen, dass die Lager der Unternehmen erst abgebaut werden, bevor die Produktion ausgeweitet wird. Dann erst folgen in der Regel zusätzliche Investitionen und die Einstellung von zusätzlichen Arbeitskräften. Von Bedeutung ist weiterhin ein langfristiger Zyklus, der sogenannte Kondratieff-Zyklus. Kondratieff war ein russischer Ökonom und Statistiker, der seine Theorie der langen Wellen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Berlin ausgearbeitet hat. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion kam er in einem stalinistischen Lager um. Kondratieff geht dabei von Innovationen aus, die seiner Ansicht nach den langfristigen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmen. Man kann sich die 69 folgende Verlaufsform der Kontradieff-Zyklen vorstellen (Siehe Abbildung Be: Die langen Wellen der wirtschaftlichen Aktivität). ____________________________________________________________ Abbildung Be: Lange Wellen der wirtschaftlichen Aktivität Basistechnologien Dampfmasch. Baumwolle 1800 Stahl Einsenbahn 1850 Elektrotech. Chemie 1900 Petrochem. Computer- Biotech.? Automobil technologie Nanotech.? AtomNeue Werkstoffe? technologie Neue Dienstleistungen? 1950 1990 2015 ? KI K II K III K IV KV K VI Die Datierung der obenstehenden stilisierte Darstellung von sechs Kontratieff-Zyklen (K I – K VI). Die Dauer und die Datierung der Zyklen wird kontrovers diskutiert. Die Zyklen sind nicht prognostizierbar. Die Basistechnologie der sechsten langen Welle ist noch nicht erkennbar. ____________________________________________________________ Die Kondratieff-Zyklen waren bisher ausschließlich auf industrielle Basistechnologien beschränkt. Doch heute dominiert nicht mehr die Industrie sondern wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft. Schon bei vorangegangenen Kondratieff-Zyklen haben Dienstleistungsjobs eine zunehmend wichtigere Rolle gespielt. Es ist davon auszugehen, dass auch die VI. lange Welle eine Kombination von Industrie- und Dienstleistungssektor sein wird. Ein wichtiges Problem wird sein, die Aktivitäten des Industrie- und Dienstleistungssektors zu koordinieren. Die empirische Darstellung von Zyklen der wirtschaftlichen Aktivität stößt auf erhebliche und kaum zu überwindende Probleme. Die Prognose von Konjunkturzyklen ist bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Von besonderem Interesse sind die Wendepunkte von Zyklen der wirtschaftlichen Aktivität. Die Voraussage von Wendepunkten ist bisher jedoch nicht möglich gewesen. Es gibt in den USA beim National Bureau of Economic Research eine Wendepunktkommission, die allerdings die Wendepunkte der Zyklen erst im Nachhinein auf einen Monat genau bestimmen kann. Im Nachhinein heißt hier fünf bis sieben Monate nachdem der obere oder der untere Wendepunkt eingetreten ist. Wirtschaftliche Agenten, deren wirtschaftliche Aktivitäten immer auch auf die Zukunft gerichtet sind, können mit diesen Informationen natürlich nur wenig anfangen. 70 Die langen Wellen der Konjunktur mit ihren verschiedenen Technologien weisen auf eine tiefgreifende, langfristig sich durchsetzende Tendenz, den intersektoralen Strukturwandel hin, dessen Tragweite nicht hoch genug zu veranschlagen ist. In Deutschland betrug der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer mehr als 60%. Heute ist dieser Anteil auf unter 3% gesunken. Der Anteil der in Industrie Beschäftigten belief sich in Deutschland – einer ausgesprochenen Industrienation – zur Zeit der Blüte der Industrie auf über 40%. Er ist heute auf unter 30% gesunken. Dagegen stieg der Anteil der in Dienstleistungsberufen Beschäftigten auf rd. 70%. Damit sind gewaltige gesellschaftliche Umbrüche verbunden, die sich in Deutschland in nur rd. 150 Jahren vollzogen haben. Setzt man die gesamte Menschheitsgeschichte gleich einer Stunde, dann haben sich die größten Veränderungen in den letzten Sekunden vollzogen. Die Folgen sind unabsehbar. Sie wurden von der kapitalistischen Marktwirtschaft hervorgebracht. Im Hinblick auf die Beschäftigung hat der französische Autor Fourastié (1907 – 1990) den intersektoralen Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft in einem Buchtitel als „Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhundert“ (Le grand espoir du XXe siècle, 1949) bezeichnet. Doch sind die Anpassungsprobleme im Übergang von der Industrie zum Dienstleistungssektor wohl kaum geringer als während der vorangegangenen Phase von der Landwirtschaft zur Industrie. 7) Krise, Prosperität, Depression und Stagnation Die vier Begriffe der Überschrift deuten auf langfristige Problematiken der wirtschaftlichen Entwicklung in kapitalistischen Marktwirtschaften hin, die mit den Konzepten zur Erklärung zyklischer Bewegungen nicht erfasst werden können. Krise ist ein Begriff aus der Medizin. In der Medizin bezeichnet Krise den „Wendepunkt einer Krankheit“. Es entscheidet sich, ob die Krankheit endet oder ob sie sich verschlimmert und gegebenenfalls zum Tod des Patienten führt. Auch in der Wirtschaftswissenschaft ist die Krise ein „Wendepunkt“, z.B. der untere Wendepunkt in einem längerfristigen Kondratieff-Zyklus. Dann entscheidet sich, ob die Wirtschaft wieder in eine längerfristige Prosperitätsphase einschwenkt, ob sie in einer länger dauernden großen Depression versinkt oder ob sie für längere Zeit stagniert. Eine Prosperitätsphase war das sogenannte goldene Zeitalter nach dem zweiten Weltkrieg, von 1948 bis 1972 (Marglin, Schor 1991). Eine große Depression gab es in Deutschland nach dem Gründerkrach in den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und im Gefolge der 71 Weltwirtschaftskrise in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Große Depressionen können auch Zeiten des wirtschaftlichen Wandels und der Modernisierung sein. Die wirtschaftlichen Grundlagen des deutschen „organisierten Kapitalismus“ sind in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie haben ihre prägende Kraft bis heute noch nicht ganz verloren. Stagnation bedeutet eine Stockung oder einen Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung. Der längerfristige Trend ist bei Stagnation durch sehr geringes Wachstum oder Nullwachstum bestimmt. Solche Perioden hat es im 19. Jahrhundert gegeben und in den dreißiger Jahren neben Depressionen auch in einigen Marktwirtschaften. Seit Anfang der neunziger Jahre ist eine hartnäckige Stagnation in Japan zu beobachten, die mit einer leichten Deflation verbunden ist. Sie konnte bis heute nicht überwunden werden. Auch in Deutschland herrschen seit ungefähr vier Jahren stagnative Tendenzen vor. Sie könnten sich als längerfristig wirksam entpuppen. Das japanische Beispiel hat gezeigt, dass eine Stagnation mit den vorhandenen wirtschaftspolitischen Instrumenten nur sehr schwer zu bekämpfen ist. 8) Staatstätigkeit: vom absolutistischen zum bürgerlichen Staat? Bis ins 18. Jahrhundert hinein sah die sich langsam entfaltende bürgerliche Wirtschaft und Gesellschaft im absolutistischen Staat ein Instrument der Willkür des Fürsten. Staatshaushalt und Fürstenhaushalt waren noch nicht getrennt. Der Fürst hatte ständig Finanzprobleme. Sie wurden durch Kriege, prunkvolle Hofhaltung oder den Bau von Schlössern, durch Zahlung von Renten an Gefolgsleute usw. verursacht. Die Steuerlast stieg ständig. Die Kanzleien erfanden immer neue Steuertatbestände, die Anlass zu Zwangsabgaben wurden. Sie reichten von unzähligen Verbrauchssteuern wie der verhassten Salzsteuer über Mahl- und Schlachtsteuern bis hin zu Wegeund Brückenzöllen (Maut). Ungefähr ein Drittel des Gesamtprodukts (entspricht nur sehr entfernt dem Bruttoinlandsprodukt im heutigen Sinne) wurde auf dem Weg der Zwangsabgaben vom absolutistischen Herrscher und der adligen Oberschicht angeeignet. Ein solches Sammelsurium von Steuern bot in der Landwirtschaft keine Anreize, mehr als das zum lebensnotwendigen Verbrauch unbedingt Erforderliche zu produzieren. Einige der Steuern behinderten Innovationen und beeinträchtigten die Arbeitshaltung der in der Landwirtschaft Tätigen, deren Anteil damals über 80% der Bevölkerung betrug. Heute ist dieser Anteil in den entwickelten Marktwirtschaften auf weit unter 5% gesunken. 72 Das chaotische Steuersystem des Absolutismus war bei der Bevölkerung wegen der Höhe der Zwangsabgaben und der steuerlichen Ungerechtigkeit verhasst. Zu den Steuern mit kontraproduktiven Anreizen zählte in Frankreich im besonderen die Repartitionssteuer (taille) (Siehe Kasten B7: Die vorrevolutionäre „taille“, eine Repartitionssteuer mit kontraproduktiven Anreizen, und einige Hinweise auf die Salzsteuer). Steuern sind kontraproduktiv, wenn sie die Arbeitshaltung, das Wachstum der Produktion, die Einführung von Innovationen etc. hemmen. Die Steuereinnahmen reichten nicht aus, um den Fürstenhaushalt auszugleichen. Der Fürst nahm große hoch verzinste Kredite auf, die in den Staatsbankrott führen konnten. ____________________________________________________________ Kasten B7: Die vorrevolutionäre „taille“, eine Repartitionssteuer mit kontraproduktiven Anreizen und einige Hinweise auf die Salzsteuer. Die „taille“ war die wichtigste und auch die am meisten verhasste Steuer des französischen Absolutismus. Das Königreich war in Provinzen eingeteilt. Jeder Provinz wurde eine Geldsumme als Steuer zugeordnet. Diese Summe wurde auf die Kommunen, überwiegend Dörfer, heruntergebrochen. Die Dorfgemeinschaften mussten die ihr zukommenden Steuerbeträge auf die einzelnen Haushalte aufteilen. Dabei kam es zu zahlreichen Konflikten. Jeder bäuerliche Haushalt stellte nach außen seine Armut dar, d.h. seine Unfähigkeit Steuern zahlen zu können. Da der König ständig in finanziellen Schwierigkeiten war, verpachtete er ganze Provinzen an sog. „financiers“, die ihm größere Geldbeträge zur Finanzierung von Kriegen und Hofhaltung zur Verfügung stellten. Im Gegenzug erhielten sie das Privileg, die Steuern in der Provinz zu erheben. Die „financiers“ versuchten mit nahezu allen Mitteln so viel Steuern wie nur möglich aus der Bevölkerung der von ihnen gepachteten Provinz so schnell wie möglich herauszuholen. Jeder Hinweis auf einen Steuertatbestand wurde von der Bevölkerung vermieden. Es wurden keine landwirtschaftlichen Neuerungen eingeführt und selbst die Reparaturen an Häusern und landwirtschaftlichem Gerät wurden auf das Notwendigste beschränkt. Die landwirtschaftliche Bevölkerung kleidete sich entsprechend ärmlich. Die landwirtschaftliche Produktion stagnierte, da jede Verbesserung der Lebensverhältnisse, die über das Lebensnotwendige hinausging und nicht geheimgehalten werden konnte, durch Steuern und andere Zwangsabgaben abgeführt werden musste. – Um diese negativen (kontraproduktiven) Anreize abzubauen, wurde die taille schrittweise in eine proportionale Einkommensteuer umgewandelt. Die Salzsteuer (gabelle) war im absolutistischen Frankreich keine Steuer (Zwangsabgabe ohne spezielle Entgeltlichkeit) im eigentlichen Sinne sondern ein staatliches Monopol. Salz durfte nur bei den staatlichen Verkaufstellen bezogen werden. Die Preise unterschieden sich von Provinz zu Provinz. Es konnten nur festgesetzte Mengen gekauft werden, die in der Regel größer waren als der Verbrauch. Der Weiterverkauf war verboten, ebenso der Export in andere Provinzen. Es wurde streng kontrolliert. Hohe Strafen standen auf Zuwiderhandeln. (Zur Erinnerung: Salz ist für Mensch und Tier lebenswichtig.) ___________________________________________________________ Die bürgerliche Opposition gegen den Absolutismus wollte an die Stelle der staatlichen Befehlswirtschaft des Absolutismus eine sich über Märkte selbst regulierende Wirtschaft weiter ausdehnen. Die Grundzüge der 73 kapitalistischen Marktwirtschaft existierten bereits. Die Einführung der Gewerbefreiheit war eine zentrale Forderung. Sie wurde in größeren oder kleineren Schritten in den europäischen Staaten oder Fürstentümern im 19. Jahrhundert eingeführt. Der bürgerliche Staat sollte ein „Nachtwächterstaat“ sein, dessen Aufgaben und Ausgaben auf ein Minimum reduziert werden sollten. Doch schon früh im Verlauf der französischen Revolution zeigte sich, dass auch die bürgerliche Gesellschaft nicht auf einen mehr oder weniger starken Staat verzichten wollte und konnte. Der imperiale Staat Napoleons war eine rationalisierte Neuauflage des absolutistischen Staates. Erst im Verlauf des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts kam es zu Versuchen, den napoleonischen Staat in einen bürgerlichen Staat zu transformieren. Dabei spielte die stufenweise Einführung des allgemeinen Wahlrechts eine wichtige Rolle. In den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft waren nur steuerzahlende Haushaltsvorstände wahlberechtigt. Je nach Höhe der abgeführten Steuern hatten sie eine oder mehrere Stimmen. Die Einführung demokratischer Prinzipien war mit dem Abbau des Stufenwahlrechts und der Einführung des allgemeinen einschließlich des Frauenwahlrechts verbunden. Auch im bürgerlichen Staat blieb hoheitliches Handeln die herrschende Praxis oder die Praxis der Herrschenden. Demokratie droht in einem solchen Staatswesen von der „Herrschaft des Volkes“ zu einem „Verfahren für die Beschaffung von Legitimation“ einer allmächtigen Exekutive, die von Interessengruppen manipuliert wird, zu verkümmern. Die Allianz von Staat und Markt will nicht recht glücken. Sie wurde zur „Schnittstelle“ herunterdekliniert, an der sich Parasiten und Korruption ansiedeln. 9) Staatsfunktionen Die schrittweise Einführung des allgemeinen Wahlrechts hat bei der Ausdehnung der Staatstätigkein eine besondere Rolle gespielt. Damit war die Voraussetzung geschaffen, dass Staatsausgaben auch allmählich stärker den ärmeren Bevölkerungsschichten zugute kommen konnten aber nicht unbedingt auch kamen. Das ist ein wesentlicher Grund für das Anwachsen der Staatsausgabenquote (Staatsausgaben im Verhältnis zum BIP). Schon früh haben in Deutschland „Staatswissenschaftler“ auf die mit der wirtschaftlichen Entwicklung verbundenen höheren Staatsausgaben hingewiesen. Dem sog. Wagnerschen „Gesetz der zunehmenden Staatsaufgaben“ folgend steigt die Staatsausgabenquote längerfristig an. Im Jahr 1910 belief sich die Staatsausgabenquote in Deutschland noch auf rd. 10%. Hundert Jahre später ist die Staatsausgabenquote auf nahezu 50% angestiegen. Auch erwies sich die bürgerliche Gesellschaft nach innen und 74 außen weniger friedfertig als ursprünglich erhofft. Ein teueres stehendes Heer blieb erforderlich. Kriege und Kriegsfolgen im 19. und 20. Jahrhundert trugen zur dauerhaften Anhebung der Staatsausgabenquote bei. Der Marktmechanismus erwies sich als krisenanfällig. Umfangreiche Subventionen (Steuerermäßigungen und Finanzhilfen) wurden eingeführt. Angesichts der Globalisierung werden in der Gegenwart die Möglichkeiten und Grenzen von Staatstätigkeit neu bestimmt. Das führt auch zu Umschichtungen im Staatshaushalt, aber nicht unbedingt zu einer Senkung der Staatsausgabenquote. Die zunehmenden Staatsaufgaben werden von der akademischen Finanzwissenschaft in vier wesentliche Staatsfunktionen gegliedert: die Allokations-, die Distributions- , die Stabilisierungsfunktion und die fiskalische Staatsfunktion. Unter Allokationsfunktion des Staats in der kapitalistischen Marktwirtschaft wird die Beeinflussung von Investition und Produktion verstanden. Öffentliche Infrastrukturinvestitionen, das sind Straßen, Brücken, Schulen, Gewerbegebiete usw. sind ergänzend erforderlich. Weiterhin müssen öffentliche Güter bereitgestellt werden. Sie können nur in Ausnahmefällen privat verteilt werden. Öffentliche Güter zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Nutzen u.a. unteilbar sind: z.B. saubere Luft, innere Sicherheit, intakte Landschaften. Es gilt das Nichtrivalitätsprinzip, d.h. die Konsumenten öffentlicher Güter können um den Erwerb dieser Güter nicht in Konkurrenz treten. Deshalb können sie z.B. auch nicht versteigert werden. Die Marktwirtschaft greift in diesem Bereich nicht und öffentliche Unterstützung ist erforderlich. Ungehemmte deregulierte Marktprozesse führen zu ungleichen Einkommensund Vermögensverteilungen, die in bürgerlichen Gesellschaften in der Regel als unfair oder als ungerecht angesehen werden. Die Distributionsfunktion hat dafür zu sorgen, dass ungewollte Ungleichheit nachträglich meist über Steuerpolitik korrigiert wird. – Im Verlauf der wirtschaftlichen Aktivität treten unerwünschte Schwankungen auf. Dem Staat wurde deshalb die Aufgabe übertragen, stabilisierend zu wirken, d.h. eine Stabilisierungsfunktion wahrzunehmen. – Schließlich hat der Staat eine fiskalische Funktion, d.h. er muss über sein Budget (Staatshaushalt) seine Existenz erhalten, d.h. der Staat muss sich die finanziellen Mittel verschaffen, um die Beamten zu bezahlen, Gebäude zu erhalten usw. Um diese vier Funktionen zu erfüllen, kann der Staat innerhalb gewisser Grenzen seine Einnahmen und Ausgaben einsetzen. Die Einnahmen fließen (abgesehen von der Aufnahme von Krediten) aus direkten und indirekten Steuern. Direkte Steuern sind die Steuern aus den Faktoreinkommen aus 75 Arbeit und Kapital: Lohn- sowie veranlagte Einkommenssteuer und Steuern auf Unternehmensgewinne. Indirekte Steuern werden auf Transaktionen erhoben. Die wichtigsten sind Umsätze von Waren und Dienstleistungen, die Gegenstand der Mehrwertsteuer sind. Die Staatsausgaben des Zentralstaates, der Länder und der Gemeinden können ebenso wie die Besteuerung auf wirtschaftspolitische Ziele hin ausgerichtet werden. Wirtschaftspolitische Ziele sind: Beschäftigung, Wachstum, Geldwertstabilität und Außenhandelsgleichgewicht. Die Wahrnehmung von Allokations-, Distributions- und Stabilisierungspolitik zur Durchsetzung der vier Ziele durch den Staat heißt Fiskalpolitik. 10) Wirtschaftspolitik Die Wirtschaftspolitik findet überwiegend als Staatsintervention im Rahmen hoheitlichen Handelns statt. Mit einer wichtigen Ausnahme: die Geldpolitik ist heute in fast allen entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften alleinige Aufgabe der Zentralbank, die keiner staatlichen Weisungsbefugnis unterliegt und damit „unabhängig“ ist. ____________________________________________________________ Kasten B8: Quantitätsgleichung und Geldpolitik Geldpolitik geht von der sog. Quantitätsgleichung aus. Sie besagt, dass die Geldmenge multipliziert mit der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes gleich ist der Menge der produzierten Waren multipliziert mit deren Preisen (G x V = Q x P). Es gilt nun, Variationen des Preisniveaus (P) d.h. die zukünftige Inflationsrate, zu beeinflussen. Es wird davon ausgegangen, dass die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (V) für den Beobachtungszeitraum konstant ist. Eine Variation der Geldmenge ist nun so einzustellen, dass das in der Zukunft liegende Inflationsziel erreicht wird. Das ist alles andere als einfach, denn es kommt zu unterschiedlichen Wirkungsverzögerungen, die nur schwer vorhergesagt werden können. Die Wirkungsverzögerung der Geldpolitik beträgt rd. achtzehn Monate und mehr. Äußere Schocks, wie Erhöhungen des Ölpreises, können das Inflationsziel während der Wirkungserzögerung beeinflussen. Seit Beginn der achtziger Jahre geht eine zunehmende Zahl von Zentralbanken dazu über, die Geldmenge nicht mehr direkt sondern nur noch indirekt über den Interventionszinssatz zu steuern. Der Interventionszinssatz ist der Satz, zu dem die Zentralbank Staatsschuldverschreibungen von den Banken hereinnimmt und ihnen dafür Geld zu Verfügung stellt. Man hat diese Situation mit der eines bogenschießenden Jägers verglichen. Bewegt sich das Wild während der Pfeil in der Luft ist, dann sind die Chancen, dass der Jäger trifft nicht gerade groß. Wenn die Zentralbank ihre Veränderung der Geldmenge (direkt oder über den Interventionszinssatz) „abgeschossen“ hat, das Inflationsziel seine Position während der Wirkungsverzögerung jedoch verändert, dann liegt der „Schuss“ der Zentralbank daneben. Es gehört offenbar eine tüchtige Portion Glück dazu, um in der Geldpolitik erfolgreich zu sein! Unter diesen Voraussetzungen hat es die unabhängige Zentralbank nicht leicht, die Wirtschaftssubjekte von ihrer Fähigkeit zu überzeugen, dass sie die Inflationsrate in allen Fällen 76 nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Von ihrer Glaubwürdigkeit hängt allerdings die Wirksamkeit ihrer Geldpolitik ab. Mit anderen Worten, es herrscht Unsicherheit über die zukünftige Geldwertstabilität. Bei Unsicherheit kann das Gradualismusprinzip angewendet werden. Dann bewegt sich die Zentralbank mit „Trippelschritten“ in die von ihr eingeschlagene Richtung der Geldpolitik. Trippelschritte bei der Zinspolitik sind Senkungen oder Erhöhungen des Interventionszinssatzes um 0,25-Prozentpunkte oder, was das Gleiche besagt, 25 Basispunkte. ____________________________________________________________ In der Gegenwart wird eine Variation des sog. Interventionszinssatzes der Variation der Geldmenge vorgezogen. Die Geldmenge wird vom Zinssatz indirekt gesteuert, weil die Zielgenauigkeit der Geldpolitik mit Hilfe von Variationen des Zinssatzes größer ist. Das Ziel oder die Ziele der Zentralbank sind in der Regel gesetzlich festgeschrieben. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat, wie früher die deutsche Bundesbank nur ein Ziel für ihre Geldpolitik, nämlich die Wahrung Geldwertstabilität. Die amerikanische Zentralbank (Fed) dagegen hat nicht nur die Geldwertstabilität sondern auch die Beschäftigung zum Ziel ihrer Geldpolitik. Meist kümmert sie sich deshalb auch um Probleme des Wirtschaftswachstums. Ihre Politik gilt zumindest in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute als sehr erfolgreich. Wird die Zielgenauigkeit von Geld- und Fiskalpolitik miteinander verglichen, dann werden im allgemeinen der Geldpolitik die besseren Noten gegeben. Ausgaben und Einnahmen des Staates durchlaufen einen mehr oder weniger langen politischen Prozess, der die Wirkungsverzögerung verlängert und deshalb die Zielgenauigkeit beeinträchtigt. Durch die längere Wirkungsverzögerung nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass das Ziel seine Position verändert. Durch die ständigen Veränderungen der Einnahmen und Ausgaben, die vom Staat aus politischen und nicht aus wirtschaftspolitischen Gründen vorgenommen werden, wird auch der Wirtschaftsablauf in Schüben beeinflußt. Im Zuge der Wiederaufwertung der Fiskalpolitik bleibt festzuhalten, dass die Ausgabenpolitik der Steuerpolitik vorzuziehen ist, weil die Ausgabenpolitik einem höheren Multiplikator hat. Das lässt sich empirisch zeigen (Hemming, Kell, Mahfouz 2002). Der Multiplikator stammt aus dem keynesianischen Denkansatz. Er zeigt, wie eine Erhöhung der Staatsausgaben z.B. für Infrastrukturen durch die Wirtschaft hindurchläuft und dabei zu Einkommenserhöhung führt. Am Ende dieses Prozesses ergibt sich, dass die Einkommenserhöhung unter bestimmten Vorraussetzungen um einen Faktor den sogenannten Multiplikator höher ausfallen kann, als die sie verursachende Staatsausgabe (Siehe Kasten B9: Multiplikatoranalyse). ____________________________________________________________ 77 Kasten B9: Multiplikatoranalyse Die Multiplikatoranalyse wurde ebenfalls von Keynes ins Spiel gebracht. Erhöht der Staat seine Ausgaben, dann entstehen zusätzliche Einkommen. Man kann sich das so vorstellen, dass der Staat eine Straße bauen lässt. Das Geld für diese zusätzlichen Staatsausgaben fließt zu einem Straßenbauunternehmen, das zusätzlich Arbeiter einstellt. Die Einkommen der zusätzlich eingestellten Arbeiter werden von ihnen für Konsumausgaben verwendet. In den Supermärkten wird mehr nachgefragt und es werden dort zusätzlich Arbeitskräfte eingestellt und zusätzliche Aufträge vergeben. Bei den Herstellern der Konsumgüter kommt es zu Neueinstellungen und deshalb auch zu zusätzlichen Einkommen usw. Es entsteht auf diese Weise eine Kette von zusätzlichen Einkommen. Die Summe dieser zusätzlichen Einkommen ist ein mehrfaches als die zusätzlichen Staatsausgaben, die der Ausgangspunkt dieses Prozesses sind. So entsteht ein Multiplikator. Wenn die zusätzlichen Arbeiter einen Teil des zusätzlichen Einkommens sparen, dann sind ihre Einkäufe geringer als wenn sie nahezu alles für Konsumgüter ausgeben würden. Deshalb verringert sich der Multiplikator. Sie müssen Lohnsteuer und andere Steuern auf ihr Einkommen zahlen. Das verringert den Multiplikator weiter. Je niedriger die Einkommen sind, um so weniger wird gespart und um so niedriger ist die Steuerbelastung. Deshalb ist der Multiplikator, der aus der Einbeziehung von Beziehern niedriger Einkommen entsteht, größer als der Multiplikator aus höheren Einkommen. Schließlich wird auch ein erheblicher Teil der Konsumgüter, die von dem Einkommen der zusätzlichen Arbeiter gekauft werden, importiert. Der Multiplikator verringert sich nochmals. Der Multiplikator ist selten größer als 1,5, meist sogar kleiner. Der Multiplikator ist größer, wenn zusätzliche Staatsausgaben getätigt werden. Er ist geringer, wenn das Haushaltsdefizit über Steuerermäßigungen der Besserverdienenden finanziert werden. Vor allem durch die außenwirtschaftliche Öffnung wird der Multiplikator verringert. Die autonomen zusätzlichen Staatsausgaben führen jedoch zu einer Erhöhung des Staatshaushaltsdefizits, das über zusätzliche Schuldenaufnahme des Staates finanziert wird. Die zusätzliche Staatsschuld muss verzinst und zurückgezahlt werden. Wird ein erheblicher Teil der zusätzlich nachgefragten Konsumgüter in Südchina produziert und von dort nach Deutschland exportiert, dann fällt ein entsprechender Anteil des Multiplikatoreffekts in Südchina an. Die Kosten dafür – Zinszahlungen – aber verbleiben in Deutschland. Sie müssen über Steuerzahlungen aufgebracht werden. Man kann darin eine „ungewollte Entwicklungshilfe“ sehen. Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen werden in der Regel für andere Zwecke ausgegeben als die Lohn und Gehaltseinkommen. Zu einem erheblichen Teil werden Einkommen aus Unternehmertätigkeit in Finanzmärkten angelegt. Deshalb können für sie auch keine den Lohneinkommen vergleichbare Multiplikatoren in Ansatz gebracht werden. ____________________________________________________________ Schon diese kurze Skizze zeigt, dass Geld- und Fiskalpolitik und damit die gesamte Wirtschaftspolitik immer auch im Hinblick auf die Zukunft betrachtet werden müssen. Die Zukunft ist unsicher. Die Ziele für vorausschauende, bewusst geplante Wirtschaftspolitik. d.h. diskretionäre Wirtschaftspolitik, können nicht sehr genau prognostiziert werden. Die Wirkungsverzögerungen von wirtschaftspolitischen Eingriffen ist ebenfalls nur ungenau bekannt. Das macht die Unsicherheit jeder Wirtschaftspolitik 78 aus. Die Unsicherheit bei diskretionärer Fiskalpolitik ist besonders groß. Das gilt auch für die Multiplikatoranalyse. Von vielen akademischen Wirtschaftswissenschaftlern und Zentralbankern wird gefordert, sich auf Geldpolitik plus eine Fiskalpolitik der eingebauten Stabilisatoren zu beschränken. Eingebaute Stabilisatoren sind von politischen Entscheidungen nicht abhängig. Sie funktionieren automatisch (Siehe auch Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren, dort insbesondere die Beispiele Schaukelstuhl und Brücke). Steigt z.B. die Arbeitslosigkeit, dann wird ein Teil der Einkommenseinbußen durch Zahlung von Arbeitslosenunterstützung kompensiert und die Nachfrage der privaten Haushalte sinkt weniger stark. Droht der Gesamtwirtschaft eine konjunkturelle Überhitzung, dann steigen die Einkommen der privaten Haushalte und ihre Nachfrage steigt. Wenn die Lohnsteuer progressiv ausgestaltet ist, d.h. die Steuerbelastung stärker steigt als die Besteuerungsgrundlage Einkommen, dann wird die Nachfrage gedämpft. Mit automatischen Stabilisatoren sind die Ausschläge des Konjunkturzyklus nach oben und nach unten weniger groß. Die Problematik der Treffsicherheit bei der Feinsteuerung wirtschaftspolitischer Eingriffe ist von den politischen Entscheidungsgremien in den Hintergrund gespielt worden. Anstatt sich mit der Konjunktursteuerung auseinander zusetzen, die auf die oben behandelten Schwierigkeiten stoßen, traten rein politische Kriterien in den Vordergrund der Fiskalpolitik. Politiker tendieren dazu, Einnahmen und Ausgaben nach ihren Interessen an der Wiederwahl zu orientieren. Budgetdefizite schwellen vor Wahlen an und stagnieren nach den Wahlen. Die Bedienung der politischen Klientel ist in den Vordergrund getreten. In der älteren Literatur über Fiskalpolitik spielt dagegen die „kompensatorische Finanzpolitik“ noch eine herausgehobene Rolle. Mit Hilfe der kompensatorischen Finanzpolitik sollten im Konjunkturaufschwung Haushaltsüberschüsse erzielt werden, die in eine Konjunkturausgleichsrücklage eingestellt werden. Im Konjunkturabschwung sollte diese Rücklage aufgelöst werden und die frei gewordenen Mittel sollten für den Konjunkturaufschwung ausgegeben werden. Der Staat hatte für eine entsprechende diskretionäre Fiskalpolitik Vorsorge zu treffen. Investive Ausgaben für den Abschwung sollten vorsorglich geplant werden. Sogenannte Schubladenprojekte, z.B. Infrastrukturprojekte sollten ausschreibungsreif ausgearbeitet und bereit gehalten werden, um allzu lange Wirkungsverzögerungen zu vermeiden. Im politischen System hat sich die 79 Konjunkturausgleichsrücklage nicht durchsetzen lassen. Auch das hat zu einer Erhöhung der Staatsausgabenquote erheblich beigetragen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt in der EU geht nicht so weit. Er schreibt nur vor, dass die Defizitquote minus drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes nicht unterschreiten soll. Dauerhafte Haushaltsüberschüsse sind erst für die mittelfristige Zukunft vorgesehen. Offensichtbar soll auf diesem Weg versucht werden, den Staatsanteil in der Wirtschaft zu senken. Die Staatsschuldenquote, das ist die Staatsschuld im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, soll 60% nicht überschreiten. In der gegenwärtigen wirtschaftspolitisch schwierigen Lage konnten einige wichtige Länder der EU, unter ihnen Frankreich und Deutschland, das Dreiprozentkriterium für die Defizitquote nicht einhalten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde überarbeitet und entschärft. Schon der absolutistische Staat des 17. und 18. Jahrhundert war in seinen Handlungsspielräumen enger begrenzt, als es dem Herrscher lieb sein konnte. Auch heute ist die wirtschaftspolitische Staatstätigkeit nicht allmächtig. Märke können versagen. Auch der Staat kann versagen. Wir stehen vor zwei Koordinationsformen: Marktmechanismus und hoheitliches Handeln des Staates. Beide sind nicht unfehlbar. Auch internationale Organisationen, die zunehmend in grenzüberschreitende Koordination einbezogen werden, haben Wahrheit und Weisheit nicht unbedingt gepachtet. Das kann dramatische Folgen zeitigen. Ein Beispiel ist der Umgang mit der hoch gefährlich eingestuften asiatischen Vogelgrippe (Siehe Kasten B10: Internationale Organisationen, Nationalstaaten, Märkte und die asiatische Vogelgrippe). Kasten B10: Internationale Organisationen, Nationalstaaten, Märkte angesichts der Bedrohung durch die asiatische Vogelgrippe Die WHO (World Health Organisation), eine mit gesundheitspolitischen Aufgaben betraute Unterorganisation der UNO, hat eine Warnung herausgegeben. In Thailand und in Vietnam ist eine Vogelgrippe ausgebrochen, die auf andere Tiere, Vögel, Katzen, Tiger etc. und Menschen übergesprungen ist. Sie kann von Tier zu Tier, von Tier zu Mensch und offenbar auch von Mensch zu Mensch übertragen werden. Sollte sie sich mit menschlichen Grippeviren verbinden, dann hätte sie sehr hohe Todesraten. Experten der WHO schließen nicht aus, dass daraus eine Pandemie entsteht, der in wenigen Wochen ebenso viele Menschen zum Opfer fallen könnten wie an Aids in einem Vierteljahrhundert gestorben sind. Es gibt Impfstoffe und Medikamente, die jedoch bei weitem nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen (International Herald Tribune 2004:30/09). Wie konnte angesichts der Möglichkeit einer verheerenden Pandemie eine solche Knappheit von Impfseren entstehen? Auch im Januar 2006, als die Vogelgrippe in der Türkei nachgewiesen wurde, hat sich diese Ausgangslage kaum verändert. 80 Märkte und Staaten sind mit der Unsicherheit über die zukünftige Nachfrage nicht fertig geworden. Unbekannt bleibt fürs erste, ob die Pandemie überhaupt ausbricht. Bricht sie nicht aus, dann sitzen Pharmaindustrie und Staaten auf hohen und sehr teuren Beständen. Die Staaten zögern mit Aufträgen. Die Pharmaindustrie hat die zur Bedarfsdeckung erforderlichen Investitionen aus diesen Gründen nicht vorgenommen. Würde die Pandemie bald ausbrechen und sich sehr schnell ausbreiten, dann wären die Folgen für die weltweite Gesundheitssituation katastrophal. Markt und Staat haben versagt. Beide Koordinationsmechanismen sind jeder für sich und erst recht zusammengeschaltet mit dem Problem offenbar überfordert, obwohl alle für die Entscheidungsfindung erforderlichen Informationen von der WHO bereitgestellt wurden. – In der gleichen Zeitung werden am 30/11/04 neue Schreckensszenarien veröffentlicht (International Herald Tribune). Die Zahlen der möglichen Opfer der Vogelgrippe könnte sich auf zweistellige Millionen belaufen, wenn die Übertragung unter Menschen schnell ist und die Todesrate sehr hoch. Gesundheitsorganisationen der USA haben inzwischen eine Warnung abgegeben (International Herald Tribune 22. 02 2005, Titelseite). Sie halten die asiatische Vogelgrippe für eine der größten Bedrohungen der heutigen Welt. In diesem Zusammenhang wird auch die große Grippewelle von 1918 erwähnt, die mit zwanzig bis vierzig Millionen Toten mehr Opfer gefordert hat als der erste Weltkrieg. – Ähnliche Konstellationen findet man bei den ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums (Siehe Unterabschnitt C4. Wachstum ohne Grenzen?). Wichtige Staatsaufgaben im Bereich der Gesundheitspolitik sind von den Nationalstaaten auf internationale Organisationen übertragen worden. Doch damit hat sich die Zahl der Kontrahenten erhöht, das Risiko eines Koordinationsversagens aber wurde nicht nur nicht beseitigt sondern sogar noch erhöht. Inzwischen hat sich die Vogelgrippe in für Menschen offenbar ungefährlichen Formen weiter ausgebreitet. Zugvögel und illegaler Handel mit Wildvögel spielen dabei eine Rolle. Ähnlich wie seiner Zeit bei der Ausbreitung der Pandemie Aids wird die Ausbreitung der Vogelgrippe mit mathematischen Modellen simuliert. Die Modellergebnisse sind für den Fall, dass die Vogelgrippe auf Menschen überspringt, auf eine sehr schnelle Verbreitung hin. Inzwischen gibt es Impfstoffe, deren Menge völlig unzureichend ist. Das kann zu wenig erbaulichen „Verteilungskämpfen“ führen. Auch die Pläne für Quarantänen, die bis auf die lokale Ebene ausgearbeitet werden müssen, sind auch in Deutschland völlig unzureichend. Ein Koordinationsversagen zwischen Markt, Staat und internationalen Organisationen kündigt sich mit furchterregenden Folgen für den Ernstfall an. Die Katastrophe von New Orleans im Spätsommer 2005 zeigt noch einmal deutlich die fatalen Folgen auf, die aus einem Koordinationsversagen entstehen können. ____________________________________________________________ Wenn man zwei mit Mängeln behaftete Koordinationsformen – den Marktprozess und hoheitliches Handeln – zusammenschaltet, muss man sich auf Überraschungen gefasst machen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich das beiderseitige Versagen zu ernsthaften Problemen aufschaukelt, für die es dann keine wirksamen Instrumente zur Problemlösung mehr gibt. Die gegenwärtige wirtschaftspolitische Lage Japans und vielleicht auch Deutschlands – eine Stagnation mit hartnäckiger Kaufzurückhaltung – sind dafür im wirtschaftlichen Bereich abschreckende Beispiele. Das „Aufschaukeln“ von wirtschaftlichen Problemen bezieht sich auf das berühmte Beispiel des Schaukelstuhls von Haberler. Stabilisatoren, die 81 Schwingungen dämpfen sollen, kommen auch in der Statik zur Anwendung. Sie wurden z.B. auch in eine Londoner Fußgängerbrücke eingebaut (Siehe Kasten B3: Makroökonometrische Modelle und eingebaute Stabilisatoren). 11) Vom Budgetdefizit zur Staatsschuld und ihren wirtschaftlichen Wirkungen Die kompensatorische Finanzpolitik konnte politisch nicht durchgesetzt werden. Damit war der Weg frei für eine dauerhafte Ausweitung des Staatshaushaltsdefizits, das zu einer Erhöhung der Staatsschuld führen muss. Der öffentlichen Hände (Bund, Länder, Gemeinden) können natürlich auch Teile ihres Vermögens – das Tafelsilber – veräußern. Damit kann vorübergehend das Defizit verringert werden. Eine endgültige Lösung der Probleme der Staatsschuld aber ist auf diesem Weg nicht erreichbar. Das Konzept der rationalen Erwartungen befasst sich mit diesem Problemkreis. Rationales Verhalten aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten wird unterstellt. Die Märkte funktionieren. Die wirtschaftliche Zukunft sei für alle überschaubar. Wenn eine Regierung unter solchen Vorraussetzungen ein Haushaltsdefizit fährt, um einen Konjunkturaufschwung herbeizuführen, dann reagieren die rational eingestellten Wirtschaftssubjekte auf ihre Weise. Sie wissen, dass das erhöhte Defizit zu einer erhöhten Staatschuld führt, die der Staat später zurückzahlen muss. Das aber wird ohne spätere Steuererhöhungen nicht möglich sein. Da die Wirtschaftssubjekte über ihre Lebenszeit ein ungefähr gleiches Einkommen anstreben, werden sie anfangen zu sparen, um die erwarteten Steuererhöhungen aus ihren Ersparnissen zu zahlen. Sie sparen deshalb bereits heute mehr und konsumieren weniger. Die erhofften Multiplikatoreffekte bleiben aus. Das Programm zur Ankurbelung der Konjunktur geht ins Leere (Siehe Kasten B9: Multiplikatoranalyse). Die heutige wirtschaftspolitische Lage der USA aber wird mit diesem Ansatz offenbar nicht abgebildet. Die Steuerermäßigungen der Präsidentschaft Bush II. haben das Haushaltsdefizit erheblich vergrößert. Die amerikanischen Haushalte aber sparen weiterhin extrem wenig. Selbst die Bewohner der USA, dem kapitalistischen Musterland, scheinen sich so rational nicht zu verhalten, wie es eine Reihe von Ökonomen gern sehen würde. Das Budgetdefizit setzt sich zusammen aus Staatsausgaben minus Staatseinnahmen. Bei einem Defizit sind die Ausgaben größer als die Einnahmen. Unterschieden wird zwischen Defizit und Primärdefizit. Im Primärdefizit sind die Zinszahlungen auf die Staatsschuld auf der Staatsausgabenseite nicht enthalten. Eine Obergrenze für die Staatsschuld 82 wird jetzt deutlicher sichtbar. Eine starke Erhöhung der jährlichen Defizite nämlich führt zu einer starken Erhöhung der Staatsschuld. Dann steigen auch die Zinszahlungen auf die erhöhte Staatsschuld entsprechend. In dieser Situation erhöht sich die Zinssteuerquote (staatliche Zinszahlungen zu Steuereinnahmen). Es ist unmittelbar einsichtig, dass die Zinssteuerquote nicht auf 100% ansteigen kann. Dann nämlich würden die gesamten Steuereinnahmen für Zinszahlungen aufgebraucht. Der Staat hätte dann keine Steuereinnahmen für den fiskalischen Steuerzweck, d.h. für die Bezahlung von Löhnen und Gehältern, Käufe von Gütern und Dienstleistungen etc. Eine politisch kritische Schwelle wird erreicht, wenn die Zinszahlungen gleich hoch oder höher sind als die Personalausgaben. Öffentliche Investitionen dürfen über zusätzliche Schulden finanziert werden. Hier gilt jedoch die Regel, die in den Verfassungen festgeschrieben ist, dass bei einem verfassungskonformen Haushalt die Aufnahme neuer Schulden nicht höher sein darf als die öffentlichen Investitionen. Für öffentliche Investitionen wird unterstellt, dass sie zum Wachstum und damit zu höheren Steuereinnahmen beitragen. Diese Regel darf nur in besonderen Notlagen nicht ausgesetzt werden. Viele Städte und Kommunen befinden sich gegenwärtig in solchen Haushaltsnotlagen. Debatten über die Höhe der Staatsschulden werden meist hitzig geführt. Irgendwann taucht dann auch der nur allzu oft missverstandene Begriff Ricardianischen Äquivalenz auf. Stark vereinfacht besagt die Ricardianische Äquivalenz, dass eine Erhöhung des Haushaltsdefizits durch einen Anstieg der privaten Ersparnis in gleicher Höhe kompensiert werden kann. Der private Verbrauch sinkt entsprechend. An die Stelle des niedrigeren privaten Verbrauchs tritt die erhöhte Staatsnachfrage. Unter dieser Annahme wirken sich Defizite weder auf die Nachfrage noch auf die Produktion aus. Die Erhöhung der Staatsschuld hat in dieser vereinfachten Darstellung keine Auswirkung auf die Akkumulierung von Kapital. In der wirtschaftspolitischen Praxis spielt die Ricardianische Äquivalenz keine Rolle. Schnell wachsenden Defizite führen zu einer höheren Nachfrage und einer höheren Produktion in der kurzen Frist. Das wäre in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Deutschlands wünschenswert, die durch eine hartnäckige Kaufzurückhaltung gekennzeichnet ist. In der langen Frist kann die Erhöhung der Staatsverschuldung jedoch zu einer geringeren Akkumulierung von Kapital und deshalb dann auch zu einer niedrigeren Produktion führen. 83 12) Entweder Inflation oder Arbeitslosigkeit: die Phillipskurve und die „natürliche“ Arbeitslosigkeit. Erwähnung verdient ein kurzer Hinweis auf die sogenannte Phillipskurve. Sie hat seit dem Ende der fünfziger Jahre und stark abgeschwächt bis heute die Gemüter der Ökonomen bewegt und früher sogar einmal erhitzt. Die Phillipskurve war das Lieblingskind von Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Er hätte lieber ein Prozent Inflation mehr als ein Prozent mehr Arbeitslosigkeit gehabt. Es gab schon immer Schwierigkeiten mit der empirischen Darstellung der Phillipskurve. Die Daten wollten nicht so recht mitspielen. Bis in die siebziger Jahre glaubte man einigermaßen sichere Datenlage zu haben. Für die achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts trifft das mit Sicherheit nicht mehr zu. ____________________________________________________________ Abbildung Bf: Die Phillipskurve und die „natürliche“ Arbeitslosenquote Abbildung Bfa: die Philippskurve Die Phillipskurve geht auf eine empirische Arbeit des britischen Ökonomen Arthur W. Phillips aus dem Jahr 1958 zurück. Dort wurde ein Zusammenhang zwischen Nominallohnänderungen und Arbeitslosenquote hergestellt. Das ist zunächst einmal eine empirisch gesicherte Feststellung, die zeitlich begrenzt ist. Sie wurde dann von Ökonomen in einen funktionalen Zusammenhang uminterpretiert. An die Stelle der Nominallohnänderungen tritt die Inflationsrate. Eine andere Interpretation sieht in der Philippskurve eine funktionale Beziehung. Die Inflationsrate (abhängige Variable) ist dann eine zunehmende Funktion der Arbeitslosenquote (unabhängige Variable) oder umgekehrt. Wenn die Arbeitslosenquote sinkt, dann steigt die Inflationsrate oder umgekehrt, wenn die Inflationsrate sinkt, dann steigt die Arbeitslosenquote. Ökonomen sprechen dann in ihrem Jargon von einem „trade-off“. Eine solche Funktion muss theoretisch begründet werden. Vom Wenn-dann geht man zur Warumfrage über und sucht die passende Antwort. Abwegig wäre die voreilige Behauptung: die Arbeitslosenquote steigt, weil die Inflationsrate sinkt. – Der funktionale Zusammenhang wird in der folgenden Darstellung abgebildet. Inflationsrate Arbeitslosenquote Abbildung Bfb: die natürliche Arbeitslosenquote 1968 veröffentlichte Milton Friedman einen Beitrag, in dem er die Gültigkeit der Philippskurve bestritt. Die Philippskurve gilt nur kurzfristig. Sie stößt an eine Grenze, die sogenannte „natürliche“ Arbeitslosenquote, die langfristig gültig ist. In der Abbildung b ist sie als Senkrechte dargestellt, die auf die X-Achse (Arbeitslosenquote) trifft. Unterschreitet die Arbeitslosenquote die Grenze der „natürlichen“ Arbeitslosenquote, dann nimmt die Inflationsrate zu. Die Arbeitslosenquote fällt auf die „natürliche“ Arbeitslosenquote zurück. Siehe die folgende 84 Abbildung. Die natürliche Arbeitslosenquote wird in der angelsächsischen Literatur meist NAIRU (non-accelerating inflation rate of unemployment) genannt. „natürliche“ Arbeitslosenquote Inflationsrate Arbeitslosenquote ____________________________________________________________ Friedmans Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosenquote hat sich seiner Zeit bewährt. Die „natürliche“ Arbeitslosenquote gilt langfristig. Die Phillipskurve dagegen wurde auf die kurze Frist zurechtgestutzt. In den frühen siebziger Jahren wurde das Konzept zum Politikum. Es wurde behauptet, dass linke Regierungen eine niedrige Arbeitslosenquote favorisierten, die links von der Gerade der „natürlichen“ Arbeitslosenquote liegt. Damit aber seien sie für eine sich selbst verstärkende Inflation verantwortlich, die nur mit hohen Verlusten an Wachstum und Beschäftigung bekämpft werden könne. Die britische Labourregierung ist damals mit ähnlich lautenden Argumenten abgewählt worden. An diesem Beispiel sieht man einmal mehr, dass wirtschaftswissenschaftliche Konzepte durchaus auch politisch wirksam werden können. Inflationsraten können in der Tat leicht außer Kontrolle geraten. Die Wirtschaftssubjekte entwickeln Inflationserwartungen, ziehen Käufe vor, um erwarteten Preiserhöhungen zuvor zu kommen. Genau damit aber tragen sie zu den Preiserhöhungen bei. Die Inflationsrate beschleunigt sich in selbstverstärkender Weise. Auf diese Weise verursachen die Wirtschaftssubjekte gesamtwirtschaftlich, was sie einzelwirtschaftlich befürchten. Dann aber ist auch der Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, so wie er in der Phillipskurve dargestellt wird, nicht mehr vorhanden. Friedman hat eine Stagflation vorhergesagt, d.h. eine Inflation plus Stagnation. Diese Vorhersage ist eingetroffen. Weiterhin gilt er als der Initiator des Monetarismus, d.h. er hat eine (nicht unbedingt neue) Geldpolitik empfohlen, mit der die Stagflation erfolgversprechend bekämpft 85 werden könnte und schließlich auch erfolgreich bekämpft wurde. Das hat ihm 1976 den Nobelpreis eingebracht. Die empirische Überprüfung der „natürlichen“ Arbeitslosenquote stieß ebenfalls auf Schwierigkeiten. Sie kann sich im Zeitablauf auf der X-Achse verschieben. Die Verschiebung ist jedoch nicht prognostizierbar. In den achtziger und den frühen neunziger Jahren wurde der „natürlichen“ Arbeitslosigkeit eine Art Signalwirkung zugeschrieben. Fiel die Arbeitslosigkeit unter die für realistisch angenommene „natürliche“ Arbeitslosenquote, dann wurde erwartet, dass die Zentralbank mit einer Zinserhöhung reagiert, um die möglichen Inflationserwartungen zu brechen. Die Finanzmärkte haben die erwartete Zinserhöhung seitens der Zentralbank durch Kursabschläge vorweggenommen. Die Zinserhöhung führte zu einer Dämpfung des Konjunkturlage. Ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ist das Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosenquote in den Hintergrund getreten. Auch die Wirtschaftswissenschaft unterliegt mehr oder weniger schnell wechselnden Moden. Sarkastische Stimmen behaupten, dass sie schneller wechseln als in der Textilbranche. Für den schnellen Wechsel könnten auch die ideologischen Bedürfnisse von Interessengruppen verantwortlich sein, die sich rechtfertigen wollen. Wie dem auch sei: das Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosigkeit ist in entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften offenbar kein allgemein und ein für alle mal gültiges Gesetz. In den USA hatte sich in den neunziger Jahren ein Boom durchgesetzt mit hohen Wachstumsraten, niedriger Arbeitslosigkeit und niedrigen Inflationsraten. Die außenwirtschaftliche Öffnung der USA und die Liberalisierung bzw. die Internationalisierung der Finanzmärkte sollen dazu beigetragen haben. In der Nachkriegsära war Vollbeschäftigung schon einmal verwirklicht worden und die Arbeitslosenquote lag in Deutschland zeitweise unter einem Prozent. Dazu kann auch das Wechselkursregime von Bretton Woods beigetragen haben. Deshalb ist es erforderlich, sich einen kurzen Überblick über Wechselkursregime und Währungspolitik zu verschaffen. Im Begriff der „natürlichen“ Arbeitslosenquote taucht wieder einmal die gesellschaftliche Natur des marktwirtschaftlichen Kapitalismus auf. In den historisch besonderen ökonomischen Verhältnissen dieser Produktionsweise entspricht der Rückgriff auf gesellschaftliche Naturzustände dem Wunsch, die ökonomischen Verhältnisse in einem dauerhaft fest gefügten Zustand zu wissen und zu erhalten. Unter „natürlicher“ Arbeitslosigkeit ist hier ganz einfach die langfristige Arbeitslosigkeit zu verstehen, auf die sich die Wirtschaftssubjekte in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Verhalten 86 einzustellen haben. Wie bei fast allen Aussagen dieser Art gibt es auch hier Gewinner und Verlierer. Es fällt nicht schwer herauszufinden, auf welcher Seite die Verlierer und auf welcher die Gewinner in einer Konstellation der „natürlichen“ Arbeitslosigkeit zu finden sind. 13) Wechselkursregime und Währungspolitik Moderne kapitalistische Marktwirtschaften sind offene Wirtschaften, offen für grenzüberschreitende Güter-, Dienstleistungs- und Kapitaltransaktionen. Seit Jahrzehnten wachsen die Exporte erheblich schneller als die nationalen Bruttoinlandsprodukte. Die Öffnung der Nationalwirtschaften hat im Zuge der Liberalisierung der internationalen Devisen- und Kapitalmärkte in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts besonders stark zugenommen. Die offizielle Lesart dieser wirtschaftlichen Öffnung beruft sich auf die Theorie des Freihandels, nach der alle am Freihandel beteiligten Länder Vorteile erzielen. Mit der katastrophalen wirtschaftlichen Lage vieler kleinerer Entwicklungsländer kann eine solche Erklärung nur schwer in Einklang gebracht werden. Die Ausbreitung des Welthandels ist nur mit einem funktionsfähigen internationalen Währungssystem möglich. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Menge des Weltgeldes (früher Gold, heute Dollar) zu vergrößern. Ohne Zunahme der Menge des Weltgeldes kann der Welthandel bei konstanter Umlaufsgeschwindigkeit des Weltgeldes nicht expandieren. Das internationale Währungssystem des modernen kapitalistischen Weltsystems kann auf verschiedene Weise reguliert werden. Es kann ein Regime mit fixen oder mit flexiblen Wechselkursen sein. Der Wechselkurs einer Währung ist der Preis der einheimischen Währung, ausgedrückt in einer ausländischen Währung: 1€ = 1,30 $. In einem Regime mit fixen Wechselkursen sind die Wechselkurse für unbestimmte Zeit von den Regierungen festgelegt. Das gilt heute z.B. für den US $ und die chinesische Währung. Bei flexiblen Wechselkursen bilden sich die Preise für Währungen auf den Devisenmärkten. Zwischen Fixkurs- und Flexkursregime liegen Mischsysteme, die mehr oder weniger gut funktionieren. Im 18. und 19. Jahrhundert und bis hinein in die frühen dreißiger Jahre stand der Goldstandard im Vordergrund. Seine Blütezeit war von 1880 bis 1913. Der Ursprung des Goldstandards war aus heutiger Sicht ein Zufallsprodukt. Im 18. Jahrhundert herrschte in England der Bimetallismus, d.h. ein Währungssystem mit Gold und Silber als Zahlungsmittel. Der Preis von Gold ausgedrückt in Silber, schwankte. Die Regierung intervenierte und setzte den 87 Goldpreis zu niedrig bzw. den Silberpreis zu hoch an. Das Greshamsche Gesetz kam zum Zuge. Auf den einfachsten Nenner gebracht lautet dieses Gesetz: das schlechte Geld verdrängt das gute Geld. Gutes Geld ist wertbeständig, schlechtes Geld ist es nicht. Gutes Geld wird deshalb behalten oder gehortet. Schlechtes Geld wird so schnell wie möglich ausgegeben. Rechnungen werden vorzugsweise mit schlechtem Geld bezahlt. Gresham (1519 – 1579) war ein britischer Geschäftsmann und Staatsbeamter. Das schlechte Geld (Gold) verdrängte das gute Geld (Silber). Silber wurde gehortet. Gold wurde verstärkt auch international als Zahlungsmittel in Umlauf gebracht. England war damals im Seehandel die internationale Führungsmacht. Immer mehr Länder schlossen sich dem Goldstandard an, da das Netzwerk der internationalen Handels- und Währungsbeziehungen, das Großbritannien unterhielt, dann auch für sie offen stand. Im wirtschaftswissenschaftlichen Jargon spricht man von positiven Netzwerkeffekten. Gold wurde auf diesem Weg zum nationalen und internationalen Zahlungsmittel. Die inländischen Währungen waren meist keine Goldumlaufswährungen sondern in vielen Fällen Papiergeldwährungen, die zu einem bestimmten Prozentsatz mit Gold gedeckt sein mussten. Der Goldstandard war ein Fixkurssystem. Der Wert des inländischen Geldes ausgedrückt in Gold musste konstant gehalten werden. Abweichungen der inländischen Währung vom Goldwert – der Goldparität – müssen korrigiert werden. Wenn im Inland Inflation entsteht, dann steigt der Goldpreis im Inland, d.h. die inländische Währung wird abgewertet. Die geldpolitischen Instanzen (Regierung und/oder Zentralbank) können in einer solchen Situation inländische Währung gegen Gold aufkaufen, so lange bis die Goldparität wiederhergestellt ist. Vorausgesetzt wird, dass die geldpolitischen Instanzen über genügend Goldvorräte verfügen. Das war oft nicht der Fall. Reichen die Goldvorräte nicht, muss die Goldparität neu festgesetzt werden. Ein restriktiver wirtschaftspolitischer Kurs wird mittels Geld- und Fiskalpolitik durchgesetzt. Es kommt dann zu einer Wiederaufwertung der inländischen Währung im Verhältnis zum Gold, mit der deflatorische Tendenzen verbunden sein können. Nicht immer ist diese Politik zur Zeit des Goldstandards erfolgreich gewesen. Inländische Inflationsherde können über die Beschleunigung der Umlaufsgeschwindigkeit des inländischen Papiergeldes eingeleitet werden. Oft stellte Zentralbank der Regierung umfangreiche Kredite aus neu geschaffener inländischer Währung zu fiskalpolitischen Zwecken zur Verfügung, z.B. für Rüstungsprogramme. Einer stark expandierenden Fiskalpolitik wird eine besonders starke inflationäre Wirkung zu geschrieben, insbesondere wenn die Produktionskapazitäten ausgelastet sind und das 88 Haushaltsdefizit bereits hoch ist. Für Währungsspekulanten schlägt jetzt die Stunde. Sie erwarten weitere Abwertungen, nehmen Kredite in inländischer Papierwährung auf, tauschen sie zum Kurs der noch bestehenden Goldparität in Gold um, warten eine Zeitlang, bis die inländische Währung gegenüber dem Gold weiter abgewertet ist. Dann tauschen sie Gold zu einer weil abgewerteten erhöhten Summe in inländischer Währung zurück, sind reicher geworden usw. Sie verstärken auf diese Weise den Abwertungsdruck, der schließlich zu einer Neufestsetzung der Goldparität führt. Das Beispiel ist nicht nur von historischem Interesse. Es ist auf heutige ähnliche Situationen übertragbar. An die Stelle des Goldes kann eine andere Währung treten, der US-Dollar, der Euro etc. In den achtziger Jahren wurde Großbritannien im Rahmen des damaligen Fixkurssystems (Europäisches Währungssystem) das britische Pfund abgewertet. Ein Spekulant (Mister Soros) hatte eine feine Nase und vermutete, dass die Abwertung des britischen Pfundes bevorstehen könne (vielleicht hatte er auch ein „Insiderwissen“, d.h. er wusste von den Absichten der britischen Regierung?). Er nahm in England hohe Kredite in Pfund auf, tauschte sie in DM. Die Abwertung des Pfundes fand tatsächlich statt. Der Spekulant tauschte DM in Pfund zurück und war erheblich reicher als vorher. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig Informationen sind und wie nützlich der Zugang zu Information sein kann. Viele Währungsspekulanten sind nicht Ausländer sondern Inländer, die gegen ihre eigene Währung spekulieren. Zur Zeit steht der chinesische Yuan unter Aufwertungsdruck. Chinesische Spekulanten, sogar chinesische Staatsbetriebe, tauschen ihre Dollarpositionen gegen einheimische Währung, um Währungsverluste zu vermeiden. Damit tragen sie dazu bei, dass der Yuan aufgewertet wird. Genau das aber wollen sie nicht, denn dann werden die chinesischen Exporte entsprechend teurer und die exportierten Mengen könnten sinken. Das was ihnen einzelwirtschaftlich Vorteile beschert, kann sich gesamtwirtschaftlich durchaus auch gegen sie wenden. Nach den währungspolitischen Wirren gegen Ende und nach dem 2. Weltkrieg wurde auf einer Konferenz in den USA in Bretton Woods (Neuengland, USA), ein Fixkursregime ausgearbeitet, das eine der wesentlichen Grundlagen des „goldenen Zeitalters“ der Nachkriegsepoche darstellt. Die Erfahrungen mit dem Goldstandard wurden in die Konstruktion des Bretton-Woods-Systems aufgenommen. An die Stelle des Goldes sollte nach Keynes’ Vorschlag eine synthetische Währung das Bancor treten. Nach längeren Debatten wurde jedoch der US $ als Leitwährung ausgewählt. Damit hatte die amerikanische Zentralbank das Monopol der Schaffung 89 internationaler Zahlungsmittel, d.h. von Weltgeld. Die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA wurde dadurch verstärkt. Eine der Schwächen der Goldwährung war ihre Abhängigkeit von Goldfunden. Es war nicht durchgängig möglich, die Menge an Weltgeld (Gold) parallel zum möglichen Wachstum der Transaktionen zu vermehren. Nachdem der Dollar die Rolle des Weltgeldes übernommen hatte, brauchten die USA nur ein entsprechend hohes Leistungsbilanzdefizit herbeizuführen, um die erforderliche Menge an Weltgeld d.h. internationalen Zahlungsmitteln zu schaffen. Die USA hatten weiterhin die Möglichkeit, ihre Auslandsschuld mit US-Dollar also Geld zurückzuzahlen, das sie selber schaffen konnten. Verglichen mit Ländern, die ihre Auslandsschuld mit Fremdwährung begleichen müssen, ist das ein sehr erheblicher Vorteil. Die USA haben unter diesen Vorraussetzungen eine riesige Auslandsschuld in US-Dollar aufgebaut. Nun aber scheint sich das Blatt auch für die USA zum schlechteren zu wenden. Die asiatischen Zentralbanken und möglicherweise auch die der Staaten der Golfregion ersetzen vorsichtig Dollar durch Euro und andere Währungen in ihren Portfolios. Das führt zu einer Erosion des Dollars als Weltwährung. Es könnte dann der Fall eintreten, dass die USA sich wie die meisten Länder nur noch in Fremdwährung – Yen, Yuan oder vor allem Euro – verschulden können. Die Gestaltungsspielräume für Wirtschaftspolitik würden verkleinert. Die Rolle der USA als imperiale Wirtschaftsmacht würde dadurch erheblich beeinträchtigt. In den sechziger Jahren wurde das Fixkurssystem von Bretton Woods institutionell aufgeweicht und von Finanzströmen umgangen. Illegale Kapitaltransfers fanden statt. Das erfolgreiche Wechselkursregime wurde schließlich nicht repariert sondern aufgegeben zugunsten eines Systems der flexiblen Wechselkurse. Die Handlungsspielräume der Zentralbanken bei der Bekämpfung der Inflation der frühen siebziger Jahre wurden vergrößert. Die Zentralbanken wurden autonom. Der Nachteil des Systems flexibler Wechselkurse liegt in den sehr großen Schwankungen der nominalen Wechselkurse. Sie können selbst bei den Währungen großer entwickelter kapitalistischer Markwirtschaften zuweilen bis zu hundert Prozent betragen. Bei steigenden Dollarkursen erhöhen sich die Schulden der Entwicklungsländer entsprechend und sie müssen für den Schuldendienst erheblich mehr Exporterlöse erzielen. Bei sinkenden Dollarkursen kehrt sich dieser Prozess wieder um. Wenn heute die Inflation kein Problem mehr wäre, dann stünde auch der Einführung eines Fixkurssystems zwischen Dollar, Yen und Euro nichts mehr im Wege (Rober Mundel, Nobelpreis 1999) – nichts außer den imperialen 90 Interessen der USA. In Asien gibt es bereits eine Variante eines Fixkurssystem, die nach der Asienkrise 1997 schrittweise aufgebaut wurde (Roubini 2005). Eine solche Entwicklung deutet auf eine mögliche Alternative zu dem gegenwärtigen Weltwährungssystem. Zu regeln wäre dann noch die Neuregulierung der internationalisierten Devisen- und Kapitalmärkte. Mächtige Finanzinteressen leisten heftigen Widerstand gegen eine solche Reform. Von der Sache her, wenn auch nicht unbedingt von den Machtverhältnissen her gesehen wäre die gegenwärtige weltwirtschaftliche Situation günstig für eine Reform des Weltwährungssystems. Mächtige Finanzinstitutionen haben jedoch an der Existenz von stark schwankenden Wechselkursen ein vitales Interesse. Sie verdienen sich daran goldene Nasen. Das täglich gehandelte Devisenvolumen soll zeitweise erheblich mehr als eine Milliarde Euro (mehr als tausend Mio.) betragen. Nur ein Teil davon sind Kurssicherungsgeschäfte (hedging) (Siehe Kasten B11: Kurssicherungsgeschäfte (hedging)). Der weitaus größere Teil der Devisentransaktionen könnte durch eine Devisenumsatzsteuer weggefegt werden. James Tobin (Nobelpreis 1981) hat die Einführung einer solchen Steuer auf Devisentransaktionen vorgeschlagen, die nach ihm benannte Tobin Tax. Eine solche Steuer zielt auf ein wirtschaftspolitisches und nicht auf ein fiskalisches Ziel. Das Volumen der Devisentransaktionen soll drastisch verringert werden. Gelingt das, dann sinken natürlich auch die Einnahmen aus dieser Steuer. Die Bewegung Attac hat die Einführung dieser Steuer zu einem ihrer Ziele gemacht. Kasten B11: Kurssicherungsgeschäfte (hedging) Starke Wechselkursschwankungen verursachen hohe Ertragsrisiken. Ein gutes Beispiel liefert die Kursentwicklung des Euro. Im Juni 2001 wurde für 1 € noch 0,85 $ bezahlt. Anfang 2005 waren es 1,29 $. Das ist eine Aufwertung des Euro um rd. 52%. Ein Unternehmen kann eine solche Schwankungen seiner Exporterlöse nicht verkraften. Das Währungsrisiko muss abgesichert werden. Hedging, das ist die Absicherung gegenüber Kursrisiken, wird unausweichlich. Auch hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Wir wollen uns auf das Grundgeschäft beschränken. Um das Kursrisiko auszuschalten, muss auf Terminmärkten für zukünftige Dollarverkäufe ein Gegengeschäft abgeschlossen werden. Bei einem solchen Termingeschäft wird zum heute geltenden Kurs für einen zukünftigen Termin ein Dollarbetrag in Euro getauscht. Damit sind die Exporterlöse gegen Wechselkursverluste abgesichert, wenn der Dollar fällt. Gleichzeitig aber wird auf Wechselkursgewinne verzichtet, wenn der Dollar steigt. Damit kann z.B. ein Produktionsbetrieb sicher gehen, dass er seine Umsatzerlöse zu stabilen inländischen Preisen erwirtschaftet, vermindert um die Kurssicherungskosten. Aber wie bereits gesagt, ist dies nur das Grundgeschäft des hedging. Die Wirklichkeit ist komplexer. Doch auch bei den wirklichen Kurssicherungsgeschäften kommt es auf Geschick und wie immer bei Unsicherheit auch auf ein Quäntchen Glück an. – Es wird berichtet, dass VW seine Exporterlöse aus dem Dollarraum nicht ausreichend abgesichert hat und dass deshalb hohe Verluste drohen. Porsche dagegen soll den 91 überwiegenden Teil seines Gewinns nicht aus der Produktion bzw. dem Verkauf von Edelkarossen sondern aus Gewinnen bei der Kurssicherung erzielt haben. Das Wechselkursregime und die Regulierung der Finanzmärkte haben einen großen Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume. Es gilt die Faustregel: im Fixkurssystem ist Fiskalpolitik wirksamer und im Flexkurssystem ist Geldpolitik wirksamer. Im Fixkurssystem gibt es darüber hinaus Unvereinbarkeiten für Wirtschaftspolitiken, wenn die Finanzmärkte liberalisiert sind. Sie werden in der folgenden Abbildung Bg eines „Dreiecks der Unvereinbarkeiten“ dargestellt werden. ______________________________________________________________ Abbildung Bg: Dreieck der Unvereinbarkeiten im Fixkurssystem Liberalisierte Finanzmärkte Fixkursregime Autonomie der Geldpolitik Nur je zwei Ecken des Dreiecks verweisen auf vereinbare Politiken. Drei Ecken können nicht gleichzeitig verwirklicht werden. Die neuen Beitrittsländer zur EU können ein Lied davon singen. Sie müssen einen Fixkurs zum Euro durchsetzen. Ihre Finanzmärkte sind weitestgehend liberalisiert. Ihre Wirtschaftspolitik, d.h. insbesondere ihre Geldpolitik ist weitgehend lahmgelegt. Die Fiskalpolitik, die in einem Fixkurssystem im Prinzip funktioniert, ist durch das Defizitkriterium von 3% nahezu außer Kraft gesetzt. Das bedeutet für die meisten Beitrittsländer, dass sie gegen Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche wenig bis nichts unternehmen können. An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, dass die Liberalisierung und die Internationalisierung der Finanzmärkte vielleicht der Entwicklungslogik kapitalistischer Marktwirtschaften entspricht, aber die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume erheblich verengt. Ähnliche wirtschaftspolitische Engpässe können bei äußeren Schocks entstehen (Siehe Kasten B12: Wirtschaftspolitische Reaktionsmöglichkeiten auf einen äußeren Schock in einem Fixkurssystem). Zu unterscheiden ist zwischen einem vorrübergehenden und einem definitiven Schock. Ein vorübergehender Schock wäre z.B. eine zeitlich begrenzte Erhöhung von 92 Rohstoffpreisen. Ein definitiver Schock wäre ein Nachfrageausfall bedingt durch technischen Wandel, z.B. die Verdrängung von Segelschiffen durch Dampfschiffe. Die meisten Segelmacher würden aus dem Markt verdrängt. Dagegen gibt es keine wirtschaftspolitischen Gegenstrategien. Nur die Folgen könnten wirtschaftspolitisch abgefedert werden. ______________________________________________________________ Kasten B12: Wirtschaftspolitische Reaktionsmöglichkeiten auf einen äußeren Schock in einem Fixkurssystem Ein Beitrittsland wird von einem vorrübergehenden äußeren Schock getroffen, z.B. eine schwere Unwetterkatastrophe oder ein starke Erhöhung des Ölpreises. Die Regierung des betroffenen Landes will den Fixkurszusammenhang mit der Eurozone nicht aufgeben, der eine der Beitrittsvoraussetzungen ist. Die Zentralbank senkt die Zinsen, um der Wirtschaft wieder auf die Sprünge zu helfen. Finanzintermediäre, d.h. vor allem Banken, Fonds usw., nehmen in dem betroffenen Land Kredite auf und transferieren sie in die Eurozone, um sie zu den dortigen Zinsen oder vielleicht ein wenig billiger an Kreditnehmer weiterzuleiten. Die Finanzmärkte sind frei und die Zentralbank des Beitrittslandes kann diesen Kapitalexport nicht verhindern. Die Finanzintermediäre transferieren so lange bis im Beitrittsland die Zinsen wieder steigen. Ein größeres Fiskalprogramm ist wegen der 3%-Defizitquote nicht durchführbar. Da keine nennenswerte wirtschaftspolitische Gegensteuerung möglich ist, wird das Wirtschaftswachstum einbrechen und die Arbeitslosigkeit wird sich erhöhen. Eine angemessene wirtschaftspolitische Strategie bei einem vorübergehenden äußeren Schock wäre eine Abwertung der einheimischen Währung, eine Zinssenkung und ein massives Ausgabenprogramm des Staates gewesen. Dieses Programmpaket ist nicht realisierbar. Hinter dem Dreieck der Unvereinbarkeiten steht die marktradikale Hypothese einer einwandfrei funktionierenden Marktwirtschaft. Deshalb gibt es nicht einmal eine Vorsorge gegen äußere Schocks! Es bleibt einem solchen Land dann nur der Weg nach Brüssel, um Sonderbeihilfen zu erhalten. Die Möglichkeiten dürften eng begrenzt sein. ____________________________________________________________ Wechselkursregime und Wechselkursrelationen sind für die Entwicklungsmöglichkeiten besonders von kleinen Ländern von großer Bedeutung. Ungünstige Wechselkursrelationen zwischen ehemaligen Mutterländern und ihren ehemaligen Kolonien haben die Entwicklungsmöglichkeiten vieler Staaten in der dritten Welt erheblich beeinträchtigt. Das gilt auch für die Beziehungen zwischen den USA und lateinamerikanischen Staaten. Es ist für große, wirtschaftlich entwickelte Marktwirtschaften vergleichsweise leicht, die Wechselkursregime mit kleineren abhängigen Staaten zu ihrem eigenen Vorteil zu gestalten und zu nutzen. Die oben skizzierte wirtschaftspolitische Konstellation gleicht den wirtschaftspolitischen Problemlagen, die während der erfolgreichen Periode des Goldstandards (1880-1914) oft zu beobachten waren. Das Fixkurssytem von Bretton Woods dagegen hatte die Lehren aus den Problemen des Goldstandards gezogen. Es gab keine liberalisierten und internationalisierten 93 Finanzmärkte, statt dessen aber strenge Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen. Sie wurden allmählich in kleinen Schritten abgebaut, bis dieses Wechselkursregime aufgegeben werden musste. Keynes, der den Niedergang des Systems von Bretton Woods nicht mehr erlebt hat, hatte vehement die Ansicht vertreten, dass die Finanzmärkte nationalstaatlich und nicht international reguliert werden sollten. Hatte er wieder einmal und diesmal sogar posthum recht? In einem Wechselkursregime flexibler Wechselkurse werden die Kurse am Markt hergestellt. Weniger beachtet wird meist, dass die Zentralbanken die Möglichkeit haben, die Geldmenge zu erhöhen. Die Zentralbank hat in diesem Bereich das Monopol. Sie kann über die Vermehrung der Geldmenge und auf anderen Wegen, z.B. durch Ankauf und Verkauf von Fremdwährungen in die Kursentwicklung eingreifen. Gegenwärtig wird diskutiert, ob die Europäische Zentralbankbank zusammen mit der japanischen Zentralbank durch vermehrte Käufe von Dollar den sinkenden Kurs der amerikanischen Währung bremsen sollten. Nur in Ausnahmefällen wird der Kurs einer Währung ausschließlich auf den Devisenmärkten bestimmt. Nur allzu oft wird direkt und indirekt interveniert, auch wenn das marktradikalen Ökonomen nicht gefällt. In diesen Fällen spricht man von „schmutzigem Floaten“. Auf- und Abwertungen von Währungen finden immer wieder statt. In einem Fixkurssystem werden sie unter allen Teilnehmern vereinbart. Bei einem System mit fluktuierenden Wechselkursen werden sie mehr oder weniger von den Märkten bestimmt. Für Ökonomen hoch interessant ist der gegenwärtig laufende Versuch der USA, den Dollar in einer sanften Landung d.h. in kleinen Schritten abzuwerten. Dabei versprechen sich die USA die in Abbildung Bh aufgezeichnete Verlaufsform. ___________________________________________________________ Abbildung Bh: J-Kurve und Dollarabwertung Wird die einheimische Währung, in diesem Fall der Dollar, abgewertet, dann nimmt die Entwicklung der Handelsbilanz den Verlauf einer Kurve, die die Form eines „J“ hat. Mrd $ Handelsbilanzüberschuss Handelsbilanz t1 t2 Zeit 94 Handelsbilanzdefizit Bei einer Abwertung zum Zeitpunkt t1 vergrößert sich das Handelsbilanzdefizit noch eine Zeitlang. Die Importpreise erhöhen sich. Die Mengen aber verringern sich erst später, bis die Importaufträge von vor der Abwertung zum alten höheren Kurs abgearbeitet sind. Ähnliches gilt für die Exporte. Die Mengen bleiben zunächst gleich, wenn die Exportpreise fallen, weil die Exportbestellungen zu den alten Bedingungen noch zu erfüllen sind. Deshalb erhöhen sich die Exportmengen ebenfalls erst später. Unter diesen Bedingungen erhöht sich das Handelsbilanzdefizit bevor es abnimmt, um sich nach dem Überqueren der Zeitachse zum Zeitpunkt t2 in einen Handelsbilanzüberschuss zu verwandeln. Doch muss der angestrebte Erfolg einer Abwertung – die Verwandlung des Handelsbilanzdefizits in einen Handelsbilanzüberschuss oder zumindest eine substantielle Verringerung des Handelsbilanzdefizits – nicht in allen Fällen gelingen. Die mengenmäßige inländische Nachfrage nach Importgütern und die mengenmäßige ausländische Nachfrage nach Exportgütern des abwertenden Landes muss entsprechend stark reagieren. Das ist für die USA sicher der Fall. Man kann sich jedoch auch Länder vorstellen, bei denen eine Abwertung nicht funktioniert, z.B. bei Mittelmeerländern, die Industrieerzeugnisse importieren und landwirtschaftliche Erzeugnisse exportieren. Die durch die Abwertung verteuerten Importe müssen in den gleichen Mengen importiert werden, um die inländische Produktion aufrecht zu erhalten. Für die verbilligten landwirtschaftlichen Erzeugnisse gibt es einfach keine zusätzliche ausländische Nachfrage. Unter solchen Bedingungen, die nicht unrealistisch sind, gelingt es nicht, das Handelsbilanzdefizit wieder in den positiven Bereich zu bringen – siehe gepunktete Linie. ____________________________________________________________ Wie bereits im Text der Abbildung Bh dargestellt treten in der Folge von Abwertungen Wirkungsverzögerungen auf. Zunächst kommt es sogar zu einer den Absichten der Abwertung entgegengesetzten Erhöhung des Handelsbilanzdefizits. Dann erst dreht sich die Kurve in die gewünschte Richtung. Diese Wirkungsverzögerung kann man mit den fünf folgenden Argumenten begründen: (1) die Wirtschaftssubjekte müssen die Bedeutung der preislichen Veränderungen, die durch die Abwertung entstanden sind, einschätzen; (2) Entscheidungsfindung angesichts der neuen Lage; (3) Erkundung der Lieferfristen und Transportbedingungen, (4) Ergänzung von Lagerbeständen und Beschaffung von zusätzlichen Maschinen; (5) Erhöhung der Produktion, für die sich die Nachfrage infolge der Abwertung erhöht hat. – Auch die gegenwärtige Abwertung des Dollar greift nicht sofort sondern erst nach einigen Monaten. Diese Wirkungsverzögerung wird sich auch für Europa erst mit einer gewissen Verspätung bemerkbar machen. In der kurzfristigen Perspektive, in der sich die Überlegungen bisher bewegten, steht der nominale Wechselkurs im Vordergrund. In der längerfristigen Betrachtung pendeln sich Exporte und Importe nach dem realen Wechselkurs ein. Der reale Wechselkurs ist der preisbereinigte nominale Wechselkurs. Die Preisbereinigung wirft Probleme auf, die nur unvollkommen gelöst werden können. Es wird ein Index berechnet, der das 95 Verhältnis zwischen den realen Preisen des exportierenden Landes und der importierenden Ländern abbildet. Das ist grob gesprochen der multilaterale reale Wechselkurs. Nominale Wechselkurse sind für die Finanzmärkte wichtig. Für Exporte und Importe sind in der mittelfristigen Perspektive die realen Wechselkurse ausschlaggebend. Will man dagegen Prokopfeinkommen langfristig oder international vergleichen, dann führen sicher nicht die nominalen aber auch nicht die realen Wechselkurse zu verlässlichen Ergebnissen. Die Preise für Konsumgüter, vor allem für Nahrungsmittel, sind in den meisten Ländern sehr unterschiedlich. Das gilt besonders für einen Vergleich zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. ____________________________________________________________ Kasten B13: Kaufkraftparitäten und der Big-Mac-Standard Bei Ländervergleichen des Prokopfeinkommens werden sogenannte Kaufkraftparitäten benutzt, die jedoch nur schwer und aufwendig berechnet werden können. Sie bestehen aus vergleichbaren Warenbündeln, deren Preise von Land zu Land sehr unterschiedlich sein können. Dazu gehören Nahrungsmittel, die in armen Ländern meist viel niedriger sind. Wie könnte sonst ein Mensch in einem armen Land von weniger als zwei Dollar pro Kopf (internationale Armutsgrenze) überleben? Mit der Hilfskonstruktion der Kaufkraftparitäten glaubt man besser vergleichen zu können. Statt einer ausführlichen Erläuterung soll zum besseren Verständnis ein auf den ersten Blick etwas kurioses Beispiel herangezogen werden. Ein Warenbündel kann durch einen „Big-Mac“ ersetzt werden, dessen Umfang und Qualität international standardisiert ist. Die Kaufkraftparität zwischen deutscher und chinesischer Währung drückt sich dann im Verhältnis der jeweiligen BigMac-Preise aus. Die Abweichungen von den nominalen Wechselkursen sind beträchtlich. Die britische Wirtschaftszeitung „The Economist“ berechnet diese Big-Mac-Kaufkraftparität in regelmäßigen Abständen für eine große Zahl von Ländern. Sie wird zur Berechnung der Gehälter von im Ausland tätigen Mitarbeitern von Unternehmen herangezogen. ____________________________________________________________ Aus der Saldenmechanik, d.h. den Definitionsgleichungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wurde der Absorptionsansatz entwickelt, der ebenfalls Einsichten in die Abwertungsproblematik des Dollar ermöglicht. Im Kasten B14 werden die Grundlagen dieses Ansatzes im Hinblick auf die Dollarabwertung kurz dargestellt. ___________________________________________________________ Kasten B14: Der Absorbtionsansatz Der Absorbtionsansatz zeigt die Folgen einer Abwertung auf die Verwendung BIP. Der Absorptionsansatz geht dabei von der Definitionsgleichung aus, dass die inländische Produktion (Y) gleich ist dem Konsum der privaten Haushalte (C), plus den privaten Investitionen (I), plus den Staatshaushaltssaldo (G), plus den Exporten vermindert um die Importe (X – M). (1) Y = C + I + G + (X – M) 96 Es werden folgende einfache Umformungen vorgenommen. C + I + G = A und (X – M) = B. A ist die Absorbtion. Dann wird aus Gleichung (1) Y = A + B. Bei den folgenden Betrachtungen gehen wir von der Umformung aus: (2) B = Y – A. Gleichung (2) besagt, dass die Handelsbilanz gleich ist der inländischen Produktion vermindert um die Absorbtion. Wenn die inländische Produktion (Y) größer ist als die Absorbtion (A), dann ist die Handelsbilanz B positiv. Ist die inländische Produktion (Y) kleiner als die Absorbtion (A), dann ist die Handelsbilanz negativ. Daraus folgt: wenn eine Abwertung erfolgreich sein und das Handelsbilanzdefizit – B verringern soll, dann muss sie dazu führen, dass die inländische Produktion (Y) im Verhältnis zur Absorbtion (A) zunehmen muss. Das betroffene Land muss deshalb versuchen, die inländische Produktion (Y) zu erhöhen und die Absorbtion (A) zu senken. Für die USA gilt, dass die Absorbtion (A) seit längerer Zeit größer ist als die inländische Produktion (Y). Die Handelsbilanz (B) ist deshalb negativ. Die Absorbtion (A) der USA müsste gesenkt werden. Sie wurde statt dessen weiter erhöht. Das Handelsbilanzdefizit (–B) hat sich entsprechend vergrößert. Wie sind die USA bisher aus dem Klemme herausgekommen? Sie haben Kapital in Höhe des Handelsbilanzdefizits (genauer aber komplizierter des Leistungsbilanzdefizits) importiert. ______________________________________________________________ Für die USA gilt (wie in Kasten B14 gezeigt werden konnte), dass die inländische Produktion (Y) ist kleiner als die Summe aus privatem Konsum (C), privater Investition (I), Staatshaushaltssaldo (G) und Handelsbilanzsaldo (X – M). Die USA müssen Kapital importieren, um die Differenz auszugleichen. Auf der rechten Seite der Gleichung A = C + I +G haben sich in den letzten zehn Jahren in den USA einige wichtige Veränderungen ergeben. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass in der längerfristigen Perspektive die privaten Investitionen nahezu ausschließlich aus den inländischen Ersparnissen finanziert werden sollten. Die Quellen der inländischen Ersparnisse sind einmal die Unternehmen selbst, dann aber vor allem die privaten Haushalte mit ihren Ersparnissen und die Regierung auf dem Weg eines Haushaltsüberschusses. In den USA aber ist die Ersparnis der privaten Haushalte im internationalen Vergleich extrem niedrig und fällt als Finanzierungsquelle praktisch aus. Private Investitionen und Staatshaushaltsdefizite müssen dann aus anderen Quellen finanziert werden. Da die inländische Produktion (Y) kleiner ist als die Absorbtion (A), muss Kapital in Höhe des Handelsbilanzdefizits importiert werden. 97 Ab dem letzten Drittel der neunziger Jahre spiegelte das Handelsbilanzdefizit in den USA eine Kombination der Absorbtion mit einem hohem privaten Verbrauch (C) (mit sehr niedriger Ersparnis) und hohen privaten Investitionen (I) mit einem Budgetüberschuss (G). Die Kapitalimporte dienten vor allem der Finanzierung der privaten Investitionen. Es handelte sich deshalb auch in großem Umfang um längerfristige ausländische Direktinvestitionen in der amerikanischen Wirtschaft. Das lässt sich vertreten, denn in diesem Fall wurden in den USA Grundlagen für Wachstum geschaffen, die die Exportfähigkeit der USA erhöhen und zu einer Verringerung des Handelsbilanzdefizits beitragen können. Diese Perspektive besteht heute nicht mehr. Seit dem Beginn der Präsidentschaft von Bush II. hat sich die wirtschaftspolitische Ausgangslage der Absorbtion (A) grundlegend verändert. Die Investition (I) ist abgeflaut. Das Haushaltsdefizit (G) ist schnell und stark gestiegen. Der private Konsum (C) steigt weiterhin ungebrochen bei sehr niedriger Ersparnis der privaten Haushalte. Die Kapitalimporte dienen jetzt zunehmend der Finanzierung des Haushaltsdefizits. Ein großer Teil des Haushaltsdefizits ist durch die Kosten des Irakkrieges entstanden. Die Länder, die Kapital in die USA importieren, beteiligen sich damit auch an der Finanzierung des Irakkrieges. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist eingetreten. Das Defizit wird jetzt weniger durch ausländische Direktinvestitionen langfristig sondern stärker kurzfristig mit Anlagen ausländischen Geldvermögensbesitzer finanziert. Diese Art von Anlagen können in der Regel kurzfristig oder sofort abgestoßen werden. Sie werden vor allem von Zentralbanken in ihr Portfolio aufgenommen. Mit anderen Worten der Irakkrieg wird mit kurzfristigen Kapitalimporten in die USA finanziert. Und wer kauft die Titel? Zu rund zwei Dritteln werden sie von asiatischen Zentralbanken gekauft, vor allem von der chinesischen und der japanischen Zentralbank. Die chinesische Zentralbank trägt zur kurzfristigen Finanzierung des Irakkrieges in erheblichem Umfang bei. Mao dreht sich im Grab herum. Das hatten sich die amerikanischen Strategen vor Ausbruch des Krieges anders vorgestellt. Der Irakkrieg sollte ursprünglich aus den Erlösen der irakischen Ölexporte finanziert werden. Davon spricht heute niemand mehr. Aus der veränderten wirtschaftlichen und strategischen Lage im Irak ist die für das Weltwährungssystem gefährliche Schieflage entstanden. Sie muss bereinigt werden. Die Abwertung des Dollar allein wird nicht ausreichen. Die USA „müssen in ihrem Haus Ordnung schaffen“, das müssen sich die USA von vielen Seiten, sogar von den Chinesen sagen lassen. Es muss weniger konsumiert und mehr gespart werden. Das Haushaltsdefizit muss verringert werden. Mit anderen Worten: es muss an mehreren Stellschrauben gedreht 98 werden. Eine solche Politik kann schwerlich ohne Rezession in den USA und als Folge wohl auch nicht ohne Rezession in der Weltwirtschaft über die Bühne gehen. Aus den jährlichen Haushaltsdefiziten baut sich die Staatschuld auf. Da die Haushaltsdefizite in den USA aus Kapitalimporten finanziert werden, erhöht sich die Auslandsschuld entsprechend. Die USA fahren eine solche Verschuldungspolitik spätestens seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan, d.h. seit rd. 25 Jahren. Die riesige Auslandschuld der USA ist weit höher als ihr Auslandsvermögen. Die Kapitaleinkünfte aus amerikanischen Auslandsinvestitionen aber sind noch immer höher als die Zahlungen, die von den USA an die ausländischen Anleger für Investitionen in den USA geleistet werden müssen. Die amerikanischen Auslandsinvestitionen sind eben rentabler als die Anlagen ausländischer Investoren in den USA. Das ist nicht unbedingt ein Anreiz für ausländische Anleger, in den USA zu investieren, vor allem dann nicht wenn ihre Finanzanlagen oder Investitionen in den USA durch die Abwertung des Dollar gleich mit abgewertet werden. Es kommt dann – nicht nur seitens der Zentralbanken – zu Umschichtungen der Portfolios, die mit einem langsamen Ausstieg aus dem Dollar verbunden sind. Dieser Prozess hat bereits begonnen. Die ökonomischen Grundlagen des amerikanischen Imperiums geraten ins Schwanken. 14) Zentren und Peripherien der wirtschaftlichen Entwicklung Der Industriekapitalismus ist in England im Zuge der industriellen Revolution entstanden und hat sich im historischen Vergleich mit beispielloser Geschwindigkeit über den gesamten Erdball wenn auch ungleichzeitig ausgebreitet. Diese Ausbreitung kann auch mit dem Begriff der „schöpferischen Zerstörung“, der von Schumpeter in die Wirtschaftswissenschaft eingebracht wurde, beschrieben werden. Auf historisch vielfältige Weise, oft in kolonialen Zusammenhängen, sind traditionelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge von modernen Märkten durchdrungen und aufgelöst worden. Die „Zerstörung“ fand statt. In vielen Ländern aber blieb der „schöpferische“ Neuaufbau einer prosperierenden Wirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft aus oder er wurde nur in Ansätzen verwirklicht. Der Zerfall der traditionalen Gesellschaften bedeutete für viele Länder in einer ersten Phase eine seiner Zeit sogenannte Bevölkerungsexplosion, die zu den massiven Verelendungsprozessen, die wir in vielen weniger entwickelten Ländern beobachten können, erheblich beigetragen hat. In einigen arabischen 99 Ländern und im Iran beträgt der Anteil der unter 21-jährigen an der Gesamtbevölkerung auch heute noch rd. 50%. Die Weltbank berichtet über ihren Website, dass in Nordafrika und im vorderen Orient rund 100 Mio. Arbeitsplätze bis 2020 geschaffen werden müssen! Diese „Zielgruppe“ muss nicht erst geboren werden. Sie ist bereits auf der Welt. Das scheint vom heutigen Standpunkt aus gesehen völlig ausgeschlossen zu sein. – Auf den sozialen Ruinen der traditionellen Gesellschaften kann eine funktionsfähige Marktwirtschaft entstehen, die zunehmend eine kapitalistische Dynamik entfaltet. Beispiele dafür sind wiederum asiatische Länder wie China, Korea, Singapur. Eine dynamische Marktwirtschaft entwickelt sich jedoch nicht zwangsläufig aus den gesellschaftlichen Ruinen. Die Beispiele dafür sind in Afrika zahlreich. In den traditionsgebundenen Gesellschaften gab es bereits Märkte. Nur waren diese Märkte meist streng reguliert, auf wenige Güter beschränkt und der Handel war meist regional begrenzt. Über den Fernhandel sind bereits im Altertum Handelsbeziehungen entstanden, so z.B. zwischen Indien, China und Rom. Diese manchmal sehr alten Märkte, die oft im Naturaltausch organisiert waren, besaßen deshalb in den Ländern der Peripherie auch nicht die Dynamik der Märkte für Industrieerzeugnisse in den Zentren der kapitalistischen Marktwirtschaft. – Die Zerstörung der indischen Textilindustrie ist ein eindringliches Bespiel. Sie hatte ihren Ausgangspunkt im Dreieckshandel zwischen nordeuropäischen Ländern, Afrika und Amerika. Minderwertige Industrieerzeugnisse, darunter auch Waffen, wurden von England nach Afrika exportiert und gegen Sklaven getauscht. Die Sklaven wurden nach Amerika verschifft und zur Produktion von Baumwolle und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf Plantagen eingesetzt. Die Baumwolle wurde nach England verkauft, dort mit Hilfe von Maschinen zu Kattun verarbeitet und die extrem billigen Baumwollstoffe gingen u.a. nach Indien und andere europäische und außereuropäische Länder. „Freihandel“ im damaligen Verständnis sorgte dafür, dass Indien keine Schutzzölle erheben konnte. Die höherwertigen indischen Erzeugnisse wurden von dem billigen britischen Kattun aus den Märkten verdrängt. Weniger entwickelte Länder in peripherer Lage streben Aufholprozesse an. Die aber misslingen oft. Das gilt vor allem für lateinamerikanische Länder oder ehemalige europäische Kolonien in Afrika. In Asien dagegen gibt es eine Reihe von Ländern, die erfolgreich Aufholprozesse durchlaufen. In der Asienkrise sind einige unter ihnen ab 1997 für einige Zeit aus dem Tritt gekommen. 100 Unter den Ländern, die fürs erste den Anschluss an die wirtschaftliche Entwicklung verpasst haben, befinden sich viele, die in tropischen Regionen liegen. Die Gründe dafür scheinen vielfältig zu sein. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangssituationen sind sehr unterschiedlich. Die Einflussnahmen westlicher Ökonomen, besonders wenn sie aus internationalen Organisationen stammen, waren nicht allzu oft von Erfolg gekrönt. Sie glaubten sich im Besitz der richtigen Theorien, die sie auf alle denkbaren Probleme der tropischen Länder anwenden wollten (Easterly 2001). Ein wenig wie Ärzte, die für alle Krankheiten, die sie nicht diagnostizieren können, das gleiche Rezept ausschreiben: Penicillin. Übertragen auf die Wirtschaftswissenschaft kann man dann ironisch sagen, dass das heutige Patentrezept oder Allheilmittel heißt: mehr Markt, weniger Staat und Arbeitsmärkte flexibilisieren! 15) Macht und ökonomisches Gesetz – ökonomisches Gesetz als Macht Macht, die Ausübung von Macht ist eines der weniger beliebten Themen der Wirtschaftswissenschaft. Wirtschaftliche Macht sei hier grob definiert als die Fähigkeit eines oder mehrerer ökonomischer Agenten, andere Wirtschaftssubjekte zu Handlungen bewegen, die sie sonst in einem anderen zeitlichen oder räumlichen Zusammenhang vorgenommen oder ganz unterlassen hätten. Meist aber wird Macht ausgeübt, um andere zu einer Unterlassung zu zwingen. Die klassische politische Ökonomie wie auch die moderne Wirtschaftswissenschaft unterstellen in ihren Theorien und Modellen noch immer oder überwiegend vollständige Konkurrenz. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie kann auf diese Annahme nicht verzichten. Das Problem der wirtschaftlichen Macht stellt sich bei dieser Marktform nicht. Doch lässt sich Macht so einfach nicht wegdefinieren. Mit Monopolen, Oligopolen und staatlicher Machtausübung lässt sich die „beste aller möglichen Welten“ nicht darstellen oder gar mathematisch formulieren. Das zeigt uns, wenn es noch nötig wäre, dass das allgemeine Gleichgewicht eine Schimäre ist, die weitab von jeder vorstellbaren Realität liegt. Andererseits wird der Verdacht genährt, dass wirtschaftliche und politische Macht mit einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Optimalzustand unvereinbar sein könnte. Es ist natürlich nicht so, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft die Machtfrage nicht gestellt hätte! Die „dunkle Seite der Macht“ (Hirshleifer 2001) wurde nicht übersehen, erhielt in den Diskussionen aber dennoch nicht die Position, die ihr auf Grund der 101 Entwicklung hin zu Oligopolen oder sogar zum Monopol hätte eingeräumt werden sollen. Die dunkle Seite der Macht hat sich in der jüngeren Entwicklung des marktwirtschaftlichen Kapitalismus wieder deutlicher gezeigt. Konzentrationsprozesse von ungeahnten Ausmaßen haben die vollständige Konkurrenz, die den meisten Wirtschaftstheorien nach wie vor zugrunde liegt, zur Fiktion werden lassen. Große transnationale Unternehmen bestimmen über einen zunehmenden Teil des Weltsozialprodukts. Viele Mikronationen sind heute erheblich kleiner als transnationale Unternehmen. Mehr als ein drittel des Welthandels findet inzwischen innerhalb der transnationalen Unternehmen statt. Welthandel wird zunehmend zum Intrafirmenhandel. In afrikanischen Ländern ist die Staatenbildung erheblich behindert worden. Großunternehmen finden es offenbar für sich einträglicher, Rohstoffe unter eigener Regie und in eigener Machtvollkommenheit ohne staatliche Aufsicht abzubauen. – Doch das Problem der wirtschaftlichen Macht ist weitreichender. Marx ist einer der Theoretiker des 19. Jahrhunderts, dem ökonomische und außerökonomische Macht ein wichtiger Untersuchungsgegenstand war. Im Zentrum seiner machtbezogenen Analyse steht der Begriff der Ausbeutung. Die Ausbeutungstheorie Marxscher Prägung setzt eine klare Machtposition der Kapitalbesitzer innerhalb ihrer Unternehmen voraus. Ausbeutung findet Marx folgend auf der einzelwirtschaftlichen Ebene innerhalb der Fabriken statt. In weiten Teilen seines Werkes geht er allerdings, wie die meisten Ökonomen seiner Zeit, auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene von der Hypothese der vollständigen Konkurrenz aus. Es finden sich jedoch auch wichtige Hinweise auf die Entstehung von wirtschaftlicher Macht im „Kapital“ z.B. als Konzentrations- und Zentralisationstendenz der Einzelkapitale zu großen ganz oder teilweise marktbeherrschenden Unternehmen. Schon bei Marx entfaltet der Konkurrenzkapitalismus die Tendenz zur Konzentration, die nach den Erfahrungen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts überwältigend ist. In Auseinandersetzungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Alternative „Macht und ökonomisches Gesetzt“ debattiert. Da Machtausübung zu negativen Abweichungen vom allgemeinen Gleichgewicht führt, müssen Institutionen geschaffen werden, wie ein Kartellamt oder eine Monopolkommission, um wenigstens die gröbsten Verstöße gegen die Marktgesetze des Konkurrenzkapitalismus zu vermeiden. Doch auch hier spricht die Entwicklung des „real existierenden“ Kapitalismus eine andere 102 Sprache. Die Entwicklung hin zu transnationalen Mammutunternehmen konnte offenbar nicht entscheidend beeinflusst werden. Es gibt noch einen weiteren Weg zu einem aktuellen Verständnis von Macht in den Konsumgesellschaften des entwickelten marktwirtschaftlichen Kapitalismus. Es handelt sich um den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ – ein Begriff, den Marx geprägt hat. Es geht dann nicht mehr um „Macht und ökonomisches Gesetz“ sondern um „ökonomisches Gesetz als Macht“ (Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht). In warenproduzierenden Gesellschaften wird der gesamtwirtschaftliche Zusammenhang nur allzu oft als Schicksal erfahren und damit auch als wirtschaftliche Macht. ____________________________________________________________ Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht Die Marxsche Theorie ist tief in der Industriegesellschaft verwurzelt. Die heutige Dienstleistungsgesellschaft setzt andere Schwerpunkte. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Für Industrieerzeugnisse gilt, dass sie Dinge sind, gegenständliche Arbeitsprodukte. Das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit wird zum Verhältnis von Gegenständen zueinander. Verdinglichung heißt dann ein gängiges Schlagwort. Dienstleistungen können kein Verhältnis von Gegenständen hervorbringen, weil die Arbeitsprodukte der Dienstleistungsproduktion nicht gegenständlich sind. Dennoch ist der Fetischcharakter durch den Verlust von Gegenständlichkeit nicht aufgehoben. Auch Dienstleistungen haben Warencharakter oder sie können ihn annehmen. Dienstleister sprechen heutzutage gern von ihren „Produkten“. Der Schwerpunkt der Untersuchung verschiebt sich in Richtung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Beitrag der Dienstleistungsproduktion zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit erbracht wird. Die Zusammensetzung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist das Ergebnis von Marktprozessen, die sich außerhalb von bewusst gestalteten Einwirkungsmöglichkeiten der unmittelbaren Produzenten vollziehen. Auch in Dienstleistungsgesellschaften werden menschliche Schicksale von Marktprozessen bestimmt, die für den Einzelnen mehr oder weniger undurchschaubar sind. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besteht deshalb auch weiter. Dieser stumme Zwang verlangt nach einer zunehmenden Unterwerfung der Wirtschaftssubjekte unter die Gesetze des Marktes. Die Marktform, vollständige Konkurrenz oder Oligopol, ist in diesem Zusammenhang nicht erheblich. Ist die Herrschaft des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse über die Wirtschaftssubjekte nicht lückenloser als ein unmittelbares Herrschaftsverhältnis in einem absolutistischen oder einem sozialistischen Staat es je sein könnte? Ist eine „offene Gesellschaft“ in Anlehnung an Karl Popper unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch möglich? George Soros, ja er, der berühmt-berüchtigte Spekulant, glaubt daran anscheinend nicht mehr. Er hat in den Finanzmärkten Milliarden Dollar verdient. Offenbar ist ihm das auch nicht ganz geheuer. Er schreibt: „Der heutige Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung für die offene Gesellschaft, als jede totalitäre Ideologie“ (Soros 1998:21/22). Auch ein von äußerer staatlicher oder 103 innerer oligopolistischer Macht befreiter Marktprozess entpuppt sich auf einmal als Machtstruktur, die sich die Menschen unterwirft und dem sich die Menschen unterwerfen. Aus dem Problem „Macht oder ökonomisches Gesetz“ schlüpft ein anderes vielleicht sogar gefährlicheres Problem. Ökonomische Gesetzmäßigkeiten entpuppen sich als eine Machtstruktur, die nahezu lückenlos über die Handlungen oder Unterlassungen von Menschen bestimmt. ____________________________________________________________ Unter „offener Gesellschaft“ ist hier in Anlehnung an Karl Popper eine verbesserungsfähige und verbesserungswillige Gesellschaft zu verstehen, die nicht nur technologisch sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich innovativ ist und die ihre wesentlichen Veränderungen über demokratische Prozesse vornimmt und kontrolliert. Popper selbst hatte seine Konzepte noch in der Konfrontation mit Faschismus und Sowjetkommunismus erarbeitet, die er in unzulässiger Weise gleichgesetzt hat. Beiden warf er u.a. vor, für Neuerungen nicht zugänglich zu sein. Seine Arbeit ist wohl eher eine politisch-konservative Streitschrift. Das Schlagwort „offene Gesellschaft“ aber verdient es, weiterentwickelt zu werden. 16) Zur Entwicklungslogik kapitalistischer Marktwirtschaften Im Rückblick auf die Entwicklungsmuster von Nationalwirtschaften, der Weltwirtschaft und der zahllosen Interpretationsversuche, stellt sich die Frage, ob dieser Unübersichtlichkeit nicht doch eine Logik, eine Entwicklungslogik, unterstellt werden kann (Heilbroner 1985). Kant hatte bei der ähnlich gelagerten Frage nach einer zielgerichteten Geschichte mit Zweifeln zu kämpfen. Er sieht sich konfrontiert mit „anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt“(Kant 1964:34) Er fürchtet: „...so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige sondern eine zwecklos spielende Natur; und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Vernunft“ (Kant 1964:35). Das „Ungefähr“ sieht auch heute noch mindestens so „trostlos“ aus wie zu Kants Zeiten. Ein klar erkennbarer Weg in eine bessere Zukunft ist nicht auszumachen. Eine bessere Welt ist möglich, aber sie ist aus dem Stadium des Prinzips Hoffnung – im Sinne von Ernst Bloch – noch immer nicht hinausgetreten. 104 Die Asienkrise 1997, der Börsenkrach 2000, der irrationale und chaotische Irakkrieg usw. haben viel Wasser in den Wein der Zukunftsfähigkeit marktwirtschaftlicher Systeme einfließen lassen. In den postkommunistischen Ländern ist die Armut auf dem Vormarsch. In Afrika sieht es schlimmer aus als je zuvor. Aids und Raubkriege drohen dort jede Hoffnung auf Besserung zu ersticken. Sich verschärfende militärische Krisenherde in Asien und im vorderen Orient beeinträchtigen die Chancen einer friedlichen wirtschaftlichen Entwicklung. Selbst in den marktwirtschaftlichen Kerngebieten der nördlichen Halbkugel kommt es zunehmend zu wirtschaftlichen Problemen. Nur die USA als imperiale wirtschaftliche Führungsmacht haben in den neunziger Jahren eine überzeugende Periode der Prosperität gekannt. Börsenkrach, Stagnation in Japan und möglicherweise in Deutschland, als unfair empfundene Einkommens- und Vermögensverteilungen usw. bringen Instabilitäten aller Art mit einander in Beziehung, die sich rasch zu einem Bedrohungsszenario aufbauen können. Das wird u. a. im Jahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bestätigt (BIS 2005). Sie sind nicht auf den wirtschaftlichen Kernbereich beschränkt sondern strahlen auf die politischen Verhältnisse aus, die wiederum destabilisierend auf die Nationalwirtschaften zurückwirken können. Kann einem solchen Chaos überhaupt eine ordnende Entwicklungslogik zugeordnet werden? Liegt unter der Schicht des trostlosen Ungefähr oder der unübersichtlichen Erscheinungsebene der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht doch eine ordnende Entwicklungslogik verborgen. Marx und Schumpeter und viele andere Ökonomen haben der kapitalistischen Marktwirtschaft eine außerordentliche Dynamik attestiert, die letztendlich vom Motiv der Gewinnerzielung ausgeht. Die in der Menschheitsgeschichte vorher nie gesehene Dynamik ist Quelle des technischen Wandels. Die chinesische Führung versucht, diese wirtschaftliche und technologische Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Angetrieben von der wirtschaftlichen und technologischen Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaften lassen sich im Formenkreis der Kapitalkreisläufe Muster einer Entwicklungslogik ausmachen. Kapital wird vorgeschossen und soll mit einem Gewinnaufschlag zurückfließen. Die Verhaltensgrundlage eines kapitalistischen Unternehmens wie auch des Systems der kapitalistischen Marktwirtschaft ist es einen Geldvorschuss in Rückflüsse zu verwandeln, die höher sind als der Vorschuss. Die Wege, die dazu eingeschlagen werden können, sind für eine ausgereifte kapitalistische Marktwirtschaft mit dem Gesamtkapitalkreislauf beschrieben (Siehe Abb. Bc 105 Kapitalkreisläufe nach Marx). Der Gesamtkapitalkreislauf kann in drei Kreisläufe untergliedert werden: Geldkapitalkreislauf, Warenkapitalkreislauf und Kreislauf des produktiven Kapitals. Diese drei Kreisläufe interagieren, können aber auch unabhängig von einander existieren. Der Geldkapitalkreislauf ist historisch der früheste gewesen. Geld wurde ausgeliehen und verzinst zurückgezahlt. Dabei kommt die Zinseszinsrechnung zum Tragen. Die Finanztechniken des Geldkapitalkreislaufs gehen im europäischen Kulturkreis auf die Banken in der oberitalienischen Städte in der Renaissance zurück. Historisch folgte der Warenkapitalkreislauf, in den landwirtschaftliche und industrielle Rohstoffe und Betriebsstoffe einbezogen waren. Der Warenkapitalkreislauf wurde während des Kolonialzeitalters internationalisiert und war bereits vor Beginn des ersten Weltkriegs voll entwickelt. Der historisch jüngste Kapitalkreislauf ist der Kreislauf des produktiven Kapitals. Produktionsprozesse werden technisch zerlegt und einzelne Teile der Wertschöpfungskette werden ins völkerrechtliche Ausland verlegt. Diese Internationalisierung des Kreislaufs des produktiven Kapitals wird in der Gegenwart unter dem Stichwort Globalisierung diskutiert. Zerlegungen der Wertschöpfungsketten innerhalb der Landesgrenzen oder innerhalb von Regionen aber waren schon im 18. und 19. Jahrhundert verbreitet. Die kapitalistische Marktwirtschaft steht, motiviert durch gewinnorientierte Ausbreitung der Kapitalkreisläufe, unter ständigem Innovationsdruck. Im Geldkapitalkreislauf gibt es ständig neue Finanztechniken, die nicht vergessen lassen sollten, dass sie in den viel älteren Strukturen dieser Kreislaufgestalt Anwendung finden. Ähnliches gilt für den Warenkapitalkreislauf. Auch sollte bei aller Bewunderung oder allem Abscheu vor der Globalisierung nicht übersehen werden, dass der Kreislauf des produktiven Kapitals schon länger existiert. Die kapitalistische Marktwirtschaft ist stets neu und stets alt zugleich. Selbst die ständige Einführung neuer Technologien in den drei Kapitalkreisläufen ist so alt wie die Kreisläufe selbst. Mit der internationalen Entfaltung der drei Kapitalkreisläufe und ihrer Integration zu einem Gesamtkapitalkreislauf ist die kapitalistische Marktwirtschaft zu ihrer Vollendung gereift. Die ausgereifte kapitalistische Marktwirtschaft gleicht einem Gletscher, der sein Aussehen und seine geographische Lage stets verändert aber gleichzeitig immer der alte eiskalte Gletscher bleibt. 17) Einige Zwischenergebnisse 106 Zurück zu unserer Frage: wozu Theorie? Die Fragestellung lässt sich ausgehend von Schumpeters Unterscheidung zwischen Vision und Werkzeugkasten einer Antwort näher bringen. Eine Theorie wie die neoklassische oder die keynesianische liefert uns zunächst eine Vision der wirtschaftlichen Wirklichkeit, eine Weltanschauung, ein Weltbild, das im nächsten Schritt näher erkundet werden muss. Wertvorstellungen finden Eingang in eine Vision. Die Wirtschaftswissenschaft ist keine wertfreie Wissenschaft. Wie in jeder Wissenschaft ist eine genauere Erkundung der wirtschaftlichen Wirklichkeit mit den analytischen Instrumenten des Werkzeugkastens erforderlich. Erstaunlich ist, dass sich Wirtschaftswissenschaftler lieber bei den Visionen aufhalten. Die analytischen Instrumente werden nicht so gern aus dem Kasten geholt oder gar neue entwickelt. Das mag mit dem Missbrauch der Wirtschaftswissenschaft zu Rechtfertigungszwecken zu tun haben. Die Analyse könnte Ergebnisse hervorbringen, die den Interessen gesellschaftlicher Gruppen nicht recht sein können. Das verleitet Neoklassiker zu unsäglichen Sonntagspredigten, Keynesianer zu empirisch unhaltbaren Behauptungen. Marxisten haben sich auf Visionen einer besseren sozialistischen Welt gestürzt, die Realitäten des „real“ existierenden Sozialismus verleugnet, sich in revolutionärer Rhetorik geübt aber Marxens analytische Ansätze kaum weiterentwickelt. Ähnlich wie die heutige Wirtschaftswissenschaft wurde der Marxismus zur Rechtsfertigungslehre der Herrschaftsinteressen von Cliquen in den kommunistischen Parteien degradiert. In den vorangegangenen Ausführungen wurden auch einige Konzepte von Marx vorgestellt, soweit sie zur Erklärung der heutigen wirtschaftlichen Lage beitragen können. Die Kapitalkreisläufe erwiesen sich als nützlich. Sie stellen die Funktionslogik der kapitalistischen Marktwirtschaft dar. Die Wirtschaftsgesellschaft der entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften wird überwölbt vom „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“. Das ist die eine Seite der Medaille. Ihre andere Seite zeigt, dass der Zugang zu einer Warenwelt geschaffen wird, die zwar keine wunderbare Welt ist, aber durchaus auch ihre angenehmen Aspekte hat. Zugang allerdings nicht für alle! Für die Mehrheit der heute lebenden Menschen ist diese wunderbare Warenwelt völlig außerhalb der Reichweite. Sie versuchen nur allzu oft unter katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen zu überleben, die bei der Integration der Kapitalkreisläufe entstehen. 107 Ohne wirtschaftsgeschichtliche Kenntnisse bleibt vieles der modernen Wirtschaftswissenschaft rätselhaft. Erinnert sei auch daran, dass es in der Vergangenheit schwere Krisen (keine Rezessionen im Konjunkturzyklus sondern wirtschaftliche Depressionen z.B. die Weltwirtschaftskrise 1930 ff.) gegeben hat, die mit der Gewalt einer Tsunami über die kapitalistischen Marktwirtschaften hinweggefegt sind und verwüstete wirtschaftliche und gesellschaftliche Landschaften hinterlassen haben. Wirtschaftliche Depressionen sind nicht vorhersehbar. Man ahnt mehr als dass man weiß: irgendwann kann es mal wieder so weit sein. Wer in der kapitalistischen Marktwirtschaft haust, muss auf üble Überraschungen gefasst sein, auch dann wenn in einer Properitätsphase die längerfristigen Aussichten fabelhaft zu sein scheinen. Wirtschaftspolitiker, Unternehmer, Gewerkschaften können bei Visionen über die wirtschaftliche Wirklichkeit nicht stehen bleiben. Sie müssen näher heran an das, was ihnen als wirtschaftliche Wirklichkeit vorschwebt. Wer die wirtschaftliche Wirklichkeit zu seinen Gunsten verändern will, sollte zumindest versuchen, sie zunächst einmal näher kennen zu lernen. Einige analytische Instrumente wurden zu diesem Zweck in ihren Grundzügen vorgestellt. Multiplikatoreffekt, J-Kurve, Quantitätsgleichung, Absorbtionsansatz usw. Die Wirtschaftswissenschaft kann vielleicht nicht so viel wie die Astronomie leisten. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sie wenig bis nichts zustande gebracht hat. Sie hält Einsichten in wirtschaftliche Entwicklungsprozesse bereit, die eine begrenzte wirtschaftspolitische Gestaltung ermöglichen, die mit den Interessen der herrschenden Kreise der kapitalistischen Marktwirtschaft in Einklang steht. Die Bühne des wirtschaftswissenschaftlichen Theaters wird bekanntlich von drei Gruppen von Schurken bevölkert. Als da sind: die Gewerkschaften, die Staatsbürokraten und die Unternehmer in ihren Verbänden. So sehen das die Wirtschaftswissenschaftler, die gern die Regie führen möchten. Man lässt sie nicht, was sicher gut ist. Sie müssen sich mit den beratenden Aufgaben der Regieassistenz begnügen. Sie zerren auch die Unternehmer, die meist unsichtbar in den Kulissen Strippen ziehen, nicht gern ins Rampenlicht. Irgendjemand muss ihnen ja schließlich auch die allzu oft überteuerten „wissenschaftlichen“ Gutachten finanzieren. Mögliche Auftrageber sollte man besser bei Laune halten. Doch ganz ohne wissenschaftliche Einsichten kommt keiner der drei Schurken wirklich zu seinem Ziel. Und diese wissenschaftlichen Wahrheiten, die jeder der drei Schurken ach so gern in seinem Interesse verbiegen möchte, gibt es. Sie verdienen es durchaus, zur Kenntnis genommen zu werden. Einiges davon ist in das vorgetragene ökonomische Orientierungswissen eingearbeitet. Die Unternehmer sind beim 108 Verbiegen selbst einfacher Wahrheiten dank wissenschaftlichen Beistands mit Abstand die Erfolgreichsten. Wer in der Gesellschaft die Macht und das Geld hat, hat auch das Sagen. Nur sollte er auch die Grundlagen der ökonomische Grammatik beherrschen, sonst verplappert er sich bald. Das gilt sogar für die wirtschaftliche Führungsmacht, die USA. Ausgehend von Schumpeters Beiträgen zur Wirtschaftswissenschaft wurden die international tätigen Oligopole des verarbeitenden Gewerbes als dynamischer Kern der kapitalistischen Weltwirtschaft identifiziert. Sie bestimmen in Absprachen die Preise und konkurrieren mit Innovationen, d.h. neuen Produkten und neuen Produktionsverfahren. Sie verfügen über Produktionsverfahren, die ihnen andere Möglichkeiten der Lohnfindung als Unternehmen der vollständigen Konkurrenz bieten. Davon wird Näheres in den folgenden Abschnitten dieses Textes zu berichten sein. Das Zwischenergebnis, das hier vorgestellt wurde, ist vorläufig, weil bisher nur makroökonomische Bausteine eingebracht wurden. Sie reichen offenbar aus, um die gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Prozesse kurzfristig und deshalb oft auch kurzsichtig einigermaßen steuern zu können. Eine grundlegende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Alternative ist ausgehend von den Einsichten der akademischen Wirtschaftswissenschaft nicht erkennbar. Die Wirtschaftswissenschaft ist in den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren nicht entwickelt worden, um Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft herauszuarbeiten. Das Untersuchungsziel ist zuerst einmal, ein Verständnis für die Funktionsweise des bestehenden marktwirtschaftlichen Kapitalismus zu erlangen. Das hat auch Marx nicht anders gesehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist selbst das Kommunistische Manifest heute noch immer lesenswert. Es steckt voller Bewunderung für die innovativen Qualitäten der kapitalistischen Marktwirtschaft. Wirtschaftshistoriker und die Institutionenökonomik haben die institutionellen Voraussetzungen der kapitalistischen Marktwirtschaft hervorgehoben. Die heute vorherrschende neoklassische Wirtschaftstheorie ist auf diesem Auge nahezu blind und beschränkt sich auf eine schematische Beziehung zwischen Preisen und Mengen. Löhne runter, dann steigt das Angebot an Arbeitsplätzen. Das aber trifft auf die deutsche außerordentlich erfolgreiche Exportspezialisierung sicher nicht zu. Dort wird im institutionellen Rahmen des Produktionsregimes der diversifizierten Qualitätsproduktion z.B. im Maschinenbau bei hohen Löhnen sehr erfolgreich und konkurrenzfähig produziert. Auf den Weltmärkten sind die in diesem Rahmen erzeugten Produkte nahezu unschlagbar. Der neoklassische Ansatz 109 ist im Produktionsregime der standardisierten Massenproduktion mit Einschränkungen aussagefähig. Wir verlassen jetzt die gesamtwirtschaftliche Ebene und wenden uns der Frage zu, wie die akademische Wirtschaftswissenschaft in Grundzügen die Funktionsweise einzelner Märkte und Unternehmen erklärt. C) Zur Funktionsweise von Märkten 1) Angebot und Nachfrage auf Gütermärkten Angebot und Nachfrage sind die Zauberworte der Ökonomen. Mit diesen Worten lässt sich treffliche streiten, rechtfertigen, leugnen. George Bernhard Shaw, der englische satirische Schriftsteller und Stückeschreiber, hat einmal gesagt, dass man sich einen Ökonomen leicht verschaffen kann. Man brauche sich nur einen Papagei zu kaufen, dem man die beiden Wörter Angebot und Nachfrage beibringen müsse. Deshalb dürfen diese beiden Worte auch hier nicht fehlen. In der akademischen Wirtschaftswissenschaft werden Angebot und Nachfrage meist in der Form von Kurven oder wie in den folgenden drei Diagrammen als Geraden dargestellt. Viele der Alltagsweisheiten aus der Wirtschaftspresse, werden mit diesen Darstellungen in Beziehung gebracht. Viele stillschweigende Annnahmen, die in der Ökonomie nun einmal üblich sind, werden in den Diskussionen leider allzu oft übersehen. Abbildung Ci: Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht In einem Koordinatensystem wird in der Regel wird die unabhängige Variable auf der X-Achse (Wagrechte) und die abhängige Variable auf der Y-Achse (Senkrechte) abgetragen. Ökonomen scheinen das anders zu sehen. Bei ihnen ist das umgekehrt. Die abhängige Variable liegt auf der X-Achse und die unabhängige auf der Y-Achse. Das erleichtert das Verständnis der ohnehin manchmal verworrenen Darstellungen der Ökonomen nicht gerade. a) Angebot Preis A A’ P1 110 P2 Menge M1 M2 Die mit A bezeichnete Angebotskurve gibt an, wie sich die zum Verkauf angebotene Menge einer Ware ändert, wenn sich der Preis der Ware ändert. Die Angebotskurve ist positiv geneigt: je höher der Preis ist, desto mehr können und wollen Unternehmen produzieren und verkaufen. Wenn die Produktionskosten sinken, können die Unternehmen die gleiche Menge zu einem niedrigeren Preis oder eine größere Menge zum gleichen Preis produzieren. Dann verschiebt sich die Angebotskurve nach rechts. b) Nachfrage Preis N N’ P2 P1 M1 M2 Menge Die mit N bezeichnete Nachfragekurve zeigt die Abhängigkeit der von den Konsumenten nachgefragten Menge einer Ware von deren Preis. Die Nachfragekurve ist negativ geneigt: Wenn alle anderen Faktoren gleich gehalten werden, wollen die Konsumenten eine umso größere Menge einer Ware kaufen, je niedriger deren Preis ist. Die nachgefragte Menge kann auch von anderen Einflussgrößen, wie dem Einkommen, dem Wetter und den Preisen anderer Güter abhängen. Durch eine höheres Einkommensniveau wird die Nachfragekurve nach rechts verschoben. c) Marktgleichgewicht Preis N A Überschuss P1 P0 P2 Mangel A’ N’ M0 Menge 111 Der Markt wird zum Preis P0 und zur Menge M0 geräumt. Zum höheren Preis entwickelt sich Überschuss, also fällt der Preis. Zum niedrigeren Preis entsteht ein Mangel bzw. Knappheit, also wird der Preis in die Höhe getrieben, bis das Gleichgewicht erreicht ist. ____________________________________________________________ Der Gleichgewichtspreis ist der Preis, zu dem die angebotene und nachgefragte Menge gleich sind. Der Marktmechanismus ist die Tendenz der Preise in einem freien Markt, sich so lange zu ändern bis der Markt geräumt ist. Ein Überschuss entsteht, wenn die angebotene Menge größer ist als die nachgefragte Menge. Mangel oder Knappheit entsteht, wenn die nachgefragte Menge größer ist als die angebotene. Wann können die Konzepte von Angebot und Nachfrage angewendet werden und wann nicht? Bei den angebotenen und nachgefragten Waren muss es sich um private Güter handeln. Private Güter sind Waren, deren Nutzen teilbar und um deren Verbrauch rivalisiert werden kann. Beispiele: Äpfel, Birnen, Brötchen. Nur private Güter treten in der Warenform auf, d.h. sie haben Nichtgebrauchswert für ihre Besitzer und Gebrauchswert für ihre Nichtbesitzer. Öffentliche Güter sind dagegen Güter, deren Nutzen unteilbar sind und um die unter den Konsumenten nicht rivalisiert werden kann. Beispiele: saubere Luft, innere Sicherheit, Landschaftsschutz usw. Private Güter werden in der Regel privat produziert und privat verteilt. Öffentliche Güter können privat hergestellt und öffentlich verteilt werden. Rein private und rein öffentliche Güter sind Extrempunkte einer Skala von Mischformen. Wenn heute von Angebot und Nachfrage die Rede ist, dann wird eine versteckte Annahme gemacht: es handele sich um Märkte, auf denen vollständige Konkurrenz herrscht. Nur auf Konkurrenzmärkten können die Anbieter die Preise nicht zu ihren Gunsten beeinflussen. Sie können nur ihre Angebotsmengen den vom Markt vorgegebenen Preisen anpassen. Diese Annahme entspricht der wirtschaftlichen Wirklichkeit jedoch nur noch in Ausnahmefällen. Auf den meisten Märkten besteht durchaus die Möglichkeit, dass Anbieter oder weniger oft auch Nachfrager die Preise beeinflussen können. Dann handelt es sich um unvollständige Konkurrenz, die heutzutage überwiegend von Oligopolen und seltener Monopolen gesteuert werden kann. Die Preise werden höher als die Gleichgewichtspreise gesetzt und es wird auf diesem Weg ein Teil der kaufkräftigen Nachfrage ausgeschlossen. Marktradikale Ökonomen gehen meistens von der Annahme vollständiger Konkurrenz auf allen Märkten aus, oft ohne das klar zum Ausdruck zu bringen. Das ist nun einmal unrealistisch ist, zeigt aber die Funktionsweise 112 von Märkten in den herrlichsten Farben. Hier liegt eine der großen Schwächen ihrer Argumentation. Die Möglichkeit in absehbarer Zukunft die Produktion ausweiten zu können, um eine gestiegene Nachfrage zu befriedigen, ist eine weitere Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Markwirtschaft. Kunstgegenstände sind Unikate. Sie können bei steigenden Preisen nicht vermehrt werden. Nur ihrer Preise können erhöht werden. Nebenbei bemerkt: bei Unikaten kann es selbstverständlich auch keine vollständige Konkurrenz des Angebots geben. Ein Unikat begründet ein Monopol auf der Angebotsseite. Problematisch ist auch die Preisgestaltung von Grundstücken im innerstädtischen Raum. Auch sie können nicht vermehrt werden. Ein Ausweg bietet sich an: bei steigenden Grundstückspreisen wird höher gebaut. Drei Einwände gegen die stets bestens funktionierende Marktwirtschaft wurden aufgeführt. (a) Ein Marktgleichgewicht stellt sich nur für private Güter her. (b) Das Marktgleichgewicht ist sinnvoll bei vollständiger Konkurrenz, nicht unbedingt aber bei der Existenz von Oligopolen. Nur bei vollständiger Konkurrenz ist das Marktgleichgewicht mit den Bedingungen des allgemeinen Gleichgewichts vereinbar; (c) Angebot und Nachfrage führen bei nicht reproduzierbaren Gegenständen nicht zu einem Marktgleichgewicht. Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht sind keine Idylle. Sie stellen Zwangslagen dar. Die meisten Märkte müssen direkt oder indirekt reguliert werden. Staatseingriffe sind schon allein deshalb unverzichtbar. 2) Ist der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere? Die folgenden Zeilen und Abbildungen führen uns in die Vorhölle der akademischen Arbeitsmarkttheorien. Es soll dabei versucht werden, die Grundlagen des Standardmodells für Lohnhöhe und Beschäftigung herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden wie Ökonomen denken, aber auch wie brüchig die Grundlagen ihres Theoriegebäudes in diesem Bereich sind. Zu guter letzt stellt sich dann wieder die Frage, ob es zulässig ist, von dieser schwachen Basis ausgehend arbeitsmarktpolitische Empfehlungen abzugeben? Für die meisten akademischen Ökonomen des Mainstream ist der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere. Das Angebot der privaten Haushalte an Arbeit richtet nach ihren Präferenzen. Die schwanken zwischen 113 mehr Einkommen oder mehr Freizeit. Der Preis der Arbeit (Lohnhöhe) bestimmt die von den Unternehmen nachgefragte Arbeitsmenge. Steigt der Lohn dann nimmt die von Unternehmen nachgefragte Beschäftigung ab. Sinkt der Lohn, dann nimmt die angebotene Beschäftigung zu. Damit ist die stark vereinfachte Ausgangslage skizziert, die Lohnsenkungen als probates Mittel für die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgibt. Näheres dazu findet der Leser in der Abbildung Cj. ____________________________________________________________ Abbildung Cj: (a)Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage Abbildung Cj(a): Arbeitsangebot eines privaten Haushalts A Lohnhöhe L3 L2 L1 C A’ B3 B1 B2 Beschäftigungsmenge Die rückwärtsgeneigte Arbeitsangebotskurve beschreibt das Verhalten eines privaten Haushalts auf dem Arbeitsmarkt in der Sichtweise der akademischen Wirtschaftswissenschaft. Folgt man der Arbeitsangebotskurve A’A von links unten, dann überwiegt zuerst einmal bei einer Lohnhöhe L1 der Substitutionseffekt, d.h. die Haushalte bieten bei zunehmender Lohnhöhe bis zum Wendepunkt C d.h. bis Lohnhöhe L2 mehr Arbeit an. Sie geben einem höheren Einkommen den Vorzug. Dann dreht sich im Punkt C bei Lohn L2 die Kurve und der Einkommenseffekt überwiegt. Bei weiter zunehmendem Lohn, z.B. L3 nehmen die privaten Haushalte weniger Arbeit B3 an, weil sie mehr Freizeit haben wollen. 114 In einem solchen Argumentationszusammenhang wird unterstellt, dass auch der Arbeitnehmerhaushalt zwischen Arbeitszeit und Freizeit frei wählen kann. Er ist der Souverain über seine Zeit. Das gilt mit Einschränkungen für Selbständige oder für eine Ich-AG. In Industrieunternehmen dürfte eine solche Annahme nun doch ein wenig wirklichkeitsfremd sein. Hier hat der Arbeitnehmer auch was die Arbeitszeit angeht im Rahmen der Tarifverträge den Anweisungen der Geschäftsleitung Folge zu leisten. Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen richtet sich an ihrem Grenzprodukt aus. Die Grundgedanken der Grenzproduktivitätstheorie stammen aus der Landwirtschaft. Sie wurden von dem französischen Wirtschaftswissenschaftler und Staatsmann A. R. Turgot (1727 - 1781), der physiokratischen Schule nahe stand, zuerst formuliert. Hier soll das sog. Ertragsgesetz nur verkürzt und auf unsere Zwecke zugespitzt dargestellt werden. Wenn bei gegebener Ausstattung eines Landwirtschaftlichen Betriebes zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden, dann kann es sein, dass das zusätzliche Getreide (das physische Grenzprodukt), das ein zusätzlich eingestellter Landarbeiter erzeugt vergleichsweise groß ist. Das physische Grenzprodukt der nächsten eingestellten Arbeitskräfte nimmt mit zunehmenden Wachstumsraten zu, bis der Höhepunkt A erreicht wird. Dann nehmen die Zuwachsraten der physischen Grenzprodukte der zusätzlichen Arbeitskräfte ab. Man kann das als Kurvenverlauf des physischen Grenzprodukts wie in Abb. Dj (b) zeichnen. Abbildung Cj(b): Arbeitsnachfrage eines gewerblichen Unternehmens Abb. Dj (b) Grenzproduktivitätskurve eines landwirtschaftlichen Betriebes GrenzGesamtproProdukt duktionskurve Dj (c) Arbeitsnachfrage eines gewerblichen Unternehmens Lohnhöhe L1 N A Kurve des physischen Grenzprodukts Arbeitsmenge B1 B2 Beschäftigung Zwischen dem physischen Grenzprodukt in der Landwirtschaft und dem Grenzprodukt in einem gewerblichen Betrieb besteht ein wichtiger Unterschied. Das landwirtschaftliche Grenzprodukt ist ein physisches Grenzprodukt, d.h. es fällt z.B. als zusätzlich produzierte Getreidemenge an, die gemessen d.h. gewogen werden kann. Das Grenzprodukt in einem gewerblichen Betrieb ist das physische Grenzprodukt, multipliziert mit dem Marktpreis. Auf diese Weise entsteht das gewerbliche Grenzprodukt. Das gewerbliche Grenzprodukt kann nicht gemessen werden. Kromphardt hat dieses Argument in einer Auseinandersetzung im Deutschen Sachverständigenrat in Feld geführt (Kromhardt 2005). Damit ist der Argumentationszusammenhang Lohnhöhe und Beschäftigung im gewerblichen Bereich auf die Theorie reduziert. Es können Denkanstöße formuliert werden aber keine konkreten empirisch fundierten wirtschaftspolitischen Empfehlungen. 115 Versucht man, sich mit einem solchen Denkansatz auseinander zu setzen, dann stellt man sich doch unwillkürlich die Frage, in welcher Welt die Ökonomen denn jetzt angekommen sind? Wer kann den schon zwischen Arbeitszeit und Freizeit frei wählen? Für Nichtökonomen sind solche Argumentationsmuster wohl gewöhnungsbedürftig. Es ist dennoch sinnvoll, sich damit auseinander zu setzen, weil die gegenwärtige Politik der Lohnsenkung, Hartz IV, Zugriff auf das Familienvermögen bei Nichtaufnahme von Arbeit etc. aus diesem Denkansatz stammen. In der Industrie sind die Arbeitszusammenhänge fest miteinander verbunden. In der Autoindustrie kann man nicht einfach vom Band weggehen, weil man ab 11 Uhr lieber Freizeit hat (Einkommenseffekt). Bei Dienstleistungsunternehmen ist eine solche Vorstellung schon plausibler. Termine aber sind auch in Dienstleistungsunternehmen einzuhalten. Das ist mit Einschränkungen verbunden. Der Einkommenseffekt kann auch bei Dienstleistungen nur begrenzt zum Tragen kommen. Letztendlich zieht der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Der institutionelle Hintergrund der Abbildung Dj bleibt völlig unklar. Handelt es sich um landwirtschaftliche Genossenschaft, ein großes Industrieunternehmen, einen Klein- und Mittelbetrieb des Dienstleistungssektors oder um eine Industriebranche? Wie dem auch sei, das Konzept wird benutzt, ohne dass sein institutioneller Hintergrund genauer bestimmt wird. Anwendbar ist es streng genommen nur für eine Art Ich-AG, z.B. einen allein arbeitenden Fliesenleger. Er hat zuweilen die Möglichkeit, sich gemäß seiner subjektiven Arbeitsangebotskurve zu verhalten. Das gilt sowohl für den Substitutions- wie auch für die Einkommenseffekt. Der Sprung vom Fliesenleger hin zur Gesamtwirtschaft aber scheint ein wenig zu weit zu sein10. Wie dem auch sei, das Konzept von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wird zur Formulierung von arbeitsmarktpolitischen Ratschlägen gebraucht oder besser missbraucht bis hinein in die Hartz IV Debatte. Besteht ein System sozialer Sicherheit, dann kann das nach Ansicht der akademischen Wirtschaftswissenschaft dazu führen, dass Arbeitslose oder Frank Hahn, ein wichtiger britischer Vertreter der „reinen“ neoklassischen Wirtschaftstheorie, insbesondere der Gleichgewichtstheorie, kommt zu einer überraschenden Feststellung in einer Veröffentlichung, in der er die „nächsten hundert Jahre“ der Wirtschaftstheorie umreißt: „Zudem gibt es eigentlich keine Notwendigkeit für die Existenz von Unternehmen. Es könnt zum Beispiel auch Kooperativen geben oder, tatsächlich, überhaupt keine Unternehmen“(Hahn 1992:195). Den entscheidenden theoretischen Durchbruch hat es meines Wissens in der Zwischenzeit nicht gegeben! Das Zitat belegt, auf welchem empirisch irrelevanten Niveau sich die „reine“ neoklassische Wirtschaftstheorie noch immer bewegt, selbst dann wenn sie gegenüber von Formbestimmtheiten nicht ganz blind ist. Wie lässt sich dann ihre Anwendung zur Formulierung von wirtschaftspolitischen Handlungsanweisungen noch rechtfertigen? (Dies ist kein Ökonomenwitz!) 10 116 Sozialhilfeempfänger nicht bereit sind, eine ihnen angebotene Arbeit aufzunehmen. _____________________________________________________________ Abbildung Ck: Arbeitsangebot bei Arbeitslosenversicherung oder Vermögen A L1 L2 A’ A’’ B1 B2 In der Abbildung Dk wird davon ausgegangen, dass es eine „großzügige“ Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe gibt. AA’ ist die Arbeitsangebotskurve der privaten Haushalte, die in dieser vereinfachten Abbildung linear gezeichnet ist. Arbeitssuchende werden bereit sein, bis zur Lohnhöhe L1 Beschäftigung in Höhe B1 aufzunehmen. Ab der Lohnhöhe L2 ist der Unterschied Lohnhöhe zwischen den Zahlungen z.B. der Sozialhilfe so gering, dass sich die Aufnahme von Arbeit nicht mehr lohnt. Die Angebotskurve knickt in Richtung A’’ ab. Mit Hartz IV soll die Angebotskurve wieder eine durchgezogene Gerade AA’ werden. Transferzahlungen werden an Bedingungen gebunden, die Arbeitnehmer veranlassen oder zwingen sollen, auch niedrigere Löhne z.B. L2 mit der Beschäftigung B2 zu akzeptieren. Frühe theoretische Versuche im 19. Jahrhundert gingen davon aus, dass Selbständige über Vermögen verfügen. Ein Anwalt wird dann lieber von seinem Vermögen leben, als ein Honorar unter L1 zu akzeptieren. Bei Hartz IV ist daraus eine Drohung geworden. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger müssen erst ihr Vermögen verbrauchen oder in eine billigere Wohnung umziehen, ehe sie weitere Unterstützung erhalten. ______________________________________________________________ Die Bevölkerungsgruppe, die nach der Ansicht der Hartz-Konstrukteure keine schlecht bezahlte Arbeit aufnehmen möchte, soll auf den Pfad der Tugend, d.h. auf die durchgezogene Arbeitsangebotskurve AA’ zurückgebracht werden. Der Knick muss aus dieser Kurve rausgebügelt werden. Wie geht das? Ganz einfach, indem man die Sozialhilfe so weit absenkt, dass die sogenannten „Drückeberger“ gezwungen sind, auch zu Niedriglöhnen Arbeit aufzunehmen – das ganze garniert mit Vermögensverlust und Umzugsdrohung. 117 Treffen die wirtschaftswissenschaftlichen Erörterungen über Lohnhöhe und Beschäftigung wirklich den Kern des Problems der deutschen Arbeitslosigkeit? Frauen erhalten bei gleicher Arbeit Löhne, die weit unterhalb der Löhne für die männlichen Kollegen liegen. Im gewerblichen Bereichen sind es rd. 30%, im Angestelltenbereich knapp mehr als 20%. Das ist ungefähr der gleiche Abstand wie zwischen alten und neuen Bundesländern. Im Gegensatz zum Unterschied zwischen den Ländern wird der Unterschied in der Bezahlung zwischen Männern und Frauen relativ leise akzeptiert. Bei solchen Lohnunterschieden dürfte es doch eigentlich keine Frauenarbeitslosigkeit geben? Nach den Statistiken der OECD liegen die Arbeitslosenquoten für Frauen in der Tat in einigen Ländern mit kapitalistischer Marktwirtschaft geringfügig unter denen für Männer. In den meisten dieser Länder aber ist die Frauenarbeitslosigkeit trotz niedrigerer Löhne höher. Ein marktradikaler Ökonom wird um eine Antwort nicht verlegen sein. Der Preis auf dem Markt – hier der Lohn als Preis der Arbeit – sagt die Wahrheit. Die Wahrheit wäre dann, dass die Leistung der Frauen in einigen Ländern entsprechend niedriger liegt als die der Männer. In einigen anderen Ländern gilt das nicht. Sind dort die Frauen bessere Arbeiterinnen als in Deutschland? – Die Arbeitsmärkte instrumentalisieren Vorurteile zugunsten der Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Vorurteile nicht nur gegen Frauen, auch gegen Ausländer, ethnische und religiöse oder andere Minderheiten könnten doch die entscheidenden Gründe für die „ungerechte“ Bezahlung sein!? Wenn man von einem Einzelunternehmen ausgeht, das bei einem vorgegebenen Lohn genügend Arbeiter zum Einstellen findet, sei es dass Arbeitslosigkeit herrschte bzw. dass dieses Unternehmen genügend Arbeiter bei anderen Unternehmen abwerben kann. Will man von einer Branche oder der Gesamtwirtschaft ausgehen, dann ist eine solche Annahme nicht mehr plausibel. Wir nehmen jetzt einmal an, dass Vollbeschäftigung herrscht. Dann muss auch die Arbeitsnachfragekurve der privaten Haushalte anders verlaufen. Bei Vollbeschäftigung einer Branche oder der Gesamtwirtschaft ist die Arbeitsnachfragekurve positiv geneigt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz nur dann wechseln, wenn ihnen ein Lohnangebot vorgelegt wird, dass höher ist als ihr gegenwärtiger Lohn. Bei Arbeitslosigkeit ist die Arbeitsnachfragekurve der privaten Haushalte dagegen negativ geneigt, d.h. die Arbeiter sind bereit, auch niedrigere Löhne zu akzeptieren, um wieder Arbeit zu finden. In den heutigen Diskussionen ist selbstverständlich von Massenarbeitslosigkeit auszugehen. _____________________________________________________________ 118 Abbildung Cl: Lohnhöhe und Beschäftigung bei Vollbeschäftigung N A’ LG A N’ BG Angebotene und nachgefragte Beschäftigung In Abbildung Dl sind Arbeitsnachfrage NN’ und Arbeitsangebot AA’ als Geraden eingezeichnet. Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen NN’ ist der fallende Arm der Grenzproduktivitätskurve. Die Arbeitsnachfragekurve der privaten Haushalte ist bei Vollbeschäftigung positiv geneigt. In diesem Kurvenverlauf kommt zum Ausdruck, dass die Arbeit anbietenden Unternehmen zum jeweiligen Marktlohn LG kaum Arbeitskräfte einwerben können, wenn Vollbeschäftigung herrscht. Es müssen höhere Löhne angeboten werden. Daher die positive Neigung der Arbeitsangebotskurve. Je höher die Löhne, um so höher die Beschäftigung – bei Vollbeschäftigung der Branche oder der Gesamtwirtschaft! Im Vergleich zu Abbildung Dk ein überraschendes Ergebnis. Die Lohnhöhe LG führt in der obigen Abbildung zu dem Vollbeschäftigungsgleichgewicht BG. Rechts von BG herrscht Überbeschäftigung. _____________________________________________________________ In Deutschland wird gegenwärtig auch der Vorschlag Mindestlöhne einzuführen diskutiert. Es macht nun wenig Sinn, Mindestlöhne bei Vollbeschäftigung einzuführen. Die Möglichkeiten der Lohnsenkung sind bei Vollbeschäftigung äußerst gering. Mindestlöhne sollen deshalb in der folgenden Abbildung Dm von einer Situation der Unterbeschäftigung mit negativer Neigung der Arbeitsangebotskurve diskutiert werden. ____________________________________________________________ Abbildung Cm: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bei Mindestlöhnen N A LM LG N’’ A’ BM BG 119 Bei Unterbeschäftigung ist die Arbeitsangebotskurve der privaten Haushalte AA’ und die Arbeitsnachfrage der Unternehmen NN’ negativ geneigt. Liegt der Mindestlohn LM über dem Gleichgewichtslohn LG, dann sinkt die Beschäftigung von BG auf BM, d.h. die Beschäftigung nimmt ab. Der Gleichgewichtslohn GL bezeichnet das Marktgleichgewicht für die Beschäftigung, bei dem alle die Arbeit suchen zum Gleichgewichtslohn auch Arbeit finden. Ein Mindestlohn mach in einem solchen Konzept offenbar nur Sinn, wenn Arbeitslosigkeit herrscht. Dann liegt der Mindestlohn über dem markträumenden Gleichgewichtslohn und es entstehen im Rahmen dieses Denkansatzes Arbeitsplatzverluste. Ähnliches soll auch für Gewerkschaften gelten, deren Lohnforderungen zu einer Lohnhöhe führen, die ebenso wie der Mindestlohn oberhalb des markträumenden Gleichgewichtslohns liegt. Gewerkschaften schaden in einem so definierten Argumentationszusammenhang der Beschäftigung. Sie werden einem Kartell auf den Gütermärkten gleichgestellt, das den Zweck verfolgt, die Preise, hier die Löhne, über dem Marktgleichgewicht zu halten. Deshalb sollten Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften begrenzt werden, oder wie marktradikale Ökonomen fordern, sollten Gewerkschaften am besten gleich verboten werden. Eine solche Politik wurde von Frau Thatcher in Großbritannien verfolgt. Sie hat sich von diesen Gedankengängen der akademischen Wirtschaftspolitik inspirieren lassen. Die deutschen Gewerkschaften aber waren, wenn man in diesem Bezugsrahmen argumentiert, in ihren Lohnforderungen eher moderat. Wenn man innerhalb dieser Konzepte argumentiert, dann dürften die deutschen Löhne den Gleichgewichtslohn nur selten überschritten haben. In den bisherigen Ausführungen wurden die Grundprinzipien des Theorems über Lohnhöhe und Beschäftigung kurz vorgestellt. Die Grundlagen der gegenwärtigen Debatten sollten transparent gemacht werden. In den Debatten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Wirtschaftsentwicklung während der letzten Jahre haben diese Argumente eine Rolle gespielt. Es kann hier nicht in alle Einzelheiten dieser Debatte eingestiegen werden. Wichtig ist noch der Hinweis, dass die bisherigen Ausführungen von der Marktform der vollständigen Konkurrenz ausgegangen sind. Bei oligopolistischer Konkurrenz sieht die Lage dann deutlich anders aus (Kromphardt 2005). 120 Die Grundlagen der Theorie über Lohnhöhe und Beschäftigung hören sich selbst bei gebetsmühlenartiger Wiederholung der Argumente außerhalb wirtschaftswissenschaftlicher Zirkel, nicht für jeden überzeugend an. Überzeugen könnte man, wenn der Nachweis gelingen würde, dass die Theorie, die man zugrunde legt, den Mindestanforderungen genügt. Sie sollte frei von logischen Widersprüchen sein und empirisch widerlegt werden können. Eine empirische Widerlegung aber ist schon allein deshalb ausgeschlossen, weil gewerbliche Grenzproduktivität nicht in Zahlen ausgedrückt werden kann. Auf dem institutionellen Auge sind die Auslassungen der akademischen Wirtschaftstheorie blind. Das Lohnarbeitsverhältnis und seine Zwangslagen scheinen den neoklassischen Theoretikern völlig unbekannt zu sein? Die Grenzproduktivitätstheorie, auf der die Arbeitsnachfrage beruht, hat noch einige Probleme, die an anderer Stelle weitergehend behandelt werden (Siehe Unterabschnitt E1: Die Produktion: Perspektiven der akademischen Wirtschaftswissenschaft). Die Betrachtungen der akademischen Wirtschaftswissenschaft sind sehr eng angelegt. Sie berücksichtigen die Produktivitätsentwicklung nicht, die auf Grund des technischen und des organisatorischen Wandels unvermeidlich ist. In der längerfristigen makroökonomischen Betrachtung steigen die Löhne mit den Produktivitätsfortschritten. Das hat weittragende Folgen. Eine marktfundamentalistische Betrachtungsweise läuft letztendlich darauf hinaus, dass die Produktivitätsfortschritte vollständig von den Unternehmen angeeignet und in Gewinnerhöhungen überführt werden. Das dürfte unter den heute vorherrschenden Bedingungen der oligopolistischen Konkurrenz weitgehend der Fall sein. Theorie ohne Empirie ist leer und Empirie ohne Theorie ist blind. Über die Empirie, d.h. den gemessenen Verlauf der Arbeitangebots- und Arbeitsnachfragekurven ist wenig bis nichts bekannt. Die Theorie, auf die Hartz I, II, III, IV etc. und Agenda 2010 gegründet sind, ist nicht nur brüchig sondern auch empirisch leer. Es liegt dann nahe, sich in einen Zirkelschluss zu flüchten. Um zu erkennen, welches die richtige Lohnhöhe ist, senken wir die Löhne so lange, bis die Beschäftigung dauerhaft zunimmt! Bis Bangladesh, wo die Löhne nur ein Bruchteil der deutschen, die Arbeitslosigkeit aber ungleich höher ist, ist der Weg noch weit. Neoklassische Ökonomen sind hinsichtlich der gesellschaftlichen Formen und Institutionen, in den die Arbeitsprozesse ablaufen, nahezu blind. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Produktionsregime diversifizierte Qualitätsproduktion und standardisierte Massenproduktion. Mit dem Regime der diversifizierten Qualitätsproduktion ist Deutschland international 121 außerordentlich erfolgreich und konkurrenzfähig. In diesem Regime arbeiten gut qualifizierte, motivierte und gut bezahlte Arbeitskräfte. Lohnsenkungen in einem solchen erfolgreichen Regime der diversifizierten Qualitätsproduktion sind nicht erforderlich und wären demotivierend. Das Produktionsregime der standardisierten Massenproduktion mit ungelernten und angelernten Arbeitskräften ist in Deutschland spätestens seit den siebziger Jahren in weiten Bereichen des verarbeitenden Gewerbes nicht mehr ausbaufähig. Ein Blick noch auf die erfolgreiche japanische Autoindustrie, genauer gesagt Toyota. Dort sind die wöchentlichen Arbeitszeiten vergleichsweise kurz, weil sie den Leistungs- bzw. Produktivitätsverläufen der Arbeiter folgen. Das Produktivitätsniveau ist hoch. Die Löhne sind deshalb ebenfalls hoch und die Arbeitsplätze sind sicher. Die Arbeiter sind motiviert. Das Unternehmen gilt als innovativ. Die Arbeitsprozesse sind auch dort nicht idyllisch. Die Qualität der Endprodukte wird weltweit geschätzt und die Marktanteile steigen. Bei deutschen Lohnsenkern sieht das anders aus. Sie können nicht einmal einen Rußpartikelfilter entwickeln und einbauen. Deutsche Qualität lässt im internationalen Vergleich bei einigen deutschen Marken seit einiger Zeit zu wünschen übrig. Die Marktanteile dieser deutschen Automarken sinken. Das war nicht immer so und ist auch sicher nicht oder nur zu einem geringen Teil den „zu hohen Arbeitskosten“ anzulasten. Toyota hat an die Stelle der standardisierten Massenproduktion eine „standardisierte Qualitätsproduktion“ gesetzt mit vergleichsweise hohen Löhnen auf der Grundlage hoher Produktivität und ist damit international sehr erfolgreich. BMW ist eine deutscher Autobauer, der die Lektionen von Toyota verstanden zu haben scheint. Ungelöst ist in Deutschland und nicht nur hier das Problem der unqualifizierten Dienstleistungsarbeit. Es wäre nach Mitteln und Wegen zu suchen, über verbesserte Qualifikation einen großen Teil der Dienstleistungsarbeit aufzuwerten, auch um höhere Löhne zahlen zu können. Das betrifft sicher die Bereiche der Kranken- und Altenpflege, der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung. Die skandinavischen Länder haben dazu Vorbilder geschaffen. Marx hat sich viel Mühe darauf verwandt, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen grundlegende gesellschaftliche Formen zuzuordnen. Er spricht an vielen Stellen von „Formbestimmtheit“. Es fällt engstirnigen akademischen Ökonomen nicht immer leicht, sich auf solche eher philosophische Gedanken, manchmal wohl auch Spitzfindigkeiten einzulassen. Die gesellschaftliche Form, die den Gedankengängen von Lohnhöhe und Beschäftigung zugeordnet wird, ist ein isoliertes 122 Wirtschaftssubjekt bzw. ein privater Haushalt bzw. ein Markt, hier der Arbeitsmarkt. Den Studenten der Wirtschaftswissenschaft wird gern gesagt: „Wer seine Äpfel zu teuer auf dem Markt anbietet und sie nicht billiger verkaufen will, der muss sie wieder nach hause tragen!“ Übertragen auf den Arbeitsmarkt heißt das dann: „Wer seine Arbeit zu teuer anbietet, bleibt arbeitslos“. Der deutsche Starökonom Hans-Werner Sinn plädiert deshalb für Lohnsenkungen. Sie sollen fürs erste einmal 10 – 15% betragen. Das entspricht ungefähr den Vorschlägen, die der Reichkanzler Brüning in der großen Weltwirtschaftskrise gemacht hat. Die Arbeitslosigkeit ist damals dennoch angestiegen. Gering Qualifizierte sollten sich mit einer Lohnsenkung von einem Drittel abfinden (Sinn 2003:94). Die Zahlen wurden vom Ifo-Institut, dessen Direktor Sinn ist, errechnet. Bei einem solchen Ansatz wird davon ausgegangen, dass solche schlecht bezahlten Arbeitsplätze unbesetzt vorhanden sind. Schon Keynes hatte da seine Zweifel. Er sah nicht ein: „...dass, falls die Arbeiter in ihrer Gesamtheit mit einer Kürzung der Geldlöhne einverstanden wären, auch mehr Beschäftigung zum Vorschein kommen würde“ (Keynes 1955:7). 3) Ein globalisierter Arbeitsmarkt: Schiffsbesatzungen11 Die geographische Ausdehnung der Kapitalkreisläufe und insbesondere des Kreislaufs des produktiven Kapitals hat zu einer Erhöhung des internationalen Handels geführt. Die Waren werden überwiegend auf dem Seeweg in Containern transportiert. Die Zirkulation hat im doppelten Sinn stark zugenommen: einmal als Zirkulation des produktiven Kapitals und zum andern als Zirkulation, d.h. Transport von Waren. Die Zirkulation von materiellen Waren hat zu einem globalisierten Arbeitsmarkt für Schiffsbesatzungen geführt, der einige interessante aber noch mehr beklemmende Aspekte hat. In der christlichen und der nicht-christlichen Seefahrt sieht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts etwas anders aus als in der Zeit, von der die Shanty-Chöre uns singen. Es soll zunächst kurz ein Schlaglicht auf die Situation der 11 Die Ausführungen in diesem Unterabschnitt stützen sich im wesentlichen auf die ausgezeichnete Studie von Heide Gerstenberger und Ulrich Welke, Arbeit auf See, zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung (Gerstenberger, Welke 2004). 123 Schiffbesatzungen geworfen werden (Siehe Kasten D16: Gestrandet im Niemandsland). ______________________________________________________________ Kasten C16: Gestrandet im Niemandsland Das Schiff Court Carrier war mit einer Ladung Zement nach New York unterwegs, als es auf diesem alten Schiff zu einer Explosion kam. Die Ankunft in New York verspätete sich aus diesem Grund um zwei Wochen. Der Käufer war nicht mehr bereit, die Ladung abzunehmen. Kapitän und Mannschaft konnten den Schiffseigner nicht erreichen, weil der Flaggenstaat den Eigentümer nicht veröffentlicht. Obwohl die Mannschaft seit Monaten nicht bezahlt worden war, arbeitete sie weiter. Bald waren die Nahrungsmittel aufgebraucht. Die Landung konnte nicht verkauft werden, weil kein Rechtstitel verfügbar war. Die Mannschaft wollte zunächst nicht vor Gericht gehen, weil ein Prozess Monate dauern konnte und die Anwaltskosten ein Viertel der ausstehenden Heuern ausmachen würden, von denen man nicht wusste, ob sie überhaupt je gezahlt werden würde. Am Ende blieb ihnen nichts anderes übrig. Das Schiff wurde festgelegt. Der Anwalt setzte durch, dass sie als Bewachung für das Schiff eingesetzt wurden und dafür eine geringe Bezahlung erhielten, solange sie auf den Ausgang des Prozesses warteten (Gerstenberger, Welke 2004:65). ______________________________________________________________ Der Kurzbericht in Kasten D16: „Gestrandet im Niemandsland“ ist kein Einzelfall. Solche Fälle sind heute alltäglich. Die Lage der Handelsschifffahrt hat sich dramatisch verändert. Es sind weniger die technologischen Innovationen sondern vielmehr die marktinduzierten Veränderungen, die zu einer dramatischen Veränderung der sozialen Lage und der Arbeitsbedingungen der Schiffsbesatzungen geführt haben. Die Konkurrenz hat sich auf vielfache Weise verschärft insbesondere: die Konkurrenz der Flaggenstaaten, die Konkurrenz der Schifffahrtsunternehmen, die Konkurrenz um Charterverträge, die Konkurrenz auf den Frachtmärkten und, was hier besonders wichtig ist, die Konkurrenz auf dem maritimen Arbeitsmarkt. Die heute gängige Praxis der Ausflaggung hat die ganze Welt als Arbeitsmarkt für Schiffsbesatzungen geöffnet und damit ein Lohndumping sondergleichen losgetreten. Gerstenberger, Welke berichten von einem chinesischen Angebot, eine 10-köpfige Mannschaft für 2500 US $ pro Monat anzuheuern (ebendort:44) In Publikationen der International Transport Workers’ Union (ITF) werden für das Jahr 2000 für norwegische „ratings“, d.h. Seeleute, 4000 US$ pro Monat, für philippinische dagegen 1250 US $, und für einen chinesischen dagegen nur $ 930 US $ gezahlt (ebendort:351, FN 57). Auf den Philippinen ist das ein vergleichsweise sehr hoher Lohn. Die Folge ist klar. Die genannten Autoren stellen fest: „1999 lag der Anteil von ratings aus europäischen Ländern an den Besatzungen der Welthandelsflotte im Durchschnitt nur noch bei rund 1%“ (ebendort:45). 124 Die Sicherheit am Arbeitsplatz hat sich für Seeleute dramatisch verschlechtert. Trotz gewerkschaftlicher Initiativen haben die Häufigkeit und die Schwere der Unfälle zugenommen. Das gilt nicht nur für Personenunfälle sondern auch für Schiffsunfälle. Die Tankerflotte ist z.T. veraltet. Gefährliche Ladungen sind zunehmend oft unzureichend gesichert usw. Der durchschnittliche Ausbildungsstand der Seeleute ist gesunken. Die sprachliche Verständigung auf den „multikulturell“ besetzten Schiffen ist problematisch. Zeichensprachen haben sich entwickelt, die zu Ungenauigkeiten bei der Weitergabe von Anweisungen oder der Einhaltung elementarer Sicherheitsstandards führen. Ausbildungszertifikate können in einigen asiatischen Ländern gekauft werden. Auch in diesen Bereichen haben gewerkschaftliche Initiativen nicht die erhofften Verbesserungen gebracht. Was sagt die Arbeitsmarkttheorie zu solchen Entwicklungen? Man kann versuchen – wie in Abbildung Dn: Lohnhöhe und Beschäftigung auf dem globalisierten Arbeitsmarkt für Seeleute – die Situation in einem Diagramm abzubilden. ______________________________________________________________ Abbildung Cn: Lohnhöhe und Beschäftigung auf dem globalisierten Arbeitsmarkt für Seeleute Lohnhöhe N N Lm A A’ N’ B1 N’’ B2 Beschäftigung Die Lohnhöhe Lm für globalisierte „ratings“ z.B. für Containerschiffe dürfte der branchenspezifischen Angebotskurve AA’ entsprechen. Sie liegt anfangs geringfügig über dem Existenzminimum Lm und bewegt sich dann auf dem selben Niveau. Die riesige weltweite Arbeitslosigkeit legt einen solchen Verlauf der Arbeitsangebotskurve nahe. Es macht bei diesem Beispiel wenig Sinn, von einer Bestimmung der Arbeitsnachfragekurve 125 durch den Verlauf der Grenzproduktivitätskurve auszugehen. Die Nachfrage nach Arbeit ist von der Menge der Containerschiffe abhängig, die wiederum abhängig ist von der Menge der zu transportierenden Container, die ihrerseits vom Volumen des Welthandels bestimmt wird. Eine Erhöhung des Welthandelsvolumens führt dann zu einer Verschiebung der NN’-Kurve nach NN’’. Das Existenzminimum ist erreicht und es kommt bei dieser Verschiebung zu einer leichten Lohnsenkung. _______________________________________________________________________ Der globalisierte Arbeitsmarkt für Seeleute zeigt noch einmal die engen Grenzen des Konzepts von Lohnhöhe und Beschäftigung auf. Bei Massenarbeitslosigkeit ist das Arbeitsangebot nicht mehr von den Präferenzen der privaten Haushalte nach Freizeit oder mehr Einkommen abhängig sondern schlicht und einfach von der „industriellen Reservearmee“, d.h. von dem riesigen Heer der Arbeitslosen. Mit einer solchen weltweit verfügbaren Reserve von Arbeitskräften kann die Lohnhöhe in Richtung Existenzminimum und zwar hier das physische Existenzminimum abgesenkt werden. Der Begriff des Grenzprodukts, der für Fliesenleger in Deutschland mit Einschränkungen verwendbar sein dürfte, macht beim Anheuern von Schiffsbesatzungen keinen Sinn. Hier gelten andere Bestimmungsfaktoren. Der vermutlich erste globalisierte Arbeitsmarkt für Seeleute führt deutlich vor Augen, welche Bedrohung die Öffnung der Arbeitsmärkte von entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften bedeutet. Ein Abgleiten in eine abwärtsgerichtete Spirale der Lohnentwicklung von Seeleuten ist kaum zu verhindern. Der geradezu unermesslich große Arbeitsmarkt mit sehr hoher Arbeitslosigkeit bietet dazu die erforderlichen Voraussetzungen. Ist eine solche Entwicklung unentrinnbar? Gibt es Alternativen? Eine mögliche Alternative wäre die Erhöhung der Löhne von Seeleuten aus Entwicklungsländern folgend dem Produktivitätsfortschritt, d.h. die Einführung einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik. Doch diese Politik scheint unter Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit nicht durchführbar zu sein, nicht einmal mehr in den entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften. Dort kann der sogenannte Verteilungsspielraum ebenfalls wegen der Massenarbeitslosigkeit nicht ausgeschöpft werden. Der Verteilungsspielraum wird definiert als Lohnwachstum gleich Produktivitätswachstum plus Inflationsrate. Dieses wirtschaftspolitische Szenario ist auch bereits in Deutschland angekommen, zumindest in zwei Branchen: Bauindustrie und Schlachtereien. In beiden Industrien kommt es zu Lohnsenkungen, vor allem aber zu Verdrängungen der höher bezahlten einheimischen Arbeitskräfte durch Arbeitsimmigranten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern. Da 126 kommen nicht nur die neuen Beitrittsländer sondern auch die Ukraine und Weißrussland oder sogar asiatische oder afrikanische Länder in Betracht. Es stellt sich hier die Frage, ob die Ausgestaltung der Dienstleistungsrichtlinie der EU einen solchen marktinduzierten Prozess auf die Dauer aufhalten kann. 4) Zur Steuerungsfunktion von Finanzmärkten Finanzmärkte werden weithin mit Misstrauen beobachtet. Ihnen haftet etwas moralisch Anrüchiges an. Sie werden als Tummelplatz von Spekulanten und Abzockern angesehen. Daran ist nicht alles richtig aber leider auch nicht alles falsch. Im Unterschied zu Warenmärkten, auf denen Stromgrößen (Kleidung, Kartoffel) gehandelt werden, findet auf den Finanzmärkten Handel mit Bestandsgrößen (Aktien, Devisen) statt, die überwiegend „verbrieft“ sind, d.h. als Zertifikate aller Art gehandelt werden. Sicher liefert auch deshalb das gewöhnliche Marktmodell, das auf Waren zugeschnitten ist, keine gute Beschreibung für Finanzmärkte. Diese Märkte sind Börsen, zunehmend auch sogenannte „Off-Shore-Märkte“, die von den staatlichen Organen der großen entwickelten Marktwirtschaften nur eingeschränkt kontrolliert werden. Den Nachfragern, die zukunftsbezogene Entscheidungen zu treffen haben, sollen über die Finanzmärkte Möglichkeiten der Zukunftssicherung geboten werden. In den Preisen der Papiere sollen alle verfügbaren Erkenntnisse und Informationen über die Zukunft enthalten und bewertet werden. Wären die Finanzmärkte in allen Fällen effizient, dann wäre in der Tat das beste Wissen im Börsenkurs vereinigt. Das aber ist offenbar nicht, bestimmt aber nicht immer der Fall, wie man an Blasen und Überreaktionen der Börsen erkennen kann. Ganz abgesehen einmal von der erstaunlichen kriminellen Energie, die selbst biedere Bürger zum Handel auf der Grundlage von Insiderwissen verleitet. Empfindlich gestört wird die Markteffizienz von Finanzmärkten durch Spielleidenschaft und Geldgier, von denen sich Marktteilnehmer zu völlig irrationalen Verhaltensweisen hinreißen lassen. Vielen weniger mit dem Börsengeschehen vertraute Anleger, fällt der Ausstieg bei sinkenden Kursen schwer. Finanzmärkte sind weitestgehend liberalisiert und internationalisiert und damit nur noch von einer geringen Zahl von „Analysten“ überschaubar. „Analysten“ haben in der letzten Blase nur allzu oft das Vertrauen von Anlegern missbraucht. Sie hören dann lieber auf Einflussnahmen aus Finanzhäusern, die ihre eigenen Interessen über die der Kunden stellen. 127 Die Irrationalität des Börsengeschehens ist schon früh in der Wirtschaftsgeschichte nachweisbar, so z.B. bei den Tulpenspekulationen in Holland (Siehe Kasten D17) ____________________________________________________________ Kasten C17: Spielleidenschaft und Tulpenzwiebel Im 17. Jahrhundert erfreuten sich Tulpen in Europa großer Beliebtheit. Tulpenzwiebel wurden in Holland an den Börsen gehandelt. Von 1634-1637 ereignete sich eine Tulpenblase. Die Preise von Tulpenzwiebeln stiegen in unvorstellbare Höhen. Eine Sorte stieg von 1500 Guineen im Jahre 1634, was schon ein gewaltiger Preis war, auf 7500 Guineen im Jahr 1637. Das entsprach zu jener Zeit dem Preis eines Hauses. Im Februar 1637 platze die Blase und die Tulpenzwiebeln wurden nur noch (oder immerhin noch) mit einem Zehntel ihrer höchsten Notierung gehandelt. Als Motive wurden Spielleidenschaft und Geldgier unterstellt. A propos: kleinere Börsen für Tulpenzwiebel haben überlebt. Es gibt sie in Holland auch heute noch. ____________________________________________________________ Der Devisenmarkt ist ein weiterer problematischer Teilmarkt der Finanzmärkte. Seit 1972/73 wurden die festen Wechselkurse zunehmend durch flexible Wechselkurse ersetzt. Die Devisenmärkte wurden dereguliert bzw. internationalisiert. Am Anfang des Devisenhandels steht die DreiecksArbitrage, d.h. Käufe und Verkäufe von Devisen (Siehe Abbildung Dj). ____________________________________________________________ Abbildung Dn: Dreiecks-Arbitrage Yen/$ Yen 100 = $ 0,92 Yen 100 = € 0,73 € 1 = $ 1,28 €/$ Yen/€ Wenn bei drei Währungen zwei Wechselkurse festgelegt sind, dann ist damit auch der dritte rechnerisch bestimmt. Jede Abweichung, die durch Käufe und Verkäufe von Devisen an lokalen Börsen auftreten, werden durch Dreiecks-Arbitrage zum Verschwinden gebracht. Die Kurse sind vom 20.10.2004. ___________________________________________________________________________ 128 Solche Devisengeschäfte machen durchaus Sinn. Aktuelle Dreiecks-Arbitrage aber ist sicher der kleinere Teil des Devisenhandels. Der weitaus größere Teil der Käufe und Verkäufe von Devisen bewegt sich im Rahmen von Devisentermingeschäften. Da es sich um Zukunftswerte handelt, ist auch hier der Spekulation Tür und Tor geöffnet. Das Volumen dieser Märkte ist sehr groß. Die Transaktionen betragen zu Spitzenzeiten zuweilen bis zu $ 1,9 Mrd. täglich! Die Kursschwankungen, die durch die Grundgeschäfte wie Exporte und Importe nicht verursacht sind, sind Währungsspekulationen zuzuordnen. Die Devisenmärkte sind wie die meisten anderen Finanzmärkte instabil. – Sie neigen zu Überreaktionen. Das führt zu spekulativen Blasen für einzelne Währungen. Wenn sie platzen kann es zu größeren Krisen, wie z.B. die Asienkrise 1997 und in den folgenden Jahren kommen. Die Asienkrise war bald nicht mehr auf asiatische Länder begrenzt sondern hat sich bis Russland und Lateinamerika ausgebreitet. Die Verluste, gemessen in Einheiten des Bruttoinlandsprodukts oder Beschäftigung, waren in der Asienkrise enorm. Den Finanzmärkten wird eine Steuerungsfunktion für alle anderen Märkte zugeschrieben. Bisher haben wir Märkte horizontal geordnet. Man kann auch versuchen, Märkte vertikal aufzustellen. An der Basis sind die Gütermärkte, darauf werden die Faktormärkte (Kapital, Arbeit, Boden) gesetzt. An der Spitze stehen die Finanzmärkte. Zur Produktion von Gütern werden Produktionsfaktoren sowie Rohstoffe und Halbfertigerzeugnisse eingesetzt. Dazu müssen Finanzierungsmittel über die Finanzmärkte bereitgestellt werden. Diese Bereitstellung hat einen Preis, der bei der Produktion erwirtschaftet werden muss. Die Unternehmen müssen so gewinnträchtig produzieren, dass sie zusätzlich den Preis für die Finanzierungsmittel zahlen können. Da die Finanzmärkte nun keinen klar erkennbaren bzw. eindeutig berechenbaren Beitrag zu Produktion von Gütern und Dienstleistungen erbringen, müssen sie zum überwiegenden Teil aus den Erträgen bei der Produktion erwirtschaftet werden. Die Ertragsanteile, die an die Finanzmärkte fließen, erscheinen dort als abgeleitete Einkommen. Die Unternehmen müssen diese Finanzierungskosten erbringen. Auf diese Weise werden sie gezwungen, ihre Produktion zu rationalisieren und beispielsweise auf „Sozialklimbim“ zu verzichten. Die sogenannten „Share-Holder-Values“ – das sind die Interessen der Anteilseigner und der Eigeninteressen des Managements – treten in den Vordergrund. Die sozialen Verpflichtungen der übrigen am Unternehmensgeschehen nur indirekt beteiligten sozialen Gruppen die sogenannten „Stake-Holders“, treten dagegen in den Hintergrund. – Ein solcher Ansatz unterstellt die Effizienz der Finanzmärkte, die aus vielerlei Gründen jedoch überwiegend oder zeitweise nicht gegeben ist. 129 Der Druck des „stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse“ (siehe Kasten B15: Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ oder das ökonomische Gesetz als Macht) wird über die Finanzmärkte verstärkt. International aktive Fonds, insbesondere Hedgefunds aber auch Pensionsfonds, setzen die Zwangslage um. Sie verlangen von den Unternehmen, deren Aktien sie halten, oder von Regierungen, deren Schuldverschreibungen sie kaufen wollen, dass sie kurzfristig eine hohe Renditen abwerfen. Größere Unternehmen werden deshalb auch oft zerlegt und Teile des Unternehmens werden verkauft. Oft werden die übernommen Unternehmen sich zugunsten des Hedgefunds hoch zu verschulden. Im Wahlkampf 2005 sind die Hedgefunds – vielleicht sogar nicht ganz zu Unrecht – mit Heuschrecken verglichen worden, die die Pflanzen ganzer Landstriche abfressen. Beim Versuch der Frankfurter Börse, Teile der Londoner Börse zu übernehmen, haben sie ihre Macht gezeigt, indem sie die Übernahme verhindert und personelle Veränderungen in Vorstand und Aufsichtsrat durchgesetzt haben. In vielen Ländern, nicht in Deutschland, können Hedgefunds hohe Kredite aufnehmen, die sie für ihre Ankäufe und Übernahmen nutzen. Ein rasch zunehmender Anteil des börsennotierten Aktienkapitals ist auch in Deutschland (knapp über 20%?) bereits in ihrer Hand. Über ihre besondere Machtposition können sie hohe Renditen erwirtschaften, die sich auf über 20% belaufen sollen. Sie stimmen offenbar in vielen Fällen ihre Vorgehensweise ab, obwohl das in Deutschland rechtlich nicht zulässig ist. Sie werden als wichtige „Kapitalsammelstellen“ bezeichnet, in die Superreiche ihr Geldvermögen anlegen. Die Strategien der Hedgefunds sind kurzfristig orientiert. Längerfristige Perspektiven, die heute in Deutschland nicht zuletzt aus ökologischen Gründen so wichtig sind wie selten zuvor, fallen nicht ins Gewicht. Im Fall von Finanzkrisen, die weitergehende Krisen in der Produktion auslösen, können die Wohlfahrtsverluste enorme Größenordnungen annehmen. Da Finanzmärkte instabiler sind als der Rest der Märkte, erhöht die von ihnen ausgeübte Steuerungsfunktion die Instabilität der kapitalistischen Marktwirtschaften. Diese Instabilitäten werden von den Zentren auf die Peripherien oder in umgekehrter Richtung übertragen. 5) Eingeschränkte Effizienz von Märkten Märkte stehen im Epizentrum des marktwirtschaftlichen Kapitalismus. Der marktwirtschaftliche Kapitalismus sei die effizienteste Wirtschaftsform, die 130 die Menschheitsgeschichte bisher hervorgebracht hat. Das hat sogar zu der Meinung geführt, dass die entwickelte kapitalistische Marktwirtschaft, wenn sie mit einer Demokratie verbunden ist, der Höhepunkt und damit auch das Ende der Menschheitsgeschichte sei. Wie dem auch sei, wir interessieren uns jetzt erst einmal für die Begriff der Effizienz, der heutzutage in jeder Sonntagsrede vorkommt. Effizienz ist sicher eines der am meisten gebrauchten Unwörter. Das führt dann dazu, dass keiner mehr so recht weiß, was mit dem Wort Effizienz gemeint ist. Für die Wirtschaftswissenschaft gilt folgende Beschreibung des Begriffs der wirtschaftlichen Effizienz. – Das Ziel wirtschaftlichen Handeln ist in der akademischen Wirtschaftswissenschaft die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse über die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Güter und Dienstleistungen werden bereitgestellt durch Produktion und Austausch. Sie sind begrenzt durch Knappheit von verfügbaren Mitteln. Unter diesen Vorraussetzungen bedeutet Effizienz, dass man so weit wie nur irgend möglich innerhalb der vorgegebenen aber begrenzten Voraussetzungen Mittel und Techniken optimal kombiniert. – Diese Vorgehensweise sollte Paretooptimal sein. Vilfredo Pareto (1848 – 1923) war ein italienischer Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieur. Pareto-optimal sind nur dann wirtschaftliche Zustände, wenn eine Verbesserung der Lage eines Wirtschaftssubjekts nicht zu Lasten eines anderen Wirtschaftssubjekts vorgenommen wird. Pareto-optimale Zustände haben in ihrer Gebrauchsanweisung auch „Kleingedrucktes“. Aus dem Konzept des ParetoOptimums lassen sich z.B. keine verteilungspolitischen Hinweise ableiten. Das Pareto-Optimum ist gegenüber dem Problem der sozialen Gerechtigkeit gleichgültig. Das klingt nun reichlich abstrakt. Wir wollen einige Schritte in die Richtung der Konkretisierung gehen. Die Einzelaktionen zur Erreichung der Paretooptimalen Effizienz-Zustände müssen koordiniert werden. In kapitalistischen Marktwirtschaften werden sie über Märkte koordiniert, die sich natürlich in der Marktform der vollständigen Konkurrenz befinden. Es lässt sich zeigen, dass vollständige Konkurrenz in der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht die Regel sondern in weiten Bereichen die Ausnahme ist. Weiterhin können nur Märkte mit privaten Gütern effizient sein. Informationen spielen bei der Marktkoordination eine entscheidende Rolle. Die Erlangung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen sind selbst wieder Gegenstand eines besonderen Zweigs der Wirtschaftswissenschaft geworden, der Informationsökonomik. Von der Informationsökonomik können gegenüber dem Effizienzkonzept schwerwiegende Vorbehalte geltend 131 gemacht werden. Sie zielen auf Marktversagen. Zwei Beispiele, die sich auf einzelne Märkte beziehen und die bei der Entstehung der Informationsökonomik eine Rolle gespielt haben, sollen kurz skizziert werden. Der Ausgangspunkt ist wieder einmal eine der Annahmen der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die auch Adam Smith bereits beschrieben hat. Dort wird im allgemeinen die mehr oder weniger versteckte Annahme gemacht, dass alle Wirtschaftssubjekte vollständig über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft informiert sind. Die Informationen sind in einer solchen Annahme natürlich auch gleich verteilt. Eine solche Annahme ist von unserem Alltagsbewußtsein her gesehen geradezu lächerlich. Für Wirtschaftstheoretiker, die ihre zunächst einfachen Modelle mit solchen Annahmen garnieren, offenbar nicht. Die Annahme der Gleichverteilung der Informationen wird jetzt einmal aufgehoben. An die Stelle der Gleichverteilung tritt die für uns sicher „realistischere“ Annahme einer asymmetrischen Verteilung der Information. Und schon ergeben sich schwierige Probleme, die das ganze Theoriegebäude wie durch einen Erdstoß zum Zittern bringen. Eines der bekannteren Beispiele stammt aus der Versicherungswirtschaft. Es ist für ältere Menschen nicht einfach und auch nicht gerade billig, eine Zusatzversicherung zur gesetzlichen Krankenversicherung abzuschließen. Warum? Ältere Menschen, die gesund sind und glauben, es auch zu bleiben, werden sich nicht so häufig zusätzlich versichern wollen. Diejenigen aber, die krank sind oder fürchten, es zu werden, sind dazu schon eher bereit. Versicherungsgesellschaften sind schlechter informiert als die älteren Menschen und können deren Gesundheitsrisiken schlechter einschätzen als die älteren Menschen selbst. Sie möchte natürlich gern ältere Menschen versichern, die gesund sind und es auch bleiben, um dann schnell zu sterben. Statt dessen versichert sie ältere Menschen, die krank sind oder es wahrscheinlich bald werden und dann langsam sterben. Die Prämien steigen. Immer weniger Gesunde sind bereit, sich zu den hohen Prämien versichern zu lassen. Die Versicherung wählt die von ihrem Standpunkt Falschen aus und schreckt die für sie Interessanten ab. Das ist ein eklatanter Fall von Marktversagen. Wirtschaftswissenschaftler nennen das „adverse Selektion“. Ein weiteres Bespiel für adverse Selektion ist die Kreditvergabe über Kreditkarten (hier nicht EC-Karten). Die Kreditzinsen sind bei Kreditkarten erstaunlich hoch, mindestens das doppelte von Bankkrediten. Der sogenannte Standardzins liegt bei rd. 16%. Es ist deshalb auf den ersten Blick erstaunlich, dass Kredite über Kreditkarten überhaupt in Anspruch genommen werden. Es 132 sind darunter auch viele Kreditnehmer, die von den Banken keine Kredite mehr erhalten und deshalb Kredite über Kreditkarten aufnehmen. Bei den Krediten über Kreditkarten ist deshalb das Ausfallrisiko besonders hoch und aus diesem Grund müssen auch die Zinsen hoch sein. Die Kreditkartenbanken (American Express, Visa etc.) haben vor allem bei den Neuzugängen oft „faule Kunden“. Kreditkartenbanken haben wie jede Bank ein vitales Interesse, Kunden mit hoher Bonität auszuwählen. Sie erhalten jedoch einen hohen Anteil von Kunden, die Insolvenz beantragen müssen. Die Insolvenz muss in vielen Fällen gerade wegen der hohen Zinsforderungen angemeldet werden. Die Kreditkartenbanken tragen über ihre hohen Zinsen zur Insolvenz ihrer Kunden bei, obwohl sie gerade auf diesem Weg gezwungen werden, hohe Zinsen zu nehmen. In den USA haben private Haushalte oft mehrere Kreditkarten. Viele private Haushalte in den USA und auch in Deutschland sind überschuldet. Die Zahl der Insolvenzen privater Haushalte steigt in fast allen kapitalistischen Marktwirtschaften stark an. Marktversagen auf den Kreditkartenmärkten trägt dazu bei. Sie wollen ihr neues Auto verkaufen, weil Sie es aus irgendwelchen privaten Gründen nun doch nicht brauchen. Die möglichen Käufer sind sehr zurückhaltend. Sie glauben, dass sie übers Ohr gehauen werden. Sie denken nämlich, dass mit der Karre irgendwas nicht stimmt. Wer verkauft denn schon ein fast fabrikneues Auto? Verärgert setzen Sie den Preis herunter. Die möglichen Käufer fühlen sich in ihrem Verdacht bestätigt und kaufen erst recht nicht. Sie setzen weiter herunter und machen am Ende ein sehr schlechtes Geschäft, der Käufer dagegen ein sehr gutes. Es zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass die Informationen über den Zustand des fast fabrikneuen Autos asymmetrisch verteilt sind und nicht kommuniziert werden können. Auch hier versagt der Markt. Es werden Gegenstrategien entwickelt. Autohändler bauen einen guten Ruf auf: „bei dem wird man wenigstens nicht übers Ohr gehauen!“ Statt gutem Ruf sagen Wirtschaftswissenschaftler „Reputation“. Es werden vorzugsweise standardisierte Produkte von möglichst einheitlicher Qualität hergestellt. Man wird Stammgast in einem Restaurant, weil man dann immer(?) gut bedient wird. Man wird Stammkunde beim Metzger oder beim Fischhändler.....Und schon sieht man, dass das Informationsproblem, insbesondere bei Informationen über die Qualität von Produkten in kapitalistischen Marktwirtschaften erhebliche Probleme aufwirft. Marktversagen auf Grund asymmetrisch verteilter Information ist nun keine Ausnahme sondern wahrscheinlich eher die Regel. Was wird unter diesen Vorraussetzungen aus dem allgemeinen Gleichgewicht? Die Märkte funktionieren schon irgendwie, aber längst nicht so gut, wie Wirtschaftswissenschaftler es gerne hätten. 133 In Fällen, in denen die Reputation keinen erträglichen Ausweg bietet wie z.B. bei der Qualität von verderblichen Lebensmitteln, der Hygiene bei der Verarbeitung von Lebensmitteln, wird der Staat mit seinen Instrumenten eingeschaltet oder es werden von den Produzenten sich selbst regulierende Instanzen gegründet. Aber auch staatliche Instanzen sind nicht unfehlbar. Immer wieder werden Lebensmittelskandale aufgedeckt. Die Etiketten für Fleisch oder auf Weinflaschen werden gefälscht. Der Markt allein kann offenbar keine verbindlichen Standards setzen. Den Marktteilnehmern scheint es auch allzu oft an den moralischen Voraussetzungen zu fehlen. Technische Neuerungen finden zuweilen bei Käufern keinen Anklang, weil ihre Anwendung Umlernen erfordert. Der Mensch bleibt halt gern beim Gewohnten und benutzt gern ausgetretene Pfade. In der Wirtschaftswissenschaft spricht man von „Pfadabhängigkeit“. Ein Beispiel: mechanische Schreibmaschinen hatten Metallstäbe mit Buchstaben am Ende, die sich oft verhakten. Die Anordnung der Buchstaben auf der Tastatur war so gestaltet, dass sich die Metallstäbe mit den Buchstaben , so weit es möglich ist, nicht verhakten. Nach der Erfindung der elektrischen Schreibmaschine sollte die Tastatur verändert werden, weil Arbeitswissenschaftler herausgefunden hatten, dass man mit veränderten Buchstabenfolgen schneller schreiben kann. Diese Neuerung scheiterte am Widerstand der Nutzer, die mit zehn Fingern blind schreiben und nicht umlernen wollten. Der „Keyboard“ unserer Laptops ist noch immer die Tastatur der mechanischen Schreibmaschine. Das Beispiel gilt interessanter Weise nicht nur für die deutsche Tastatur sondern auch für andere Sprachen entsprechend. Pfadabhängigkeit führt zu suboptimalen Zuständen. – Auch dieses Beispiel zeigt, dass die Marktwirtschaft nicht immer zu effizienten Lösungen führt. Verbraucherschutz ist unverzichtbar, nicht weil es hier und da einmal ein schwarzes Schaf gibt, sondern weil die Effizienz der Märkte auf vielfache Weise stets gefährdet ist. Kleine und mittlere Unternehmen haben weniger gute Karten, wenn es um die Bewältigung der hier vorgestellten Probleme geht. Theoretisch können sie nicht viel mehr als ihre Produktionsmengen den am Markt vorgefundenen Preisen anzupassen. Unter solchen Vorraussetzungen sind die Gewinnraten niedrig, d.h. ihr Handlungsspielraum ist sehr gering. Anders ist die Position der Oligopole. Sie haben die Möglichkeit, sich über Verkaufspreise zu verständigen und das tun sie auch, indem sie ihr Angebot bei bestehender Nachfrage einschränken. Wir sehen das auf den Zapfsäulen, den Gas- und den Elektrizitätspreisen. Die Internationalisierung der 134 Kapitalkreisläufe kann von Oligopolen am besten genutzt werden, birgt aber auch für sie gewisse Gefahren. Ausländische Unternehmen können auf den einheimischen Märkten der Oligopole auftreten und ihre Preispolitik stören bzw. versuchen, ihnen Marktanteile abzujagen. Die deutsche Autoindustrie und die Importe aus Asien und Korea sind dafür ein Beispiel. Oligopole konkurrieren vorzugsweise über Innovationen. Hier bieten sich die technologischen Entwicklungen bei Toyota und Volkswagen als Beispiel an. Die neuen Technologien werden von ihnen meist als Nebenprodukte von Rüstungsaufträgen entwickelt und vermarktet. Oligopole sind zum harten Kern der kapitalistischen Marktwirtschaft herangereift. 6) Emissionshandel und saubere Luft Märkte sind ziemlich weit entfernt von der oft behaupteten Markteffizienz. Doch wird das nur ungern von marktradikalen Theoretikern zur Kenntnis genommen. „Mehr Markt“ steht auf ihrem Panier. Märkte sind für marktradikale Theoretiker nicht nur eine historische Erscheinung sondern auch ein Baustein für Problemlösungen. Die globale Erwärmung ist eines der größten Probleme unserer Zeit. Die Luft muss sauberer werden. Treibhauseffekt und Erderwärmung haben ungeheure Gefahrenpotentiale freigesetzt. Der Hurrikan Katrina wird mit der Erd- bzw. Meereserwärmung in Verbindung gebracht. Saubere Luft ist ein öffentliches Gut. Private Unternehmen stehen unter Konkurrenzdruck. Es liegt nahe für sie, die Kosten zu senken, indem sie Schadstoffe in die Umwelt abgeben, d.h. sie externalisieren private Kosten. Diese privaten externalisierten Kosten müssen von der Gesellschaft beseitigt werden. Aus der Summe der externalisierten privaten Kosten entstehen gesellschaftliche Kosten für die Schadstoffbeseitigung. Es kann versucht werden, diese Externalisierung durch staatliche Verbote, Strafandrohungen, Emissionssteuern, Gebühren zu verhindern. Diese Wege sind nicht unbedingt erfolgreich gewesen. Deshalb wird seit rd. drei Jahrzehnten diskutiert, wie man Schadstoffemissionen mit marktwirtschaftlichen Mitteln in den Griff bekommen kann. Emissionshandel, d.h. Handel mit übertragbaren Emissionszertifikaten, soll dazu tauglich sein. (siehe Kasten D18: Übertragbare Emissionszertifikate) ______________________________________________________________ Kasten C18: Übertragbare Emissionszertifikate 135 Bei übertragbaren Emissionszertifikaten handelt es sich um eine Gesamtheit von handelbaren Papieren, die unter Unternehmen aufgeteilt werden. Die Summe der Zertifikate ist gleich der Gesamtmenge von Schadstoffen, deren Ausstoß vom Staat festgelegt wird. Alle Unternehmen dürfen die Schadstoffmenge in der Höhe ausstoßen, für die sie Zertifikate haben. Auf Überschreitungen der Emission der jeweils erlaubten Schadstoffmenge stehen hohe Strafen. Die übertragbaren Emissionszertifikate können gekauft und verkauft werden. Zu diesem Zweck kann eine besondere Börse geschaffen werden. Im Rahmen eines solchen Systems werden diejenigen expandierenden Unternehmen Zertifikate kaufen, für die eine Umrüstung auf verringerten Schadstoffausstoß am teuersten ist. Es werden dagegen diejenigen Unternehmen Zertifikate verkaufen, deren Kosten für Umrüstung deutlich geringer ist als der Preis, den sie für ihre Zertifikate erzielen können. Auf diese Weise werden die Kosten der Umrüstung so verteilt, dass die Erreichung des vom Staat festgesetzten Gesamtvolumens an Schadstoffemissionen für eine Schadstoffart am niedrigsten sind. In den USA hat es schon in den siebziger Jahren solche Systeme gegeben, an denen allerdings nicht alle den jeweiligen Schadstoff (z.B. Schwefeldioxyd) ausstoßenden Unternehmen beteiligt waren. Untersuchungen haben gezeigt, dass das System im Prinzip funktionsfähig gestaltet werden kann. Auch in Leipzig gibt es eine Börse, die den Emissionshandel im Frühjahr 2005 aufgenommen hat. Dort können vor allem die vier großen deutschen Stromoligopole Eon, RWE, Vattenfall Europe, ENBW Zertifikate verkaufen und einkaufen. Außer den Stromoligopolen sind an der Leipziger Emissionsbörse Stromhändler, Banken, Industriebetriebe und (Hedge)-Fond(!) vertreten. Zwischen Stromoligopolen und Umweltminister gibt zur Zeit Auseinadersetzungen über die Verbuchung bzw. Bewertung von Zertifikaten. ________________________________________________________________________ An welche Vorraussetzungen ist die Funktionsfähigkeit eines solchen Marktes für Emissionszertifikate gebunden? Im Hintergrund stehen wieder die Annahmen, die marktradikale Ökonomen gerne verschweigen. Es wird sich wohl nicht um den Lehrbuchfall der vollständigen Konkurrenz handeln. In diesem Fall wäre der Vorschlag vielleicht erfolgversprechend. Die wirtschaftliche Wirklichkeit aber sieht oft so aus, dass viele kleine Unternehmen neben einer geringen Zahl von Oligopolen existieren. Sie alle sind Inhaber von übertragbaren Emissionszertifikaten. Ihre Marktmacht ist sehr unterschiedlich. Man wird davon ausgehen können, dass ein großer, wenn nicht sogar der überwiegende Teil der Schadstoffemissionen von den oligopolistischen Großunternehmen stammt. – Was könnte aus einer solchen Ausgangslage entstehen? Die oligopolistischen Großunternehmen werden dank ihrer Marktmacht und ihrer Informationsvorsprünge Mittel und Wege finden, den Preis der Emissionszertifikate zu drücken. Dann werden sie die billigen Emissionszertifikate aufkaufen, die es ihnen erlauben, ihren 136 Schadstoffausstoß bei Produktionserhöhungen zu vergrößern. Die Chancen, zu hohen Preisen für Emissionszertifikaten zu kommen, dürften schon allein deshalb gering sein. Das aber wäre die Voraussetzung für die Effizienz der Märkte für Emissionszertifikate. Nur bei hohen Preisen für Emissionszertifikate können die Oligopole zu einem Rückgang ihrer Schadstoffemissionen bei expandierender Produktion veranlasst werden. Bei niedrigen Preisen für Emissionszertifikaten dagegen wird der Kauf dieser Zertifikate günstiger sein als Investitionen für die Schadstoffbegrenzung vorzunehmen. Auch Informationsprobleme werden auftreten. Es dürfte nicht in allen Fällen einfach sein, Schadstoffemissionen staatlich zu kontrollieren. Die Androhung hoher Strafen wird nicht genügen. Die Skandale im Zuge des letzten Börsenkrachs im Jahr 2000 lehren, dass die kriminelle Energie in den Chefetagen der transnationalen Unternehmen überraschend groß sein kann. Die Internationalisierung des produktiven Kapitals kann dazu missbraucht werden, dass die Schadstoffemissionen ins Ausland verlagert werden, wo es keine Kontrollen gibt oder die Kontrollen leichter zu umgehen sind. Saubere Luft mittels Emissionshandel wird wohl nur über eine schärfere Regulierung dieses Marktes erfolgversprechend sein. D) Einzelwirtschaftliche Grundmuster 1) Die Produktion: Perspektiven der akademischen Wirtschaftswissenschaft Eine gängige Definition der Produktion in der akademischen Wirtschaftswissenschaft lautet: Im Produktionsprozess verwandeln Unternehmen Inputs (Kapital, Arbeit, Rohstoffe) in Output (Produkte). Verwandeln? Blut, Schweiß, Tränen, Müdigkeit, Burnout, Gebrüll von Vorgesetzten, Mobbing im Arbeitsprozess bleiben außen vor. Auch von der Zufriedenheit, die Arbeit ja hin und wieder auch noch verschaffen kann, reden Ökonomen selten oder nie. Statt dessen wird eine Funktion aufgeschrieben, in der die Produktion abhängig ist von Kapital und Arbeit: 137 Produktion = f(Kapital, Arbeit). Die Zahl der unabhängigen Variablen kann erhöht werden, z.B. um den technischen Wandel. Die formale Darstellung von Produktionsfunktionen erfordert einen nicht unerheblichen mathematischen Aufwand. ____________________________________________________________ Abbildung Do: Produktionsfunktion Produktion je Beschäftigten P1 P2 Kapital je Beschäftigten In dieser Abbildung werden Kapital je Beschäftigten auf der x-Achse und Produktion je Beschäftigten auf der y-Achse abgetragen. Mit zunehmendem Kapitaleinsatz nimmt die Produktion je Beschäftigten zu. Die Raten der Zunahme werden jedoch geringer. In anderen Worten: das physische Grenzprodukt nimmt ab. In der gewerblichen Wirtschaft ist das physische Grenzprodukt jedoch nicht messbar. Die Arbeitsnachfragekurve der Unternehmen wird aus dem abnehmenden Grenzprodukt abgeleitet und hat deshalb die in Abbildung Cj(b) abwärts gerichtete Form (siehe Abbildung Cj(b)). Bei vollständiger Konkurrenz ist das Grenzprodukt niedriger als bei oligopolistischer Konkurrenz oder Monopol auf den Absatzmärkten. Monopole und Oligopol verfügen über die Marktmacht, ihre Preise so zu setzen, dass sie ein höheres Grenzprodukt haben. Bei Vorliegen von technischem Wandel verschiebt sich Kurve des Grenzprodukts nach oben. Dabei wird hier aus Gründen der Anschaulichkeit der Kapitaleinsatz pro Beschäftigten bei K konstant gehalten. Das Grenzprodukt verschiebt sich von P1 auf P2 bzw. das Grenzprodukt nimmt entsprechend zu. Oligopole bringen die meisten Innovationen hervor. Das gilt nicht nur für ihre Endprodukte sondern auch für ihre Produktionsverfahren. Damit verschieben sie auch ihre Produktionskurve nach oben. Sie erhöhen ihr Grenzprodukt nicht nur auf Grund ihrer Marktmacht sondern auch wegen technologische Vorsprünge. Das sollte ihnen erlauben, die Löhne ihrer Mitarbeiter zu erhöhen. ___________________________________________________________________________ 138 Ausgehend von Abbildung En sieht man, dass auch die Vorschläge für Lohnsenkungen auch theoretisch auf schwachen Beinen stehen. Es wird von ideologisch vernagelten Ökonomen behauptet, dass Lohnsenkungen der einzige Weg zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit seien. Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Das zeigen selbst im neoklassischen Verständnis simple Darstellungen der Produktionsfunktion. Sie könnten nur Gültigkeit haben in einer Ökonomie mit vollständiger Konkurrenz ohne technischen und organisatorischen Fortschritt. Ein solche Konstellation gibt es allerdings in Segmenten des Dienstleistungssektors. Es sind andere Produktionsprozesse denkbar, die von größeren Unternehmen auch ausgearbeitet wurden. Dazu zählen Verbundvorteile. Verbundvorteile liegen dann vor, wenn der Output eines Unternehmens, das zwei Produkte herstellt, größer ist als die Summe der beiden Produkte, wenn sie von zwei Unternehmen getrennt hergestellt würden. Hegel sagt es (ausnahmsweise) einfacher: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Verbundvorteile können technisch bedingt sein, z.B. bei einer Raffinerie. Dort fallen Kerosin, Benzin, Teer etc. in einem festen Verhältnis an. Verbundvorteile können auch mit dem Ziel eingeführt werden, die Produktion zu erhöhen, z.B. ein Autohersteller gründet eine Kundenkreditbank. Bei allem guten Willen des Managements können auch Verbundnachteile auftreten. Dann ist das Ganze weniger als die Summe seiner Teile. Macht denn eine Erhöhung der Produktion immer Sinn? Offenbar nur dann, wenn die Grenzkosten noch unter dem Preis liegen. Unternehmen haben nun (theoretisch) zwei Möglichkeiten. Einmal können sie versuchen ihre Marktmacht zu vergrößern, um aus dem Käfig der Festpreise herauszukommen. Darüber wird im nächsten Unterabschnitt zu sprechen sein. Zweitens aber können sie versuchen, einen anderen Verlauf ihrer Kostenkurve zu erreichen. Wählen sie einen anderen Verlauf ihrer Kostenkurve, dann stoßen sie oft auf Lernkurven. Wir wissen aus unserer Alltagsarbeit z.B. im Haushalt, dass man Dinge, die man neu anfängt, zuerst langsam, dann aber schneller erledigen kann. Man hat dazu gelernt. Solche Erfahrungen lassen sich auf Produktionsprozesse von Unternehmen übertragen. Dabei wird bei Lernkurven der folgende Verlauf angenommen. ____________________________________________________________ Abbildung Dp: Lernkurve Arbeitsstd. Pro Tanker 139 Anzahl der Tanker Die Produktionskosten eines Unternehmens können im Laufe der Zeit fallen, wenn die Belegschaften und das Management lernen, die verfügbare Produktionsanlage besser und gegebenenfalls auch materialsparender einzusetzen. Die Lernkurve zeigt, wie die benötigten Arbeitsstunden pro Outputeinheit fallen, während der kumulierte Output zunimmt. ____________________________________________________________ In Abbildung Eq wird der Bau von Öltankern als Beispiel angeführt. Eine Werft hat einen Auftrag von einer größeren Zahl von Tankern. Beim Bau des ersten Tankers ist Zahl der Arbeitsstunden noch recht hoch. Über organisierbare Lernprozesse kann die Zahl der Arbeitsstunden erheblich gesenkt werden. Eine Verringerung der Arbeitsstunden von einem Drittel oder sogar die Hälfte ist nicht außer der Reichweite. Die Produktivität steigt entsprechend. Die Lohnstückkosten, d.h. die Lohnsumme, geteilt durch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, fallen erheblich (siehe Kasten 17: Opel und die Kartoffelschälerin). Größenvorteile sind mit Lernerfolgen nicht gleichzusetzen. Größenvorteile können auch dann entstehen, wenn ein Unternehmen seine Lernmöglichkeiten bereits ausgeschöpft hat. Eine Maschinenfabrik, die unterschiedliche Losgrößen (Stückzahlen) von Maschinen herstellt, findet heraus, dass bei gegebener Ausstattung mit Produktionsfaktoren die Stückkosten bei großen Losgrößen niedriger sind als bei kleinen. Das Unternehmen wird dann natürlich versuchen, große Losgrößen herzustellen, wenn dafür die mengenmäßige Nachfrage vorhanden ist. Meist aber gehen Lernkurven und Größenvorteile Hand in Hand. Das bedeutet, dass die Produktion erheblich ausgedehnt werden kann, ohne dass zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. Das könnte in weiten Teilen der deutschen Exportindustrie der Fall sein. Von Interesse in unserem Zusammenhang ist auch die Beziehung zwischen den gefertigten Produkten (Output) und dem Einsatz von Vorleistungen (Inputs) aller Art. Skalenerträge geben die Rate an, mit der sich der Output bei einer proportionale Erhöhung der Inputs erhöht. Man spricht dann von konstanten, zunehmenden und abnehmenden Skalenerträgen in der Produktion. Die Skalenerträge sind konstant, wenn sich der Output mit der gleichen Rate wie die Inputs erhöht. Wenn Arbeits- und Kapitaleinsatz um einen Prozentsatz von 10% zunehmen, dann nimmt die Produktion ebenfalls um 10% zu. Das ist der Regelfall für die akademische Wirtschaftstheorie. 140 Unternehmen oder Wirtschaftspolitiker aber ziehen selbstverständliche zunehmende Skalenerträge vor, d.h. dass dann der Output mit einer höheren Rate zunimmt als die Inputs. Um beim Beispiel zu bleiben, zunehmende Skalenerträge liegen vor, wenn bei einer Erhöhung des Arbeits- und des Kapitaleinsatzes von jeweils 10% die Produktion um 15% zunimmt. Weniger schön ist es natürlich, wenn der Output mit geringerer Rate zunimmt als die Inputs. Die Problematik der Skalenerträge ist für die amerikanische Teppichindustrie untersucht worden. Es konnte dort gezeigt werden, dass es Großunternehmen dieser Branche nicht aber den kleinen Betrieben dieser Branche gelungen ist, zunehmende Skalenerträge zu erreichen. Die Großunternehmen haben große Webmaschinen eingesetzt und proportional dazu die Arbeitskräfte erhöht. Arbeitskraft wurde in diesem Beispiel nicht durch Maschinen ersetzt. Dagegen stieg die Teppicherzeugung schneller als Einsatz von Kapital und Arbeit. Genau das aber bedeutet zunehmende Skalenerträge für die Teppichindustrie. Verbundvorteile, Lernkurveneffekt, Größenvorteile und zunehmende Skalenerträge weisen im Vergleich zur Entwicklung des Grenzprodukts auf ein anderes Einstellungs- und Entlassungsverhalten für die jeweils betroffenen Unternehmen hin. Einstellungen und Entlassungen sind dann nicht mehr direkt von den Lohnkosten abhängig. Für Einstellungen spielen dann in der Regel auch Lohnsenkungen oder Erhöhung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich eine weitaus geringere Rolle. Direkt und indirekt dürften die Produktionsprozesse mit Lernkurven, Verbund- und Größenvorteilen, zunehmende Skalenerträgen mit Erhöhungen der Produktivität verbunden sein. Produktivitätsniveau und Produktivitätsentwicklung sind wichtig! In den gegenwärtigen Debatten um Exporte von Arbeitsplätze in Billiglohnländer wird die Lohndifferenz in den Vordergrund gestellt. Das kann nur verwundern (siehe den folgenden Kasten E13: Opel und die Kartoffelschälerin) ____________________________________________________________ Kasten C19: Opel und die Kartoffelschälerin Der Spiegel hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht über Exporte von Arbeitsplätzen aus Deutschland. In diesem Bericht steht die Produktivitätsproblematik nicht gerade im Vordergrund. Wir werden belehrt, dass ein Arbeiter bei Opel in Gliwice brutto € 700 nach hause trägt, dass er länger arbeitet, weniger Urlaub hat als eine Arbeiterin bei Opel, die immerhin brutto € 2900 verdient. Deshalb habe der Standort Bochum gegen den Standort Gliwice keine Chance (Der Spiegel, Nr. 44, 25/10/2004). Reicht es wirklich nur den Bruttolohn zu vergleichen? Hätte die Produktivität da nicht auch ein Wörtchen mitzureden? 141 Stellen Sie sich vor, Sie hätten täglich einen Berg Kartoffel zu schälen. Sie stellen eine junge Frau ein. Sie zahlen der Frau € 10. Hin und wieder brauchen Sie eine Aushilfskraft, der sie € 8 zahlen. Ihre Mitarbeiterin ist im Kartoffelschälen sehr geübt, schält mit einem besonderen Schälmesser und bringt es auf rd. 400 Kartoffel die Stunde. Die Aushilfskraft hat dagegen nur ein einfaches Küchenmesser und schafft nur 200 Kartoffel. Würden Sie die Frau wegschicken und durch die Aushilfskraft ersetzen? Schließlich sparen sie dann doch € 2 pro Stunde! – Würden Sie mitnichten. Die Produktivität der Mitarbeiterin ist höher (400 Kartoffel pro Stunde), die der Aushilfskraft viel niedriger (200 Kartoffel pro Stunde) Sie rechnen sich die Lohnkosten je Produkteinheit aus, d.h. die Kosten einer geschälten Kartoffel. Das sind 10 : 400 = 0,025 für die Mitarbeiterin. Für die Aushilfskraft dagegen sind es 8 : 200 = 0,04. Bezogen auf die Lohnkosten je Produkteinheit ist die Mitarbeiterin erheblich billiger als die Aushilfskraft. Moral von der Geschichte: Nicht der Bruttolohn sondern die Lohnkosten je Produkteinheit sind die Vergleichsgrundlage. Das gilt für die Autoproduktion genau so wie für das Kartoffelschälen. Sie könnten jedoch eine andere Strategie einsetzen. Sie könnten auf Lerneffekte setzen. Sie statten die Aushilfskraft mit einem besseren Kartoffelschäler aus und prüfen, wie viel Kartoffel sie nach einer Anlernperiode schafft. Erhöht die Aushilfskraft ihre Produktivität auf 400 Kartoffel pro Stunde, dann entlassen sie ihre Mitarbeiterin und stellen die Aushilfskraft für € 8 fest ein. Die Lohnkosten je Produkteinheit der früheren Aushilfskraft liegen dann mit 8 : 400 = 0,02 unter denen der ehemaligen Mitarbeiterin. Die neue Mitarbeiterin (ehemalige Aushilfskraft) tritt dann in Streik oder sucht sich eine bessere Stelle? Sie will ihren Anteil an der Produktivitätserhöhung! Bei Massenarbeitslosigkeit aber stehen ihre Chancen, eine Lohnerhöhung, durchzusetzen nicht gut. Auch beim Vergleich zwischen Gliwice und Bochum sollte die Produktivität ausdrücklich einbezogen werden. Grundlage eines Vergleichs sind die Lohnkosten je Produkteinheit und nicht die Absolutwerte der Bruttolöhne. Es ist aber wohl nicht davon auszugehen, dass die Produktivität in Bochum sehr viel höher ist als in Gliwice, so dass der große Lohnunterschied durch den Unterschied in der Produktivität ausgeglichen werden könnte. Vielleicht ist die Produktivität ja in beiden Standorten ungefähr gleich hoch. Dann sieht es auch vom Standpunkt der Lohnkosten je Produkteinheit her gesehen in der Tat schlecht aus für den Standort Bochum. Im übrigen ist das Problem für Opel weniger ein Problem der hohen Lohnkosten je Produkteinheit sondern ein Nachfrageeinbruch für Opel bzw. General Motors. Weltweit sind hohe Überkapazitäten in der Autoindustrie vorhanden. Zuerst geschlossen werden die am wenigsten zukunftsträchtigen Standorte. Das sind nicht unbedingt die mit den höheren Löhnen. Es gilt dann zu untersuchen, ob die Produktionsprozesse über Lernkurven, Verbund- und Größenvorteile, zunehmende Skalenerträge noch modernisiert werden können. Das würde bedeuten, dass mehr an der Produktivitätsschraube und vielleicht deshalb auch weniger an der Lohnschraube gedreht wird, um die Lage des Gesamtunternehmens wieder in den Griff zu bekommen. – Doch GM hat auch in diesem Bereich sicher noch andere Optionen. GM könnte den Wertschöpfungsanteil, der in Bochum produziert wird, stark verringern und den wohl überwiegend importierten Vorleistungsanteil entsprechend erhöhen. Damit steigt dann in der Regel auch die Produktivität im verbliebenen Produktionsprozess. GM wird wohl von allem etwas tun. Ob die Maßnahmen wirklich greifen, wird man erst in einigen Jahren sehen. Der Standort Bochum bliebe dann bei hohen Entlassungen stark reduziert erhalten. Wie lange? Ein möglicher, diesmal gewerkschaftlich orientierter Ausweg. Die Löhne der Bochumer Opelaner werden nicht gesenkt sondern die der Gleiwitzer werden angehoben! Wenn die Löhne der wirtschaftlichen Zentren auf das Niveau der Peripherien abgesenkt werden, dann stellt sich irgendwann auch mal die Frage, wer die hübschen Autos denn kaufen soll bzw. kann? Erinnert sei hier an Henry Ford, der sein T-Modell am Fließband produzieren ließ. Die Löhne sollten nicht erhöht werden. Der Gewerkschaftsboss soll ihm geantwortet haben: und wer soll all die schönen 142 Autos kaufen? Das gab selbst Henry Ford zu denken. Die Löhne wurden – nicht ohne Arbeitskämpfe – erhöht und die Automobilarbeiter konnten schließlich sogar selbst Autos kaufen. Bei der Ansiedlung in Gleiwitz standen noch militärpolitische Zusammenhänge im Hintergrund, die für die Entscheidung wichtig waren. Die Lohnunterschiede waren die ganze Geschichte. Wie sonst könnte man sich die Ansiedlung von BMW in Leipzig allerdings mit einer der modernsten Fertigungsstraßen vorstellen. Hier werden die Lohnunterschiede zu weiter östlich gelegenen Standorten offensichtlich durch Produktivitäts- und Qualitätsunterschiede aufgewogen. ____________________________________________________________ Beim Vergleich von Kosten zur Entscheidung einer Standortwahl sollte man die Lohnkosten je Produkteinheit in den Vordergrund rücken. Bei einer Bewertung von zwei Standorten in unterschiedlichen Währungsgebieten ist die zukünftige Entwicklung der Währungsrelationen von besonderer Bedeutung. Bei flexiblen Wechselkursen sind die Schwankungen meist recht stark, wie man zur Zeit bei dem Euro-Dollar-Kurs sehen kann. Eine verlässliche Prognose von Währungsrelationen aber ist schlicht und einfach nicht möglich. Vergleiche sind sogar in der Wirtschaftswissenschaft Glückssache. Oft hat man Pech. Wo landen die Kosten der Fehleinschätzungen? Lohnniveau und Produktivitätsniveau hängen miteinander zusammen. Produktivitätserhöhungen führen in der längerfristigen Betrachtung zu Lohnerhöhungen. Auf diese Weise entstehen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen Aufholprozesse. In asiatischen Wirtschaftssonderzonen werden die Reallöhne trotz Produktivitätserhöhungen auf niedrigem Niveau eingefroren. Das geht in Diktaturen offenbar ganz gut. Dort nämlich werden Gewerkschaften verboten, die Lohnerhöhungen erkämpfen könnten. Die Aufholprozesse werden beeinträchtigt. Ob das der wirtschaftlichen Entwicklung der betroffenen Länder auf Dauer dient? 2) Marktform und Wettbewerbsstrategie Im vorangegangenen Unterabschnitt wurde überwiegend mit dem Konzept der vollständigen Konkurrenz gearbeitet. Die Preise können bei dieser Marktform von den Unternehmen nicht beeinflusst werden. Sie sind vorgegeben. Das kann den Unternehmen nicht gefallen. Sie suchen stets nach Wegen, um sich aus der Zwangsjacke der vorgegebenen Preise zu befreien und die Preise in gewissem Umfang selbst festzulegen. Das hat schon Adam Smith missfallen. Der erste Schritt wäre die Bildung von Kartellen. Die Unternehmer setzen sich zusammen und treffen 143 Preisabsprachen. Sie setzen dann Preise durch, die oberhalb des Marktgleichgewichts liegen. Nur ein Teil der Nachfrage wird befriedigt. Diese Zusammenhänge können mithilfe der Abbildung Di erarbeitet werden. Besonders auffällig sind Bieterkartelle bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Sie sind verboten. Ein solches Kartell ist deshalb auch geheim. Bieter verteilen die öffentlichen Aufträge in einer bestimmten Reihenfolge und geben ihre Gebote in entsprechender Höhe ab. Die Preise sind überhöht, versteht sich. Jeder kommt einmal dran. Wir befinden uns an der sogenannten Schnittstelle zwischen Markt und Staat. Dort ist der gesellschaftliche Ort, an dem viel Korruption angesiedelt ist. Die akademische Wirtschaftswissenschaft aber ist der vollständigen Konkurrenz nach wie vor sehr zugetan. Vollständige Konkurrenz, auch atomistische Konkurrenz genannt, ist eine Art Denksportaufgabe, mit der man seine Denkfähigkeit üben kann aber nicht unbedingt einen Zugang zur wirtschaftlichen Wirklichkeit suchen sollte oder finden könnte. Vollständige Konkurrenz wäre dann gegeben, wenn eine Wirtschaft nur von kleineren oder mittleren Unternehmen bevölkert wäre. Diese Unternehmen können keinen Einfluss auf die Preise ihrer Waren nehmen sondern der Preis wird ihnen vom Markt signalisiert. Sie können nur die Menge ihrer Waren variieren. Deshalb werden sie auch Mengenanpasser genannt. Sie werden die von ihnen angebotene Menge so lange vergrößern bis die Grenzkosten gleich dem Preis sind. Was heißt das? Holen wir uns einmal mehr unseren alten Bekannten den Fliesenleger an den Tisch. „Also wenn ich“ so sagt der uns dann, „einen zusätzlichen Auftrag hereinnehmen will, dann schau ich mir zunächst mal an, was mich die Sache kostet. Ich muss Platten kaufen, Mörtel und noch ein paar Kleinigkeiten. Dazu nehme ich einen Kredit auf. Hoffentlich kriege ich überhaupt einen Kredit von einer Bank. Der kostet mich so und so viel Zinsen. Ich rechne meine Arbeitsstunden aus. Ich rechne mir einen kleinen Unternehmerlohn dazu für die Zeit, die ich darauf verwende, den Auftraggeber ausfindig zu machen, ihn zu überzeugen, dass er bei mir gute Arbeit kriegt usw. Dann schlage ich die Mehrwertsteuer drauf, die ich zu zahlen habe. Das sind meine Kosten für den zusätzlichen Auftrag oder meine Grenzkosten, wie es die Ökonomen nennen – Und dann schau ich mir den Auftragswert an, den Preis, den ich für den Auftrag kriege. Ist Preis höher als die Grenzkosten meines zusätzlichen Auftrags, dann nehme ich den Auftrag herein. Unter die Grenzkosten lasse ich mich in Verhandlungen nicht drücken“. Wir entgegnen: „Grenzkosten gleich Preis. So steht es in den Lehrbüchern“. „In Ausnahmefällen würde ich sogar unter die Grenzkosten gehen, z.B. um einen 144 Kunden zu halten oder um in einen neuen Markt hinein zu kommen. Aber im Normalfall möchte ich schon einen Gewinn machen. So funktioniert die Marktwirtschaft nun mal. Was auch immer in euern Lehrbüchern stehen mag!“ Wäre die Wirtschaft nur mit Unternehmen bevölkert, die sich mit Grenzkosten gleich Preis, d.h. Nullgewinn zufrieden geben, dann stellt sich ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht über die Märkte her. Ja, wenn sich alle Unternehmen rational verhalten, wenn sie in vollem Umfang informiert sind, wenn ihre Kostenfunktionen konstante Skalenerträge haben, wenn es nur private und keine öffentlichen Güter gibt. Ja, dann werden die Märkte geräumt. Dann braucht man keinen Staat, der Allokations-, Distributions- und Verteilungsfunktionen wahrnimmt. Eine besonders problematische Marktform ist das Monopol, ein Alleinanbieter, der nicht nur den Preis seiner Erzeugnisse, sondern auch die Qualität und auch andere Bedingungen setzen kann. Auch hier gilt verschärft, dass der Monopolist wegen seiner überhöhten Preise nur einen Teil der Nachfrage bedient. Ein Unternehmen in der Marktform der vollständigen Konkurrenz kann seine Preis natürlich nicht so setzen wie ein Monopolist. Ein Monopolist dagegen könnte seinen Preis so setzen wie es ein Unternehmen der vollständigen Konkurrenz tun muss. Ein privater Monopolist wird das nicht tun. Ein verstaatlichtes Monopol dagegen kann unter staatlichem Einfluss sich verhalten als ob es ein Unternehmen der vollständigen Konkurrenz wäre. Dann würde das staatliche Monopol den Gleichgewichtspreis von Abbildung Di verwirklichen. Es kann also durchaus sinnvoll sein, private Monopole zu verstaatlichen. Wenig sinnvoll aber ist es, ein staatliches Monopol zu privatisieren, wenn daraus ein privates Monopol entsteht. Das verstaatlichte Monopol sollte vor seiner Privatisierung zerschlagen werden, damit ein Preis zustande kommen könnte, der mit dem Gleichgewichtspreises der vollständigen Konkurrenz übereinstimmt. Nur dann wird die gesamte Nachfrage bedient, die bereit ist zum Gleichgewichtspreis zu kaufen. Es gibt nicht nur Monopole auf der Angebotsseite sondern auch auf der Nachfrageseite. Es handelt sich dann um einen Alleinnachfrager, der die gleiche Preispolitik betreibt wie ein Monopol nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein Markt, auf dem sich nur ein Angebotsmonopol und ein Nachfragemonopol befindet, heißt bilaterales Monopol. Auf diesem „Markt“ gibt es kein Gleichgewicht. Preise und Mengen werden auf dem Verhandlungsweg festgelegt. 145 Ein geringe Zahl von Anbietern auf einem Markt wird Oligopol genannt. Oligopole konkurrieren und kooperieren gleichzeitig. Sie kooperieren bei den Preisen. Sie haben dabei mit der Preisführerschaft eine besondere Form der Preissetzung gefunden, mit der sie dem Kartellamt zu entgehen hoffen. Mehr oder weniger ohne Auftrag aber mit stillschweigendem Einverständnis der übrigen Oligopolisten erhöht ein Unternehmen den Preis. Es steigt zum Preisführer auf. Wenn sich der Preis durchsetzen lässt, dann folgen die anderen. Preisführerschaft kann man jeden Sommer kurz vor Beginn der Urlaubszeit auf dem Benzinmarkt beobachten. Dann erhöht sich die mengenmäßige Nachfrage nach Benzin, die die Oligopolisten für Preiserhöhungen nutzen wollen. Ein Oligopolist erhöht den Benzinpreis und testet den Markt. Wenn die Preiserhöhung durchgesetzt werden kann und die Spielräume der Preissetzung ausgecheckt sind, folgen die anderen. Das funktioniert fast immer. Die Argumente für die Erhöhung der Benzinpreise sind oft abenteuerlich. Nur selten kann die Preiserhöhung nicht durchgesetzt werden. Nach der Urlaubszeit werden die Preiserhöhungen zum überwiegenden Teil wieder zurückgenommen, weil die mengenmäßige Nachfrage der Autofahrer wieder ungefähr auf den alten Stand gesunken ist. Die Koalition der Oligopole bei ihrer Preispolitik verfolgt das Ziel, die Preise höher zu halten als sie bei vollständiger Konkurrenz wären. Das führt dazu, dass von den Oligopolen weniger Nachfrage befriedigt als von den Unternehmen der vollständigen Konkurrenz. Oligopole grenzen durch ihre Preispolitik einen erheblichen Teil der zahlungsfähigen Nachfrage aus, denen die Preise der Oligopole zu hoch sind bzw. die sich die von ihnen angebotenen Waren nicht leisten können. Die bekanntesten Oligopole sind in der verarbeitenden Industrie angesiedelt. Sie haben besondere Produktionsfunktionen. Sie können Größenvorteile erwirtschaften. Das heißt sie können größere Mengen ohne Kostenerhöhungen herstellen. Sie produzieren im Bereich zunehmender Skalenerträge, d.h. ihre Produktion wächst schneller als ihre Faktoreinsätze. Sie können Lernkurven für sich organisieren. Damit sind sie den Klein- und Mittelbetrieben aus der vollständigen Konkurrenz deutlich unterlegen. Da meldet sich der Fliesenleger noch mal zu Wort. Lernkurven, ja das kann er auch vorweisen. Wenn er in Hochhäusern hundert Badezimmer zu verfliesen hat, dann arbeitet er im ersten Badezimmer mindestens doppelt so lang wie im letzten. Oligopole sind die Träger des technischen Wandels, der immer weniger mit dem technischen Fortschritt gleichgesetzt werden kann. Sie setzen zunehmend kapitalintensive Produktionsverfahren ein. Das führt zu 146 sinkenden Anteilen der Lohnkosten an den Gesamtkosten. Kapitalintensive Produktionsverfahren ermöglichen, wie bereits bemerkt, zunehmende Skalenerträge und Größenvorteile, die mit Produktivitätsfortschritten verbunden sind. Oligopole können deshalb – auch angesichts der Tatsache, dass sie höhere Preise durchsetzen können – auch höhere Löhne zahlen. Für sie sind aus diesen Gründen Lohnerhöhungen kein großes Problem. Lohnsenkungen, die auch in den Oligopolen des verarbeitenden Gewerbes keine Ausnahme mehr sind, dürften in diesen Fällen nur schwer zu begründen sein. In der oligopolistischen Konkurrenz wird der Motor der Innovation angesiedelt. Unter Bezugnahme auf Schumpeter ist zwischen Erfindung und Innovation zu unterscheiden. Erfindungen sind neue wissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse aus allen nur möglichen wissenschaftlichen Bereichen. Innovationen sind die Nutzungen von Erfindungen für warenförmige neue Produkte und Produktionsverfahren, die meist auch mit neuen Organisationsformen verbunden sind. Auch neue Organisationsformen gehören dazu. Erfindungen sind auch in vorkapitalistischen Gesellschaften zahlreich gewesen. In diesen Gesellschaften fehlte aber nur allzu oft die Nutzung für neue warenförmige Produkte und Dienstleistungen. Deshalb sieht der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William J. Beaumol in der oligopolistischen Konkurrenz die „die Innovations-Maschine der freien Märkte“ (Beaumol 2002). Damit haben die Oligopole eine Schlüsselfunktion in der kapitalistischen Marktwirtschaft inne. Aus der großen Menge der Erfindungen wählen sie diejenigen aus, die in neue Produkte eingearbeitet werden können, die voraussichtlich marktgängig und für sie gewinnbringend sein werden. Nach welchen Kriterien wählen die Oligopole aus? Es sind selbstverständlich erwerbswirtschaftliche Kriterien. Welche neuen Produkte lassen sich mit hohen Gewinnchancen auf die Märkte bringen? – Werden dabei auch die zukünftigen Bedürfnisse der kommenden Generationen berücksichtigt? Wie steht es um die ökologische Nachhaltigkeit und die Sozialverträglichkeit der ausgewählten Innovationen? Diese Fragen sind für transnationale Oligopole offenbar von untergeordneter Bedeutung. Es gibt da noch eine weniger angenehm klingende Tatsache, von der Ökonomen seltener sprechen. Die wichtigen Erfindungen sind in der Kooperation von Staat und Markt entstanden. Genauer gesagt es sind Erfindungen aus dem militärisch-industriellen Sektor. Sie entstanden aus der Finanzierung von militärisch orientierten Forschungsvorhaben und Rüstungsaufträgen. Sie sollen den Staaten eine militärische Überlegenheit bringen. Die Beispiele sind evident: Raketen, Düsenflugzeuge, Laser, Atomkraftwerke, Internet usw. aus denen die Innovationen für neue Produkte 147 hervorgegangen sind. Diese Umwege über die militärische Forschung sind äußerst aufwendig. Forschung und Entwicklung sollte besser direkt an den heutigen und zukünftigen menschlichen Bedürfnissen ansetzen. Wenn das System des marktwirtschaftlichen Kapitalismus effizient wäre, dann würden die neuen Produkte den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand mehren und den Optimalzustand des allgemeinen Gleichgewichts in Richtung einer Erweiterung verschieben, ohne die Kriterien der ökologischen Nachhaltigkeit und der Sozialverträglichkeit zu verletzen. Es bleibt nur noch die Frage zu beantworten, ob dieses System und die Märkte dieses Systems denn tatsächlich effizient sind. Wir wissen allerdings bereits, dass die oligopolistische Konkurrenz weniger Nachfrage befriedigt als das Marktgleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz. Damit führt oligopolistische Konkurrenz auf dem Markt ihres Produkts zu einer dem Marktgleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz eindeutig unterlegenen Lösung. Oligopole haben gegenüber den Klein- und Mittelbetrieben der vollständigen Konkurrenz größere Gestaltungsspielräume. Es handelt sich fast ausschließlich um Aktiengesellschaften. Das Management nimmt diese Gestaltungsspielräume offenbar zunehmend wahr. Allerdings auch zu Aktivitäten, die mit dem Buchstaben des Gesetzes oder gar dem „gesunden Rechtsempfinden aller recht und billig denkenden“ kaum in Einklang zu bringen sind. Die gegenwärtigen Skandale in der Autoindustrie liefern dafür traurige Beispiele. Die Ausgestaltung von Verträgen zwischen Eigentümern (Aktionären) und Geschäftsführern (Managern) mit konsistenten Anreizsystemen stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Bestürzend ist die Selbstbedienungsmentalität, die heutzutage viele Manager an den Tag legen. Über ihre Innovationspolitik bestimmen Oligopole die längerfristige Zukunft der kapitalistischen Marktwirtschaft. Marktgängigkeit und militärische Aufträge sind die Motivationen für die Auswahl neuer Produkte, neuer Produktionsverfahren und neuer Organisationsformen. Auf diesen Wegen wird eine Zukunft unter vielen möglichen ausgewählt. Unter dem Druck der liberalisierten Finanzmärkte tritt die kurzfristige Sichtweise auch in diesen Bereichen in den Vordergrund. Die einfache Tatsache, dass über die Entscheidungen von heute auch die wirtschaftliche und weitergehend die gesellschaftliche Lage von morgen und übermorgen geprägt wird, wird oft übersehen. In den neuen Produkten, Produktionsverfahren und Organisationsformen ist viel von der unseligen Vergangenheit und den Versäumnissen der Gegenwart 148 aufbewahrt. Das stets Neue auf vielen Märkten verstellt uns den Blick auf die lange Frist, in der die Lasten der Vergangenheit weiter transportiert werden. Die transnationalen Oligopole gestalten die Zukunft der Wirtschaft und Gesellschaft, in der einmal unsere Kinder und Kindeskinder leben müssen. Die Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, Hort der Demokratie zu sein, hat die Gestaltung ihrer Zukunft an eine Gruppe oligopolistischer Unternehmen delegiert, die die längerfristige Zukunft nach kurz- und bestenfalls mittelfristigen Gewinnperspektiven gestaltet! 3) Von der einzelwirtschaftlichen Betrachtung zurück zur gesamtwirtschaftlichen Ebene Wir betreten abschließend noch einmal die gesamtwirtschaftliche Ebene. Dort sieht vieles plötzlich ganz anders aus als auf der einzelwirtschaftlichen Bühne. Auf dem Rückweg zur makroökonomischen Ebene droht uns zunächst einmal eine Rationalitätsfalle. ____________________________________________________________ Kasten D20: Rationalitätsfalle und Sparparadox Rationalitätsfalle. Die Idee hinter dem „wissenschaftlichen“ Begriff der Rationalitätsfalle ist relativ einfach. Ein Beispiel aus dem Alltagsleben. Wir gehen ins Konzert, sitzen in der ersten Reihe. Nach der Zugabe stehen wir auf: „standing ovation!“ Hinter uns Gemecker. Wir reagieren nicht. Hinter uns stehen alle auf. Nach und nach erhebt sich der ganze Saal. Die Stehenden sehen etwas schlechter und sind weil stehend schlechter dran! Sitzend hätten es alle bequemer gehabt und Klatschen kann man auch im Sitzen. Moral von der Geschichte: was für den einzelnen – einzelwirtschaftlich – als gut und richtig empfunden wird, muss nicht für alle – gesamtwirtschaftlich – gut sein. Für die gegenwärtige wirtschaftspolitische Diskussion ist das Sparparadox ein schönes Beispiel für eine Rationalitätsfalle. Eine Familie spart, um ihr Bankkonto wieder auszugleichen. Die Familie kauft weniger, isst schlechter, geht seltener aus, verbringt den Urlaub zu hause. Größere Käufe werden aufgeschoben usw. Das kann vorübergehend durchaus sinnvoll sein, wenn man von seinen Schulden runter will. – Wenn alle oder die Mehrheit der Haushalte anfangen zu sparen, dann ist das gesamtwirtschaftlich betrachtet nachteilig. Die Käufe des einen sind die Verkäufe des anderen. Schränken alle privaten Haushalte ihre Einkäufe ein, dann müssen alle Verkäufer ihre Verkäufe ebenfalls einschränken und in der Folge ihre Einkäufe etc. Die Gesamtwirtschaft wächst langsamer, stagniert, kann sogar schrumpfen. Arbeitskräfte werden entlassen. Die Kaufkraft sinkt weiter etc. ____________________________________________________________ Keynes hattebereits auf das Sparparadox hingewiesen. Seine Einsichten sind im heutigen Deutschland aktuell. Löhne sind nicht nur Kosten, an denen die Unternehmen sparen sollen, sondern sie sind makroökonomisch im Kreislaufzusammenhang gesehen die Grundlage der effektiven Nachfrage (Siehe Abbildung Bb). Deutschland ist trotz der beklagten hohen 149 Arbeitskosten international durchaus konkurrenzfähig. Das zeigt der noch immer allzu hohe Überschuss der deutschen Handelsbilanz. Schließlich sind „wir“ Exportweltmeister für Güter, nicht aber von Dienstleistungen. Andererseits ist die deutsche Binnennachfrage mit einer „hartnäckigen Kaufzurückhaltung“ konfrontiert, die schon seit rd. fünf Jahren andauert und der Hauptgrund für das niedrige Wirtschaftswachstum ist. Einer Nachfrageschwäche aber kann man mit Lohnsenkungen, Hartz IV und einer verunsichernden Diskussion über die Zukunft des Sozialstaats und des Wirtschaftstandorts Deutschland offenbar nicht beikommen. Deutschland könnte wegen der Schwäche seiner Binnennachfrage ähnlich wie Japan in eine Deflation rutschen und/oder in einer weiter andauernden Stagnation verharren – mit unabsehbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen. Gegenwärtig wird die Rationalitätsfalle zwischen einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Begründung wieder einmal hochgekocht und zwar in zwei Veröffentlichungen von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des IfoInstituts für Wirtschaftsforschung in München, und Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrates zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sinn kann man dem marktradikalen Spektrum zuordnen. Bofinger dagegen ist ein aufgeklärter Keynesianer. Sinn fordert zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit Lohnsenkungen. Das soll zu mehr Beschäftigung führen. Bofinger sucht nach Möglichkeiten, auch über produktivitätsorientierte Lohnpolitik die effektive Nachfrage zu stärken. Dadurch soll mehr Beschäftigung zustande kommen. Sinn argumentiert nahezu ausschließlich einzelwirtschaftlich und tappt dabei von einer Rationalitätsfalle in die andere. Bofinger dürfte die Möglichkeiten der keynesianischen Wirtschaftspolitik überschätzen. Seine Argumentation gilt weithin nur für geschlossene Wirtschaften (Siehe hierzu Kasten B4: Multiplikatoranalyse). Hans-Werner Sinn steht für einen marktradikalen Lösungsansatz, ein marktradikales wirtschaftspolitisches Regime. Im Zusammenhang mit den Transferzahlungen an die neuen Bundesländer schreit er sein Credo heraus: „Es gibt nur einen einzigen Weg, und der heißt Markt, Markt und noch einmal Markt!“(Sinn 2003:258). Damit enthüllt er einen der Grundpfeiler seiner ideologischen Überzeugungsarbeit: es gibt nur einen einzigen Weg! Eines der Probleme jeder Wirtschaftspolitik aber ist, dass es aus mehreren Wegen auszuwählen gilt oder dass Wirtschaftspolitik durchaus auch mehrere Wege einschlagen kann. Der Arbeitsmarkt ist für Sinn ein Markt wie jeder Gütermarkt. Konsequent setzt er die Märkte für Äpfel und Arbeit gleich. 150 „So wie der Apfelpreis umso niedriger sein muss, je größer die Apfelernte ist, damit alle Äpfel ihre Abnehmer finden, muss auch der Lohn der Arbeitnehmer mit einer bestimmten beruflichen Qualifikation umso niedriger sein, je mehr es von ihnen gibt, damit keine Arbeitslosigkeit entsteht“ (Sinn 2003:177). Diesem „Gesetz der Nachfrage“ wohne keine moralische Qualität inne. Marx hat da noch ein „historisches und moralisches Element“ gesehen, das die Lohnhöhe oder im Marxschen Verständnis den Wert der Ware Arbeitskraft mit bestimmt. „Es gehört zu den fast naturgesetzlichen Gegebenheiten dieser Welt, mit denen man sich abfinden muss, ob man sie mag oder nicht“(Sinn 2003:178). Aber doch nur „fast“, was auch immer dieses „Fast“ bedeuten mag. Und schon schnappt die Rationalitätsfalle zu. Der Einzelne mag den Arbeitsmarkt schicksalhaft erfahren, „fast“ wie ein Naturgesetz. Er muss sich zuweilen Lohnsenkungen unterwerfen, vor allem wenn er nicht gewerkschaftlich organisiert ist. Auf der makroökonomischen Ebene führen Lohnsenkungen für alle „fast“ immer zu weniger Arbeitsplätzen. Das ist dann keine naturgesetzliche Gegebenheit sondern im keynesianischen Verständnis das Ergebnis einer falschen Wirtschaftspolitik. Eine Politik der Lohnsenkungen wird gegenwärtig in Deutschland praktiziert. Peter Bofinger fordert: „Deutschland braucht eine Renaissance des makroökonomischen Denkens“(Bofinger 2005:225). Seine „Kernaussage“ ist: Wer über eine Volkswirtschaft nachdenkt, darf dies nicht nur aus der Sicht eines einzelnen privaten Haushalts, eines einzelnen Unternehmens oder auch eines bayrischen Ministerpräsidenten tun. Richtiges volkswirtschaftliches Denken besteht immer darin, dass man die Rückwirkungen einzelwirtschaftlicher Entscheidungen auf die wirtschaftliche Lage anderer Akteure und damit der Volkswirtschaft insgesamt betrachtet“(Bofinger 2005:234). Dann bleibt nur noch die heikle Frage, welche wirtschaftliche Lage welcher Akteure berücksichtigt werden soll und welche nicht. Bofinger schätzt den außenwirtschaftlichen Einfluss offenbar sehr gering ein. Seinem „makroökonomischen Denken“ sind Grenzen gesetzt, die viel enger sein könnten, als er zu glauben scheint. Auch ist die Wahl des Zeitpunkts und des Interventionsvolumens ein Problem. In Japan war die keynesianisch orientierte Fiskalpolitik nicht gerade von Erfolg gekrönt. Die genormte 151 Antwort der Keynesianer auf ein solches Versagen ihrer Wirtschaftspolitik lautet dann wie eh und je: „zu wenig und zu spät“ – „to little and to late“! Auch bei einer Renaissance des makroökonomischen Denkens sollte man es sich nicht zu einfach machen. Die Debatte zwischen Sinn und Bofinger ist Schnee von vorgestern. Sie wurde schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter dem Einfluss von Keynes geführt. Reichskanzler Brüning hat in den frühen dreißiger Jahren (1930 – 1932) des vorigen Jahrhunderts Senkungen der Staatsausgaben und der Löhne durchgesetzt. Die Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung waren katastrophal. Aber er hat es nicht nur freiwillig getan. In seinem berühmten Brief aus dem Jahr 1954 nimmt er zu der deutschen Wirtschaftspolitik der frühen dreißiger Jahre noch einmal recht ausführlich Stellung. Versuche, die damaligen Verhältnisse günstig für ihn darzustellen, sind nicht zu übersehen. Nicht falsch aber ist mit Sicherheit, dass die hohen Reparationszahlungen über kurzfristige Dollarkredite finanziert werden mussten, die selbstverständlich in Dollar zurück zu zahlen waren. Dollarkredite waren nur erhältlich, wenn der Kurs der Reichmark zum Gold stabil gehalten werden konnte. Um Abwertungen zu vermeiden, musste deshalb eine restriktive Wirtschaftspolitik praktiziert werden. Diese Wirtschaftspolitik hat dazu beigetragen, dass Deutschland in die gesellschaftliche Katastrophe des dritten Reiches geriet. Das war damals nicht vorauszusehen. Aber es sollte heute auch nicht vergessen werden, wenn gegenwärtig bei steigendem Eurokurs empfohlen wird, Staatsausgaben und Löhne zu senken. Die deutsche Wirtschaftspolitik ist makroökonomisch gesehen auch heute wieder stark restriktiv. Hans-Werner Sinn erwähnt diesen Aspekt der deutschen Geschichte nicht, der ihm von der einzelwirtschaftlichen Warte her gesehen irrelevant zu sein scheint. Peter Bofinger dagegen spricht die binnenwirtschaftlichen Aspekte der Brünningschen Notverordnungen mehrfach an. Die außenwirtschaftlichen Zwangslagen werden von Bofinger allerdings weitgehend übersehen. Beide Autoren geben sich kompromisslos. Entweder Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit, d.h. Angebotspolitik, oder Erhöhung der effektiven Nachfrage, d.h. Nachfragepolitik. Ein Kompromiss wäre angezeigt: sowohl Angebots- als auch Nachfragepolitik. Beide Politiken sind so zu kombinieren, dass eine Annäherung an das Vollbeschäftigungsziel längerfristig möglich wird. Dann ist Beschäftigungspolitik eine Gratwanderung. 152 Bisher stand die Angebotspolitik weit – allzu weit? – aber erfolglos im Vordergrund. Es wäre jetzt an der Zeit, die Nachfragepolitik zu stärken. Das Problem bleibt die Dosierung beider Politiken. Sie verlangt nicht nur Fingerspitzengefühl, sondern auch eine vertiefte empirische Kenntnis der Zusammenhänge, die auch über Prognosen und Simulationen mit makroökonometrischen Modellen erarbeitet werden sollte. Die ökonomische Analyse sollte dabei im Mittelpunkt stehen. Mit visionären Glaubensbekenntnissen kommt man nicht weiter. Davon ist so viel im Angebot, dass keiner mehr so recht daran glauben kann. Sinn und Bofinger sind dafür schlagende Beispiele. Ökologische Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit werden von beiden Autoren bestenstenfalls am Rande erwähnt. F) Die Wirtschaftswissenschaft ein unvollendetes Mosaik aber kein Kaleidoskop Man kann den Begriff der Wirtschaftswissenschaft Schumpeter folgend einteilen in einerseits Vision (voranalytischer Erkenntnisakt) im Sinn von wertender Weltanschauung und andererseits als Werkzeugkasten, in dem die analytischen Instrumente enthalten sind. Ökonomen tummeln sich gern in dem visionären Teil, in dem Weltanschauungen, die durchaus nicht wertfrei sind, dargeboten werden. Visionen allein aber machen noch keine Wissenschaft aus. Sie eignen sich eher für dogmatische Debatten und Talkshows, die weitab von der wirtschaftlichen Wirklichkeit geführt werden. Auch bei Sonntagsreden sind sie offenbar hilfreich. Ökonomen sind sehr viel weniger oft anzutreffen beim Gebrauch ihrer Werkzeuge. Das „trostlose Ungefähr“ (Kant) der dogmatischen Visionsdebatten aber ist genau der Raum, in dem Ökonomen den Lobbyisten begegnen, um ihren „Sachverstand“ an den Mann zu bringen. Dort werden dann die interessenorientierten Konzepte gebastelt, die meist mit dem Satz eingeleitet werden: „was wir brauchen, ist“.. Ein Wirgefühl lässt sich jedoch in einer Gesellschaft mit stark zunehmenden Einkommens- und Vermögensunterschieden so leicht nicht vermitteln. Es gibt wohl kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin, die dem Zugriff von Wirtschaftsinteressen und deren Vertretern so brutal ausgesetzt ist wie die Wirtschaftswissenschaft. Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich noch immer auf dem Weg von der Ideologie hin zur Wissenschaft. Ideologie ist eine teilweise Fehlmeinung mit 153 gesellschaftlicher Adresse. Wissenschaft wird dagegen begriffen als organisierte Form von Erforschung, Sammlung und Auswertung von Daten und Zusammenhängen. Hinter den Ideologien stehen meist wirtschaftliche Interessen, die von Lobbyisten vertreten werden. Gegen die Wirtschaftsinteressen hat die Wirtschaftswissenschaft einen schweren Stand. Ohne Beratung, die auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, können die wirtschaftlichen Akteure (Unternehmer und ihre Verbände, Gewerkschaften, Staat, private Haushalte) in der heutigen Zeit weder ihre Interessen klar definieren noch rational handeln. Adam Smith konnte noch davon ausgehen, dass die Unternehmer seiner Zeit ohne wirtschaftswissenschaftliche Beratung auskommen konnten. Keynes sprach in den dreißiger Jahren noch von Unternehmern als „animal spirits“, die sich ähnlich wie Tiere instinktgeleitet im Dschungel der Wirtschaft zurecht finden. Auf regionalen Märkten, die heutzutage allerdings immer seltener werden, mag es solche Unternehmer auch heute noch geben. In offenen Wirtschaften mit internationalisierten Finanzmärkten ist die wirtschaftliche Existenz ohne Wirtschaftswissenschaft gefährdet. Wirtschaftliche Daten und Zusammenhänge müssen in organisierter Form gesammelt, erforscht ausgewertet vorliegen und über Beratung zugänglich gemacht werden. Andere Wissenschaften haben es offenbar leichter gehabt, sich aus den vorwissenschaftlichen Fesseln zu befreien (Gloy 1995). Die Chemie hat sich sicher nicht mühelos Mühe gegen Alchemie und Zauberei durchsetzen können. In der Wirtschaftswissenschaft fällt die Vergrößerung des Anteils der Wissenschaft zulasten des Anteils an Ideologie offenbar viel schwerer. Die wirtschaftlichen Interessen, die „vested interests“ im Verständnis von Keynes können viel Energie bei der Durchsetzung ihrer Interessen und bei Verteidigung ihres Besitzstandes einbringen. Die Verschiebung der Anteile zugunsten der Wirtschaftswissenschaft und zulasten der Ideologie ist keine leichte Arbeit. Sie ist die Hauptaufgabe der Ideologiekritik, die in der heutigen Zeit nicht leicht zu leisten ist.. Ideologie hat vor allem zwei Grundmuster. Einmal wird versucht zu zeigen, dass ein Partialinteresse in wesentlichen Bereichen deckungsgleich ist mit dem Gemeinwohl: was gut ist für General Motors, ist gut für die USA. Zum zweiten wird unterstellt, dass der mit viel PR-Aufwand vorgeschlagene ideologische Weg der einzige richtige ist, der nach Rom d.h. zum Ziel führt. Nur Lohnsenkung kann zu mehr Beschäftigung führen. Nur Lohnsenkung kann vor Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer schützen usw. Doch ist dem nicht so. Viele – nicht alle – Wege führen nach Rom. Es gib nicht nur eine Wirtschaftspolitik, mit der ein Ziel wie die Senkung der Arbeitslosigkeit 154 erreicht werden kann. Stoßen wir in wirtschaftspolitischen Debatten auf eines der beiden Grundmuster, dann ist ein Anfangsverdacht auf Ideologiebildung gerechtfertigt. Kurzum die Unternehmen können auf wirtschaftswissenschaftliche Einsichten und Erkenntnisse nicht verzichten. Das gilt auch für Gewerkschaften und staatliche Organe. Jeder „mündige Bürger“ braucht letztendlich ein wissenschaftlich fundiertes Orientierungswissen über wirtschaftliche Zusammenhänge, um sich im Alltag zurecht zu finden. Ohne eine gewisse Übersicht über die möglichen Entwicklungen von Wechselkursen fällt selbst die Urlaubsplanung schwer. Die Wirtschaftswissenschaft wird gebraucht, damit alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten sich über die eigenen wirtschaftlichen Interessen ein einigermaßen klares Bild machen zu können. Auch im Wirtschaftsleben ist das Streben nach Wahrheit und Klarheit durchaus vorhanden. Wirtschaftsinteressen aber haben die Eigenschaft, dass sie im Nachtschatten der Halbwahrheiten besser gedeihen als unter der hellen Sonne wissenschaftlicher Klarheit. Deshalb scheuen sie das Tageslicht. Wirtschaftsinteressen leben in einem Paradox. Sie brauchen die Wirtschaftswissenschaft, um ihr Situation richtig bestimmen zu können. Bei der Durchsetzung ihrer Interessen dagegen verleugnen sie wenn nötig die Einsichten der Wirtschaftswissenschaft, um in die Arme der Ideologie zu fliehen. Wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse werden erarbeitet, um rationale Entscheidungen fällen zu können. Anschließend werden sie verfälscht, um Interessen besser durchsetzen zu können. In anderen Wissenschaften, die sich außerhalb des Dunstkreises der Wirtschaftsinteressen frei entfalten können, ist ein solches Paradox kaum vorstellbar. Die kapitalistische Marktwirtschaft besitzt die glänzenden Eigenschaften, die ihr von der Wirtschaftswissenschaft zugeschrieben oder von Ideologen vorgegaukelt werden, nur zum Teil. Dabei geht es in diesem Text um die kapitalistische Marktwirtschaft, wie die akademische Wirtschaftswissenschaft sie sieht. Die Sichtweise der akademischen Wirtschaftswissenschaft mag unvollkommen sein. Sie deckt sich nicht immer mit unseren Alltagserfahrungen. Von Wirtschaftsinteressen verschandelt tritt sie uns als ideologische Halbwahrheit gegenüber. Die akademische Wirtschaftswissenschaft geht bei der theoretischen Arbeit oft von versteckten Annahmen aus. Dazu gehören beispielsweise die Annahmen der automatischen Rückkehr zu Gleichgewichtslagen bei 155 vollständiger Konkurrenz. Nur allzu oft geht sie von konstanten Skalenerträgen aus. Wirtschaftspolitische Strategien werden nur selten auf ihre Wirkungsverzögerungen oder ihre unterschiedlichen regionalen Auswirkungen hin untersucht. Damit provoziert die akademische Wirtschaftswissenschaft gerade eine immanente Kritik, d.h. eine Kritik, die mit genau den analytischen Instrumenten arbeitet, die zum Nachweis der vermeintlichen Vorzüge der kapitalistischen Marktwirtschaft entwickelt und eingesetzt werden. Auf diese Weise können viele ökonomische Grundprobleme aufgedeckt werden und neue Zugänge zur wirtschaftlichen Wirklichkeit erschlossen werden. Der marktradikale Koloss kippt leicht, theoretisch und historisch nachweisbar. Aber er steht noch immer, wenn auch zuweilen schwankend und hin und wieder von der Gefahr einer schweren wirtschaftlichen Depression bedroht. Nur weiß man nicht, wann und wo eine Depression eintritt. Seit einiger Zeit scheint sich die Bedrohung wieder zu erhöhen. Sarkastisch formuliert: mit der Nachhaltigkeit der Blattschneiderameisen wird es die Menschheit mit einem solchen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht aufnehmen können (Siehe Kasten C3: Ein Gesamtzusammenhang am Beispiel einer Ameisenart). Die historisch erfahrenen und durchlittenen Krisen, die Katastrophen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts werden uns wohl auch noch weit ins 21. Jahrhundert hinein begleiten. Sie spiegeln auch die Unvollkommenheiten der Wirtschaftswissenschaft. Marxens wissenschaftliche Intentionen gingen weit über den heute üblichen begrenzten Kernbereich des Ökonomischen hinaus. Er hat versucht, das falsche Bewusstsein von der Warenwelt mit dem Begriff des Fetischcharakters dingfest zu machen. Die nicht für alle verfügbaren Waren schweben uns als Belohnung für unsere Mühen vor, können aber weder die Zufriedenheit noch den Nutzen verschaffen, die uns versprochen werden. Die Kehrseite der Medaille ist der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, der uns alle in der kapitalistischen Marktwirtschaft unterjocht, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß. So unvollkommen die Wirtschaftswissenschaft bei der Berücksichtigung all der Kritik auch sein mag, so hat sie doch einige Inseln, vielleicht sogar kleinere Kontinente gesicherten Wissens von Daten und wirtschaftlichen Zusammenhängen entdeckt, mit denen sie zum Überleben des marktwirtschaftlichen Kapitalismus in erheblichem Maß beigetragen hat und beiträgt. Das wird sich auch in Zukunft wohl nicht ändern. Der untergegangene Sozialismus hatte diese Chance nicht. Ihm fehlte entgegen 156 allen Beteuerungen, dass es sich um einen „wissenschaftlichen Sozialismus“ handele, gerade das Element der Wissenschaftlichkeit. Auch das könnte zu seinem Untergang beigetragen haben. In der Hitze der dogmatischen Debatten schießen viele Ökonomen vorschnell und oft übers Ziel hinaus. Sie verbiegen ihre eigenen Theoreme, die recht kompliziert sein können. Hört man genauer hin, dann antwortet dem Schrei nach „Markt, Markt und nochmals Markt“ ein Echo, in dem ein idyllischer völlig wirklichkeitsferner Markt sich bemerkbar macht. Auf diesem Markt herrschen vollständige Konkurrenz, vollständige Information, rationales Verhalten aller Marktteilnehmer, konstante Technik selbsttätige Rückkehr zu Gleichgewichtslagen nach äußeren Schocks wirksam sein sollen. Leider gibt es solche Märkte nur in Textbüchern und nur als äußerst seltene Ausnahmesituation in der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Einmal in einer solchen idealen Welt angekommen, finden Wirtschaftswissenschaftler weder die Zeit, die Forschungsmittel, noch ist der gute Wille vorhanden, sich auf den schwierigen Weg der empirischen Überprüfung von Hypothesen einzulassen. Ist die Wirtschaftswissenschaft vielleicht doch nur eine „schreckliche Wissenschaft“, eine „dismail science“? Nein! Einige der Mosaiksteine, die im vorangegangenen Text skizziert wurden, seien noch einmal aufgezählt als da sind: Wirtschaftshistorische Perspektiven, die unser Problembewusstsein schärfen können; Kapitalkreisläufe, die die geographische Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft erklären können; Der Unterschied zwischen Wirtschaftswissenschaft und Ideologie, der uns auf den verhängnisvolle Umgang von Interessengruppen mit wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen hinweist; Innovationscluster, die uns Zusammenhänge zwischen Erfindungen und Innovationen aufzeigen und uns die große Bedeutung des technischen Wandels aufzeigen können; Geldpolitik, die uns mit den Problemen der Geldwertstabilität konfrontiert und die Kontrolle der Inflation ermöglicht; Fiskalpolitik, die uns zeigt, dass der Staat Aufgaben und Funktionen in einer Marktwirtschaft zu erfüllen hat, die weit über der Erfüllung der Wünsche von Interessengruppen hinausreichen; Makroökonometrische Modelle, die die komplexe Vernetzung wirtschaftlicher Variablen darstellen und die uns erste Hinweise liefern können, wie sich Zukunftsperspektiven bei alternativen Wirtschaftspolitiken gestalten lassen; 157 Wechselkursregime. Fixkursregime, Regime flexibler Wechselkurse. Ohne eine Kenntnis von Wechselkursveränderungen kann man heute nicht einmal mehr seinen Urlaub planen; Kaufkraftparitäten, die uns mit den längerfristigen Entwicklungen von Einkommen und Ländervergleichen unterrichten können; J-Kurve, die uns die Folgen von Währungsveränderungen im Zeitablauf aufzeigen kann. Sie wird hilfreich sein, die Folgen der längst überfälligen Dollarabwertung zu verstehen; Vollständige und oligopolistische Konkurrenz, deren Unterschiede zu wenig berücksichtigt werden, obwohl sie zu unterschiedlichen Ergebnissen von Marktprozessen führen können; Informationsökonomik, die uns darauf hinweist, dass die Ergebnisse von Marktprozessen stark von der Verfügbarkeit und von der Verteilung von Informationen abhängen; Konstante und zunehmende Skalenerträge von Produktionsfunktionen, die uns auf die Bedeutung unterschiedlicher Produktionstechniken hinweisen; Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, der uns aufzeigt, dass der materielle Reichtum in Gesellschaften, in denen kapitalistische Marktwirtschaft herrscht, auch ihre besonderen Zwangslagen entwickelt. Produktionsregime: diversifizierte Qualitätsproduktion, standardisierte Massenproduktion, standardisierte Qualitätsproduktion. Soweit eine Auswahl aus den in diesem Text vorgestellten Konzepte. Diese Konzepte können – vor allem dann, wenn sie empirisch ausgefüllt sind – zeigen, dass nicht alles möglich ist, was uns an meist sogar gutgemeinten Vorschlägen angedient wird. Die Wirtschaftswissenschaft hat noch längst keinen geschlossenen Kanon, wenn es etwas Ähnliches in den Wissenschaften überhaupt geben kann. Wissenschaft ist grundsätzlich ein offener Prozess. Noch immer ist die Zahl der Theorien in der Wirtschaftswissenschaft (zu) groß und die Zahl der analytischen Instrumente (zu) klein. Die Landkarte der wirtschaftlichen Wirklichkeit, die sich wie ein Flussdelta ständig ändert, weist noch immer allzu viele und allzu große weiße Flecken auf. Die Wirtschaftswissenschaft hinkt den Veränderungen des Flussdeltas hinterher. Versuche das Delta der wirtschaftlichen Wirklichkeit vorausschauend zu regulieren waren bisher nicht gerade von Erfolg gekrönt. Die Veränderungen des Flussdeltas der wirtschaftlichen Wirklichkeit müssen wissenschaftlich erforscht werden, um die Veränderungen im Delta voraussagen zu können. Dazu ist eine wissenschaftliche Untersuchung im Sinne einer „organisierte Form der Erforschung, Sammlung und Auswertung von Fakten und Zusammenhängen“ über das Delta erforderlich. Eine 158 verlässliche Voraussage der Fakten und Zusammenhänge ist die Voraussetzung für Eingriffe und Regulierungen des Deltas. Dazu ist die Wirtschaftswissenschaft heute nur eingeschränkt fähig. Die Wirtschaftswissenschaft kann vom Delta der wirtschaftlichen Wirklichkeit nur ein unvollendetes Mosaik zusammensetzen. Das Mosaik kommt einer Momentaufnahme der wirtschaftlichen Wirklichkeit gleich. Unerforschte Bereiche erscheinen als leere Flächen. Die Interpretation eines solchen Mosaiks – als Momentaufnahme der wirtschaftlichen Wirklichkeit – ist unter vielen Aspekten problematisch. Unterschiedliche Sichtweisen sind möglich, sicher aber nicht beliebig. Die Sichtweisen, die die Wirtschaftswissenschaft zu bieten hat, sind deshalb aber durchaus kein Kaleidoskop, das jedes Kind oder jeder Vertreter von Wirtschaftsinteressen vor seinem Auge so lange drehen kann, bis die Bildelemente erscheinen, die ihm gefallen. Aus den nicht sehr zahlreichen mehr oder weniger gesicherten Wissensbeständen lassen sich schemenhaft immerhin Zukunftsentwürfe entwickeln und erahnen. Im Vergleich zu den Erlösungshoffnungen, die einst in den Sozialismus gesetzt wurden, nehmen sich die heute aktuellen Zukunftsentwürfe bescheiden aus. F) Zukunftsentwürfe: Marktradikalismus – soziale Marktwirtschaft – Marktsozialismus - Lebensweltökonomie? Nach einem schnellen Durchgang durch einige gesamtwirtschaftliche und einige einzelwirtschaftliche Grundmuster der Wirtschaftswissenschaft, so wie sie in den Hauptströmungen diskutiert werden, stellt sich die Frage, in welche Richtung sich die kapitalistische Marktwirtschaft bewegt bzw. welche Vorschläge zu ihrer Verbesserung oder Überwindung in der heutigen Zeit diskutiert werden. Vier Hauptrichtungen von unterschiedlicher Bedeutung sollen kurz skizziert werden. Die marktradikale Orientierung ist in der Gegenwart auf dem Vormarsch. Das ist für jeden von uns auch im Alltagsleben deutlich erkennbar. Nach dem Zusammenbruch des sog. real existierenden Sozialismus, der in der wirtschaftlichen Realität der absolutistischen Befehlswirtschaft näher stand als den sozialistischen Idealen des ausgehenden 19. und der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, ist das nicht überraschend. Umrisse einer 159 Entwicklungslogik der kapitalistischen Marktwirtschaft zeichnen sich ab. Die Kapitalkreisläufe haben sich geographisch in andere Staaten, Kontinente oder Währungsgebiete ausgedehnt. Auf diese Weise können sich die großen transnationalen Oligopole der staatlichen Kontrolle und insbes. der Besteuerung (noch) leichter entziehen. Auf dem Wege der Entbettung entstehen neue Produkte bzw. Branchen. Überdies bietet die in einigen Sektoren schnell wachsende Dienstleistungsgesellschaft stets neue Dienstleistungspakete an. Tätigkeitsfelder, die außerhalb der kommerzionalisierten Sphäre lagen, werden zunehmend erwerbswirtschaftlich gesteuert. Das bedeutet nicht unbedingt eine Verbesserung der Qualität der dann warenförmig produzierten Arbeitsprodukte oder der warenförmig erbrachten Dienstleistungen. Der Staatsanteil soll sinken. Staatseigentum und Staatsaufgaben sollen privatisiert werden. Die Schnittstelle zwischen Staat und Markt soll neu organisiert werden. Private Unternehmen wickeln zunehmend über Staatsaufträge Staatsaufgaben ab. Das lässt sich auch an Beispielen im Irakkrieg zeigen. Selbst für die Folter gibt es ein Outsourcing. Die Vergabe öffentlicher Aufträge, die stets anfällig für Korruption war, erfolgt nach schwer überschaubaren und noch schwerer zu kontrollierenden Verfahren. Die erhofften Effizienzgewinne aber drohen auszubleiben. Auch die Alterssicherung wird zügig aus dem staatlichen Bereich herausgenommen und privaten erwerbswirtschaftlich betriebenen Fonds überantwortet. Werden die Renten dadurch sicherer? Die soziale Marktwirtschaft gilt in Deutschland auch heute verstärkt wieder als Erfolgsmodell. Die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft MüllerArmack und Ehrhard haben die soziale Marktwirtschaft im Stil der Nachkriegszeit wie folgt definiert: „Auf der Grundlage der Wettbewerbswirtschaft erbringt die freie Entschlusskraft des Einzelnen in einem von ihm frei erwählten Betätigungsfeld eine marktwirtschaftliche Leistung; die dazu gehörende Rahmenordnung sichert diesen Wettbewerb und zugleich die Umsetzung dieser Einzelleistung in einen allen zugute kommenden gesellschaftlichen Fortschritt sowie ein vielgestaltiges System sozialen Schutzes für die wirtschaftlich schwachen Schichten“ (Erhard, MüllerArmack 1972: 43). Die allgemeine Gleichgewichtstheorie und zwei Staatsfunktionen, die Allokations- und Distributionsfunktion stehen im Hintergrund dieser Definition. In der reinen neoklassischen Wirtschaftstheorie ist das ein 160 Widerspruch. Das allgemeine Gleichgewicht ist das wirtschaftliche Optimum, die beste aller möglichen Welten. In diesem Marktsystem wirken geheimnisvolle Marktkräfte, die Abweichungen vom Gleichgewicht selbsttätig korrigieren. Das Gleichgewicht stellt sich von selbst wieder her. Eingriffe von außen in den Prozess des Zustandekommens des allgemeinen Gleichgewichts können nur Ergebnisse hervorbringen, die unterhalb des Gleichgewichts liegen. Wirtschaftspolitische Eingriffe in den Wirtschaftsprozess sind deshalb auch gar nicht erforderlich. Umverteilung und Umlenkung der Allokationsprozesse sind als überflüssig abzulehnen. Die Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse aber entsprechen hinsichtlich der Einkommens- und der Vermögensverteilung nicht den Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, die in der Bevölkerung entwickelter kapitalistischer Marktwirtschaften noch immer vorherrschend sind. Das kann zu schweren sozialen Konflikten führen. Um des sozialen Friedens Willen hatten die Initiatoren der Sozialen Marktwirtschaft deshalb Korrekturen der Marktprozesse vorgesehen. Wichtig für sie war – mehr oder weniger unausgesprochen – auch die Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus, der damals noch als wirtschaftlich erfolgreich und sozial galt. Sicher aber war der damals real existierende Sozialismus von der heutigen Warte aus gesehen nicht ökologisch nachhaltig. Mit seinen klassenkämpferischen Dogmen kann er wohl auch nicht als sozialverträglich bezeichnet werden. Die Vertreter der Konzepte für eine Soziale Marktwirtschaft, von denen es heute vor und besonders nach der Wahl wieder mehr zu geben scheint, diskutieren ihr Modell überwiegend als geschlossene Wirtschaft. Realistisch daran war, dass ein für heutige Begriffe sehr hoher Anteil des Wiederaufbaus auf binnenwirtschaftliche Leistungen zurück geführt werden konnte. Über den Marshallplan wurden amerikanische Exporte bzw. deutsche Importe ermöglicht. Unrealistisch hohe Preise und bürokratische Eingriffe haben den Marshallplan behindert. Seine Wirkung war viel geringer als es die politische Glorifizierung auch heute noch wahrhaben will (Abelshauser 2005:137). Die Kriegszerstörungen deutschen Städten waren katastrophal. Überraschend ist, dass der deutsche Kapitalstock nicht nur weitestgehend intakt geblieben war. Das besiegte Deutschland hatte einen der weltweit modernsten und nach dem Durchschnittsalter der Maschinen und Ausrüstungen auch jüngsten Kapitalstock. Ähnliches galt für Japan, den zweiten großen Verlierer im zweiten Weltkrieg. Deutschland hat den Krieg zweifelsfrei moralisch, militärisch und politisch verloren, paradoxer Weise aber nicht wirtschaftlich. 1945 stand vor allem in Westdeutschland die modernste verarbeitende 161 Industrie Europas, die nicht ohne einige Schwierigkeiten von der Kriegs- auf die Friedensproduktion umgestellt werden konnte. Mit dem modernen Kapitalstock, den gut ausgebildeten, erfindungsreichen und hoch motivierten Kriegsheimkehrern und dem gut funktionierenden Weltwährungssystem war das deutsche Wirtschaftswunder im Rückblick so wundersam auch wieder nicht. Die Phase des Wiederaufbaus in Deutschland, in Europa und auch in Japan hat für die deutsche Wirtschaft, insbes. natürlich die Bauindustrie, viele Impulse hervorgebracht. Die Soziale Marktwirtschaft hat als institutioneller Rahmen sicher ihren Beitrag geleistet, der vielleicht aber angesichts der durchaus nicht nachteiligen Voraussetzungen der deutschen Wirtschaft weniger bedeutend sein dürfte als es die Anhänger dieses Ansatzes wahr haben möchten. Die Wirkung von institutionellen Rahmenbedingungen auf Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung ist – nebenbei bemerkt – nur sehr unvollkommen messbar. Kann die „alte“ Soziale Marktwirtschaft heute wiederbelebt werden und sich gegen den Ansturm des Marktradikalismus behaupten? Zweifel sind angebracht. Zunächst einmal stimmt das internationale Umfeld nicht mehr. Die Geldpolitik der damaligen Zeit entsprach den Zwangslagen des Fixkurssystems mit Einlösungspflicht von Exporterlösen, die von der Zentralbank vorgenommen wurde. Devisen gelangten nicht in die Hände von Exporteuren. Es handelte sich um eine Variante der Devisenzwangswirtschaft. Das alles ist in einem System flexibler Wechselkurse mit liberalisierten Devisen- und Kapitalmärkten ganz anders. Eine Soziale Marktwirtschaft braucht eine aktive Fiskalpolitik, insbesondere ein Steuersystem, das eine deutliche Progression hat. Das ist eine unverzichtbare Voraussetzung für Umverteilungspolitik. Auch ist hohes Wachstum eine günstige Voraussetzung, wenn eine Allokationspolitik durchgesetzt werden soll. Die Soziale Marktwirtschaft hatte übrigens nie eine ökologische Perspektive. Wichtige Voraussetzungen und Problemlagen, mit denen sich eine Soziale Marktwirtschaft in der heutigen Zeit auseinander zu setzen hätte, waren damals noch nicht gegeben. Deshalb dürfte auch die Einführung einer modernisierten Sozialen Marktwirtschaft auf nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen. Es gibt heute auch eine „Initiative: neue soziale Marktwirtschaft“. Hinter diesem Label tummeln sich jedoch nur marktradikal gesonnene Personen und Gruppierungen. Von ihnen ist eine Wiederbelebung der „alten“ Sozialen Marktwirtschaft wohl nicht zu erwarten. Die „alte soziale Marktwirtschaft“ stand dem Konkurrenzkapitalismus näher als der modernen kapitalistischen Marktwirtschaft, die von transnationalen Oligopolen geprägt wird. Die Mitschuld der Konzerne am Hitlerfaschismus war nach Kriegsende 162 weitgehend unbestritten. Konzerne wurden nicht zuletzt mit dieser Begründung von den Besatzungsmächten entflochten. Die „Initiative: neue soziale Marktwirtschaft“ ist ein Erzeugnis von Oligopolen, die sich hinter dieser Projektionsfläche zusammengefunden haben. Sie wollen sich eine unverfängliches Äußeres verschaffen, das von ihrer Marktmacht und von ihren Gestaltungsmöglichkeiten ablenkt. Transnationale Oligopole konstituieren den harten Kern der heutigen kapitalistischen Marktwirtschaft. Soll der scheinheilige Label „neue soziale Marktwirtschaft“ aggressive transnationale Oligopole als Wölfe im Schafspelz erscheinen lassen? In linken Zirkeln werden die Konzepte des Marktsozialismus hin und wieder diskutiert. Ein mögliches Modell ist eine Marktwirtschaft mit Unternehmen, in denen Arbeiterselbstverwaltung praktiziert wird. Dazu gehört ein Staat, der mit einem Steuersystem ausgestattet ist, das interpersonelle und interregionale Umverteilung ermöglicht. – Im Hintergrund stehen die jugoslawischen Erfahrungen. Wirtschaftswissenschaftler dieses Landes haben einige sehr gute Studien über Arbeiterselbstverwaltung und Marktsozialismus geschrieben, die aber mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten Jugoslawiens wenig zu tun hatten (stellvertretend Horvath 1982). Der Prager Frühling 1972 hat in der Literatur Spuren hinterlassen (stellvertretend Sik 1979). In der US amerikanischen Literatur taucht das Thema der Alternativen zum Kapitalismus immer wieder einmal auf. 1993 erschien ein Tagungsband zu diesem Thema, an dem bekannte neoklassisch orientierte Ökonomen, darunter zwei Nobelpreisträger, teilgenommen haben (Atkinson (Hrsg. ) 1993). Die Diskussionen waren offenbar überraschend undogmatisch und keineswegs vergleichbar mit den rechthaberischen Auftritten deutscher Ökonomen in der gegenwärtigen Reformdebatte. Auffällig in den Debatten ist, dass nahezu ausschließlich mit der Annahme der vollständigen Konkurrenz gearbeitet wird. Die volle Funktionsfähigkeit von Märkten – Marktmechanismus – wird vorausgesetzt. Die Probleme, die von der Informationsökonomik auch im Zusammenhang mit sozialistischen Marktwirtschaften aufgeworfen werden, finden keine Beachtung (Stiglitz 1996). Der grauenvolle Untergang der jugoslawischen Variante des Marktsozialismus verweist auf ein allgemeines Problem von Marktwirtschaften. Märkte sind nicht immer und überall friedenstiftend. Oft können sie den sozialen Zusammenhalt nicht nur nicht sicherstellen sondern 163 im Gegenteil sogar gefährden. Die historisch älteren religiösen und nationalistischen Differenzen sind von der sozialistischen Marktwirtschaft Jugoslawiens nicht überwunden sondern offenbar sogar noch verschärft worden. Das wirft auch einen dunklen Schatten auf die Bemühungen der Integration von Minderheiten. Eingewanderte Minderheiten werden oft diskriminiert, um die Arbeitskosten zu senken oder ausgegrenzt, wenn sie nicht unmittelbar gebraucht werden. Die möglichen Folgen zeigen sich in den „Bannmeilen“, den banlieus von Paris. Marktwirtschaft garantiert Sozialverträglichkeit und den sozialen Zusammenhalt nicht. In den Debatten über die sozialistische Marktwirtschaft findet man so gut wie keine Hinweise auf ökologische Problemlösungen. Eine Lebensweltökonomie ist dagegen eine Wirtschaft mit gezähmten d.h. stark regulierten Märkten, die die zivile Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt. Das Konzept einer Lebensweltökonomie thematisiert Umwelt und Sozialverträglichkeit ebenso wie das Geschlechterverhältnis. Einige Hinweise auf eine „sozialökologische Wirtschaftspolitik“ fehlen nicht (Jochimsen et al. 2004). Das Konzept einer Lebensweltökonomie ist aus der Perspektive der heutigen wirtschaftlichen Lage eine moralisierende Utopie, die allerdings den unbestreitbaren Vorzug hat, dass sie die Defizite der marktradikalen Option offen legt, die uns sonst meist hinter schwer nachvollziehbaren Behauptungen von Effizienz verborgen bleiben. Eine neuere Variante der Lebensweltökonomie ist die Zeitpolitik, die eine neue Zeitgestaltung zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft und der Lebenswelt anstrebt. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse zwingt den Subjekten der zivilen Gesellschaft einen Zeitrhythmus auf, der nicht der ihnen genehme oder der menschlichen Natur entsprechende ist. Bei Schichtarbeit ist das offensichtlich. Zeitpolitik hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Zeitstrukturen des Alltags zu verändern und wieder in die Verfügungsmacht der Subjekte zurückzuverlagern (Mückenberger 2004). Veränderung von Zeitstrukturen ist ein gutes und für jeden unmittelbar nachvollziehbares Beispiel, wie moderne kapitalistische Marktwirtschaften über die direkte und indirekte Vorgabe von Zeitabläufen tief in das individuelle Verhalten eingreifen. Die Vorgabe von Zeitstrukturen ist als Ansatzpunkt für Fragen über den scheinbar schicksalhaften Sinn und Unsinn unseres Alltagslebens wie kaum ein anderes Thema geeignet. Die Folgen des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse werden offensichtlich. Die Menschen werden gezwungen, ihre Lebenszeit den Marktprozessen direkt oder indirekt anzupassen. Wo bleibt die Freiheit? Das Reich der Freiheit liegt offenbar nicht – wie Marx noch glaubte – jenseits des Arbeitstags, sondern 164 außerhalb der Reichweite des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse. Die heute existierende kapitalistische Marktwirtschaft und die Reformen, die in Deutschland vorgesehen sind, deuten in die marktradikale Richtung. Ihre theoretische Basis des marktradikalen Kapitalismus ist noch immer sehr abstrakt und an wichtigen Stellen brüchig. Die empirische Überprüfung ist nur in Ansätzen vorhanden. Aus einem solchen Kontext heraus muss es schwer fallen, eine konsistente Wirtschaftspolitik zu formulieren, die ihre oft wohlgemeinten Ziele auch umsetzen kann. Es stellt sich vielmehr eine Tendenz zur Beliebigkeit ein. Alles ist mehr oder weniger machbar, wenn man nur die politische Basis dazu finden kann. Die Lage in Deutschland nach der Wahl 2005 ist dafür ein trauriges Beispiel. Einiges von dieser problematischen Situation ist in dieses Papier eingeflossen. G) Statt eines Schlusswortes In diesem kritisch angelegten Text wurde versucht, die heutige Wirtschaftswissenschaft an ihrem Selbstverständnis, ihren Absichten und Versprechungen zu messen. Die Ergebnisse sind nicht in allen wichtigen Bereichen des Wirtschaftslebens überzeugend. Bei aller Kritik aber darf nicht übersehen werden, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft und die aus ihren Einsichten entwickelte Wirtschaftspolitik in weiten Bereichen die Existenzfähigkeit der entwickelten kapitalistischen Marktwirtschaften nicht unerheblich unterstützt hat. Sie hat auch Verfahren und Instrumente entwickelt, die marktkonforme Reformen ermöglichen sollen. Gerade in diesen Bereichen zeigt sich, dass die akademische Wirtschaftswissenschaft weit über die ihr unterstellte Verschleierung durchaus existierender Missstände hinausgreifen kann. Schon deshalb reicht es nicht, alles was dort erdacht und umgesetzt wurde in Bausch und Bogen abzulehnen. Den oberen Schichten der Einkommens- und Vermögensbesitzer sind mit der Wirtschaftswissenschaft immerhin gut gefahren. Sie haben unter dem Mantel der Marktmythologien ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Ihre Anteile an Einkommen und Vermögen nehmen zu. Sie widersetzen sich mit oft fragwürdigen Argumenten, die ihnen von der akademischen Wirtschaftswissenschaft angedient werden, zunehmend erfolgreich allen Umverteilungsversuchen. Unter den Visionen und im Werkzeugkasten, die von der Wirtschaftswissenschaft bereitgestellt werden, steht einiges zur Verfügung, das auch für wirtschaftliche Alternativen zur bestehenden kapitalistischen 165 Marktwirtschaft eingesetzt werden kann. Organisierte Wirtschaftsinteressen haben immer viel Talent gezeigt, sich das für sie Brauchbare herauszulesen. Manches kann in eine Zukunft hinüber gerettet werden können, in der andere Ziele als die ausschließlich erwerbswirtschaftlichen Zwecke der kapitalistischen Marktwirtschaft verfolgt werden. Die Trennung von „guter“ und „böser“ Wirtschaftswissenschaft wäre fiktiv und kann deshalb auch nicht Aufgabe eines solchen Textes sein. Die politischen Individuen und ihre Organisationen müssen den Ausleseprozess ausgehend von ihren gesellschaftspolitischen Projekten selber leisten. In einer Zukunftsvision, in der die marktradikale, d.h. erwerbswirtschaftliche Variante transnationaler Oligopole der kapitalistischen Marktwirtschaft und „shareholder values“ im Vordergrund steht, ist allerdings nur wenig oder kein Raum für die Prinzipien einer erneuerten Sozialen Marktwirtschaft und noch weniger für die Konzepte einer Lebensweltökonomie. Eine akzeptable marktwirtschaftliche Perspektive wäre eine, die glaubhaft von sich behaupten kann, dass innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Marktwirtschaft mit Hilfe der verengten akademischen Wirtschaftswissenschaft all unsere wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Probleme – und warum nicht mit „mehr Markt und weniger Staat“ – gelöst werden können! Die „shareholder values“ müssten durch „stake holder values“ ersetzt und erweitert werden. Mit anderen Worten, nicht nur die Interessen der Eigentümer (d.h. der share holder, das sind die Besitzer von Eigentumstiteln) sondern auch die im weiteren Sinn von den Aktivitäten eines Unternehmens betroffenen Interessen (d.h. der stakeholder) müssten Berücksichtigung finden. Die heute dringend zu lösenden Problemen sind nicht vom Himmel gefallen. Es sind Probleme, die aus der Funktionsweise der kapitalistischen Marktwirtschaft heraus entstanden sind. Es wurden unter der Vorherrschaft der Hauptströmungen der akademischen Wirtschaftswissenschaft schließlich mehr Probleme geschaffen als gelöst werden konnten. Die Probleme reichen von der Massenarbeitslosigkeit in den Zentren, der vielerorts als untererträglich empfundenen gesellschaftlichen Ungleichheit über die Umweltzerstörung bis hin zu den Hunderttausenden von Kindern in den Ländern der Peripherie, die dort jedes Jahr verhungern. Die akademische Wirtschaftswissenschaft und die von ihr angeleitete Wirtschaftspolitik stehen offenbar hilflos vor vielen dieser wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Probleme. Kommt es zu keinen Lösungen, dann ist die marktradikale Perspektive längerfristig nichts anderes als eine Utopie im 166 schlechten Sinn, deren Ideale „nirgendwo“ ihre Verwirklichung gefunden haben und auch nicht finden werden. Deutschland schwimmt vor und nach den Wahlen 2005 auf einer nostalgischen Welle. Die Vergangenheit wird verklärt und mit ihr auch die soziale Marktwirtschaft. Eine Rückkehr zu dieser Ausprägung der kapitalistischen Marktwirtschaft wird beschworen. Doch hat sich die wirtschaftliche Realität so grundlegend verändert, dass die Rückkehr zu den hehren Prinzipien und der weniger schönen wirtschaftlichen Wirklichkeit der „alten“ sozialen Marktwirtschaft die erhoffte Erlösung von den Übeln der Gegenwart nicht bringen kann. Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aber ist nicht reproduzierbar wie eine beliebige Ware, ein Auto oder ein Suppenteller. Es gibt nicht nur linke oder keynesianische Illusionen über die Gestaltbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Auch konservative Kreise haben an dieser Illusion ihren Anteil, wenn sie in der Gegenwart mit ihren rückwärts gerichteten Reformen im Vormarsch sind. Die Kreise, die die Konzepte der „‚neuen’ sozialen Marktwirtschaft“ fördern, ziehen die Fäden in einem Marionettentheater. Die Puppen treten in altertümlichen Kostümen auf. Das mag amüsant sein, vor allem dann wenn in dem trostlosen Stück frühbürgerliche Versatzstücke im Sinne einer „Kultur der Freiheit“ (Fabbio 2005) eingebaut werden. Sie erinnern uns recht daran erinnern, dass das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft zur Zeit der französischen Revolution etwas anders aussah als die weltweite wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirklichkeit des vergangenen und des beginnenden neuen Jahrhunderts. Die Versprechungen der bürgerlichen Gesellschaft, so wie sie z.B. in den Menschenrechten niedergelegt wurden, sind zum überwiegenden Teil noch immer nicht eingelöst. Der Text der Souffleuse in diesem Marionettentheater aber stammt aus den Ausarbeitungen über den eisigen Gletscher der kapitalistischen Marktwirtschaft, der sich fortbewegt, sich dabei stets verändert aber doch immer der alte eisige Gletscher bleibt. 167 168 G) Anhang 1) Erklärung wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe Arbeitslosenquote: Quotient aus der Zahl der Arbeitslosen und der Zahl der Erwerbspersonen. Arbeitskräftepotential: Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 16 –65 Jahren. Arbeitsproduktivität: Produktion je Beschäftigten oder je Beschäftigtenstunde. Arbitrage: Forderung, dass der erwartete Kurs oder die erwartete Rendite einer Aktie oder einer sonstigen Finanzanlage gleich sein müssen. Armut: Menschen werden als arm bezeichnet, wenn sie über ein Einkommen verfügen, das weniger als 50% des Durchschnittseinkommens beträgt. Blasen (spekulative): Abweichungen des Aktienkurses vom Fundamentalwert in der Erwartung, dass die Aktie zu einem späteren Termin noch teurer weiterveräußert werden kann. Fundamentalwerte sind die Werte, die auf Grund der vorliegenden Informationen errechnet werden können. Dazu gehört z.B. das Kurs-GewinnVerhältnis (siehe dort). Beschäftigte: Personen (Arbeitnehmer und Selbständige), die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Erwerbspersonen: Beschäftigte und Arbeitslose. Erwerbsquote: Verhältnis von Erwerbspersonen zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Defizitquote: Anteil des Budgetdefizits am nominalen Bruttoinlandsprodukt. Generationenvertrag: Ungeschriebener Vertrag im Rahmen des Umlagesystems (siehe dort) einer Rentenversicherung. Die gegenwärtig aktive Generation finanziert die Rentner über Beitragszahlungen. Im Gegenzug wird die heute aktive Generation im Rentenalter von der dann aktiven Generation unterstützt. Kapitaldeckungsverfahren: System der Alterssicherung, in dem sich die heute aktive Generation einen Kapitalstock anspart, den sie im Alter für ihre Versorgung verwendet (siehe Umlagesystem). Konsumentensouverainität: Grundprinzip der Marktwirtschaft, wonach das Angebot von Gütern von den Konsumenten bestimmt wird. 169 Kurs-Gewinn-Verhältnis: Beziehung zwischen Aktienkurs und den Gewinnen eines Unternehmens. Das KGV ist eine wichtige Orientierungsgröße – Fundamentalwert – zur Bewertung von Aktien. Das KVG ist der Kehrwert der Gewinnrendite. Lobbies: Interessengruppen, die durch unterschiedliche Formen der Einflussnahme politische Entscheidungsprozesse zu ihren Gunsten beeinflussen. Staatsschuldenquote: Anteil der Staatsschuld am nominalen Bruttoinlandsprodukt. Glaubwürdigkeit: Vertrauen der Wirtschaftssubjekte, dass eine angekündigte Wirtschaftspolitik den vorgesehenen Erfolg bringt. Opportunitätskosten: Bewertung eines Projekts mit den entgangenen Gewinnen einer nicht verwirklichten Altenative. Say’s Gesetz: Gesetz, nach dem sich das Angebot von (neuen) Gütern und Dienstleistungen immer eine ausreichende Nachfrage schafft. Schocks (äußere): Änderungen von unbeeinflussbaren Variablen wie Ölpreis etc., die eine Verschiebung der Angebots- bzw. der Nachfragekurve zur Folge haben. Wichtig für eine gegen Schocks angesetzte Wirtschaftspolitik ist die Unterscheidung zwischen vorübergehenden oder endgültigen Schocks. Umlageverfahren: Ein Rentenversicherungssystem, bei dem die Beiträge der Beschäftigten im gleichen Jahr als Leistungen an die Rentner ausbezahlt werden. Unsichtbare Hand: Von Adam Smith in die Wirtschaftswissenschaft eingebrachter Begriff, mit dem die beabsichtigten und die unbeabsichtigten Wirkungen eines Marktmechanismus dargestellt werden. 2) Skizzen für weitere Fallbeispiele Die hier vorgeschlagenen Themenbereiche werden nur kurz skizziert. Sie sollten mit den Kursteilnehmern diskutiert werden. 1) Mindestlohndiskussion: Die aktuelle Diskussion kann auf der Grundlage von Zeitungsberichten nachvollzogen werden. Wichtig ist die Berücksichtigung der Bauindustrie, in der es schon seit Mitte der neunziger Jahre Mindestlöhne gibt. Zusätzlich Lektüre des Unterabschnitts C3 „Ein globalisierter Arbeitsmarkt: der Arbeitsmarkt für Schiffsbesatzungen“. 2) Entwicklungsperspektiven des Ölpreis 170 Der Ölpreis war schon immer auch ein politischer Preis. Auch spekulative Bewegungen, aufgebrauchte Reserven haben zu der Preiserhöhung auf zeitweise nahezu 60$ beigetragen. Zahlreiche Hinweise finden sich in der Wirtschaftspresse, Handelsblatt, Spiegel, Zeit. 3) Alternde Gesellschaften und Wirtschaftspolitik Alternde Gesellschaften werfen zahlreiche politische und wirtschaftliche Probleme auf, die von der gesellschaftlichen Dynamik, Innovationsfreudigkeit, Gesundheitsvorsorge bis zur Rentenfinanzierung reichen. Das Thema sollte auf dem Hintergrund der neueren demographischen Entwicklungen behandelt werden. Einstieg über den World Economic Outlook des IMF, Herbst 2004, der über das Internet zugänglich ist. 4) Japans deflatorische Stagnation Japan, die Erfolgsstory der achtziger Jahre, leidet seit Beginn der neunziger Jahre unter einer hartnäckigen Stagnation, die mit einer leichten Deflation verbunden ist. Vergleiche mit Deutschland drängen sich auf. Einstieg über die letzten beiden Jahresberichte der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Basel und die letzten beiden World Economic Outlook des IMF. Beide Quellen sind über das Internet zugänglich. 5) Opels Überlebenschancen Siehe Kasten E17: „Opel und die Kartoffelschälerin“ dieses Papers und den dort angegebenen Bericht des Spiegel. 6) Hartz IV: Auf der Grundlage von Pressemitteilungen und Internetportalen der Gewerkschaften und anderer Organisationen soll eine Darstellung der Maßnahmen von Hartz IV erarbeitet werden. Die lohntheoretischen Grundlagen können ausgehend von Abbildung Cl: Arbeitsangebot bei Arbeitslosenhilfe oder Vermögen erkundet werden. 7) Mögliche Folgen der amerikanischen Zwillingsdefizite Die USA haben ein hohes Haushaltsdefizit und ein hohes Handels- bzw. Leistungsbilanzdefizit. Die weltwirtschaftlichen Folgen sind erheblich. Sie können auf der Grundlage von Presseberichten, Internetportalen und ausgehend von Kasten B14: Der Absorbtionsansatz aufbereitet werden. 3) Grobgliederung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, des Staatshaushaltes und der Zahlungsbilanz 171 A) Grobgliederung der Herkunftsseite des Bruttoinlandsprodukts (BIP Mrd. €, 2002) ________________________________________________________________ Vom BIP zum Volkseinkommen (1) Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2a) + Primäreinkommen aus der übrigen Welt 2b) – Primäreinkommen in die übrige Welt 2c) Saldo der Primäreinkommen mit der übrigen Welt 3) = Bruttosozialprodukt 4) – Abschreibungen 5) Nationaleinkommen (Primäreinkommen) 6a) + laufende Transaktionen aus der übrigen Welt 6b) – laufende Transaktionen in die übrige Welt 7) = Verfügbares Einkommen der Inländer 5) Nettonationaleinkommen (Primäreinkommen) 8) – indirekte Steuern 9) + Subventionen 10) = Volkseinkommen 2.108,20 115,47 –124,56 –9,09 2.099,11 –318,48 1.780,63 9,80 33,11 1.757,32 1.780,63 –249,51 30,92 1562,04 Die Komponenten des Volkseinkommens 11) Arbeitnehmerentgelt 12) Bruttolöhne und Gehälter 13) Arbeitgeberbeiträge 14) Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen 1.130,03 911,46 218,57 432,01 172 B) Grobgliederung der Verwendungsseite des Bruttoinlandsprodukts (BIP in €, 2002) ____________________________________________________________ 1) Konsum privater Haushalte 2) + Konsum privater Organisationen ohne Erwerbszweck 3) + Staatlicher Konsum 4) + Bruttoanlageninvestitionen 5) Ausrüstungen 6) Bauten 7) Sonstige Anlagen 8) Vorratsveränderungen 9) = Inländische Verwendung Gütern 10) + Außenbeitrag (Exporte – Importe) 11) Exporte von Waren und Dienstleistungen 12) Importe von Waren und Dienstleistungen 13) = Bruttoinlandsprodukt 1.199,58 42,30 402,79 387,78 150.90 212,75 24,13 – 7,78 2.025,17 83,03 748,27 665,24 2.108,20 173 C) Grobgliederung des Staatshaushalts (Mrd. €, 2002) ____________________________________________________________ 1) Einnahmen darunter: 2) Steuern 3) Sozialbeiträge 4) Ausgaben darunter: 5) Vorleistungen 6) Arbeitnehmerentgelt 7) Zinszahlungen auf Staatsschuld 8) Subventionen 9) Monetäre Sozialleistungen 10) Bruttoinvestitionen 11) =Finanzierungssaldo 12) Finanzierungssaldo in % des BIP 948,17 476.60 388,13 - 1.024,36 84,31 125,86 67,20 30,29 409,88 23,65 - 76,19 - 3,6% 174 D) Grobgliederung der Zahlungsbilanz (Mrd. €, 2002) Leistungsbilanz Warenexporte Warenimporte (1) Handelsbilanz 648,3 522,1 Dienstleistungsexporte Dienstleistungsimporte (2) Dienstleistungsbilanz 114,2 152,5 126,1 –38,3 (3) Außenbeitrag (1 + 2) 87,9 (4) Nettoerwerbseinkommen (5) Nettovermögenseinkommen (6) Saldo der Erwerbs- und Vermögenseinkommen (4 + 5) –0,4 –6,3 –6,7 –26,6 (7) Laufende Übertragungen 9) Saldo der Leistungsbilanz (3 + 6 + 7 + 8) 48,9 Kapitalbilanz 10) Kapitalexport 11) Kapitalimport 12) Saldo der Kapitalbilanz (10 – 11) 13) Saldo der Devisenbilanz 255,8 177,1 –78,7 2,0 ____________________________________________________________ 175 4) Kommentierte Basisliteratur Die Bücher, die hier als Basisliteratur vorgestellt und kurz kommentiert werden, können parallel als Einstieg zu dem Text gelesen bzw. durchgearbeitet werden. Sie sind meist ein wenig einfacher gestrickt und vielleicht deshalb auch verständlicher. Für Einsteiger werden die Bücher von Bofinger, Krugman und Galbraith. Sie ergänzen sich in mehreren Bereichen. Sie können auch eingesetzt werden, wenn neue Fallbeispiele entwickelt werden sollen. Bofinger, Peter 2003: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten. München: Pearson/Studium Bofinger legt in seinem Buch eine gelungene Einführung in die Makroökonomik vor, die auf dem deutschen Markt ihresgleichen sucht. Sie ist für Studenten in den Anfangssemestern gedacht, kann aber auch von nicht akademischen interessierten Lesern als Einführung erfolgversprechend genutzt werden. Man findet Fallstudien, oft mit Zahlenbeispielen, Simulationsmodelle auf einer CD-Rom, biographische Hinweise oft berühmte deutsche und ausländische Ökonomen, informative Schaubilder und Tabellen über die deutsche Wirtschaft usw. Das Buch ist auch im Rahmen eines Erwerbs ökonomischer Grundkompetenz gut zu gebrauchen. In einigen Bereichen übersteigt es jedoch das in diesem Papier angestrebte Niveau. Das Buch gibt sich wertfrei. Emanzipatorische Hinweise wird man vergeblich suchen. Dem Buch beigefügt ist eine CD-Rom, mit der man anschauliche Simulationsläufe machen kann. Filc, Wolfgang 2001: Gefahr für unseren Wohlstand. Wie Finanzmarktkrisen die Weltwirtschaft bedrohen. Frankfurt am Main: Eichborn In gut verständlicher Sprache beschreibt Filc in historischer Perspektive und analytisch klar begründet die Finanzmarktkrisen des letzten Jahrzehnts. Er zeigt die Schwächen der Steuerung der Weltwirtschaft über Finanzmärkte auf und geht mit dem Internationalen Währungsfonds in Gericht. Bei der Beschreibung der Möglichkeiten eines internationalen Krisenmanagements bleibt er recht verhalten. Er begibt sich (nicht allein) auf die Suche nach Verbesserungen der internationalen Finanzarchitektur – ein Thema, das Ende der neunziger Jahre breit diskutiert wurde. Es geschah bisher wenig bis nichts. Oskar Lafontaine hat ein kurzes Schlusswort beigesteuert. Ein informatives Buch, das bei der Diskussion von Brennpunkten im Gegensatz zu Stiglitz recht zurückhaltend wirkt. Fusfeld, Daniel R. 1975: Geschichte und Aktualität ökonomischer Theorien. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. Vorwort des Herausgebers H. G. Nutzinger. Erstausgabe 1972: The Age of the Economist). Frankfurt: Campus 176 Der Autor versucht Beziehungen zwischen Aktualität und Theoriegeschichte herzustellen, was ihm jedoch nur teilweise gelingt. In der älteren Theoriegeschichte findet man in diesem Buch einsichtige Darstellungen. Wenn er von der „gegenwärtigen Krise“ spricht, dann meint er die des Endes der sechziger und der frühen siebziger Jahre. Das Buch erschien 1972. Der letzte Unterabschnitt meldet milde Zweifel an der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus an. Im letzte Satz seines Buches behauptet der Autor: „Ob wir es wollen oder nicht, wir haben ein revolutionäres Zeitalter erreicht“. Im Rückblick kann man ein müdes Lächeln kaum unterdrücken. Vorsicht bei der Anwendung von alten Theoriebeständen zur Deutung der Zukunft! Das kann Heilbroner besser (Heilbroner 1994). Galbraith, John Kenneth 2005: Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs. Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Originalausgabe 2004: The Economics of innocent Fraud: Truth for Our Time. Berlin: Siedler Galbraith untersucht die Folgen von Begriffsverwirrungen. Der Begriff „Kapitalismus“ wurde in den USA aufgegeben und durch Marktwirtschaft ersetzt. Der Autor zeichnet die weitreichenden Folgen auf und fördert dabei einige für marktradikale Ökonomen unangenehme Tatsachen aus der jüngeren amerikanischen Wirtschaftsgeschichte zutage. Auch Galbraith ist einer der „großen alten Herren“ der Wirtschaftswissenschaft in den USA, dem es immer auch auf die möglichst weite Verbreitung wirtschaftswissenschaftlicher Kenntnisse ging. Er befleißigt sich deshalb einer klaren Darstellung und einer einfachen Sprache, die auch in der Übersetzung erhalten bleibt. Ein lesenswertes Buch – durchaus nicht nur für Anfänger. Stiglitz (siehe unten) gibt von der jüngeren amerikanischen Wirtschaftsgeschichte einen detaillierteren Überblick. Heilbroner, Robert L. 1994: Kapitalimus im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal. Originalausgabe 1993: 21st Century Capitalism. München: Carl Hanser Heilbroner ist einer der „großen alten Herren“ der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft mit einer profunden Kenntnis der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur. Er ist wie kaum ein anderer in der Lage, komplexe wirtschaftswissenschaftliche Denkmuster auf ihre Kernprobleme zu reduzieren und verständlich zu machen. Aus der Kenntnis der Literatur steuert er Szenarien möglicher wirtschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert an. Heiße Eisen wie „Die Lehren der Geschichte“ werden angepackt und mit bei Ökonomen seltenem Fingerspitzengefühl für die humanistischen Traditionen der bürgerlichen Kultur und Wissenschaft behandelt. Hirsch, Joachim 1998: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat. Berlin: ID Verlag Schon am Titel erkennt man, dass Hirsch sein Buch vor dem 11. September verfasst hat. Heute wird der Sicherheitsstaat verstärkt und der Staat gleichzeitig zum Wettbewerbsstaat ausgebaut. Daraus müssen sich Finanzierungsprobleme ergeben, zu denen sich bei Hirsch keine Hinweise finden. Dennoch lesenswert, u.a. weil der Autor Grundbegriffe genau definiert. Krugman, Paul 2002: Schmalspur-Ökonomie. Die 27 populärsten Irrtümer über Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen von Herbert Allgeier. 177 Erstausgabe 1998: The Accidental Theorist and Other Dispatches from the Dismail Science. München: List, Ullstein Krugmans Buch zeigt auch, dass die Wirtschaftswissenschaft nicht über nur einen Königsweg zur Erkenntnis von wirtschaftlicher Wirklichkeit und Wahrheit verfügt. Viele Wege führen nach Rom. Der Autor zeigt aber auch, dass sich die Wirtschaftswissenschaft Erkenntnisse erarbeitet hat, mit deren Hilfe man Irrtümer vermeiden und einseitige Interessenpositionen entlarven kann. Krugmans Buch sollte nicht zuletzt deshalb herangezogen werden, wenn zusätzliche Fallbeispiele ausgearbeitet werden sollen. Stiglitz, Joseph E. 2004: Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Erstausgabe 2003: The Roaring Nineties. A New History of the World’s Most Prosperous Decade. Berlin: Siedler Der Autor, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Stanford (Spezialisiert auf Informationsökonomik), war Berater des Präsidenten Clinton, Chefökonom der Weltbank, und wortgewaltiger, d.h. gefürchteter Gegner der Politik des Internationalen Währungsfonds. 2001 erhielt er den Nobel-Preis. Er vertritt eine kritische Position gegenüber dem Mainstream, den er als Washington Konsens bekämpft. Seine Darstellung der amerikanischen Prosperitätsphase in den neunziger Jahren spart die dunklen Seiten dieser Periode nicht aus, und dunkle Seiten hat es weiß Gott gegeben. Das Buch ist interessant auch weil es Stiglitz meisterhaft gelingt, die Misserfolge der neunziger Jahre mit den Positionen des Mainstream zu verbinden. Seine Ausführungen zu Gewinnern und Verlierern der Globalisierung und über den betrügerischen Zusammenbruch des Enron-Konzerns sind m.E. besonders gut gelungen. Zinn, Karl Georg 1997: Jenseits der Markt-Mythen. Wirtschaftskrisen: Ursachen und Auswege. Hamburg: VSA Die Arbeit von Zinn zerreist den Schleier der Markteffizienz. Der Autor schreckt vor schwierigen, kontrovers diskutierten Themen nicht zurück. Er fandet nach Ursachen und skizziert mögliche Lösungsansätze. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen ist, dass „laissez-faire“, den Märkten ihren Lauf lassen, nicht automatisch aus der Krise führt Weiterführende Literatur Die aufgeführte Literatur ist die Grundlage des Textes. Sie beschränkt sich auf Bücher. Aus dieser Literaturliste kann ersehen werden, welche wissenschaftspolitische Position der Autor des Textes einnimmt. Einige der Bücher können auch als weiterführende Literatur herangezogen werden. Besser wäre es für diesen Fall jedoch, erst einmal einen Blick auf die Liste der kommentierten Basisliteratur zu werfen. Die hier vorgelegte Literaturliste ist nicht als Keule zu verstehen, mit der Leute erschlagen oder abgewehrt werden sollen, die an der Ökonomie interessiert sind, aber (noch) Probleme 178 mit der englischen Sprache haben. Am Lesen Interessierte Kursteilnehmer können sich dies oder das heraussuchen. Der Leser findet einige Bücher in deutscher Sprache, z.T. Übersetzungen aus dem Amerikanischen. Auch das hat einen Grund. Es gibt eine Reihe von vorzüglichen amerikanischen Ökonomen, die eine liberale Auffassung von Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik vertreten. In Deutschland ist diese Richtung selten geworden. „Liberal“ heißt im Amerikanischen Kulturkreis ungefähr das, was in Europa mit „linksliberal“ bezeichnet wird. Aktuelle wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Probleme können deshalb auch für Deutschland ohne Rückgriff auf amerikanische Autoren kaum noch ausgewogen behandelt werden. Auch in der Wirtschaftswissenschaft gibt es nicht nur einen Weg zur Wahrheit. Die Auswahl der Literatur ist leicht linkslastig, ohne die pluralistische Option aufzugeben. Autoren des „aufgeklärten“ Mainstream wie Bhagwati (Bhagwati 2002, 2004) oder Blinder (Blinder 1990, 1999) spielen durchaus eine Rolle. Mainstream ist in der Wirtschaftswissenschaft die selbsternannte neoklassisch orientierte Hauptströmung mit dem Anspruch, allein und eingleisig zur Erkenntnis der Wahrheit und der wirtschaftlichen Wirklichkeit zu führen. Doch auch für die Wirtschaftswissenschaft gilt: es führen viele Wege nach Rom. Das gleiche gilt für die deutschen Arbeiten. Hier dürfte das Buch von Sinn (Sinn 2004) zur Kategorie des Marktfundamentalismus im Sinne von Soros zählen (Soros 1998:19). Nebenbei bemerkt, Soros ist ein sehr erfolgreicher Spekulant, der dem marktwirtschaftlichen Kapitalismus, an dem er Milliarden Dollar verdient hat, erstaunlich kritisch gegenübersteht. Weiter links stehen sicher Bowles und Gintis (Bowles, Gintis 1986). Marx erscheint mit den Konzepten der Kapitalkreisläufe, die analytisch interessante Perspektiven eröffnen aber wohl kaum geeignet sind, die Volksmassen mit revolutionärem Elan zu beflügeln (Marx 1893). Die Liste enthält auch einige ältere Titel. Ein zarter Hinweis darauf, dass in der Wirtschaftswissenschaft das Rad mehrmals erfunden wurde. – Die Literaturliste soll auch Auskunft geben, wo der Autor des Textes seinen Most holt. _____________________ Abelshauser, Werner 2004: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. München: Beck Abelshauser, Werner 2003: Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung. Berlin: Kulturverlag Kadmos Andersen, Esbwen S. 1996: Evolutionary Economics. Post-Schumpeterian Contributions. New York: Pinter Arndt, Helmut 1975: Markt und Macht. 2. grundlegend veränderte Auflage. Tübingen: Mohr Baecker, Dirk (Hrsg.) 2003: Kapitalismus als Religion. Berlin: Kadmos 179 Bardhan, Pranab K., Roemer, John E. (ed.) 1993: Market Socialism. The Current Debate. New York: Oxford University Press Barlow, Maude, Clarke, Tony 2004: Das blaue Gold. Das globale Geschäft mit dem Wasser. Aktualisierte Neuausgabe. Übersetzt aus dem kanadischen Englisch von Gabriele Gockel, Thomas Wollermann und Bernhard Jendricke, Kollektiv Druck-Reif. Erstausgabe 2002: Blue Gold. The Battle Against Corporate Theft of the World’s Water. Toronto: Stoddart. München: Kunstmann Beaumol, William J., Blackman, Sue, Anne, Batey,Wolff, Edward N. 1998: Productivity and American Leadership: The long View. Cambridge: MIT Press Baumol, William J. 2002: The Free Market Innovation Machine. Analysing the Growth Miracle of Capitalism. Princeton: Princeton University Press Bhagwati, Jagdish 2002: Free Trade Today. Princeton: Princeton University Press Bhagwati, Jagdish 2004: In Defense of Globalisation. New York: Oxford University Press Biervert, Bernd, Held, Martin (Hg.) 1991: Das Menschenbild der ökonomischen Theorie. Zur Natur des Menschen. Frankfurt: Campus Bleaney Michael 1976: Underconsumption Theories. A History and Critical Analysis. London: Lawrence and Wishart Blech, Jörg 2004: Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden. 8. Auflage. Frankfurt: Fischer Blinder, Alan S. 1990: Hard Heads Soft Hearts. Tough-Minded Economics for a Just Society. Second Printing. First Published 1987. New York: Addison-Wesley Blinder, Alan S. 1999: Central Banking in Theory and Practice. First published 1998. Cambridge Ma.: MIT Press 180 Blinder, Alan S., Yellen, Janet L. 2001: The Fabulous Decade. Macroeconomic Lessons from the 1990s. A Century Foundation Report. New York: Century Foundation Press Bowles, Samuel, Gintis, Herbert 1986: Democracy and Capitalism. Property, Community, and the Contradictions of Modern Social Thought. With a New Introduction by the Authors: The Politics of Capitalism and the Economics of Democracy. New York: Basic Books Bombach, Gottfried, Ramser, Hans-Jürgen, Timmermann, Manfred, Wittmann, Walter 1976: Der Keynesianismus II. Die beschäftigungspolitische Diskussion vor Keynes in Deutschland. Dokumente und Kommentare. Berlin: Springer Bronk, Richard 1999: Progress and the Invisible Hand. The Philosophy and Economics of Human Advance. London: Warner Campus 2003: Management Band 1 und Band 2. Frankfurt: Campus Chossudovsky, Michel 2004: Global Brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg. 10. Auflage. Aus dem Englischen von Andreas Simon. Erstausgabe 1997: The Globalisation of Poverty. Impacts of IMF an World Bank Reforms. Frankfurt: Zweitausendundeins Carbaugh, Robert J 1985: International Economics. Second Edition. Belmont: Wadsworth Chandler, Alfred D. 1990: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism. Cambridge: Havard University Press Clark, Robert L. et al. 2004: The Economics of an Aging Society. Oxford: Blackwell Crouch, Colin, Streeck, Wolfgang 1997: Political Economy of Modern Capitalism. Mapping Convergence and Diversity. Erstausgabe 1996: Les capitalismes en Europe. Paris: La Decouverte. London: SAGE Publications 181 Easterly, William 2001: The Elusive Quest for Growth. Economists’ Adventures and Misadventures in the Tropics. Cambridge MA: MIT Press Ehrhard, Ludwig, Müller-Armack, Alfred 1972: Soziale Marktwirtschaft Ordnung der Zukunft. Manifest `72. Frankfurt: Ullstein Eichengreen, Barry 1996: Globalizing Capital. A History of the International Monetary System. Princeton: Princeton University Press Eichhorst, Werner et. al. 2001: Benchmarking Deutschland: Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Bericht der Arbeitsgruppe Benchmarking und der Bertelsmann Stiftung. Berlin: Springer Eichner, Alfred S. (ed.) 1983: Why Economics is not yet a Science. With an Introduction by Wassily Leontief. London: Macmillan Ekardt, Felix 2005: Das Prinzip Nachhaltigkeit. 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Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. Vorwort des Herausgebers H. G. Nutzinger. Erstausgabe 1972: The Age of the Economist. Frankfurt: Campus Galbraith, John Kenneth 2005: Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Erstausgabe 2004: The Economics of Innocent Fraud: Truth for Our Time. München: Siedler Galbraith, John Kenneth 1989: Die Anatomie der Macht. Aus dem Amerikanischen von Christel Rost. Erstausgabe 1987: The Anatomy of Power. München: Heyne Gerstenberger, Heide, Welke, Ulrich 2004: Arbeit auf See. Zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung. Münster: Westfälisches Dampfboot Gide, Charles, Rist, Charles 1923: Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen. Dritte Auflage nach der vierten durchgesehenen und verbesserten französischen Ausgabe. Herausgegeben von Franz Oppenheimer. Deutsch von R. W. Horn. Jena: Fischer Görgens, Egon, Ruckriegel, Karlheinz, Seitz, Franz 2003: Europäische Geldpolitik. 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