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Du bist normal, die Situation ist es nicht
Soldaten der Bundeswehr in Krisen- und Kriegsgebieten - ein Gespräch mit Dipl.Psych. Klaus Barre und Dr. med. Karl-Heinz Biesold, Bundeswehrkrankenhaus
Hamburg
177 Psychologinnen und Psychologen sowie 200 Psychologisch-Technische Assistenten
arbeiten bei der Bundeswehr. Noch ist der größere Teil von ihnen mit der
Eignungsdiagnostik beschäftigt. Angesichts der Beteiligung der Bundeswehr an
Auslandseinsätzen in Krisen- und Kriegsgebieten gewinnt jedoch die Truppenpsychologie
an Bedeutung. Militärpsychologen sind an der vorbereitenden Ausbildung beteiligt,
unterstützen Soldaten in Problemsituationen während des Einsatzes und danach.
Die Bundeswehr hat in den 90er Jahren Einsätze in Kambodscha, Somalia, Irak
und Georgien geleistet. Sie war zur Katastrophenhilfe u.a. in Marokko, Sudan
und Äthiopien. Seit 1996 sind Bundeswehrangehörige an SFOR-Einsätzen, seit
1999 an KFOR-Einsätzen in Ex-Jugoslawien beteiligt und seit 2001 auch in
Afghanistan präsent. Welchen Einfluss hatte und hat diese Politik auf Ihre Arbeit
als Psychologen und Psychiater bei der Bundeswehr?
K. Barre: Die Truppenpsychologie spielt eine größere Rolle, wir sind gefordert, uns
stärker mit der Vorbereitung und den Folgen solcher Einsätze - z.B. posttraumatischen
Belastungsstörungen - zu beschäftigen. Die Zahl der einsatzbedingten psychischen
Störungen hat zugenommen: 1996 wurde im Bundeswehrkrankenhaus HH nur ein Patient
mit PTBS stationär behandelt, 2000 bereits 53 Fälle. Psychologen kommen jedoch auch
schon bei der Selektion ins Spiel.
Wie kritisch wird geschaut, wenn sich z. B. ein Soldat grundsätzlich zur
Teilnahme an solchen Einsätzen bereit erklärt?
K. Barre: Wir müssen herausfinden, ob jemand intellektuell und persönlich geeignet ist,
als länger dienender Zeitsoldat bzw. als Wehrpflichtiger, der seine Zeit verlängert, zu
dienen. Wir prüfen die Motivation; ist jemand auf der Flucht vor häuslichen Problemen,
abenteuerlustig, treiben ihn materielle Beweggründe oder politische Motive? Die
Bundeswehr legt großen Wert darauf, sich vor rechtsradikalem Gedankengut zu schützen.
Dieser Selektionsprozess findet jedoch nicht speziell im Hinblick auf Auslandseinsätze
statt, sondern im Einklang mit dem Auftrag der Bundeswehr generell.
K.-H. Biesold: Bevor jemand in einen solchen Einsatz geht, ist er schon längere Zeit in
der Truppe beobachtet und fortlaufend beurteilt worden. Wir wissen bereits viel über sein
Verhalten in unterschiedlichen Situationen, seine Belastbarkeit usw.
Verstehen die Soldaten, weshalb eine solche Prüfung und später auch die
psychologische Vorbereitung auf Einsätze nötig ist oder bedarf es da besonderer
Überzeugungsarbeit?
K. Barre: Wenn jemand ein psychologisches Training an Soldaten oder Offiziere
heranträgt, besteht zunächst eher die Meinung »mich (be)trifft es nicht«. Wer bestimmte
Erfahrungen nicht gemacht hat, kann sich die positive Wirkung von Stressprophylaxe
kaum vorstellen. Er folgt dem dargebotenen Stoff mit mehr oder weniger
Aufmerksamkeit. Wichtig ist jedoch, im Bedarfsfall kann er darauf zurückgreifen und
verfügt über einige Kenntnisse.
Er muss wissen, dass Stress auch körperliche Schwierigkeiten bereiten kann. Er muss
wissen, wie er sich und Kameraden helfen kann bzw. an wen er sich im oder nach dem
Einsatz mit der Bitte um Hilfe wenden kann.
K.-H. Biesold: Die Vorbereitung auf einen Einsatz ist ja sehr speziell - für den Balkan
anders als für Afghanistan. Sie beinhaltet Informationen über das Land, seine Politik und
Kultur und die Entstehung des Konflikts, so dass die Soldaten sich in einem bestimmten
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Kontext begreifen, was für die Motivation ganz wichtig ist. Ein interkulturelles Training
hilft Missverständnisse vermeiden und das Verhalten von Menschen aus einer anderen
Kultur besser zu verstehen.
K. Barre: Der psychologische Dienst hat ein Trainingsprogramm zur interkulturellen
Kompetenz entwickelt mit CD und Video, das als Unterrichtsgrundlage an vielen Stellen
dient. Es hilft besser zu verstehen, warum Menschen in fremden Kulturen anders
reagieren als erwartet, warum einen z. B. jemand mit Steinen bewirft, dem man doch
helfen will, warum seine Hilfsbedürftigkeit ihn eher wütend als still macht.
K.-H. Biesold: In der militärischen Ausbildung sprechen wir vom »worst case scenario«,
also dem schlimmsten anzunehmenden Fall; dieser wird durchgespielt in Rollenspielen.
Militärische
Führerausbildungen
gehen
noch
darüber
hinaus,
außerdem
Sonderausbildungen für Mienenräumer und andere.
Bundeswehrangehörige standen in den erwähnten Einsatzgebieten vor der
Aufgabe, Berge von Leichen zu bewegen, Minen zu beseitigen aber auch Müll.
Stressfaktoren liegen aber nicht nur in den dramatischen Ereignissen.
K. Barre: Durchaus nicht. Ein Stressfaktor kann bereits sein, wenn ein Soldat in den
Kosovo geschickt wurde, weil dort Kosovaren von Serben verfolgt werden, und er bei
seinem Eintreffen das umgekehrte Bild antrifft - Kosovaren verfolgen inzwischen Serben.
Die Welt ist plötzlich nicht mehr in Ordnung, die Orientierung geht verloren, falsche
Weltbilder entstehen.
Zwei bis fünf Prozent der Soldaten bei UN-Einsätzen - so sagen Studien der
Skandinavier und Niederländer - sind danach psychisch affiziert. Das würde pro
Jahr zwischen 320 und 800 Patienten bedeuten, die Sie meines Wissens nicht
haben. Warum outen sich Betroffene nicht? Fürchten sie Nachteile in der
Laufbahn? Ist ein Trauma für viele eine Schwäche, die sie als starke Männer
nicht eingestehen mögen?
K.-H. Biesold: Vielen fällt das schwer. Gerade diejenigen, die sonst Helfer sind, auf
Aktivität und Selbstständigkeit ausgerichtet mit einem ganz bestimmten Bild von sich
(Stärke, Autonomie und Männlichkeit) - das gilt auch für Feuerwehrleute z.B. - empfinden
es als äußerst schamhaft, schwach zu sein. Da ist Aufklärungsarbeit nötig. Darum ist es
so wichtig, deutlich zu machen, hier liegt eine normale Reaktion einer normalen Person
auf eine pathogene Situation vor. Wir sagen dem Betroffenen: »Du bist nicht verrückt
oder schwach, sondern dir ist etwas Außergewöhnliches passiert, weil du so einen
gefährlichen und verantwortungsvollen Beruf hast, und es gibt Hilfe.« Die Angst, ob das
zu einem Vermerk in der Personalakte oder zu Kommentaren in der Truppe führt, kann
trotzdem nicht allen genommen werden.
Wer jedoch in dieser Lage Hilfe annimmt, hat gute Chancen, schon bald wieder voll in die
Truppe integriert werden zu können. Wer psychisch schwerst traumatisiert ist, kommt
damit nicht allein zurecht und hat es bei nicht oder zu spät einsetzender Behandlung viel
schwerer, sich beruflich zurechtzufinden als mit einer Therapie.
K. Barre: Wir müssen ein kulturelles Klima schaffen, in dem die Berührbarkeit durch
extreme Erlebnisse nicht mehr zu einem Stigma wird. Das gilt weit über die Bundeswehr
hinaus.
Wie wird sichergestellt, dass so vielen wie möglich Hilfe zukommt?
K. Barre: Vor Ort sind ein Psychiater, ein Truppenpsychologe und ein evangelischer und
katholischer Militärseelsorger. Sie vermitteln ihre Aufgabe, versuchen Barrieren
abzubauen, gehen auf die Soldaten zu, sprechen mit den Führungskräften.
K.-H. Biesold: An dieser Stelle muss man vielleicht etwas zum medizinischpsychologischen Stresskonzept der Bundeswehr sagen. Es bezieht sich auf drei Phasen
des Einsatzes. Vor dem Einsatz beschäftigen wir uns bereits mit den zu erwartenden
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Belastungen, trainieren Entspannungsverfahren, Maßnahmen zur Stärkung des inneren
Gleichgewichts, sorgen für eine Minimierung von Stressoren durch gute Organisation. Im
Einsatz geht es dann um das Erkennen akuter psychischer Belastungen und
Stressreaktionen. Denken Sie nur an den Vorfall bei der Raketenentschärfung in
Afghanistan. Dabei greift eine Frühinterventionsstrategie (Critical Incident Stress
Debriefing), die zuerst in den USA entwickelt wurde und inzwischen auch bei zivilen
Einsätzen - z.B. nach dem Zugunglück von Eschede - Anwendung fand. Nach dem Einsatz
werden die Soldaten untersucht, mögliche Folgeschäden erkannt und behandelt,
Anpassungsstörungen bearbeitet. Dabei hilft eine Befragung, bei der erhebliche
Belastungen ermittelt werden. Hat es solche gegeben, wird nicht nur die physische
Gesundheit untersucht und der Soldat ggf. dem Facharzt zugeführt.
Warum ist es so wichtig, ein mögliches Trauma zu behandeln?
K. Barre: Die PTBS birgt eine hohe Chronifizierungstendenz, wenn nicht behandelt wird.
Berufliche Ausfallzeiten, Frühberentung, Suchtentwicklung und familiäre Probleme
können die Folge sein.
Wie geschieht die Behandlung und welche Rolle spielt dabei EMDR?
K. Barre: Traumatherapie besteht aus Stabilisierung, Trauma-Konfrontation und
Trauma-Integration. Am Anfang ist eine Konfrontation gar nicht möglich, weil die IchKräfte nicht ausreichen, das traumatische Material zu bearbeiten. EMDR, ursprünglich an
psycho-therapieresistenten Vietnam-Soldaten erprobt, ist eine Traumakonfrontative
Methode, kommt also zum Einsatz in der zweiten Phase. Danach kommt die TraumaIntegration. - Was bedeutet das Trauma für mein Leben? Das kann heißen, einer
Patientin zu helfen, Trauerarbeit zu leisten und mit einem schweren Verlust zu leben. Das
kann EMDR allein nicht machen, wohl aber unterstützen, indem es bestimmte
Informationsverarbeitungsprozesse in Gang setzt. Eingebettet sein es in den Gesamtplan
einer Traumatherapie, wovon EMDR ein Teil ist. Studien haben gezeigt, dass unter EMDR
bei gleicher Effektstärke weniger Therapieabbrüche vorkommen als bei anderen
Verfahren. Zudem scheint EMDR die Verarbeitungsprozesse zu beschleunigen und daher
die Therapie zu verkürzen.
Kann man auch auf Selbstheilungskräfte bei den traumatisierten Soldaten und
Offizieren setzen?
K.-H. Biesold: Ja, bei dem größten Teil greift der Selbstheilungsprozess. Das ist
abhängig von der Traumaschwere, dem Alter, früheren belastenden Erfahrungen,
persönlichen Begleitumständen und anderen Faktoren.
K. Barre: Soziale Unterstützung wirkt sich erfahrungsgemäß positiv aus bzw. ihr Fehlen
kann schlimme Folgen haben. Ich denke nur an das Beispiel eines Mannes, der nach sehr
gefährlichen und geheimen Einsätzen heimkehrte und dem sein Vorgesetzter als erstes
sagte, er solle sein Ehrenabzeichen wieder abnehmen, das zähle hier nicht. Auf diese Art
wird ein Trauma erst gesetzt, was sonst vielleicht keines gewesen wäre. Auch die
Möglichkeit zu sprechen, ist wichtig, das Verständnis für den Sinn eines Einsatz und
andere Dinge mehr. Die Bundeswehr ist bisher relativ spät in Einsätze gegangen, so dass
uns Erfahrungen wie die der Holländer in Srebrenicza oder der Kanadier in Ruanda, wo
800 000 Menschen abgeschlachtet wurden, bisher zum Glück erspart geblieben sind.
Frauen in der Bundeswehr als Psychologinnen - ist das ein Thema, das
Psychologen noch einmal besonders fordert?
K. Barre: Die über 50-jährigen Psychologen-Kollegen bei der Bundeswehr sind zu zwei
Dritteln Männer. Unter den Dreißig- bis Vierzigjährigen ist es nahezu umgekehrt. Wir
brauchen dringend auch weiterhin Männer, denn die Bundeswehr besteht nach wie vor
überwiegend aus Männern, auch mit Blick auf die Auslandseinsätze.
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Nach dem 11. September hat die Deutsche Bank, die im World Trade Center eine
Filiale unterhielt, sich an die Bundeswehr mit der Bitte um Hilfe gewandt. Gilt
Ihr Konzept als das beste oder worin liegen die Ursachen?
K. Barre: Die Bundeswehrpsychologen haben das Thema Krisenintervention in dieser Art
und Weise Anfang der 90er Jahre nach Deutschland gebracht. Wir haben dann sehr
schnell im Zusammenhang mit Somalia ein Ausbildungsprogramm aufgelegt, so dass wir
über eine Infrastruktur verfügen und hervorragend ausgebildete Kollegen. Wir sind
Ansprechpartner über das Außenministerium und haben außerdem die entsprechende
Mobilität parat, die so im zivilen Bereich noch nicht aufgebaut ist. Wir haben sehr schnell
zwei Teams nach New York fliegen und im Rahmen des Möglichen Hilfe leisten können.
Das Gespräch führte Christa Schaffmann
Die Gesprächspartner:
Klaus Barre ist als Leitender Klinischer Psychologe der Bundeswehr in der Abt. für
Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg
tätig. Er ist psychologischer Psychotherapeut und wurde bereits 1994 bei F. Shapiro in
den USA im EMDR ausgebildet, das er lehrt und supervidiert. 1993 war er in Somalia im
Einsatz.
Oberstarzt Dr. med. Karl-Heinz Biesold ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
sowie Psychotherapeut und leitet die entsprechende Abt. des Bundeswehrkrankenhauses
Hamburg. Neben einer tiefenpsychologischen Ausbildung absolvierte er auch die zum
Traumatherapeuten u.a. am Deutschen Institut für Psychotraumatologie. Er war 1998 in
Sarajewo und 2002 im Kosovo im Einsatz.
Aus: Report Psychologie 1/2003
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