Arbeit muss anders verteilt werden 1 Gespräch mit Prof. Dr. Gisela Mohr, Universität Leipzig, über die hohe Erwerbslosigkeit und das Hartz-Konzept In Deutschland sind zur Zeit 4.225.100 Menschen arbeitslos gemeldet, unter ihnen eine wachsende Zahl von Leuten mit Berufsausbildung bzw. akademischer Bildung. Mit 10,1 Prozent ist der höchste Stand der Arbeitslosigkeit binnen der vergangenen fünf Jahre erreicht. Die Bundesregierung setzt auf das Hartz-Konzept. Über die Folgen der Arbeitslosigkeit und die Chancen ihres Abbaus durch die Verwirklichung der von der Hartz-Kommission unterbreiteten Vorschläge sprachen wir mit Prof. Dr. Gisela Mohr, Abteilung Arbeits- und Organisationspsychologie am Institut für Angewandte Psychologie an der Universität Leipzig. Das Hartz-Konzept sieht die Kürzung der Bezüge von Arbeitslosen vor. Sie sollen nur noch 12 Monate lang Arbeitslosengeld erhalten und danach Arbeitslosenhilfe auf einem Niveau nahe der Sozialhilfe. Was versprechen Sie sich von diesem Druck auf Erwerbslose? Sehen Sie darin eine Chance, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren? Nicht wirklich. Es gibt einige interessante Studien, denen zufolge Leute mit schlechterer materieller Ausstattung in der Erwerbslosigkeit nicht per se aktiver sind als andere. Offensichtlich ist der subjektive Standard eines Arbeitslosen entscheidend. Wenn das, was er für sich persönlich als sinnvoll und notwendig erachtet, durch das Arbeitslosengeld nicht gewährleistet ist, kann auch bei relativ hohen Bezügen die Motivation zur Arbeitssuche und -aufnahme sehr stark sein. Umgekehrt gibt es Menschen, die selbst auf dem Niveau der Sozialhilfe noch zurechtkommen und für die der finanzielle Druck allein kein ausreichendes Motiv ist. Insofern sind wir schlecht beraten, uns Gedanken zu machen, ab wann Arbeitslose Druck haben. Unabhängig davon wissen wir aus der Psychologie, dass Motivation durch Bestrafung ohnehin kein gutes Mittel ist. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Entscheidung über eine Reduzierung der Bezüge finanzpolitischer Art ist und nicht in der Absicht gefällt wird, Druck auf Erwerbslose auszuüben. Das ist eine Interpretation durch die Medien. Dennoch ist m.E. der Druck auf Erwerbslose ein Element, das sich durch mehrere Punkte des Hartz-Konzepts zieht. Denken Sie nur an die Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten auch in größeren Entfernungen, die künftig gelten soll. Ist die Forderung nach Flexibilität und Mobilität in diesem Umfang der psychischen Gesundheit zuträglich? Prinzipiell ist die Forderung nach Flexibilität nicht schlecht. Dabei geht es darum, sich mit Neuem auseinander zu setzen, Ängste zu überwinden, Neues zu lernen. Aber das gilt nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn ich von einem Menschen verlange, dass er einen täglichen Arbeitsweg von insgesamt zweieinhalb Stunden zurücklegt oder als Pendler nur noch an den Wochenenden zu Hause ist, dann bedeutet das, er hat keine Zeit mehr für seine Kinder, seine Familie. Wir können nicht auf der einen Seite beklagen, dass sich Schüler nicht mehr konzentrieren können, Eltern ihren Erziehungsaufgaben nur unzureichend nachkommen, wenn wir auf der anderen Seite dafür sorgen, dass Familien nicht mehr als Familien leben können. Flexibilität ist im Übrigen etwas, was entwickelt werden muss. Sie wächst mit der Qualifikation und sozialen Kompetenz. Ich sehe nicht, dass die Gesellschaft das ausreichend leistet. In der Hartz-Kommission war kein Psychologe vertreten. Hat Sie das geärgert? Es ist ein Jammer, wie wenig die Sicht der Psychologen auf diese Dinge nachgefragt wird. Ich beschäftige mich seit 1975 mit dem Thema. Geld für Forschungen hat es in dieser 2 Zeit kaum gegeben. Erst in den letzten Jahren, auch durch die Programme innerhalb der Europäischen Union, hat sich das etwas verändert. Man kann nach über 25 Jahren, in denen die Arbeitslosigkeit nie mehr unter die Millionengrenze gesunken ist, nicht mehr leugnen, dass es sich um ein Dauerproblem handelt. Auf der anderen Seite ist Erwerbslosigkeit kein psychologisches Problem. Man braucht Arbeitsplätze, wenn man die Arbeitslosigkeit senken will, und die werden nicht von Psychologen geschaffen. Wir können lediglich etwas dazu sagen, welche Folgen Arbeitslosigkeit hat, wie man Arbeitslosen helfen kann, psychische Probleme zu bewältigen oder zu vermeiden. Wir können auch untersuchen, welche Maßnahmen greifen – unabhängig von der Arbeitsmarktlage. Ich erwarte, dass Politiker sich dafür interessieren, denn viele dieser Maßnahmen, die alle viel Geld kosten, sind relativ unsinnig. Die Forschung hat bisher keinen ursächlichen Zusammenhang von Alkoholsucht und Arbeitslosigkeit bzw. Aggressivität und Arbeitslosigkeit festgestellt. Sind die messbaren Folgen für die physische und seelische Gesundheit also in Wahrheit gar nicht so schlimm? Wenn jemand »schlimm« an Suchtproblemen und Gewaltbereitschaft fest macht, dann nicht. Das vermehrte Auftreten von Depressionen aber ist erwiesen, und es ist eine moralische Frage, ob man Menschen zumuten will, depressiv zu werden. Durch die Ich-AG sollen 500.000 Menschen in Arbeit kommen, indem sie im Prinzip den eigenen Arbeitsplatz schaffen. Ist das realistisch und wer sind die, die dadurch die Gruppe der Selbstständigen in der Gesellschaft vergrößern? Sind es Leute mit einer originellen, lebensfähigen Geschäftsidee, dem Wunsch nach Unabhängigkeit – die klassischen Unternehmerpersönlichkeiten also? Für die Gründung eines Unternehmens benötige ich ein Startkapital. Nur bestimmte Tätigkeiten sind ohne großen Investitionsaufwand möglich. Die Unterstützung, die zur Bildung einer Ich-AG gewährt wird, wird für viele nicht ausreichen. Für andere wird sie aber immerhin eine Starthilfe sein, die man nicht unterschätzen sollte. Wenn dieser Teil des Konzepts funktionieren soll, bedarf es aber solider Business-Konzept-Beratung. Unternehmensgründer brauchen nicht irgendeine Weiterbildung bei einem Bildungsträger, sondern individuelle Beratung und Betreuung. Ich bin sehr gespannt, wie viele diesen Weg gehen werden, vermute aber, dass es die hochqualifizierten Arbeitskräfte sein werden. Ein Element von Hartz wendet sich an die Älteren, die bei geringeren Bezügen in einen vorgezogenen Ruhestand gehen und damit Arbeitsplätze für Jüngere frei machen sollen. Das mag mancher begrüßen, für viele Menschen bedeutet es jedoch auch Druck, aus dem Arbeitsleben auszuscheiden und sich mit einer sehr niedrigen Rente zu begnügen. Prognosen zufolge werden uns um 2040 Arbeitskräfte fehlen. Wir brauchen also eher Modelle, um ältere Arbeitnehmer länger zu halten statt sie herauszudrängen. Teilzeitmodelle sind dafür z. B. geeignet. Erwarten Sie, dass durch das Hartz-Konzept Illusionen aufgebaut werden und muss man bei einer Desillusionierung Depressionen fürchten? Ich sehe diese Gefahr nicht. Den meisten Menschen ist klar – bei uns fehlt eine andere Verteilung der bezahlten Arbeit. Ich würde noch nicht einmal sagen, dass sie knapp ist, aber sie muss anders verteilt werden. VW hat hierzu einige positive Signale gegeben: Vier-Tage-Woche statt Entlassungen, statt Überstunden Zeitkonten mit Freizeitausgleich, ein Anspruch auf einen individuellen Qualifizierungsplan usw. Letztendlich wird es langfristig darum gehen, die klassische weibliche Patchworkbiografie zu einem lebbaren Modell für alle zu machen, ohne die gravierenden Nachteile, die dieses Modell bisher für ______________________________________________________________________________________ HERAUSGEBER: BERUFSVERBAND DEUTSCHER PSYCHOLOGINNEN UND PSYCHOLOGEN e.V. (BDP) BUNDESGESCHÄFTSSTELLE: GLINKASTR. 5-7 10117 BERLIN TELEFON: 030 / 209 149 0 FAX: 030 / 209 149 66 REDAKTION: CHRISTA SCHAFFMANN c/o BUNDESGESCHÄFTSSTELLE E-MAIL: [email protected] www.bdp-verband.org/idp ABDRUCK HONORARFREI BELEG ERBETEN 3 Frauen hat: In einer Arbeitsphase sollten Beschäftigte bereits wissen, dass eine Ausstiegsphase sie erwartet, nach der wiederum eine Rückkehr in den Betrieb mit neuen Chancen vorgesehen ist. Zusammen mit den Betrieben gilt es, solche planbaren Patchwork-Biografien zu entwickeln. Eine andere Verteilung der Arbeit spielt bei Hartz überhaupt keine Rolle. Das empfände ich als Katastrophe, denn gerade damit ließen sich wirklich Arbeitsplätze schaffen und nicht nur Statistiken verändern. Es geht mir dabei nicht nur um die Verteilung wertschöpfender Arbeit und Qualifizierungszeit, sondern auch um die Verteilung von bezahlter und nicht bezahlter Arbeit. Solange Männer mehr arbeiten als ihnen lieb ist und Frauen an manche Arbeiten nicht herankommen, haben wir Änderungsbedarf. Herzstück des Konzepts sind die Jobagenturen – eine neue Form der Zeitarbeit. Der Arbeitnehmer hat einen Vertrag mit einer Agentur, die ihn verleiht, er arbeitet letztlich also nicht direkt für den, der ihn bezahlt. Was bedeutet das aus psychologischer Sicht? Wir haben am 1. Dezember ein Forschungsprojekt mit fünf anderen europäischen Ländern und Israel zu diesem Thema begonnen. Neben dem eigentlichen Arbeitsvertrag gibt es einen psychologischen Vertrag. Das gilt auch sonst, bei Angestellten von Zeitarbeitsfirmen jedoch in veränderter Form. Wir wollen wissen, wie sich Commitment, Loyalität, Engagement, Pünktlichkeit und Qualitätsarbeit unter den neuen Bedingungen verändern und wie auf der anderen Seite Firmen sich gegenüber Arbeitnehmern verhalten, die sie »nur« geliehen haben. Welche Karrierechancen und Qualifizierungsmöglichkeiten räumen sie ihnen ein usw. Anders als mancher erwarten mag bedeutet Leiharbeit nicht automatisch weniger Engagement für eine Firma und weniger Qualifizierungsmöglichkeiten für den Leiharbeiter. Welche Auswirkungen die neue Vertragssituation hat, hängt wesentlich davon ab, ob die vermittelte Person mit einer Stelle auch ein Stück weit eigene Interessen realisieren kann, ob ein Leiharbeiter die Vielfalt von möglichen Tätigkeiten z.B. schätzt, ein Unternehmer die Chance, jemanden vor einer Einstellung auf diese Weise zu testen, bewusst nutzt. In den JobAgenturen sehe ich deshalb eine soziale Absicherung, die vielen den Weg in die Erwerbstätigkeit eröffnen kann. Wie wichtig ist für den Arbeitslosen die Auseinandersetzung mit den Ursachen für seine Situation? Es gibt Untersuchungen, denen zufolge die interne Misserfolgsattribuierung relativ schlecht, weil selbstwertschädigend und depressionsfördernd ist. Inzwischen wissen wir aber, dass ein gewisses Maß an interner Attribuierung notwendig ist, damit jemand an eigenen Fehlern arbeiten kann. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass bei mehr als vier Millionen Erwerbslosen die wenigsten wegen spezifischer Defizite entlassen werden. Insofern steht diese Frage bei der Arbeit von Psychologen mit Erwerbslosen nicht im Vordergrund. Wichtig ist mir an dieser Stelle, dass solche und andere Erkenntnisse überhaupt dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Zum Beispiel sind wir jahrzehntelang davon ausgegangen, dass eine starke Arbeitsorientierung wünschenswert ist und deshalb gefördert werden muss. Mittlerweile wissen wir, dass diese sich auch schädlich auswirken und ein gewisser Distanzierungsprozess hilfreich sein kann. Das hat zum Teil mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zu tun. Wer über Jahre erwerbslos ist, muss viele Rückschläge verarbeiten. Das gelingt besser bei einer Arbeitsorientierung in Maßen. Psychologen, die mit Arbeitsämtern zusammenarbeiten, beklagen u.a. undifferenzierte Hilfsangebote und wohlgemeinte Hilfe aus der Hand von Lehrern, Sozialarbeitern und Philosophen, wo professionelle psychologische oder psychotherapeutische Qualifikation gebraucht würde. ______________________________________________________________________________________ HERAUSGEBER: BERUFSVERBAND DEUTSCHER PSYCHOLOGINNEN UND PSYCHOLOGEN e.V. (BDP) BUNDESGESCHÄFTSSTELLE: GLINKASTR. 5-7 10117 BERLIN TELEFON: 030 / 209 149 0 FAX: 030 / 209 149 66 REDAKTION: CHRISTA SCHAFFMANN c/o BUNDESGESCHÄFTSSTELLE E-MAIL: [email protected] www.bdp-verband.org/idp ABDRUCK HONORARFREI BELEG ERBETEN 4 Das sehe ich auch so. In den vergangenen zehn Jahren, insbesondere nach der Wende, ist sehr viel Geld in Maßnahmen geflossen, unheimlich viele Bildungsträger haben Qualifizierung und Trainings von sehr unterschiedlicher Güte angeboten. Studien haben ergeben, dass es vielen Menschen gar nicht mehr an fachlicher Nachqualifikation fehlt. Sie besitzen einfach nicht die Stabilität, die man zur Arbeitsaufnahme oder in der Bewerbungs- und Konkurrenzsituation braucht. Um diese wiederzuerlangen, ist die Aufarbeitung der psychischen Deformation nötig, die bei langer Erwerbslosigkeit vorliegt. Genügt die Zeit der Arbeitslosigkeit als Indiz für eine solche Deformation oder wie sollen Arbeitsämter herausfinden, wer welches Hilfsangebot benötigt? Viele Vermittler beim Arbeitsamt sind in der Regel nicht psychologisch qualifiziert. Sie können die diagnostische Aufgabe nicht leisten. Es genügt aber auch nicht, nur auf die Dauer der Arbeitslosigkeit zu schauen. Ich kann mir Assessment Center für Erwerbslose vorstellen, in denen u. a. herausgefunden wird, ob und welche Art psychologischer Unterstützung ein Erwerbsloser braucht. Konzepte dafür sind entwickelbar und es liegen auch bereits Erfahrungen damit vor. Die Psychologie hat die Methoden dafür. Das kostet natürlich Geld. Aber wenn man dabei außerdem herausfindet, welche Stärken der Mensch hat, bringt man ihn auch eher wieder dauerhaft in Arbeit und vermeidet Kosten. Das Gespräch führte Christa Schaffmann Aus: Report Psychologie 2/2003 Diesen Text finden Sie auch im Internet unter der Adresse www.BDP-Verband.org/bdp/idp/2003-1/04.shtml ______________________________________________________________________________________ HERAUSGEBER: BERUFSVERBAND DEUTSCHER PSYCHOLOGINNEN UND PSYCHOLOGEN e.V. (BDP) BUNDESGESCHÄFTSSTELLE: GLINKASTR. 5-7 10117 BERLIN TELEFON: 030 / 209 149 0 FAX: 030 / 209 149 66 REDAKTION: CHRISTA SCHAFFMANN c/o BUNDESGESCHÄFTSSTELLE E-MAIL: [email protected] www.bdp-verband.org/idp ABDRUCK HONORARFREI BELEG ERBETEN