Mag. Joachim Petscharnig Univ. Doz. Prim. Dr. Georg Spiel

Werbung
pro mente
jugend
Schnittstellen in der Rehabilitation – Arbeiten & Wohnen
15
Mag. Joachim Petscharnig
Univ. Doz. Prim. Dr. Georg Spiel
Arbeitslosigkeit im Jugendalter
Eine 3-Ebenen-Betrachtung
Institution: pro mente jugend, Gesellschaft für psychische und soziale Gesundheit
von Kindern und Jugendlichen in deren sozialen Kontext
Kontakt:
[email protected]
Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung des Referates „Leistungserbringung im Kontext von Ökonomie,
Gesellschaft und Institution”. Die
makrosozialen und institutionellen Aspekte des Referates sollen um die individuellen Aspekte von Arbeitslosigkeit
im Lichte der Entwicklungsaufgaben
erweitert werden. Dabei geht es uns
auch um das Aufwerfen von neuen
Aspekten, Sichtweisen und Argumenten, mit denen wir versuchen wollen,
an manchen Stellen neuen und
fruchtbar-dissenten Diskussionsboden
außerhalb der bekannten Diskurslinien
zu gewinnen.
die zwar nicht mehr primär materiell
wirksam werden, aber dennoch in
Missbilligung, Stigmatisierung und negativen Zuschreibungen deutlich werden2.
Die in den Entwicklungsaufgaben zum
Ausdruck kommenden, gesellschaftlichen Erwartungen unterliegen auch
Veränderungsprozessen. So ist anzunehmen, dass der Erwerbsarbeitslosigkeit von Jugendlichen angesichts
struktureller Arbeitslosigkeit mehr Verständnis entgegengebracht wird als in
(unwiederbringlichen?) Zeiten der Vollbeschäftigung.
1. Ebene:
berufliche Karriere als
Entwicklungsaufgabe
des Jugendalters.
Die Weichen der beruflichen Karriere
werden sehr früh in der Schullaufbahn
gestellt. Spätestens am Ende der
Pflichtschulzeit sind somit die Bedingungen festgeschrieben, unter denen
der einzelne Jugendliche die Aufgabe
seiner beruflichen Integration in Angriff
nehmen muss. Das erste Gelegenheitsfenster zum Absprung in das
Berufsleben öffnet sich am Ende der
Pflichtschulzeit.
Eine Markierung dieses Gelegenheitsfensters ist beispielsweise die hohe
Bereitschaft von Lehrbetrieben, im Juli
eines jeden Jahres Schulabgänger
aufzunehmen. Dieses Gelegenheitsfenster ist aber zeitlich sehr begrenzt
und (zu) viele wollen und müssen es
gleichzeitig nutzen, viele bleiben dabei
auf der Strecke. Unserer Einschätzung
nach besteht dieses Zeitfenster ca. 6
Monate nach Abschluss der Schulzeit.
Jugendliche die es aus verschiedenen
Gründen nicht geschafft haben, sich
punktgenau „jobready“ zu entwickeln
Die Adoleszenz zwischen dem 12. und
18. Lebensjahr ist gekennzeichnet von
alters-typischen Entwicklungsaufgaben1. Dazu gehören beispielsweise
die Ablöse vom Elternhaus und der
Aufbau eines Freundeskreises sowie
die Aufnahme engerer Beziehungen
und Sexualität, die Entwicklung von
Zukunftsvorstellungen, Lebensplänen
und Werthaltungen. Berufliche Ausbildung bzw. Integration gehört ebenfalls zu den wichtigen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz, deren
Gelingen oder Misslingen unmittelbaren Einfluss auf die Bewältigung der
übrigen Entwicklungsaufgaben hat.
Gesellschaftlich ist die Erledigung dieser Entwicklungsaufgabe mit hoher
Verbindlichkeit gefordert, das Misslingen dementsprechend mit gesellschaftlichen Sanktionen verbunden,
Auf die Plätze, fertig, los!
und die auch nicht die Möglichkeit zu
einer weiterführenden Schulkarriere
haben, sind dann auf die zahlreichen
Nebentüren der aktiven Arbeitsmarktpolitik angewiesen. Auch diese Seiteneingänge sind gut frequentiert und
haben ihre jeweilige Eintrittslogik, mit
der sich insbesondere sozial unangepasste Jugendliche mitunter recht
schwer tun3. Reichen die gesellschaftlichen Chancenstrukturen nicht zur
beruflichen Erstplatzierung
am
Arbeitsmarkt droht eine Arbeitslosenkarriere anstelle der Berufskarriere
und somit ein nachhaltiges Scheitern
an dieser zentralen Entwicklungsaufgabe.
Arbeitslos – und nun?
Mit zunehmender Dauer der Warteschleifen am Einstieg in das Erwerbsleben lassen sich die dunklen
Flecken am Lebenslauf schwerer
kaschieren und mindern zusätzlich die
Bewerbungschancen. Die Erfahrung
des Versagens, zunehmender soziale Legitimationsschwierigkeiten, ökonomischer Druck und darauf folgende
Belastungs- und Anpassungsreaktionen an die Arbeitslosigkeit setzen eine
destruktive Abwärtsspirale in Gang.
Die Arbeitslosenforschung hat die mit
Arbeitslosigkeit, und dem Gefühl des
Übrig-Seins verbundenen Effekte
1 Vgl. dazu den Beitrag von Fr. Prof.in Dr.in Eva Dreher
in diesem Heft
2 Dimmel, N. (2003). Bedarfsorientierte Grundsicherung und Sozialhilfe. In: Tálos, E (Hrsg.), Bedarfsorientierte Grundsicherung. Wien: Mandel-baum
3 Unger, M., Wroblewski, A. (2005)Evaluierung Europäischer Sozialfonds 2000-2006, Ziel 3, Österreich.
Studie im Auftrag des BMWA, Wien
16
Schnittstellen in der Rehabilitation – Arbeiten & Wohnen
beschrieben: Verhaltensdefizite, Mobilitätsdefizite, der stufenweise Abbau
von Lebenserwartungen, Interessen
und
Zielstrebigkeit.
Besonders
schwerwiegend, wenn sich diese
Effekte in der auf Zuwachs gerichteten
Lebensphase Jugend einstellen. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel zeigten in
den 30 er Jahren in ihrem soziographischen Versuch über die Arbeitslosen
von Marienthal4 deutlich die „Einschrumpfung von Lebensäußerungen”, die abgestumpfte Gleichmäßigkeit, die Bedürfnis- und Interessensreduktion der Arbeitslosen Menschen.”
Eine besonders charakteristischer
Wahrnehmung der Forschergruppe
war „der deutliche Zerfall des Zeitbewußtseins, das seinen Sinn als Ordnungsschema im Zeitablauf verliert…[…] Der Arbeitslose ist einfach
nicht mehr imstande, über alles was er
im Laufe des Tages getan hat,
Rechenschaft zu geben. Für Arbeitslose hat die Stundeneinteilung längst
ihren Sinn verloren. Aufstehen, Mittagessen, Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag jener, die Übriggeblieben sind […] Die Pünktlichkeit
verliert jeden Sinn, wenn nichts mehr
auf der Welt unbedingt geschehen
muss. Losgelöst von ihrer Arbeit und
ohne Kontakt mit der Außenwelt haben
die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die
Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht
mehr beeilen müssen, beginnen auch
nichts mehr und gleiten allmählich ab
aus einer geregelten Existenz ins
Ungebundene und Leere”. In Umkehrung der Feststellung Jahodas lässt
sich Sagen, dass Arbeit feste Sinnzusammenhänge mit vielen Orientierungspunkten, Funktionen und Verpflichtungen
zur
Regelmäßigkeit
schafft.
4 Jahoda, M, Lazarsfeld, P.F., Zeisel, H. (1975).Die
Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp
5 Vgl. dazu z. B. Sonderrichtlinie des BMSG zur Förderung von Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen Wien 2001.
Bezogen auf Jugendliche und junge
Erwachsene geht es aber nicht nur um
den Verlust von bereits erworbener
Qualifikation, um die Einschrumpfung
von zuvor entfalteten Lebensäußerungen. Das Jugendalter ist auf Zuwachs
gerichtet. Fehlende Entwicklungsangebote und -möglichkeiten bzw. ein
funktionales Versagen der Entwicklungskontexte birgt nicht nur die Gefahr eines Verlustes, sondern auch die
Hinderung am Zuwachs, die Verunmöglichung des Ersterwerbs gesellschaftlicher Rollen und Modelle, insgesamt die persönliche Weiterentwicklung und gesellschaftliche Integration.
Diesen Effekten sollen Beratungs- und
Qualifzierungsprojekte, Berufsorientierungskurse und ähnliche Maßnahmen entgegenwirken, womit der Übergang zur 2. Ebene gewonnen ist.
2. Ebene:
Institutionelle Konzepte
und Ausformungen zur
Arbeitsintegration und
von Jugendlichen und
jungen Erwachsenen.
An der Schnittstelle von Schule und
Beruf hat sich seit Mitte der 90er Jahre
eine Vielzahl von Unterstützungssystemen etabliert. Von Berufsorientierungs- und Vorbereitungskursen, über
die flächendeckende Arbeitsassistenz
bis hin zu hochstrukturierten Nachreifungs- und Qualifizierungsprojekten5.
Zahlreiche not-for-profit Organisationen versuchen als Auftragnehmer der
öffentlichen Hand respektive des
Arbeitsmarktservice, über verschiedene Interventionsprogramme die Integration von Jugendlichen in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Form
der institutionalisierten Risikobewältigung ist immer schon Ausdruck – und
auch Bestätigung – der unzureichenden Möglichkeit zur Selbsthilfe, des
individuellen Scheiterns. Abgebildet
wird dieses Scheitern durch Defektbegriffe über welche das matching zwischen der individuellen Bedürfnis-
pro mente
jugend
struktur und den spezialisierten, institutionellen Angeboten andererseits
gesteuert werden. „Fehlende Berufsreife”, „persönliche Vermittlungshindernisse”, Grad der Behinderung von
X%” und ähnliche Begriffe sind allen
PraktikerInnen wohl vertraut. Es handelt sich allerdings um soziotechnische Begriffe, die sich nicht als Prämissen der pädagogischen Leistungserbringung eigen. Dies würde der
Komplexität, Multidimensionalität, Variablität und Plastizität jugendlicher
Entwicklung nicht gerecht. Dennoch
sind solche Begriffe prominente
Bestandteile von Leistungsverträgen.
Über diese Homogenisierungskriterien werden in Projekten kritische
Mengen von Jugendlichen mit ähnlicher Problemerfahrung gruppiert –
gewissermaßen Gruppen von am
Arbeitsmarkt Überflüssigen, die bereits mehr oder weniger die genannten, destruktiven Effekte von Arbeitslosigkeit erfahren haben.
Hauptsache jobready?
Der Auftrag an diese Projekte ist zu
meist die Erstintegration benachteiligter Jugendlicher in den allgemeinen
Arbeitsmarkt – sie „jobready” zu
„machen” und ihre „employability” zu
entwickeln. Im Lichte der noch darzustellenden, makrosozialen Entwicklungen stellt sich die Frage, ob diese Zielreduktion auf die Vermittlung in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zu kurz
greift.
Vielmehr befürchten wir, dass das Diktat der Vermittlungsrate eher geeignet
ist, suboptimale Integrationen in
Arbeitsmarktnischen zu forcieren.
Abgesehen davon, ob es wirklich der
Berufstraum vieler Jugendlicher ist,
als Recyclingbeauftragter bei einer
Fast-Food-Kette Kartons zu pressen,
gibt es bereits eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz am „Sonderarbeitsmarkt” um diese Nischenarbeitsplätze (waren wir nicht schon
alle bei baumax, McDonalds, Stadtgartenamt bzw. örtlichen Bauhof vorstellig?).
pro mente
jugend
Schnittstellen in der Rehabilitation – Arbeiten & Wohnen
Aschenputtel
makes policy!
Leistungserbringer werden durch das
Zusammenspiel vermittlungszentrierter Zielsysteme einerseits und dem
Konkurrenzdruck auf den Sonderarbeitsmärkten andererseits auch zunehmend gezwungen, ihr Klientel im
Sinne der Zielerreichung zu selektieren, wodurch sich von der Gruppe der
am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt
„Überflüssigen” nochmals die Subgruppe der Über-Überflüssigen abtrennt, also jene die auch durch das
Netz der Sonderarbeitsmärkte, Qualifizierungsinitiativen und Beratungssysteme fallen. Hier laufen Qualifizierungsprojekte Gefahr, unter dem
Druck fragwürdiger Erfolgskriterien die
quer über gesellschaftliche, politische
und administrative Ebene verlaufende
Tendenz zur Aschenputtel-Strategie zu
reproduzieren: Gemäß den Motto „die
guten ins Töpfchen, die schlechten ins
Tröpfchen wird dabei zwischen sozial
anerkannten und sozial nicht legitimierten Risiko- bzw. Problemlagen
polarisiert6. So scheiden sich letzten
Endes vor den Pforten der Integrationsprojekte sozial unangepasste, fordernde, renitente, institutionserprobte
und beratungsaversive Jugendliche
von jenen, die sich angemessen regelkonfom, gruppenverträglich und bereitwillig verhalten, denen man also
schlecht „Arbeitsscheu” oder „fehlende
Motivation” zum Vorwurf machen kann.
Was heißt hier
„erfolglos”?
Anstelle einer kanalisierten Zielperspektive wie sie in den Begriffen
„jobready” und „employability” zum
Ausdruck kommt, müssen unserer
Meinung nach Lernfähigkeit, Bewältigungskompetenz und Selbstorganisationsfähigkeit als universale Strategien einer Lebensbewältigung gefördert werden.
Es steht selten in der Macht unserer
Institutionen oder Programme, einen
Erwerbsarbeitsplatz am allgemeinen
Arbeitsmarkt zu versprechen. Jedoch
können wir für unsere jugendlichen
KlientInnen – und seien sie noch so
„schwach” – Situationen gestalten, in
denen ihre individuellen Stärken zur
Geltung kommen können und ihre
Schwächen unbedeutend werden. In
diesem Sinne plädieren wir für einen
handlungsorientierten, auf Wirksamkeitserfahrung gerichteten Zugang.
Wir sind nicht der Meinung, dass sich
die mit Arbeitslosigkeit verknüpften
Erfahrungen des persönlichen Scheiterns, der Perspektivenlosigkeit und
die Anpassungsreaktion darauf primär
gesprächsorientiert und mit psychologischen Beratungsstrategien bewältigen lassen, dass sie alleine besprochen, bedacht und „reflektiert“ werden
sollen.
Was kann ein entmutigter, vielleicht
resignierter Jugendlicher in der Reflexion seiner bisherigen Erfahrungen
des Scheiterns gewinnen? Es ist unserer Meinung nach eher die realisierbare Aussicht auf kurzfristigen Handlungs- und Gestaltungserfolg und die
glaubwürdige Bestätigung des Umfeldes als entscheidende Erfahrungen,
die Integrationsprojekte vermitteln
können und sollen. Konsequent lässt
sich dann der Erfolg des gemeinsamen Projektes mit den jugendlichen
KlientInnen nicht alleine an der Vermittlungsrate entscheiden, sondern an
den persönlichen Entwicklungsfortschritten, an der Wiedergewinnung
von Widerstandskraft und der subjektiv wahrgenommenen Verbesserung
bzw. Ausweitung von Handlungskompetenz, Zukunftserwartung Lebensqualität und sozialer Teilnahmemöglichkeiten.
Neben der (Arbeits-)marktintegrativen
Funktion sollten solche Projekte also
stärker eine über Erfolgsmöglichkeiten
vermittelte, sozialintegrative Zielsetzung ins Auge fassen.
Institutionelle
Verantwortung und
Sozialanwaltschaft
In diesem Sinne gilt es, Vermittlungsraten nicht zum Dogma der (berufs)
17
integrativen Arbeit mit Jugendlichen
und jungen Erwachsenen zu machen,
sondern eine permanente, kritische
Auseinandersetzung mit den administrativ vermittelten, gesellschaftlichen
Aufträgen zu führen und eine mutige,
offensive Sozialanwaltschaft für die
jugendlichen KlientInnen zu übernehmen. Besonders ergibt sich diese Notwendigkeit für Gruppen von bedürftigen Jugendlichen, die auf Grund fehlender Lobby, oder weil sie nicht in die
gesellschaftliche Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit passen, ein geringes, wohlfahrtspolitisches Gewicht
haben. So zum Beispiel junge Erwachsene ohne „sichtbare” Arbeitseinschränkungen, mit sozial devianten
und provokanten Verhaltensmustern,
Haftentlassene Jugendliche mit öffentlich zugeschriebener „Arbeitsscheu”,
die „unmotivierten” Jugendlichen, und
weitere Gruppen mit besonderer,
gesellschaftlicher
Randständigkeit.
Glaubhafte Argumente einer solchen
Sozialanwaltschaft lassen sich im übrigen nicht alleine aus den Spezifika des
Seelenleben von Jugendlichen gewinnen, sondern aus der Gesamtschau
von persönlicher Situation im lebensweltlichen Kontext und „distalen”7
makrosozialen
Entwicklungsbedingungen. Schärfen lassen sich die so
gewonnenen Argumente durch ihre
Referenzierung an diskrepanten, gesellschaftlichen Gerechtigkeits- und
Verteilungsvorstellungen und ihren
politischen Ausformungen (z. B.
Behindertenmilliarde,
Sozialhilfegesetze, Arbeitsmarktpolitik, etc.). Es ist
somit allerhöchste Zeit, die versprochene dritte Betrachtungsebene der
makrosozialen Bedingungen in groben
Auszügen zu entwerfen.
6 Vgl. dazu Pfeil, W. J. (2001) Vergleich der Sozialhilfesysteme der österreichischen Bundesländer. Rechtswissenschaftliche Studie im Auftrag des Bundesministeriums für soziale Sicherheit und Generationen. Wien
2001
7 Silbereisen R. K. & Noack, P. (2005). Kontexte und
Entwicklung. In W. Schneider & F. Wilkening (Hrsg.),
Theorien, Modelle und Methoden der Entwicklungspsychologie (Enzyklopädie der Psychologie, Serie V: Entwicklungspsychologie, Band 1). Göttingen: Hogrefe.
18
Schnittstellen in der Rehabilitation – Arbeiten & Wohnen
3. Ebene:
Makroökonomische
und gesellschaftliche
Rahmenbedingungen
Im Hinblick auf die berufliche Qualifizierung und Integration Jugendlicher
und junger Erwachsener ist die Situation am Arbeits- und Ausbildungsmarkt
ein zentraler, makroökonomischer
Aspekt, der als distaler Entwicklungskontext die Entwicklungschancen des
einzelnen wesentlich determiniert. Das
Phänomen der Arbeitslosigkeit ist spätestens seit den 80er Jahren zu einem
strukturellen Merkmal in der österreichischen Gesellschaft geworden8. Sie
ist dadurch gekennzeichnet, dass sich
die Zahl der Arbeitslosen nur mehr in
einem geringen Maße durch eine im
Aufschwung befindliche Konjunktur
reduziert. Man spricht daher heute von
einer strukturellen Arbeitslosigkeit. Mit
dem zugrunde liegenden Strukturwandel war auch eine Dynamisierung
und Fragmentierung der Beschäftigung verbunden, so beispielsweise die
Zunahme von geringfügiger und Teilzeitbeschäftigung, sowie atypischer
Beschäftigungsverhältnisse
(freier
Dienstnehmer, neue Selbständige),
die wiederum mit sehr spezifischen
Problemen behaftet sind (z. B. Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen,
fehlende
Arbeitslosenversicherung,
working poor usw.) Seit den frühen
neunziger Jahren erhöhte sich die
Arbeitslosigkeit markant. Insbesondere trübten sich die Perspektiven für
gering qualifizierte, sowie ältere und
jugendliche Arbeitssuchende. An dieser Stelle wollen wir ein kräftiges Wort
zur Arbeitslosenstatistik einfügen.
Die Arbeitslosenstatistik
– das unerkannte Wesen
Wir verzichten in diesem Kontext auf
ein zwangsläufig pseudoexaktes Jon8 Bock-Schappelwein, J. (2005). Entwicklung und For-
men der Arbeitslosigkeit in Österreich seit 1990. WIFO
Monatsbericht 7/2005, Wien.
9 Vgl. Dazu : International Labour Organisation
http://www.ilo.org/
glieren mit Prozentsätzen und Zehntelkommas. Arbeitslosenzahlen lässt sich
nicht vernünftig darstellen, ohne
gleichzeitig die Berechnungsgrundlagen, Erhebungsmethoden und Definition der Erhebungskategorien zu reflektieren. So macht es beispielsweise
erhebliche Unterschiede, ob die
Arbeitslosen aus den administrativen
Daten des AMS erhoben werden
(Stichtags-Registerarbeitslosigkeit)
oder Befragungsdaten aus dem Mikrozensus zugrunde gelegt werden (so
genannte „EU-Methode”, bzw. ILOKonzept9). Machen sie beispielsweise
den Versuch und fragen Sie jemanden, der Ihnen im Gespräch eine
Jugendarbeitslosenquote von 7,1%
nennt, nach der Grundgesamtheit dieses Prozentwertes. Von uns erhalten
sie darauf zwar keine Antwort, aber
einige Nachfragen an die Hand, mittels
derer sie ausbleibenden Antworten
ihrer Gesprächspartner doch noch auf
die Sprünge helfen können: 7,1% von
allen Arbeitslosen? von allen Jugendlichen einer Alterskohorte?, von allen
erwerbstätigen Jugendlichen? von
allen Erwerbstätigen inklusive oder
exklusive Schüler? Von allen Erwerbstätigen und in Schulung befindlichen?
Bei der Beurteilung von Arbeitslosenquoten ist insbesondere beachtlich,
dass Lehrstellensuchende, TeilnehmerInnen an Schulungen oder Personen,
die sich aufgrund fehlender Leistungsansprüche nicht vormerken lassen,
bzw. jene deren Leistungsbezug aus
den unterschiedlichsten Gründen
gestrichen wurde Pensionsvorschussbezieher, Personen und registrierte
Arbeitslose, die länger als drei Tage
krank gemeldet sind nicht als Arbeitslose in die nationale Quote eingerechnet werden (verdeckte Arbeitslosigkeit). Es ist also festzuhalten, dass a)
selbst die Erlangung des Status
„Arbeitslos” an Zugangskriterien geknüpft ist, b) die Komplexität der
Arbeitslosenstatistik der Polemik Tür
und Tor öffnet und c) sie auch intuitiv
eine Jugendarbeitslosigkeit in der
Bandbreite von 7 – 20 Prozent be-
pro mente
jugend
haupten könnten in der Sicherheit,
zumindest den einen oder anderen, so
genannten „alternativen” Indikator für
Arbeitslosigkeit nachträglich auffinden
zu können.
Arbeit für alle?
Der Wettbewerb um die zu verteilende
Erwerbsarbeit wird sich weiter verschärfen. Weder interventionistische,
staatliche Strategien noch der Appell
and die „Verantwortung der Wirtschaft”
und letzlich auch nicht alleine die „aktive Arbeits-marktpolitik” werden darin
substantiell etwas ändern. Gering qualifizierte Jugendliche und junge
Erwachsene werden am Arbeitsmarkt
auf absehbarer Zeit überflüssig sein
und bleiben.
Und doch ist es die Aufgabe einer entwickelten Gesellschaft, jedem ihrer
jugendlichen Mitglieder eine produktive und selbstbestärkende, auf Anerkennung und Wertschätzung gerichtete Entfaltung von Begabungen und
Interessen zu ermöglichen. Jeder
Jugendliche hat das Recht auf gesellschaftliche Unterstützung und Förderung seiner Entwicklung und sozialen Integration – auf ein gesellschaftliches Investment in seine Ressourcen.
Diese Ressourcen müssen nicht nur
gefördert, sondern vor allem auch
gefordert werden. dh. wir müssen den
Jugendlichen einen gesellschaftlich
und subjektiv sinnvoll bewerteten Einsatz ihres Handelns abverlangen.
Dass diese Ansprüche nicht mehr
alleine über die Verteilung und Subventionierung von Erwerbsarbeit einzulösen sind, zeichnet sich ab. Vieles
weißt darauf hin, dass die Antworten in
strukturellen Änderungen des gesellschaftlichen Stellenwerts von Arbeit
und seiner konkreten Ausformungen
zu finden sind.
Die technisch-administrativen Schlagworte dieser Entwicklung liegen
bereits seit einigen Jahren auf dem
Tisch: Grundsicherung, Kombilöhne,
1-Euro-Jobs, Eigen-/Bürger-/ Sorgearbeit, neuerdings auch „Aktion 10.000”
und der Dauerbrenner „Öffnung des
pro mente
jugend
Schnittstellen in der Rehabilitation – Arbeiten & Wohnen
Niedriglohnsektors”, um einige Beispiele anzuführen.
Erwerb = Arbeit mal X
Überlegungen zur Neudefinition des
Verhältnisses von Erwerb und Arbeit
gehen grundsätzlich davon aus, dass
vieles was in unserer Gesellschaft zu
tun ist, nicht profit- und marktfähig im
Sinne traditioneller Erwerbsarbeit ist,
dennoch aber zur sinnvollen, identitätsstiftenden und damit befriedigenden Beschäftigung von Personen dienen kann. Dort wo Arbeit nicht mehr
umfassend existenzsichernd angeboten werden kann, setzen Konzepte
zur Grund- bzw. Mindestsicherung
an10. Kern dieser Konzepte ist die
(mehr oder weniger ausgeprägte) Entkoppelung individueller Einkommensansprüche von der faktischen Erwerbsbeteiligung, sowie die Reformulierung solcher Ansprüche in Termini
der Staatsbürgerversorgung bzw. der
Bürgerrechte11. Zentrales Argument
gegen eine bedingungslose Mindestsicherung ist, dass bei Existieren eines
solchen Grundeinkommens der Unterschied zwischen den auf dem Arbeitsmarkt zu erreichenden Löhnen und
den Lohnersatzleistungen zu gering
werden würde, als dass bei Erwerbslosen ein Beschäftigungsanreiz aufrecht erhalten werden könne. Ebenso
wird eingeworfen, dass das Verpflichtungsgefühl von Unternehmen – etwa
im Bereich der Lehrausbildung – allmählich erodieren könnte, wenn
Arbeitslose Jugendliche über ein
garantiertes Mindesteinkommen verfügen würden.
Zusammenfassung:
Mit unserem Beitrag wollten wir am
Beispiel der Arbeitslosigkeit im
Jugendalter die Notwendigkeit und
Sinnhaftigkeit von Mehr-EbenenBetrachtungen in der Sozialen Arbeit
verdeutlichen. Gerade bei so komplexen Phänomenen wie Arbeitslosigkeit
im Jugendalter und den damit verbundenen Gefahren der sozialen Exklusion reicht es unserer Meinung nicht
aus, individuelle Problem- und Bedürf-
19
nislagen isoliert zu betrachten. Vielmehr sollten wir als BeraterInnen und
BetreuerInnen in der Sozialen Arbeit
mit Jugendlichen unser Blickfeld auch
auf jene Bühnenarrangements erweitern, vor deren Hintergrund sich individuelle Handlungschancen und -restriktionen unserer KlientInnen verständlicher abzeichnen.
10 Tálos, E (Hrsg. 2003), Bedarfsorientierte Grundsicherung. Wien: Mandelbaum
11 Schmid, J. (2002).Wohlfahrtsstaaten im Vergleich.
Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme. Opladen: Leske
Budric
WORKS Klagenfurt, Metallwerkstätte
Herunterladen