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begründen,
verstehen,
beurteilen
–
Argumentation,
Hermeneutik
und
Kritik
als
Methoden wissenschaftlichen Arbeitens
190170 VO, UE - Grundlagen: philosophische Methoden, 2.2.3 [21b2] laut Studienplan Pädagogik
2002 (2 Std.)
Lehrveranstaltungsleiter: Mag. Martin Steger /TutorInnen: Emanuel Frass, Claudia Gusenbauer, Angela
Janssen, Marlis Stöckl
Donnerstag, 9.00 - 11.00, HS C1 Campus
4. Termin 09.11.06: Wissenschaft und Wahrheit
Formalia:

Wir kennen das leidige Problem der richtigen Planung von Lvs (Angebot, Raum, etc....),
nachdem was bei uns passiert ist. Die Studienprogrammleitung versucht daher durch eine
Umfrage des Bedarfes die Planbarkeit zu erhöhen. Ich habe dazu folgende Mitteilung erhalten:
Sehr geehrte Lehrende,
um das Lehr- und Betreuungsangebot für die nächsten Semester planen zu können, benötigt die
Studienprogrammleitung Informationen. Um diese zu erhalten, hat die Studienprogrammleitung eine Umfrage
gestartet, die bis zum 19. November 2006 abgeschlossen sein soll. Bitte informieren Sie die Studierenden Ihrer
Lehrveranstaltungen darüber! Bitten Sie die Studierenden, den elektronischen Fragebogen zu beantworten, der
unter folgender Adresse aufrufbar ist:
http://lerndorf.erz.univie.ac.at/umfragen
Teilen Sie den Studierenden bitte mit, dass sie nähere Informationen auf der SPL-Seite unserer homepage im
Abschnitt "Diplomstudium" finden:
["Aktuelle Mitteilungen der Studienprogrammleitung"]
Ich bitte Sie in meinem und rate Ihnen in Ihrem Eigeninteresse, 5 Minuten zu investieren, um Ihr
Studienangebot zu verbessern. Viel besser können Sie die nicht investieren.

Teilnahme: bis Samstag letzte Gelegenheit der Ummeldung, Sonntag mache ich die neue
Teilnehmerliste, die dort Eingetragenen erhalten jedenfalls ein Zeugnis.

Gruppenbildung: ist heute abgeschlossen, er gilt wie oben: Bis Sa können Sie mir noch Ihre
Gruppenzusammenstellung schicken – es ist natürlich immer besser, wenn man sich selbst zu
Gruppen zusammeschließt. Sie können gerne auch das Diskussionsforum zur Gruppenfindung
nutzen – was ja einige schon getan haben. Am So mit der neuen Liste behalte ich mir vor, den
Rest der TeilnehmerInnen einzuteilen.
1
Bitte kontrollieren Sie danach noch einmal, ob Sie in der richtigen Gruppe auf der Liste stehen und
die Daten stimmen!
Und dann hoffe ich, dass wir all diese formalen Probleme hinter uns haben und uns endlich in
Ruhe auf unsere Arbeit und die Inhalte konzentrieren können:
Inhalte:
Sie werden sich vielleicht erinnern können: Ich habe Ihnen eine Denkbewegung angekündigt, die
sich vom Sprechen zur Wissenschaftstheorie und weiter zu Argumentation und Hermeneutik
bewegt - Wie es sich für philosophische Methoden gehört, möchte ich ganz beim Grundsätzlichen
und mit einer Frage beginnen – und die lautet – wenig originell:
Was ist Wissenschaft?
Tatsächlich steht Wissenschaft mit der zunehmenden Ausdifferenzierung und Selbstbezüglichkeit
ihrer Teilbereiche (Disziplinen) immer mehr vor dem Problem, selbst kaum mehr angeben zu
können,
was
denn
das
Gemeinsame
dieser
unterschiedlichen
Bereiche
sei,
was
also
Wissenschaft ausmache. Selbst wissenschaftstheoretische Werke verweigern immer öfter den
Versuch einer Definition von Wissenschaft:
Chalmers 19994 Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, S. 166: "In
diesem Licht erscheint der Titel des Buches irreführend und anmaßend. Er setzt voraus, dass es
eine einzige Kategorie 'Wissenschaft' gibt und impliziert, dass unterschiedliche Gebiete der
Erkenntnis wie Physik, Biologie, Geschichte, Soziologie usw. entweder unter diese Kategorie fallen
oder nicht. Ich weiß nicht wie solch eine allgemeine Charakterisierung von Wissenschaft etabliert
oder verteidigt werden könnte."
Balzer: Die Wissenschaft und ihre Methoden. Grundsätze der Wissenschaftstheorie 1997, S. 11:
"Eine allgemeine Abgrenzung des 'Systems' Wissenschaft ist schwierig und wird hier nicht
versucht, obwohl sich in einigen speziellen Fällen, wie etwa bei den Universitätsprofessoren und
ihren Vorlesungen, leicht entscheiden lässt, ob eine Person oder eine ihrer Handlungen zu dem
System gehört oder nicht."
Ein Standardwerk der Wissenschaftstheorie, das ich empfehlen möchte – Helmut Seifferts
'Einführung in die Wissenschaftstheorie' in vier Bänden – verzichtet überhaupt - stillschweigend auf einen Definitionsversuch.
Was macht man in so einem Fall?
Man behilft sich mit einer Arbeitsdefinition:
2
Wenn kein Gegenstand substanziell in seinem Sein definierbar ist – also was er ist – dann kann
man als 'Rückzugsposition'
o
beschreiben, wie etwas funktioniert – funktionale Definitionen über das 'Tun'/die
Funktion, nicht über das 'Sein'/die Eigenschaft
o
dieses etwas als System beschreiben, dh. nicht 'rundum' definieren, sondern je und je
feststellen, ob etwas dem Beschriebenen zugehörig ist oder nicht.
Der Begriff des Systems ist ein Modebegriff geworden und leistet auch tatsächlich für derartige
Sachverhalte einiges. Der Begriff System grenzt sich – vor allem in systemtheoretischer
Wortbedeutung von gegenständlichen Denkmustern ab – wenn wir von Systemen sprechen,
haben wir somit kein 'Ding' mit festgelegten Außengrenzen (de-finierbar) vor uns, sondern einen
selbstbezüglichen Komplex von Beziehungen, Relationen und Menschen als Träger
dieser Relationen, der sich je und je durch eine Unterscheidung abgrenzt, punktuell ein Innen
und Außen bestimmt, indem er einen Unterschied macht.
Wenn man sich nun angesichts der angesprochenen Probleme darauf beschränkt, Wissenschaft
in größtmöglicher Allgemeinheit und ohne den Versuch einer definitorischen Abgrenzung als ein
System der Produktion, Sammlung und Ordnung von Wissen zu beschreiben, reicht man
das Problem zunächst bloß weiter:
Es stellt sich die nächste Frage:
Was ist im wissenschaftlichen Sinn Wissen?
Wodurch
unterscheidet
es
sich
von
Alltagserfahrung,
Offenbarungswissen,
pseudowissenschaftlichen Theorien und Doktrinen, die ebenso beanspruchen, geglaubt zu
werden?
Hier haben wir uns mit einer knapp 2500 Jahre alten Beschreibung beholfen – sie stammt von
Platon (427-347 v.Chr):
"Wahrer Glaube ergibt erst durch Aufweisen seiner Begründung Wissen" (Platon: Theatet 201d.
Nach: Follesdal 1988, S. 41)
Was heißt das?
o
Ich glaube etwas, habe eine Meinung
o
Ich beanspruche Wahrheit
o
Ich begründe daher
o
Wenn meine Begründung 'hält', kann ich von Wissen sprechen
3
Nach diesem Verständnis besteht Wissen aus wahren Sätzen, die geglaubt werden und für
deren Richtigkeit gute Gründe angeboten werden:
Diese Definition von Platon ist über 2000 Jahre alt – sie ist aber heute so unbestritten wie eh und
je – und sie hat einen auch rhetorischen Vorteil: In ihrer Formulierung zeigt sie die prinzipielle
Nähe zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Sprechen auf:
Der Vorgang ist uns aus dem Alltag vertraut: Wir glauben etwas, sprechen es aus und wenn unser
Gegenüber uns nicht glaubt, bieten wir ihm Gründe, uns zu glauben – wir belegen unseren
Glauben durch Beispiele aus dem Alltag, durch einen Schluss aus gemeinsam Geglaubten oder wir
versuchen zumindest, seine Gegenmeinung zu entkräften. Wenn wir uns nicht durchsetzen, ziehen
wir uns auf unsere Meinung zurück, die dann unentschieden neben der Gegenmeinung steht,
nehmen Anspruch zurück, behaupten nur mehr die Hälfte, machen Kompromisse,– oder wir lassen
uns sogar von einer anderen Meinung überzeugen.
Der prinzipiell selbe Vorgang – die selbe 'Sprechstrategie' - findet im wissenschaftlichen Sprechen
statt, es ist genau so ein Diskurs, ein Meinungsaustausch – mit einem Unterschied: Wir
beschäftigen uns mit Sätzen, die wir glauben – und von denen wir noch dazu prinzipiell
behaupten, dass sie für alle gültig sind. Diese alle werden sich nicht melden – es geht daher nicht
darum, einzelne Einwände zu entkräften, wenn sie vorgebracht werden, sondern vorab alle
denkbaren Einwände zu berücksichtigen. Das bringt uns eine oft ein wenig seltsam anmutende
Sprache, und einen höheren und prinzipiell vorhandenen Begründungsanteil: 'Die werden es schon
schlucken' spielt es nicht in der Wissenschaft - oder sollte es nach oben Gesagtem zumindest
nicht tun.
Zumeist werden zwei Unterscheidungskriterien für Wissen im wissenschaftlichen Sinn gegenüber
anderen Systemen von Glaubenssätzen genannt:
Wissen
beansprucht
eine
allgemeine,
d.h.
hier
im
Prinzip
für
jeden
gültige
Verbindlichkeit einer behaupteten Wahrheit.
Darin liegt genau genommen bereits das zweite Kriterium, das aber wichtig genug ist, es explizit
hervorzuheben: Diese verbindliche Wahrheit ist im Prinzip durch jeden überprüfbar (wenn
auch die Überprüfung angesichts der vorherrschenden disziplinären und innerdisziplinären
Spezialisierungen faktisch oft auf einen kleinen Kreis von Experten beschränkt ist).
Damit ist auch ein Thema angesprochen, dass sie in den nächsten Semestern noch beschäftigen
wird: In unserer Zeit des Subjektivismus werden sie – schon aus Vorsicht - gerne ihre
Behauptungen ein wenig abschwächen und auf der Uni von ihrer persönlichen Meinung sprechen:
Ich denke, wir haben abgehandelt, wo Meinung ihren Platz hat und wo ihre Grenze: Im Glauben,
aber der verlangt seine Begründung und diese hat den Anspruch, nicht bloß subjektiv richtig zu
sein, sondern prinzipiell jedes vernünftige Gegenüber zu überzeugen – ihre Meinung ist am Beginn
4
einer Argumentation gefragt, beim Denken, beim Finden von Tatsachenbehauptungen und ihren
Gründen, nicht im Behaupten und Begründen selbst. wenn ihre Meinung ihren Mund verlässt, ist
sie im wissenschaftlichen Sinn nicht mehr in ihrem Belieben stehend, sie ist Allgemeingut und
begründungspflichtig.
Das heißt natürlich nicht, dass es nicht sehr vernünftig ist, in seinem Vorgehen vorsichtig zu sein
– im Gegenteil, ich empfehle das sehr. Wie man dabei vorgehen kann, werden wir beim Thema
Argumentation besprechen.
Fassen wir zusammen: Wissen im wissenschaftlichen Sinn ist ein Glaube an einen Sachverhalt,
der Wahrheit beansprucht und damit Gültigkeit für prinzipiell jeden – das ist das schöne Vokabel,
das Ihnen wohl bei jeder Methoden-Lv begegnen wird: Allgemeingültigkeit. Für diese Gültigkeit
sind sie aber dem potentiellen Gegenüber, das Ihren Glauben ja teilen soll, eine Begründung
schuldig. Wir agieren in der Wissenschaft daher prinzipiell in einer im Prinzip für jeden
nachvollziehbaren
Art
und
Weise
–
egal
ob
wir
jetzt
forschend/investigativ
oder
begründend/legitimierend agieren (falls man diese Grenze überhaupt sinnvoll ziehen kann) – d.h.
wir
agieren
methodisch.
Derart
stehen
aber
'wissenschaftliche
Methoden'
im
Zentrum
wissenschaftlichen Handelns – als Forschungs- und damit zugleich als Begründungswege, die
wahren Glauben als Wissen ausweisen, - sie bilden dementsprechend im Weiteren das Thema
dieser Lehrveranstaltung.
Damit haben wir im Prinzip schon eine Grundstruktur von Wissenschaft skizziert:
Wissenschaft besteht im Kern aus
Wahrheitsaussagen (zwischen den Polen von verallgemeinerten Aussagen wie Theorien,
Axiome, Hypothesen und konkreten wie Daten) und
Verfahren zur Gewinnung und Glaubhaftmachung dieser Aussagen (Methoden). Im methodischen
Vorgehen liegt somit der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und anderen
Wahrheitssystemen (z.B. Religion).
1. Wahrheitsaussagen
Wenn wir derart von Wahrheitsaussagen sprechen, inkludieren wir zweierlei
1. legen wir fest, dass es in der Wissenschaft um Wahrheit geht.
als eine der Grundperspektiven des Menschen auf die Welt:


5
Dieses Verhältnis ist in mehreren Perspektiven beschreibbar, wie sie schon in den sogenannten
'Transzendentalien' bzw transzendentalen Prädikationen des Mittelalters ausgedrückt werden:
Quodlibet ens est unum, verum, bonum, pulchrum.
Wo immer etwas seiend ist, ist es Eines - ein Wahres, ein Gutes, ein Schönes.
Transzendentale Prädikationen heißt, das sind prinzipielle Aussagemöglichkeiten – Aussagen, die
über jeden gegebenen Anlass hinausreichen: Ich kann nur eine Aussage treffen, wenn ich etwas
gegen alles andere (das Chaos der Antike und Kants, die Umwelt der Systemtheorie, das
Rauschen der Informationstheorien, ...) abgrenze - es als etwas/als eine Einheit überhaupt
erkenne (unum). Über diese Einheit kann ich Aussagen betreffend ihre Wahrheit, ihre Gutheit, ihre
Schönheit machen. That's it.
In der Wissenschaft machen wir Aussagen, die die Wahrheit betreffen – das ist unser Spielfeld.
ist wahr
Etwas (in der Welt) ist eins
ist gut
[ist schön]
Auf philosophischer Ebene besprechen wir Wahres in der Erkenntnistheorie (Epistemologie), Gutes
in der Ethik, Schönes in der Ästhetik. Gutes und Schönes sind somit an sich auch nicht Thema der
Wissenschaft – es sei denn, ich behandle sie unter Wahrheitsbedingungen - wenn also der
Anspruch erhoben wird, dass das, was als gut und schön behauptet wird, für alle stimmen muss!
Indem ich in einer Aussage Allgemeingültigkeit beanspruche, beanspruche ich Wahrheit und bin
eine Begründung schuldig, die mein Gegenüber beurteilen kann.
Aussagen über mich (expressive Aussagen)
Dieses Bild gefällt mir.
werden zu Aussagen über die Welt, wenn das, was ich über mich sage, für alle gelten soll:
Dieses Bild ist schön,...
Damit bin ich eine Begründung schuldig, weil ich nicht nur mein Gefühl erzähle, sondern eine
allgemeine Qualität behaupte:
... weil die Farbkomposition so ausbalanciert ist.
Das selbe gilt für normative Aussagen ( Es ist gut, dass ich meine Mutter pflege  Es ist (für
jeden) gut, seine Mutter zu pflegen)
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Das
Gute
und
das
Schöne
werden
in
der
Wissenschaft
dort
behandelt,
wo
sie
mit
Wahrheitsanspruch formuliert werden – es handelt sich somit um perspektivische Dimensionen
auf die Welt mit gemeinsamen Schnittflächen


Umgekehrt formuliert: Wissenschaft wird auf philosophischer Ebene durch Erkenntnistheorie
gestützt. Wir werden das im Folgenden mitdenken – extrem reduziert auf ein Grundverhältnis
Mensch  Welt.
wahr

In der Wissenschaft thematisieren wir das Grundverhältnis Mensch-Welt unter der
Perspektive der Wahrheit(sfähigkeit).
2. tun wir so, als wüsste die Wissenschaft, was Wahrheit sei.
Was aber ist Wahrheit?
Wahrheitstheorien
Tatsächlich existiert keine unbestrittene Theorie, was Wahrheit sei. Es lassen sich aber
zumindest drei weithin akzeptierte Denkansätze ausmachen, die teilweise in Konkurrenz,
teilweise in Ergänzung zueinander stehen. Alle drei sehen Wahrheit als Phänomen einer
Metaebene – also als Charakteristikum einer Aussage über etwas, wobei immer Übereinstimmung
behauptet wird.

Korrespondenztheorien  Wahrheit ist Übereinstimmung mit (allen Phänomenen) der
Wirklichkeit

Kohärenztheorien  Wahrheit ist Übereinstimmung mit (allen) anderen Aussagen

Konsenstheorien  Wahrheit ist Übereinstimmung mit (allen) anderen Personen
7
Anzuraten ist, sie in der 'Praxis' wissenschaftlicher Arbeit als faktisch einander ergänzend zu
betrachten, d.h. alle 'Wahrheitsbedingungen' zu beachten, bevor man eine Aussage als wahr zu
begründen versucht. Wenn im Folgenden von 'Korrespondenztheorien', 'Kohärenztheorien' und
'Konsenstheorien' - also in die Mehrzahl gesetzt – die Rede ist, dann deswegen, weil damit
durchaus unterschiedliche Theorien in verschiedensten Kontexten angesprochen sind, die jeweils
einen Grundgedanken – das jeweilige Bild von 'Wahrheit' - gemeinsam haben.
Wir wollen uns jetzt diese 3 Theorietypen näher anschauen – in einem Modell der historischen
Entwicklung erkenntnistheoretischer Theorien – extrem vereinfacht auf 2 Aspekte (Verhältnis
Mensch – Welt / Orientierungsfunktion und Bezug auf eine metaphysische 'Ordnung der Dinge').
Wir haben im ersten Schritt die Eingebundenheit des Menschen auf ein Grundverhältns das Verhältnis Mensch  Welt – unter der Perspektive der Wahrheit reduziert.
wahr

In seiner Grundfigur betrachtet dabei der Mensch die Welt/die Wirklichkeit und sagt etwas darüber
aus, wofür er Wahrheit beansprucht: der korrespondenztheoretische Ansatz.
Korrespondenztheorien
Korrespondenztheorien der Wahrheit besagen im Kern nichts anderes, als dass Wahrheit die
Übereinstimmung des Ausgesagten mit der Wirklichkeit (des Verstandes mit der Sache) sei.
Sie entsprechen damit dem Alltagsverständnis von Wahrheit und sind auch im Bereich der
Wissenschaft von Beginn an - zumindest seit Platon und Aristoteles – dominierend. In weiten
Bereichen werden sie bis heute völlig unproblematisch verwendet.
Auf dieser Ebene von Beobachtungssätzen ist der Anspruch auf Verbindlichkeit und damit auch auf
Vermittelbarkeit der Evidenz zumeist kein Problem.
z.B.: Das ist eine Semmel
Evidenz (Offensichtlichkeit) zielt auf die fraglose Übereinstimmung der Sinneseindrücke / Daten
(und hat damit konsenstheoretische Aspekte) – jeder sieht die Semmel.
Mit zunehmendem Abstraktionsgrad kann eine derartige Einsicht jedoch immer weniger
vorausgesetzt
werden.
Es
bedarf
dann
mehrerer
Vermittlungsebenen
an
Daten
und
Beobachtungssätzen, um Übereinstimmung mit Wirklichkeit zu behaupten – an die Stelle von
Evidenz treten (standardisierte) Prüfungsverfahren auf Basis von Übereinkunft.
z.B.: E=mc²
8
Wir nähern uns damit sukzessive einer nur mehr von Experten tatsächlich prüfbaren Wahrheit –
aber
das
ist
lediglich
ein
pragmatisches
Problem.
Das
prinzipielle
Problem
der
Korrespondenztheorien beginnt eben dort, wo keine – wenn auch abstrahierte - direkte Beziehung
zu Wirklichkeit behauptet wird. Offensichtlich werden die Probleme etwa bei antinomischen (in
sich widersprüchlichen, paradoxen) Sätzen wie dem bekannten:
'Dieser Satz ist falsch'
Was passiert hier?
Sätze wie die oben genannten sind selbstbezüglich und beruhen damit darauf, dass wir auf
verschiedenen 'Metaebenen' über die Welt sprechen – durch die wechselseitige Verschränkung
von Mensch und Welt können wir das formal richtig sogar innerhalb eines Satzes:
zB Ich lüge  ein paradoxer (d.h. der Satz bezieht sich auf sich selbst und verneint sich dabei)
und performativer (d.h. das beschreibend, was man gerade tut, z.B.: Ich begrüße dich) Satz.
Hier kollidieren Bezugesebenen der Sprache. Um sie aufzulösen, benötigt man - im Modell der
Korrespondenztheorie - ein Bündel von Theoriegebäuden für diese unterschiedlichen Ebenen neben der besagten Theorie über die Wirklichkeit, etwa
-
eine Vorstellung/Theorie über das Bewusstsein und die Form, wie Gegenstände der
Wirklichkeit darin repräsentiert sind
-
eine Theorie über Sprache als vermittelnder Instanz, die etwa zwischen Objektebene (Satz
über einen Gegenstand) und Metaebenen (Sätze über Sätze über Sätze etc.) unterscheiden
kann, um derartige Abstraktionsprobleme zu bewältigen,
-
eine Theorie über die Art des Verhältnisses von Wirklichkeit, Bewusstsein und Sprache
zueinander, um für hochabstrakte Sätze eine Korrespondenz mit der Wirklichkeit zu
behaupten.
Die Sätze selbst sind dadurch immer noch nicht bewiesen und der Grundgedanke des
repräsentativen Zusammenhangs von Wirklichkeit und dem Bewusstsein darüber wird im
Extremfall ad absurdum geführt. Korrepondenztheorien in klassischer Form haben somit schlicht
eine eingeschränkte 'Reichweite', sie sind letztlich angewiesen auf sinnlich/empirisch fassbare
Phänomene.
Sätze wie dieser zeigen, dass ein direkte Entsprechung eines Satzes in der Wirklichkeit –
eine 'Korrespondenz' - kaum prinzipiell angenommen werden kann, sobald die Ebene
evidenter Wirklichkeitsaussagen verlassen wird.
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In unserem Modell zeigt sich als dahinter liegendes Problem, dass die direkte Relation, wie wir sie
aufgezeichnet haben, nicht ausreicht: Der Mensch ist Teil der von ihm betrachteten Welt und
durch seine Reflexivität und Expressivität 'trägt er diese Welt auch in sich' und schafft sie mit:
 

So entstehen Paradoxien – in der Verneinung - oder Tautologien – in der Bejahung (die dann
inhaltsleer werden, weil sie sich nur selbst aussagen). Ein Problem der Zirkularität: Diese
gedankliche Rückkoppelungsschleife finden Sie unter verschiedenen Namen in unterschiedlichsten
Theoriegebäuden: die Reflexivität des Idealismus, der Zirkel der Hermeneutik, die Selbstreferenz
der Systemtheorie, die Kybernetik als soche ua. verweisen auf das selbe Gedankenbild (allerdings
in teilweise extrem unterschiedlichen Theoriekontexten: also bitte nicht einfach gleichsetzen).
Diese Problemlage ist in Wirklichkeit nicht neu – sie war schon den Griechen bekannt (das 'KreterParadoxon': Alle Kreter lügen – sagt der Kreter).
Allerdings betraf es die Griechen in anderer Weise als uns: Wissenschaft als eine 'Praxis', eine
Lebens- und Handlungsform des Menschen verstanden (vgl. etwa Buck)– nämlich als Teil des
Verhältnisses Mensch-Welt unter der Perspektive der Wahrheitsfähigkeit – war selbstverständlich
eingebettet in die allgemeine Weltvorstellung/-orientierung. Diese beruhte auf der religiös
gestützten Annahme einer feststehenden, ‘natürlichen’ Ordnung des 'Kosmos', deren Teil Mensch
und Welt sind.
Wenn also die Welt nicht immer erkennbar ist, kann man die kosmischen Prinzipien
auch 'innerhalb' des Menschen annehmen– und weiter auf die Welt schließen. In der
Vorstellung der Griechen waren diese 'Ideale' (das 'Schöne an sich',..) sogar unverfälschter als ihr
materielles, unvollkommenes Abbild in der Welt. Dementsprechend können auch Aussagen, die
kohärent – in sich stimmig – sind, als wahr (der Idee als Muster der Welt entsprechend)
angenommen werden – eine kohärenztheoretische Vorstellung, allerdings noch auf 'Technischer
Ebene', denn diese 'innere Ordnung' wird nach wie vor von außen – einer mythologisierten Welt –
garantiert.
Diese Vorstellung wurde problemlos ins Mittelalter mit übernommen – man sieht hier, warum sich
'heidnische' Philosophen – vor allem Aristoteles – im Christentum so halten konnten – der Kosmos
bekam einfach einen neuen Namen: Gott; der 'Kosmos' fand seine Entsprechung in einer
Gottesvorstellung, die die irdische Welt als Schein und vorläufig ansah und das 'himmlische Reich'
als das wahrhaft Reale, das die Ordnung der Dinge auf Erden garantierte (Realismus im
Mittelalter).
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Kohärenztheorien
In Kohärenztheorien bildet die innere Stimmigkeit von Aussagen und Aussagesystemen
das Kriterium der Wahrheit. Eine Annahme gilt dann als wahr, wenn sie sich in ein kohärentes
(zusammenhängendes) und umfassendes Gefüge von Aussagen einfügt. Sie findet ebenfalls im
Alltagsverständnis seine Entsprechung, indem etwa eine Aussage, die nicht mit den bisherigen
Aussagen des Sprechers übereinstimmt, für unwahr gehalten wird.
Kohärenz kann in verschiedenen 'Graden' angenommen werden:
Zunächst
ist
damit
die
Konsistenz,
d.h.
die
innere
Widerspruchsfreiheit
von
Aussagesystemen angesprochen. Das bedeutet etwa auf Ebene von Argumenten, dass einander
die Vorannahmen und Schlussfolgerungen nicht widersprechen, aber auch weiter, dass etwa
implizite
Argumentationsvoraussetzungen
Gegenstandsbereich
her
sowie
in
dem
und
darin
Begriffsbestimmungen
enthaltenen
von
Wissenschaftsverständnis
ihrem
und
Menschenbild der expliziten Argumentation entsprechen.
z.B. kann man inkonsistent argumentieren, wenn man Alfred Adlers Individualpsychologie
interpretiert und dabei den Begriff des Unbewussten mit einem Zitat von Sigmund Freud libidinös
bestimmt; oder wenn man in der Diskussion von Gruppenphänomenen nicht
zwischen
psychologischen und soziologischen Argumenten unterscheidet.
In dieser Kontextabhängigkeit von Begriffsbestimmungen und Argumentationsvoraussetzungen ist
bereits eine weitere, stärkere Interpretation von Kohärenz angesprochen:
Als Konsequenz der Forderung nach innerer Stimmigkeit kann nämlich angenommen werden, dass
eine Theorie umso eher Wahrheit beanspruchen kann, je besser sie mit einer möglichst kleinen
Zahl von zentralen Begriffen und Axiomen - das sind die zumeist hochabstrakten
Anfangssätze (Gesetze) einer deduktiven Argumentationskette - auskommt, von denen sich alle
anderen Sätze ableiten lassen, bzw. mit einer kleinen Anzahl von Beobachtungssätzen, auf die
sich die übrigen beziehen. In diesem Verständnis gilt eine Theorie oder ein Argument als
überlegen, das den selben Sachverhalt mit weniger Prämissen oder Basisannahmen erklären kann
als ein(e) andere(s).
z.B. sprach für Kopernikus These, dass sich die Erde um die Sonne drehe, zunächst nur, dass er
die selben Berechnungen einfacher durchführen konnte als die vorherrschende geozentrische
Theorie des antiken Ptolomäus.
Die Kohärenztheorien liefern in der Stimmigkeit ein Beurteilungskriterium für Aussagen, deren
Wahrheit nicht per se evident ist. Sie ergänzen und konkurrieren derart die Übereinstimmung mit
der (sinnlichen) Erfahrung als Kriterium der Korrespondenztheorien.
Kritisiert wird an ihnen,
11
-
dass sie in ihren Konsequenzen selbst inkonsistent sind. Sie benötigen letztlich ein einziges
umfassendes System von kohärenten Annahmen, das anstelle der Wirklichkeit das
Bezugssystem für Wahrheit bildet. Ein solches System ist aber nicht in Sicht und auch nicht
vorstellbar: Wir kämen letztlich auf die Allegorie der Kartographen bei Borges und
Baudrillard, die eine so detaillierte Karte des REICHES erstellen, das Karte und Territorium
schliesslich zur Deckung kommen. Wir hätten somit eine Beschreibung der Welt, die selbst
ein Welt darstellt – über die wir dann auf der Metaebene sprechen würden bis wir eine
Beschreibung hätten .... ad infinitum.
Daher sind einander entgegegesetzte – oder bezuglose - Annahmen vorstellbar (und
existent), die sich in verschiedene, wissenschaftlich anerkannte Aussagesysteme fügen und
daher beide zugleich als wahr gelten können.
-
dass sie andererseits das Risiko bergen, dass vorherrschende wissenschaftliche Schulen und
Denkrichtungen gestützt auf ein kohärentes Aussage- und Begriffssystem quer über
unterschiedlichste Disziplinen Wahrheit für ihren theoretischen Ansatz beanspruchen und
andere davon ausschließen - Wissenschaftliche Wahrheit kann derart zu 'Wahrheiten der
Schulen' degradiert werden.
z.B. wenn Forschungsansätze, die nicht auf dem Falsifikationsprinzip Poppers beruhen, als 'streng
genommen nicht wissenschaftlich' bezeichnet werden.
-
Zudem kann ich Kohärenz nicht von Beginn an alternativ zu Korrespondenz einsetzen –
ohne Inhalte ist Kohärenz leer, ich brauche zunächst einen Wirklichkeitsbezug, von dem
weg ich dann ableiten kann.
-
Dementsprechend wird an Kohärenztheorien auch kritisiert, dass sie Wahrheit mit
Indizien für die Wahrheit verwechseln: Kohärenz der Aussagen deute auf Wahrheit im
Sinne der Korrespondenztheorien - nämlich als Übereinstimmung mit der einen Wirklichkeit
- bloß hin und sei mit ihr nicht gleichzusetzen.
Zurück zu unserer historischen Betrachtung:
Ihren Höhepunkt erreichen Kohärenztheorien in Humanismus und Aufklärung.
Warum?
In der Neuzeit und der Aufklärung wurden die Vorstellungen der äußeren, 'übergeordneten'
Ordnung der Antike und des Mittelalters zunehmend unhaltbar: Die humanistische Hinwendung
zum Menschen verlangte eine 'Fundierung der Erkenntnis von Welt' im Menschen selbst.
Rene Descartes berühmtes 'Cogito ergo sum' versucht eben das: Wenn ich vom Menschen
ausgehe – wie weiß ich, dass ich all das, was ich erlebe (und mich selbst) nicht einfach träume?
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Wer garantiert mir die Wirklichkeit? Muss das eine äußere Instanz sein oder kann ich aus mir
selbst sicher sein, zu existieren? Descartes findet den Fixpunkt im menschlichen Denken: Wenn
ich träume zu reiten, muss das Pferd nicht existieren, wenn ich mir vorstelle, zu essen, muss es
das Essen nicht geben – aber selbst die Vorstellung, der Traum zu denken ist schon ein Gedanke.
Meines Denkens bin ich mir sicher, mein Denken über mich garantiert mir, dass ich bin: 'Cogito
ergo sum'.
Auf Descartes aufbauend etabliert Immanuel Kant mit seiner ‘kopernikanischen’ Wende in der
Philosophie ein
'neues'
Erkenntnisprinzip: von
Erkenntnis des regelhaft
Bestehenden
zu
regelhafter Erkenntnis des Bestehenden. Damit wird Kohärenz vom ergänzenden zum alternativen
Wahrheitskriterium. Immanuel Kant lehnt die Grundüberlegung der Korrespondenztheorie - die
direkte Entsprechung von Erkenntnis und Wirklichkeit – erstmals prinzipiell ab: in seinem
erkenntnistheoretischen Grundgedanken, dass man nie sagen könne, was wirklich sei, sondern
immer nur, was der Mensch fähig sei, als wirklich zu erkennen (mit seiner Form der Sinne, der
Vernunft etc.):
"Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von all dieser
Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts
als unsere Art, sie wahrzunehmen." (Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft.- Frankfurt am
Main: Suhrkamp 199011, §8/I, S. 87)
Wie die Wirklichkeit an sich ist, können wir nicht erfahren, weil sie uns nicht unvermittelt gegeben
ist – sondern nur vermittelt durch unsere Erkenntnisfähigkeiten (Sinne und Vernunft). Wahrheit
ist möglich, weil diese Fähigkeiten bei uns allen gleich sind (der Titel der 'Kritik der reinen
Vernunft' verweist auch auf die Vorstellung Kants der im Prinzip gleichen, nur unterschiedlich
'aufgeklärten',
klaren,
'gesäuberten',
von
individuellen
Erfahrungen
unabhängigen,
weil
formalisierten Vernunft). Wahrheit ist hier wieder eine 'kohärente', basierend auf der inneren
Übereinstimmung und Widerspruchsfreiheiheit (der Gesetzmäßigkeit) von Aussagen.
Kant zieht mit unserer Erkenntnisfähigkeit einen 'Filter' zwischen der Welt und dem Menschen ein
– ein Theoriegebäude, das uns erlaubt, von Wissen zu sprechen, ohne letztlich auf eine 'höhere, ordnende, schöpferische - Instanz' zu verweisen. Dieses Modell erlaubt Kant auch, vom Menschen
als 'Bürger zweier Welten' zu sprechen, der Teil der Natur/Wirklichkeit ist und ihren Gesetzen
unterworfen und zugleich der Freiheit und Moral fähig und für sein Tun selbst verantwortlich ist.
In unserem Modell entspricht das in etwa folgendem Bild:




13
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