begründen, verstehen, beurteilen – Argumentation, Hermeneutik und Kritik als Methoden wissenschaftlichen Arbeitens 190170 VO, UE - Grundlagen: philosophische Methoden, 2.2.3 [21b2] laut Studienplan Pädagogik 2002 (2 Std.) Lehrveranstaltungsleiter: Mag. Martin Steger /TutorInnen: Emanuel Frass, Claudia Gusenbauer, Angela Janssen, Marlis Stöckl Donnerstag, 9.00 - 11.00, HS C1 Campus 4. Termin 09.11.06: Wissenschaft und Wahrheit Formalia: Wir kennen das leidige Problem der richtigen Planung von Lvs (Angebot, Raum, etc....), nachdem was bei uns passiert ist. Die Studienprogrammleitung versucht daher durch eine Umfrage des Bedarfes die Planbarkeit zu erhöhen. Ich habe dazu folgende Mitteilung erhalten: Sehr geehrte Lehrende, um das Lehr- und Betreuungsangebot für die nächsten Semester planen zu können, benötigt die Studienprogrammleitung Informationen. Um diese zu erhalten, hat die Studienprogrammleitung eine Umfrage gestartet, die bis zum 19. November 2006 abgeschlossen sein soll. Bitte informieren Sie die Studierenden Ihrer Lehrveranstaltungen darüber! Bitten Sie die Studierenden, den elektronischen Fragebogen zu beantworten, der unter folgender Adresse aufrufbar ist: http://lerndorf.erz.univie.ac.at/umfragen Teilen Sie den Studierenden bitte mit, dass sie nähere Informationen auf der SPL-Seite unserer homepage im Abschnitt "Diplomstudium" finden: ["Aktuelle Mitteilungen der Studienprogrammleitung"] Ich bitte Sie in meinem und rate Ihnen in Ihrem Eigeninteresse, 5 Minuten zu investieren, um Ihr Studienangebot zu verbessern. Viel besser können Sie die nicht investieren. Teilnahme: bis Samstag letzte Gelegenheit der Ummeldung, Sonntag mache ich die neue Teilnehmerliste, die dort Eingetragenen erhalten jedenfalls ein Zeugnis. Gruppenbildung: ist heute abgeschlossen, er gilt wie oben: Bis Sa können Sie mir noch Ihre Gruppenzusammenstellung schicken – es ist natürlich immer besser, wenn man sich selbst zu Gruppen zusammeschließt. Sie können gerne auch das Diskussionsforum zur Gruppenfindung nutzen – was ja einige schon getan haben. Am So mit der neuen Liste behalte ich mir vor, den Rest der TeilnehmerInnen einzuteilen. 1 Bitte kontrollieren Sie danach noch einmal, ob Sie in der richtigen Gruppe auf der Liste stehen und die Daten stimmen! Und dann hoffe ich, dass wir all diese formalen Probleme hinter uns haben und uns endlich in Ruhe auf unsere Arbeit und die Inhalte konzentrieren können: Inhalte: Sie werden sich vielleicht erinnern können: Ich habe Ihnen eine Denkbewegung angekündigt, die sich vom Sprechen zur Wissenschaftstheorie und weiter zu Argumentation und Hermeneutik bewegt - Wie es sich für philosophische Methoden gehört, möchte ich ganz beim Grundsätzlichen und mit einer Frage beginnen – und die lautet – wenig originell: Was ist Wissenschaft? Tatsächlich steht Wissenschaft mit der zunehmenden Ausdifferenzierung und Selbstbezüglichkeit ihrer Teilbereiche (Disziplinen) immer mehr vor dem Problem, selbst kaum mehr angeben zu können, was denn das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Bereiche sei, was also Wissenschaft ausmache. Selbst wissenschaftstheoretische Werke verweigern immer öfter den Versuch einer Definition von Wissenschaft: Chalmers 19994 Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, S. 166: "In diesem Licht erscheint der Titel des Buches irreführend und anmaßend. Er setzt voraus, dass es eine einzige Kategorie 'Wissenschaft' gibt und impliziert, dass unterschiedliche Gebiete der Erkenntnis wie Physik, Biologie, Geschichte, Soziologie usw. entweder unter diese Kategorie fallen oder nicht. Ich weiß nicht wie solch eine allgemeine Charakterisierung von Wissenschaft etabliert oder verteidigt werden könnte." Balzer: Die Wissenschaft und ihre Methoden. Grundsätze der Wissenschaftstheorie 1997, S. 11: "Eine allgemeine Abgrenzung des 'Systems' Wissenschaft ist schwierig und wird hier nicht versucht, obwohl sich in einigen speziellen Fällen, wie etwa bei den Universitätsprofessoren und ihren Vorlesungen, leicht entscheiden lässt, ob eine Person oder eine ihrer Handlungen zu dem System gehört oder nicht." Ein Standardwerk der Wissenschaftstheorie, das ich empfehlen möchte – Helmut Seifferts 'Einführung in die Wissenschaftstheorie' in vier Bänden – verzichtet überhaupt - stillschweigend auf einen Definitionsversuch. Was macht man in so einem Fall? Man behilft sich mit einer Arbeitsdefinition: 2 Wenn kein Gegenstand substanziell in seinem Sein definierbar ist – also was er ist – dann kann man als 'Rückzugsposition' o beschreiben, wie etwas funktioniert – funktionale Definitionen über das 'Tun'/die Funktion, nicht über das 'Sein'/die Eigenschaft o dieses etwas als System beschreiben, dh. nicht 'rundum' definieren, sondern je und je feststellen, ob etwas dem Beschriebenen zugehörig ist oder nicht. Der Begriff des Systems ist ein Modebegriff geworden und leistet auch tatsächlich für derartige Sachverhalte einiges. Der Begriff System grenzt sich – vor allem in systemtheoretischer Wortbedeutung von gegenständlichen Denkmustern ab – wenn wir von Systemen sprechen, haben wir somit kein 'Ding' mit festgelegten Außengrenzen (de-finierbar) vor uns, sondern einen selbstbezüglichen Komplex von Beziehungen, Relationen und Menschen als Träger dieser Relationen, der sich je und je durch eine Unterscheidung abgrenzt, punktuell ein Innen und Außen bestimmt, indem er einen Unterschied macht. Wenn man sich nun angesichts der angesprochenen Probleme darauf beschränkt, Wissenschaft in größtmöglicher Allgemeinheit und ohne den Versuch einer definitorischen Abgrenzung als ein System der Produktion, Sammlung und Ordnung von Wissen zu beschreiben, reicht man das Problem zunächst bloß weiter: Es stellt sich die nächste Frage: Was ist im wissenschaftlichen Sinn Wissen? Wodurch unterscheidet es sich von Alltagserfahrung, Offenbarungswissen, pseudowissenschaftlichen Theorien und Doktrinen, die ebenso beanspruchen, geglaubt zu werden? Hier haben wir uns mit einer knapp 2500 Jahre alten Beschreibung beholfen – sie stammt von Platon (427-347 v.Chr): "Wahrer Glaube ergibt erst durch Aufweisen seiner Begründung Wissen" (Platon: Theatet 201d. Nach: Follesdal 1988, S. 41) Was heißt das? o Ich glaube etwas, habe eine Meinung o Ich beanspruche Wahrheit o Ich begründe daher o Wenn meine Begründung 'hält', kann ich von Wissen sprechen 3 Nach diesem Verständnis besteht Wissen aus wahren Sätzen, die geglaubt werden und für deren Richtigkeit gute Gründe angeboten werden: Diese Definition von Platon ist über 2000 Jahre alt – sie ist aber heute so unbestritten wie eh und je – und sie hat einen auch rhetorischen Vorteil: In ihrer Formulierung zeigt sie die prinzipielle Nähe zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Sprechen auf: Der Vorgang ist uns aus dem Alltag vertraut: Wir glauben etwas, sprechen es aus und wenn unser Gegenüber uns nicht glaubt, bieten wir ihm Gründe, uns zu glauben – wir belegen unseren Glauben durch Beispiele aus dem Alltag, durch einen Schluss aus gemeinsam Geglaubten oder wir versuchen zumindest, seine Gegenmeinung zu entkräften. Wenn wir uns nicht durchsetzen, ziehen wir uns auf unsere Meinung zurück, die dann unentschieden neben der Gegenmeinung steht, nehmen Anspruch zurück, behaupten nur mehr die Hälfte, machen Kompromisse,– oder wir lassen uns sogar von einer anderen Meinung überzeugen. Der prinzipiell selbe Vorgang – die selbe 'Sprechstrategie' - findet im wissenschaftlichen Sprechen statt, es ist genau so ein Diskurs, ein Meinungsaustausch – mit einem Unterschied: Wir beschäftigen uns mit Sätzen, die wir glauben – und von denen wir noch dazu prinzipiell behaupten, dass sie für alle gültig sind. Diese alle werden sich nicht melden – es geht daher nicht darum, einzelne Einwände zu entkräften, wenn sie vorgebracht werden, sondern vorab alle denkbaren Einwände zu berücksichtigen. Das bringt uns eine oft ein wenig seltsam anmutende Sprache, und einen höheren und prinzipiell vorhandenen Begründungsanteil: 'Die werden es schon schlucken' spielt es nicht in der Wissenschaft - oder sollte es nach oben Gesagtem zumindest nicht tun. Zumeist werden zwei Unterscheidungskriterien für Wissen im wissenschaftlichen Sinn gegenüber anderen Systemen von Glaubenssätzen genannt: Wissen beansprucht eine allgemeine, d.h. hier im Prinzip für jeden gültige Verbindlichkeit einer behaupteten Wahrheit. Darin liegt genau genommen bereits das zweite Kriterium, das aber wichtig genug ist, es explizit hervorzuheben: Diese verbindliche Wahrheit ist im Prinzip durch jeden überprüfbar (wenn auch die Überprüfung angesichts der vorherrschenden disziplinären und innerdisziplinären Spezialisierungen faktisch oft auf einen kleinen Kreis von Experten beschränkt ist). Damit ist auch ein Thema angesprochen, dass sie in den nächsten Semestern noch beschäftigen wird: In unserer Zeit des Subjektivismus werden sie – schon aus Vorsicht - gerne ihre Behauptungen ein wenig abschwächen und auf der Uni von ihrer persönlichen Meinung sprechen: Ich denke, wir haben abgehandelt, wo Meinung ihren Platz hat und wo ihre Grenze: Im Glauben, aber der verlangt seine Begründung und diese hat den Anspruch, nicht bloß subjektiv richtig zu sein, sondern prinzipiell jedes vernünftige Gegenüber zu überzeugen – ihre Meinung ist am Beginn 4 einer Argumentation gefragt, beim Denken, beim Finden von Tatsachenbehauptungen und ihren Gründen, nicht im Behaupten und Begründen selbst. wenn ihre Meinung ihren Mund verlässt, ist sie im wissenschaftlichen Sinn nicht mehr in ihrem Belieben stehend, sie ist Allgemeingut und begründungspflichtig. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht sehr vernünftig ist, in seinem Vorgehen vorsichtig zu sein – im Gegenteil, ich empfehle das sehr. Wie man dabei vorgehen kann, werden wir beim Thema Argumentation besprechen. Fassen wir zusammen: Wissen im wissenschaftlichen Sinn ist ein Glaube an einen Sachverhalt, der Wahrheit beansprucht und damit Gültigkeit für prinzipiell jeden – das ist das schöne Vokabel, das Ihnen wohl bei jeder Methoden-Lv begegnen wird: Allgemeingültigkeit. Für diese Gültigkeit sind sie aber dem potentiellen Gegenüber, das Ihren Glauben ja teilen soll, eine Begründung schuldig. Wir agieren in der Wissenschaft daher prinzipiell in einer im Prinzip für jeden nachvollziehbaren Art und Weise – egal ob wir jetzt forschend/investigativ oder begründend/legitimierend agieren (falls man diese Grenze überhaupt sinnvoll ziehen kann) – d.h. wir agieren methodisch. Derart stehen aber 'wissenschaftliche Methoden' im Zentrum wissenschaftlichen Handelns – als Forschungs- und damit zugleich als Begründungswege, die wahren Glauben als Wissen ausweisen, - sie bilden dementsprechend im Weiteren das Thema dieser Lehrveranstaltung. Damit haben wir im Prinzip schon eine Grundstruktur von Wissenschaft skizziert: Wissenschaft besteht im Kern aus Wahrheitsaussagen (zwischen den Polen von verallgemeinerten Aussagen wie Theorien, Axiome, Hypothesen und konkreten wie Daten) und Verfahren zur Gewinnung und Glaubhaftmachung dieser Aussagen (Methoden). Im methodischen Vorgehen liegt somit der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und anderen Wahrheitssystemen (z.B. Religion). 1. Wahrheitsaussagen Wenn wir derart von Wahrheitsaussagen sprechen, inkludieren wir zweierlei 1. legen wir fest, dass es in der Wissenschaft um Wahrheit geht. als eine der Grundperspektiven des Menschen auf die Welt: 5 Dieses Verhältnis ist in mehreren Perspektiven beschreibbar, wie sie schon in den sogenannten 'Transzendentalien' bzw transzendentalen Prädikationen des Mittelalters ausgedrückt werden: Quodlibet ens est unum, verum, bonum, pulchrum. Wo immer etwas seiend ist, ist es Eines - ein Wahres, ein Gutes, ein Schönes. Transzendentale Prädikationen heißt, das sind prinzipielle Aussagemöglichkeiten – Aussagen, die über jeden gegebenen Anlass hinausreichen: Ich kann nur eine Aussage treffen, wenn ich etwas gegen alles andere (das Chaos der Antike und Kants, die Umwelt der Systemtheorie, das Rauschen der Informationstheorien, ...) abgrenze - es als etwas/als eine Einheit überhaupt erkenne (unum). Über diese Einheit kann ich Aussagen betreffend ihre Wahrheit, ihre Gutheit, ihre Schönheit machen. That's it. In der Wissenschaft machen wir Aussagen, die die Wahrheit betreffen – das ist unser Spielfeld. ist wahr Etwas (in der Welt) ist eins ist gut [ist schön] Auf philosophischer Ebene besprechen wir Wahres in der Erkenntnistheorie (Epistemologie), Gutes in der Ethik, Schönes in der Ästhetik. Gutes und Schönes sind somit an sich auch nicht Thema der Wissenschaft – es sei denn, ich behandle sie unter Wahrheitsbedingungen - wenn also der Anspruch erhoben wird, dass das, was als gut und schön behauptet wird, für alle stimmen muss! Indem ich in einer Aussage Allgemeingültigkeit beanspruche, beanspruche ich Wahrheit und bin eine Begründung schuldig, die mein Gegenüber beurteilen kann. Aussagen über mich (expressive Aussagen) Dieses Bild gefällt mir. werden zu Aussagen über die Welt, wenn das, was ich über mich sage, für alle gelten soll: Dieses Bild ist schön,... Damit bin ich eine Begründung schuldig, weil ich nicht nur mein Gefühl erzähle, sondern eine allgemeine Qualität behaupte: ... weil die Farbkomposition so ausbalanciert ist. Das selbe gilt für normative Aussagen ( Es ist gut, dass ich meine Mutter pflege Es ist (für jeden) gut, seine Mutter zu pflegen) 6 Das Gute und das Schöne werden in der Wissenschaft dort behandelt, wo sie mit Wahrheitsanspruch formuliert werden – es handelt sich somit um perspektivische Dimensionen auf die Welt mit gemeinsamen Schnittflächen Umgekehrt formuliert: Wissenschaft wird auf philosophischer Ebene durch Erkenntnistheorie gestützt. Wir werden das im Folgenden mitdenken – extrem reduziert auf ein Grundverhältnis Mensch Welt. wahr In der Wissenschaft thematisieren wir das Grundverhältnis Mensch-Welt unter der Perspektive der Wahrheit(sfähigkeit). 2. tun wir so, als wüsste die Wissenschaft, was Wahrheit sei. Was aber ist Wahrheit? Wahrheitstheorien Tatsächlich existiert keine unbestrittene Theorie, was Wahrheit sei. Es lassen sich aber zumindest drei weithin akzeptierte Denkansätze ausmachen, die teilweise in Konkurrenz, teilweise in Ergänzung zueinander stehen. Alle drei sehen Wahrheit als Phänomen einer Metaebene – also als Charakteristikum einer Aussage über etwas, wobei immer Übereinstimmung behauptet wird. Korrespondenztheorien Wahrheit ist Übereinstimmung mit (allen Phänomenen) der Wirklichkeit Kohärenztheorien Wahrheit ist Übereinstimmung mit (allen) anderen Aussagen Konsenstheorien Wahrheit ist Übereinstimmung mit (allen) anderen Personen 7 Anzuraten ist, sie in der 'Praxis' wissenschaftlicher Arbeit als faktisch einander ergänzend zu betrachten, d.h. alle 'Wahrheitsbedingungen' zu beachten, bevor man eine Aussage als wahr zu begründen versucht. Wenn im Folgenden von 'Korrespondenztheorien', 'Kohärenztheorien' und 'Konsenstheorien' - also in die Mehrzahl gesetzt – die Rede ist, dann deswegen, weil damit durchaus unterschiedliche Theorien in verschiedensten Kontexten angesprochen sind, die jeweils einen Grundgedanken – das jeweilige Bild von 'Wahrheit' - gemeinsam haben. Wir wollen uns jetzt diese 3 Theorietypen näher anschauen – in einem Modell der historischen Entwicklung erkenntnistheoretischer Theorien – extrem vereinfacht auf 2 Aspekte (Verhältnis Mensch – Welt / Orientierungsfunktion und Bezug auf eine metaphysische 'Ordnung der Dinge'). Wir haben im ersten Schritt die Eingebundenheit des Menschen auf ein Grundverhältns das Verhältnis Mensch Welt – unter der Perspektive der Wahrheit reduziert. wahr In seiner Grundfigur betrachtet dabei der Mensch die Welt/die Wirklichkeit und sagt etwas darüber aus, wofür er Wahrheit beansprucht: der korrespondenztheoretische Ansatz. Korrespondenztheorien Korrespondenztheorien der Wahrheit besagen im Kern nichts anderes, als dass Wahrheit die Übereinstimmung des Ausgesagten mit der Wirklichkeit (des Verstandes mit der Sache) sei. Sie entsprechen damit dem Alltagsverständnis von Wahrheit und sind auch im Bereich der Wissenschaft von Beginn an - zumindest seit Platon und Aristoteles – dominierend. In weiten Bereichen werden sie bis heute völlig unproblematisch verwendet. Auf dieser Ebene von Beobachtungssätzen ist der Anspruch auf Verbindlichkeit und damit auch auf Vermittelbarkeit der Evidenz zumeist kein Problem. z.B.: Das ist eine Semmel Evidenz (Offensichtlichkeit) zielt auf die fraglose Übereinstimmung der Sinneseindrücke / Daten (und hat damit konsenstheoretische Aspekte) – jeder sieht die Semmel. Mit zunehmendem Abstraktionsgrad kann eine derartige Einsicht jedoch immer weniger vorausgesetzt werden. Es bedarf dann mehrerer Vermittlungsebenen an Daten und Beobachtungssätzen, um Übereinstimmung mit Wirklichkeit zu behaupten – an die Stelle von Evidenz treten (standardisierte) Prüfungsverfahren auf Basis von Übereinkunft. z.B.: E=mc² 8 Wir nähern uns damit sukzessive einer nur mehr von Experten tatsächlich prüfbaren Wahrheit – aber das ist lediglich ein pragmatisches Problem. Das prinzipielle Problem der Korrespondenztheorien beginnt eben dort, wo keine – wenn auch abstrahierte - direkte Beziehung zu Wirklichkeit behauptet wird. Offensichtlich werden die Probleme etwa bei antinomischen (in sich widersprüchlichen, paradoxen) Sätzen wie dem bekannten: 'Dieser Satz ist falsch' Was passiert hier? Sätze wie die oben genannten sind selbstbezüglich und beruhen damit darauf, dass wir auf verschiedenen 'Metaebenen' über die Welt sprechen – durch die wechselseitige Verschränkung von Mensch und Welt können wir das formal richtig sogar innerhalb eines Satzes: zB Ich lüge ein paradoxer (d.h. der Satz bezieht sich auf sich selbst und verneint sich dabei) und performativer (d.h. das beschreibend, was man gerade tut, z.B.: Ich begrüße dich) Satz. Hier kollidieren Bezugesebenen der Sprache. Um sie aufzulösen, benötigt man - im Modell der Korrespondenztheorie - ein Bündel von Theoriegebäuden für diese unterschiedlichen Ebenen neben der besagten Theorie über die Wirklichkeit, etwa - eine Vorstellung/Theorie über das Bewusstsein und die Form, wie Gegenstände der Wirklichkeit darin repräsentiert sind - eine Theorie über Sprache als vermittelnder Instanz, die etwa zwischen Objektebene (Satz über einen Gegenstand) und Metaebenen (Sätze über Sätze über Sätze etc.) unterscheiden kann, um derartige Abstraktionsprobleme zu bewältigen, - eine Theorie über die Art des Verhältnisses von Wirklichkeit, Bewusstsein und Sprache zueinander, um für hochabstrakte Sätze eine Korrespondenz mit der Wirklichkeit zu behaupten. Die Sätze selbst sind dadurch immer noch nicht bewiesen und der Grundgedanke des repräsentativen Zusammenhangs von Wirklichkeit und dem Bewusstsein darüber wird im Extremfall ad absurdum geführt. Korrepondenztheorien in klassischer Form haben somit schlicht eine eingeschränkte 'Reichweite', sie sind letztlich angewiesen auf sinnlich/empirisch fassbare Phänomene. Sätze wie dieser zeigen, dass ein direkte Entsprechung eines Satzes in der Wirklichkeit – eine 'Korrespondenz' - kaum prinzipiell angenommen werden kann, sobald die Ebene evidenter Wirklichkeitsaussagen verlassen wird. 9 In unserem Modell zeigt sich als dahinter liegendes Problem, dass die direkte Relation, wie wir sie aufgezeichnet haben, nicht ausreicht: Der Mensch ist Teil der von ihm betrachteten Welt und durch seine Reflexivität und Expressivität 'trägt er diese Welt auch in sich' und schafft sie mit: So entstehen Paradoxien – in der Verneinung - oder Tautologien – in der Bejahung (die dann inhaltsleer werden, weil sie sich nur selbst aussagen). Ein Problem der Zirkularität: Diese gedankliche Rückkoppelungsschleife finden Sie unter verschiedenen Namen in unterschiedlichsten Theoriegebäuden: die Reflexivität des Idealismus, der Zirkel der Hermeneutik, die Selbstreferenz der Systemtheorie, die Kybernetik als soche ua. verweisen auf das selbe Gedankenbild (allerdings in teilweise extrem unterschiedlichen Theoriekontexten: also bitte nicht einfach gleichsetzen). Diese Problemlage ist in Wirklichkeit nicht neu – sie war schon den Griechen bekannt (das 'KreterParadoxon': Alle Kreter lügen – sagt der Kreter). Allerdings betraf es die Griechen in anderer Weise als uns: Wissenschaft als eine 'Praxis', eine Lebens- und Handlungsform des Menschen verstanden (vgl. etwa Buck)– nämlich als Teil des Verhältnisses Mensch-Welt unter der Perspektive der Wahrheitsfähigkeit – war selbstverständlich eingebettet in die allgemeine Weltvorstellung/-orientierung. Diese beruhte auf der religiös gestützten Annahme einer feststehenden, ‘natürlichen’ Ordnung des 'Kosmos', deren Teil Mensch und Welt sind. Wenn also die Welt nicht immer erkennbar ist, kann man die kosmischen Prinzipien auch 'innerhalb' des Menschen annehmen– und weiter auf die Welt schließen. In der Vorstellung der Griechen waren diese 'Ideale' (das 'Schöne an sich',..) sogar unverfälschter als ihr materielles, unvollkommenes Abbild in der Welt. Dementsprechend können auch Aussagen, die kohärent – in sich stimmig – sind, als wahr (der Idee als Muster der Welt entsprechend) angenommen werden – eine kohärenztheoretische Vorstellung, allerdings noch auf 'Technischer Ebene', denn diese 'innere Ordnung' wird nach wie vor von außen – einer mythologisierten Welt – garantiert. Diese Vorstellung wurde problemlos ins Mittelalter mit übernommen – man sieht hier, warum sich 'heidnische' Philosophen – vor allem Aristoteles – im Christentum so halten konnten – der Kosmos bekam einfach einen neuen Namen: Gott; der 'Kosmos' fand seine Entsprechung in einer Gottesvorstellung, die die irdische Welt als Schein und vorläufig ansah und das 'himmlische Reich' als das wahrhaft Reale, das die Ordnung der Dinge auf Erden garantierte (Realismus im Mittelalter). 10 Kohärenztheorien In Kohärenztheorien bildet die innere Stimmigkeit von Aussagen und Aussagesystemen das Kriterium der Wahrheit. Eine Annahme gilt dann als wahr, wenn sie sich in ein kohärentes (zusammenhängendes) und umfassendes Gefüge von Aussagen einfügt. Sie findet ebenfalls im Alltagsverständnis seine Entsprechung, indem etwa eine Aussage, die nicht mit den bisherigen Aussagen des Sprechers übereinstimmt, für unwahr gehalten wird. Kohärenz kann in verschiedenen 'Graden' angenommen werden: Zunächst ist damit die Konsistenz, d.h. die innere Widerspruchsfreiheit von Aussagesystemen angesprochen. Das bedeutet etwa auf Ebene von Argumenten, dass einander die Vorannahmen und Schlussfolgerungen nicht widersprechen, aber auch weiter, dass etwa implizite Argumentationsvoraussetzungen Gegenstandsbereich her sowie in dem und darin Begriffsbestimmungen enthaltenen von Wissenschaftsverständnis ihrem und Menschenbild der expliziten Argumentation entsprechen. z.B. kann man inkonsistent argumentieren, wenn man Alfred Adlers Individualpsychologie interpretiert und dabei den Begriff des Unbewussten mit einem Zitat von Sigmund Freud libidinös bestimmt; oder wenn man in der Diskussion von Gruppenphänomenen nicht zwischen psychologischen und soziologischen Argumenten unterscheidet. In dieser Kontextabhängigkeit von Begriffsbestimmungen und Argumentationsvoraussetzungen ist bereits eine weitere, stärkere Interpretation von Kohärenz angesprochen: Als Konsequenz der Forderung nach innerer Stimmigkeit kann nämlich angenommen werden, dass eine Theorie umso eher Wahrheit beanspruchen kann, je besser sie mit einer möglichst kleinen Zahl von zentralen Begriffen und Axiomen - das sind die zumeist hochabstrakten Anfangssätze (Gesetze) einer deduktiven Argumentationskette - auskommt, von denen sich alle anderen Sätze ableiten lassen, bzw. mit einer kleinen Anzahl von Beobachtungssätzen, auf die sich die übrigen beziehen. In diesem Verständnis gilt eine Theorie oder ein Argument als überlegen, das den selben Sachverhalt mit weniger Prämissen oder Basisannahmen erklären kann als ein(e) andere(s). z.B. sprach für Kopernikus These, dass sich die Erde um die Sonne drehe, zunächst nur, dass er die selben Berechnungen einfacher durchführen konnte als die vorherrschende geozentrische Theorie des antiken Ptolomäus. Die Kohärenztheorien liefern in der Stimmigkeit ein Beurteilungskriterium für Aussagen, deren Wahrheit nicht per se evident ist. Sie ergänzen und konkurrieren derart die Übereinstimmung mit der (sinnlichen) Erfahrung als Kriterium der Korrespondenztheorien. Kritisiert wird an ihnen, 11 - dass sie in ihren Konsequenzen selbst inkonsistent sind. Sie benötigen letztlich ein einziges umfassendes System von kohärenten Annahmen, das anstelle der Wirklichkeit das Bezugssystem für Wahrheit bildet. Ein solches System ist aber nicht in Sicht und auch nicht vorstellbar: Wir kämen letztlich auf die Allegorie der Kartographen bei Borges und Baudrillard, die eine so detaillierte Karte des REICHES erstellen, das Karte und Territorium schliesslich zur Deckung kommen. Wir hätten somit eine Beschreibung der Welt, die selbst ein Welt darstellt – über die wir dann auf der Metaebene sprechen würden bis wir eine Beschreibung hätten .... ad infinitum. Daher sind einander entgegegesetzte – oder bezuglose - Annahmen vorstellbar (und existent), die sich in verschiedene, wissenschaftlich anerkannte Aussagesysteme fügen und daher beide zugleich als wahr gelten können. - dass sie andererseits das Risiko bergen, dass vorherrschende wissenschaftliche Schulen und Denkrichtungen gestützt auf ein kohärentes Aussage- und Begriffssystem quer über unterschiedlichste Disziplinen Wahrheit für ihren theoretischen Ansatz beanspruchen und andere davon ausschließen - Wissenschaftliche Wahrheit kann derart zu 'Wahrheiten der Schulen' degradiert werden. z.B. wenn Forschungsansätze, die nicht auf dem Falsifikationsprinzip Poppers beruhen, als 'streng genommen nicht wissenschaftlich' bezeichnet werden. - Zudem kann ich Kohärenz nicht von Beginn an alternativ zu Korrespondenz einsetzen – ohne Inhalte ist Kohärenz leer, ich brauche zunächst einen Wirklichkeitsbezug, von dem weg ich dann ableiten kann. - Dementsprechend wird an Kohärenztheorien auch kritisiert, dass sie Wahrheit mit Indizien für die Wahrheit verwechseln: Kohärenz der Aussagen deute auf Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorien - nämlich als Übereinstimmung mit der einen Wirklichkeit - bloß hin und sei mit ihr nicht gleichzusetzen. Zurück zu unserer historischen Betrachtung: Ihren Höhepunkt erreichen Kohärenztheorien in Humanismus und Aufklärung. Warum? In der Neuzeit und der Aufklärung wurden die Vorstellungen der äußeren, 'übergeordneten' Ordnung der Antike und des Mittelalters zunehmend unhaltbar: Die humanistische Hinwendung zum Menschen verlangte eine 'Fundierung der Erkenntnis von Welt' im Menschen selbst. Rene Descartes berühmtes 'Cogito ergo sum' versucht eben das: Wenn ich vom Menschen ausgehe – wie weiß ich, dass ich all das, was ich erlebe (und mich selbst) nicht einfach träume? 12 Wer garantiert mir die Wirklichkeit? Muss das eine äußere Instanz sein oder kann ich aus mir selbst sicher sein, zu existieren? Descartes findet den Fixpunkt im menschlichen Denken: Wenn ich träume zu reiten, muss das Pferd nicht existieren, wenn ich mir vorstelle, zu essen, muss es das Essen nicht geben – aber selbst die Vorstellung, der Traum zu denken ist schon ein Gedanke. Meines Denkens bin ich mir sicher, mein Denken über mich garantiert mir, dass ich bin: 'Cogito ergo sum'. Auf Descartes aufbauend etabliert Immanuel Kant mit seiner ‘kopernikanischen’ Wende in der Philosophie ein 'neues' Erkenntnisprinzip: von Erkenntnis des regelhaft Bestehenden zu regelhafter Erkenntnis des Bestehenden. Damit wird Kohärenz vom ergänzenden zum alternativen Wahrheitskriterium. Immanuel Kant lehnt die Grundüberlegung der Korrespondenztheorie - die direkte Entsprechung von Erkenntnis und Wirklichkeit – erstmals prinzipiell ab: in seinem erkenntnistheoretischen Grundgedanken, dass man nie sagen könne, was wirklich sei, sondern immer nur, was der Mensch fähig sei, als wirklich zu erkennen (mit seiner Form der Sinne, der Vernunft etc.): "Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von all dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts als unsere Art, sie wahrzunehmen." (Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft.- Frankfurt am Main: Suhrkamp 199011, §8/I, S. 87) Wie die Wirklichkeit an sich ist, können wir nicht erfahren, weil sie uns nicht unvermittelt gegeben ist – sondern nur vermittelt durch unsere Erkenntnisfähigkeiten (Sinne und Vernunft). Wahrheit ist möglich, weil diese Fähigkeiten bei uns allen gleich sind (der Titel der 'Kritik der reinen Vernunft' verweist auch auf die Vorstellung Kants der im Prinzip gleichen, nur unterschiedlich 'aufgeklärten', klaren, 'gesäuberten', von individuellen Erfahrungen unabhängigen, weil formalisierten Vernunft). Wahrheit ist hier wieder eine 'kohärente', basierend auf der inneren Übereinstimmung und Widerspruchsfreiheiheit (der Gesetzmäßigkeit) von Aussagen. Kant zieht mit unserer Erkenntnisfähigkeit einen 'Filter' zwischen der Welt und dem Menschen ein – ein Theoriegebäude, das uns erlaubt, von Wissen zu sprechen, ohne letztlich auf eine 'höhere, ordnende, schöpferische - Instanz' zu verweisen. Dieses Modell erlaubt Kant auch, vom Menschen als 'Bürger zweier Welten' zu sprechen, der Teil der Natur/Wirklichkeit ist und ihren Gesetzen unterworfen und zugleich der Freiheit und Moral fähig und für sein Tun selbst verantwortlich ist. In unserem Modell entspricht das in etwa folgendem Bild: 13