Predigtreihe „Die Wahrheit wird euch freimachen“ 07. August 2005 - Uwe Michelsen Thema: Absolutheitsanspruch und Stückwerk der Erkenntnis Predigttext: 1. Korinther 13, 9-12 Glaube zwischen Gewalt und Toleranz – darum geht es in der diesjährigen Predigtreihe. Und das ist auch Teil der Spannung, um die es heute in dieser Predigt gehen soll: Glaube und Toleranz. Wie wahr ist unser Glaube? Haben wir als evangelische Christen die einzige und vollkommene Wahrheit? Gibt es einen so genannten Absolutheitsanspruch nach dem Motto „wir haben die volle und alleinige religiöse Wahrheit – alle anderen haben nur Teilerkenntnisse und sind auf dem Holzweg“ ? Liebe Gemeinde, wir wissen, dass in vielen Auseinandersetzungen darüber die Menschen gestritten haben – manchmal bis aufs Blut! Kriege im Namen Gottes, im Namen einer bestimmten Konfession, ziehen sich durch unsere ganze Geschichte. Auf den Bannern der Soldaten: Kreuz und Halbmond – Papst und Luther. Eine unendliche traurige Geschichte. - Wir denken an den 30jährigen Krieg, der vor knapp 400 Jahren ausbrach und die Trennung zwischen Katholiken und Protestanten vor unserer Haustür manifestierte; - Wir denken an die bis heute immer wieder aufflackernden Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken in Irland. - Wir denken natürlich an die schreckliche Welle der Gewalt islamistischer Terroristen, die im Namen Allahs - so behaupten sie trotzig – mit Selbstmordattentaten die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzen. Djihad – so lautet das Stichwort, das aller Welt den Atem verschlägt. In welcher Welt leben wir eigentlich, da die Frommen vor den Frommen in Angst leben müssen? Unsere vermeintlich religionslose Welt lebt in Gegensätzen. Auf der einen Seite verzeichnen wir ja tatsächlich seit Jahren und Jahrzehnten einen Abschied von der Religion. Es ist alles andere als selbstverständlich, religiös zu sein, sich zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft aus vollem Herzen zu bekennen. Die Säkularisation hat – nicht nur in unserer Stadt Hamburg – überall Fuß gefasst. Die Sache mit Gott scheint mehr oder weniger Privatangelegenheit, quasi das Hobby weniger geworden zu sein. Auf der anderen Seite erleben wir einen ungeheuren Anstieg des Fundamentalismus. Dies ist nicht nur zu beobachten bei den muslimischen Gläubigen, dies ist ein Trend, den wir ebenso bei jüdischen und christlichen Gruppen beobachten können. Fundamentalisten sind Menschen, die ihrer Sache meist 100%ig sicher sind. Fundamentalisten lassen neben ihrer eigenen religiösen Überzeugung nichts anderes gelten. Fundamentalisten zeichnen sich aus durch Unduldsamkeit und Aggressionsbereitschaft. Toleranz ist für sie eine Haltung der Schwäche. Der Glaubenseifer verdeckt die Zweifel und das Suchen nach der Erkenntnis. Immer wenn Fundamentalismus sich durchsetzt – egal ob im politischen oder religiösen Bereich – besteht die Gefahr der Gewalt gegen Andersdenkende, Andersgläubige. Fundamentalismus ist oft die Ursache von Konflikten und Gewaltanwendung. Das kann ja eigentlich nicht der Sinn der Botschaft Jesu sein, dass die Menschheit sich auf ihrem Weg der Wahrheitssuche das Leben gegenseitig zur Hölle macht, das Schwert oder die scharfe verletzende Zunge gegen sich erhebt. Wir sind doch eine Menschheit. Wir sind doch alle miteinander Bewohner dieser einen Erde. Wir sind doch alle Geschöpfe Gottes. Miteinander leben können wir nur im Frieden, wenn wir aufeinander hören und auch die Meinung und den Glauben des anderen nicht von vornherein als unsinnig und falsch abqualifizieren, in den Schmutz ziehen und verteufeln. Gotthold Ephraim Lessing – einer der ganz großen deutschen Dichter – hat zur Zeit der so genannten Aufklärung 1779 diesen Gedanken der religiösen Toleranz in dem Schauspiel „Nathan der Weise“ ein Denkmal gesetzt. Nathan – ein weiser jüdischer Gelehrter – erzählt die heute weltberühmte Ringparabel (wir haben sie als Lesung soeben gehört), deren Sinn darin besteht, dass sich die drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – dem selben liebenden Vater verdanken. Damals war ein solcher Gedanke skandalös. Die Theologen schwiegen Lessing tot. Die Fakultäten setzten sich mit dieser Art ökumenischer Theologie gar nicht erst auseinander. Der Rat der Stadt Frankfurt a. M. untersagte wegen des „skandalösesten Inhalts in Rücksicht der Religion“ den Verkauf dieses „dramatischen Gedichtes“. Zensur! Aus heutiger Sicht können wir eine solche Überreaktion kaum nachvollziehen. Denn ohne Frage ist Lessing mit diesem Theaterstück ein bis heute gültiges Meisterwerk gelungen. Eine Sternstunde der Literatur und Religionsgeschichte. Damals hatten die Theologen große Angst vor einer solchen toleranten liberalen Auffassung. So hat Lessing ja immerhin den Alleingeltungsanspruch der christlichen Religion vor dem Islam und dem Judentum in Frage gestellt und sich über viele Jahre öffentlich mit dem damaligen Hauptpastor von St. Katharinen, dem lutherischen orthodoxen Pastor Götze gestritten. (Heute hängen die Porträts der damaligen Kontrahenten friedlich in St. Katharinen nebeneinander!) Wer hat nun recht? Lessing mit seinem leidenschaftlichen Plädoyer für Toleranz zwischen den Religionen oder jene Vertreter orthodoxer Theologie, die einen Absolutheitsanspruch ihrer Wahrheit bekennen? In unserem heutigen Predigttext aus dem 1. Korintherbrief sieht Paulus die Sache durchaus liberal und fast modern. Paulus nimmt den Mund wahrhaft nicht voll. Im Blick auf die Qualität seiner Gotteserkenntnis schreibt er der Gemeinde in Korinth: „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.“ Stückwerk ist das Gegenteil der vollkommenen Erkenntnis, des genauen exakten Kennens und Wissens. Im Klartext schreibt Paulus: Über Gott kann ich nur einen Teil aussagen und beschreiben. Ich muss hier sehr bescheiden sein. Ich weiß, dass vieles mir verborgen ist. Mit Stückwerk kann man nicht glänzen. Stückwerk ist immer unvollkommen – das Ganze bleibt einem verschlossen – als Geheimnis, Mysterium und sich erst in der Zukunft – wenn überhaupt – vollständig offenbarend. Ich denke, liebe Gemeinde, dazu gehört Mut, sich freimütig zu bekennen, dass man nur Stückwerk erblicken kann. Das muss gerade einem Theologen, einem Pastor, schwer fallen, der ja von der Gemeinde berufen ist, möglichst klar und rein das Evangelium zu verkündigen. Und nun dieses Wort: der Kronzeuge der christlichen Verkündigung – Paulus – stellt fest, es sei nur Stückwerk, womit er dienen könne. Und dann – wenige Halbsätze später – schreibt er „wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“. Das heißt doch: die eigentliche ganze Wahrheit bleibt mir verborgen. Gott zeigt sich dir immer nur indirekt – nie in seinem ganzen wahren Sein. Ich sehe ihn verschwommen, nehme immer nur Details wahr: aber nie ganz und gar. Wenn ich mit dieser Sicht an die Frage, die uns heute besonders bewegt, herangehe, wie es mit dem Absolutheitsanspruch des Christentums und der Toleranz gegenüber anderen ernsthaften Erkenntnissen aussieht, dann stellt sich Paulus durchaus neben Lessing. Dann könnten wir uns sogar vorstellen, dass Paulus, der ja selbst ein gelehrter jüdischer Lehrer war, dem Nathan der Ringparabel zunickt. Tolerant zu sein heißt ja nicht, dem anderen von vornherein Recht zu geben und sich sofort mit allem, was er sagt, meint und glaubt, zu identifizieren. Gewiss das nicht! Aber Toleranz bedeutet, durchaus die eigene Position als eine subjektive Wahrheit zu erkennen, die mir hilft und einleuchtet, aber nicht unbedingt von jedermann sofort mit zu unterschreiben ist. Wenn ich tolerant bin, gestehe ich dem anderen zunächst einmal zu, dass er für sich einen Lebensweg gefunden hat, der für ihn der richtige ist. Er schaut vielleicht von einem anderen Winkel in den selben Spiegel und entdeckt von Gott andere Züge. Damit bleibt Gott derselbe Gott. Damit bleibt die Wahrheit dieselbe Wahrheit. Es ist halt nur ein anderer Betrachtungswinkel. Einige Beispiele: Derselbe Mensch wird von unterschiedlichen Menschen sehr unterschiedlich wahrgenommen. Eine Person, die mir höchst sympathisch ist, wird von einem anderen als arrogant oder als Stinkstiefel empfunden. Eine Frau, für die ich alles geben würde, ist dem anderen egal. Ein Mann, in den sich eine Frau unsterblich verliebt, ist einer anderen – zum Glück – völlig egal. Eine Landschaft, in der ich mich geborgen und zu Hause fühle, bedeutet einem anderen wenig. Bei all diesen Beispielen wird doch niemand dem anderen abstreiten, dass er für sich Recht hat. So findet jeder seine persönliche Wahrheit; und wir werden doch zugeben, dass er dazu sein gutes Recht hat. Dasselbe Meer – von vielen geliebt – betrachten wir von unterschiedlichen Positionen: für den einen, der am sonnenbeschienenen Badestrand steht, ist es eine herrliche Gelegenheit, sich zu erfrischen und die herrliche salzige Luft einzuatmen. Dasselbe Meer wird von einem anderen Betrachter als graues und stürmisches Element wahrgenommen, weil man seekrank werden kann und die Wellen einem den festen Boden unter den Füßen wegziehen können. Im selben Meer kann man ertrinken und baden. Ist es so nicht auch mit Gott? Kommt es nicht auf die Position des Betrachters an, wie wir ihn wahrnehmen und wie wir das Göttliche – das „ewige Sein“, wie es die Philosophen nennen – in Worte und Bilder fassen? Wenn wir die vielen Aussagen der Bibel – gerade im Alten Testament – über Gott anschauen, dann stellen wir fest, dass Gott selbst sich vehement der Definition entzieht. Er protestiert gegen unsere allzu menschlichen Versuche zu beschreiben, wer er denn sei „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Das ist eine der Kernaussagen – am Anfang der 10 Gebote – über das Göttliche. Bitte keine goldenen Kälber, bitte keine Statuen, bitte nichts Dinghaftes: so fleht dieser Jahwe sein Volk an. Kommt nicht auf die Idee, dass ihr mich in Formen gießt und euch schließlich ausruht in der für ewig gültigen Erkenntnis: So ist Gott. So ist Gott und nicht anders. Basta. Gerade die jüdisch-christliche Theologie weiß, dass sich Gott verbirgt. Eine der entscheidenden Offenbarungsszenen im AT ist die Begegnung des Mose mit Gott im brennenden Dornbusch. Dort am Sinai raunt das Göttliche im verzehrenden Feuer – also einem zerstörerischen Element, in das man tunlichst nicht lange hinein schaut, weil man sonst geblendet wird. Und er spricht auf Befragen des Mose, dass sein Name „Ich bin, der ich bin – ich werde sein, der ich sein werde“ heißt. Also: eigentlich die Verweigerung des Namens. Keine Festlegung, sondern Dynamik, Allgegenwart und universale Macht. Gott verbietet dem Menschen, sich zeichnen und bezeichnen zu lassen. Das Göttliche ist so umfassend, dass es bei jedem menschlichen Versuch, ganz und gar umfasst zu werden, nur einen Bruchteil erkennen lässt. Wir sehen also nur – und da sind wir wieder bei Paulus – Stückwerk. Ich glaube, liebe Gemeinde, dass an dieser göttlichen Wahrheit nicht wir allein als evangelisch-lutherische Christen Teil haben. Es wäre ein zu provinzielles Verständnis, wenn alle anderen Menschen dieser Welt – auch in längst vergangenen Zeiten – nicht auch durch ihren Blick in den Spiegel Teile des Göttlichen erfasst hätten. Die Welt wäre friedvoller, wenn wir alle miteinander ökumenischer wären: also den Glaubensschwestern und –brüdern anderer Konfessionen und Religionen mit weniger Skepsis und mehr Liebe begegnen würden. Paulus schreibt: das wichtigste Erkenntnisprinzip sei die Liebe. Das glaube ich auch. Und das deckt sich mit meiner Erfahrung: Wenn ich im anderen ein von Gott geliebtes Wesen sehe, dann ist eigentlich schon alles gewonnen. Dann werde ich keinen Krieg anzetteln. Jesus hat danach gelebt und Gott war ganz und gar in ihm und mit ihm. Amen.