Was ist Wahrheit - UK

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VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann
WS 02/03
23. Oktober 02
Was ist Wahrheit?
§0
§1
Wahrheit
(1)
ein Ziel der Erkenntnisbemühungen (und nicht Falschheit)
(2)
Wissen impliziert Wahrheit (im Unterschied zur Falschheit)
(3)
Rechtfertigung soll die Wahrheit wahrscheinlich machen
Abgrenzungen
(o)
keine Wahrhaftigkeit, Wahrheitsliebe von Personen
E
Nicht das Ziel der Wissenschaft, sondern eine Tugend von
Wissenschaftlern.
(i)
ontologische Wahrheit
Beispiel: wahre Liebe, wahre Freundschaft, wahre Empfindung, wahre Kunst
usw. (Antike, Mittelalter, Frege)
Dinge, die einem Maßstab (Ideal, Begriff, Gedanken Gottes) entsprechen
E
(ii)
Nicht das Ziel der Wissenschaft
hermeneutische Wahrheit
Heideggers SuZ, § 44
Wahrheit als Erschlossenheit, Unverborgenheit (aletheia)
Jeder kritischen Unterscheidung von richtigen und falschen Urteilen geht ein
Verstehen, eine Präsentation der Dinge voraus.
E
(iii)
Wir wollen Wahrheit und nicht Falschheit
Aristoteles‘ noetische Wahrheit (Met.,  10)
das vernunftmäßige direkte Erfassen von Bedeutungen (?), Gegenständen (?);
wobei es hier keinen Irrtum als Gegensatz zur Wahrheit gibt.
(iv)
propositionale Wahrheit
Eigenschaft von Sätzen, Überzeugungen (Wahrheitswertträger), die einen
semantischen Gehalt von propositionaler Struktur haben (daß etwas so-und-so
ist). Wahr/falsch Differenz (Russell 1912), kritischer Wahrheitsbegriff
Aristoteles Met. Gamma 1011b25:
„Zu sagen (…), das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch,
dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.“
Wenn ich sage, dass der Wein nicht gut ist, wenn er gut ist, oder dass der Wein
gut ist, wenn er nicht gut ist, ist es falsch …
1
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Wenn etwas der Fall ist und ich sage, dass es nicht der Fall ist, oder etwas ist
nicht der Fall und ich sage, dass es der Fall ist, dann sage ich etwas Falsches …
§2
Träger propositionaler Wahrheit (Wahrheitswertträger)
(i)
Aussagesätze
(ii)
Überzeugungen
(Vorstellungen):
Fürwahrhalten
eines
Inhalts
(Erfüllungsrichtung)
(iii)
Propositionen (Gedanken)
(i) und (ii) sind datierbare Vorkommnisse (token) in Raum und Zeit; (iii) abstrakte,
platonische Entitäten.
E i/ii Satz- und Überzeugungstypen (wie ‚Jetzt ist die Nacht‘) haben keinen
bestimmten Wahrheitswert. Der hängt vom jeweiligen Zeitpunkt der Äußerung
ab. (Indexikalität) Wahrheit ist jedoch weder zeit- noch personen- noch
ortsrelativ.
E
„Es ist wahr, dass p“ – damit wird nicht nur eine Aussage über einen deutschen
Satz gemacht, sondern über alle Sätze, die denselben Gehalt haben wie dieser
Satz.
E
Sätze können ihre Bedeutung verändern und damit auch den Wahrheitswert,
der Wahrheitswertträger hat seinen Wahrheitswert aber konstant.
E iii
Platonismus ist ontologisch extravagant (Dinge außerhalb von Raum und Zeit
annehmen zu müssen); außerdem wollen konkrete Personen einen Zugang zur
Wahrheit – es ist nicht klar wie eine nicht-psychologische Entität dabei helfen
soll. (Um Propositionen zu fassen brauchen wir ja wieder Wahrheitsträger ->
Regress!!)
->
Der Wahrheitsträger ist eigentlich der propositionale Gehalt (der einen
eindeutigen und ewigen Wahrheitswert hat): jedoch nicht als abstrakte Entität
(Platonismus Freges), sondern als Gehaltseigenschaft von konkreten Sätze oder
Überzeugungen!
§3
Merkmale der Wahrheit (Adäquatheitsbedingungen)
(1)
eine absolute Eigenschaft (nicht relativ zu Zeit, Ort oder Person)
(2)
sprachübergreifende Eigenschaft (wenn der Wahrheitsbegriff nicht in allen
Sprachen derselbe wäre, dann ließe sich die Bedeutung der Sätze
(Wahrheitsbedingungen) verschiedener Sprachen nicht übersetzen.
(3)
Wahrheit ist extensional
2
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der Wahrheitswert eines Satzes ändert sich nicht, wenn wir koextensionale
Ausdrücke substituieren (aber der Sinn ändert sich)
Bsp.: Der Abendstern ist ein Planet
Abendstern = Morgenstern
Der Morgenstern ist ein Planet
(4)
Die Bedingungen für Wahrheit und Falschheit sind unabhängig vom jeweiligen
Fürwahrhalten (Peirce, Williams: Thinking does not make it so; sonst gäbe es
keine wahr-falsch Differenz oder eine zwischen sein und scheinen)
(5)
Zitattilgungsschema:
„p“ ist wahr gdw. p (notwendig wahr)
§4
Wahrheitskonzeptionen I: Epistemische Wahrheitstheorien (Hegel?, jedenfalls: Peirce,
Blanshard, Verifikationisten: Schlick, Ayer, Putnam II, Dummett): Relativ neu – die
klassische Konzeption ist die Korrespondenztheorie
Unterscheidung:
Natur der Wahrheit (was Wahrheit ist)
Kriterium der Wahrheit (wodurch wir feststellen, entscheiden,
ob ein Satz wahr ist oder nicht)
Epistemische Wahrheitstheorie: Natur und Kriterium der Wahrheit fallen begrifflich in
eins! (impliziert: Notwendigerweise (p ist wahr gdw das Kriterium erfüllt ist)
A1
Ansonsten wäre Wahrheit kriterientranszendent (evidenztranszendent). Wir
könnten keine gerechtfertigten Wahrheitsansprüche erheben. (Skeptizismus)
Blanshard 1939 (Bd. II), S. 268f.
„Wenn man die Natur der Wahrheit auf eine Weise konzipiert und ihren Test
auf eine andere, dann kann man ziemlich sicher sein, dass die beiden früher
oder später auseinander fallen. Am Ende ist der einzige Test, der nicht in die
Irre führt, die spezifische oder charakteristische Natur der Wahrheit selbst.“
Da wir die wahr machenden Tatsachen nur durch das Medium unserer
Vorstellungen kennen, könnten wir unsere Überzeugungen niemals mit den
Tatsachen selbst konfrontieren. (269)
Williams im Sinne von Schlick 1996, S. 148: „Wenn Wahrheit in der
Korrespondenz mit der Wirklichkeit besteht, dann muss es möglich sein, diese
Korrespondenz an manchen Stellen ohne Ableitung oder gar begriffliche
Vermittlung direkt zu erfassen.“
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E1
Wenn die Kriterien und der Natur der Wahrheit nicht identisch sind, dann folgt
nur, dass es möglich ist, dass die Kriterien täuschen. Aber es folgt nicht, dass
die Kriterien unzuverlässig sind oder überhaupt nur einmal täuschen.
E2
Wir können die Tatsachen mit unseren Meinungen vergleichen, weil ja nicht
ausgeschlossen ist, dass diese Tatsachen durch unsere Vorstellungen
zugänglich sind. (Alston)
E3
Wir brauchen aber, um Tatsachen zu erfassen, unsere Meinungen mit ihnen
nicht zu vergleichen (Konfrontation). Es genügt, wenn wir gute Indizien für
Meinungen haben, die wahr (durch Korrespondenz) sind. Ich muss auch nicht,
um Wasser zu erkennen, seine chemische Struktur untersuchen. Wasser =
H2O, aber mein Kriterium muss nicht die chemische Struktur sein. (David)
A2
Andernfalls wäre der Begriff der Wahrheit sinnlos. Wir können ihn nur
verstehen,
wenn
er
durch
Anwendungskriterien
bestimmt
wird.
(Verifikationismus)
A3
Wahrheit ist ein semantischer Grundbegriff, weil Satzbedeutungen nur als
Wahrheitsbedingungen
verstanden
werden
können.
Wenn
Wahrheit
evidenztranszendent ist, dann auch alle Wahrheitsbedingungen einzelner Sätze.
In diesem Fall können wir die Sätze nicht mehr verstehen.
(Kritik am Verifikationismus)
Vorschläge für eine epistemische Analyse der Wahrheit
(1)
Wahrheit = Gegebenheit in der sinnlichen Erfahrung (Phänomenalismus)
(2)
Eine Proposition ist wahr, wenn sie mit einem bestimmten System von
Sätzen/Meinungen kohäriert (Kohärenztheorie der Wahrheit: Blanshard,
Walker/Neurath)
(3)
Wahrheit = worüber Konsens unter den Experten herrscht
(4)
Wahrheit = ideale Verifizierbarkeit, Fluchtpunkt aller Forschung (Peirce,
Putnam, Habermas)
Peirce 2001, S. 206: „Die Auffassung, die dazu bestimmt ist, dass alle Forscher
sie am Ende alle teilen, ist das, was wir mit Wahrheit meinen, und der
Gegenstand dieser Auffassung ist die Realität.“
„Die Auffassung, die sich letztendlich aus der Forschung ergibt, hängt nicht
davon ab, was irgendjemand aktual denkt. Aber die Realität dessen, was
wirklich ist, hängt von der Tatsache ab, an die die Forschung letztendlich,
zumindest wenn sie lange genug durchgeführt wurde, glaubt. (207)
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Schwache Evidenztranszendenz: gegenüber tatsächlichen Kriterien, aber nicht
gegenüber idealen Kriterien (imitiert insofern realistische Theorien)
Einwände gegen die epistemischen Wahrheitstheorien
E1
(gegen (1)-(3))
Tatsächliche sinnliche Gegebenheit, Kohärenz, Konsens sind relativ zum
Zeitpunkt und zu den jeweiligen Personen. (Deshalb werden wir unsere
Meinungen aufgrund dieser Kriterien immer wieder revidieren.) Bei Kohärenz:
wenn es nur um konsistente Propositionenmengen geht, dann ist Wahrheit
vollkommen arbiträr (Neurath – Schlick).Wahrheit ist absolut. Also sind die
Kriterien nicht einmal hinreichend.
E2
(gegen 1-3)
Wenn man allein unsere aktualen Kriterien berücksichtigt, also das, was uns
gerade sinnlich gegeben ist, worüber Konsens besteht oder Korrespondenz,
dann scheint die Annahme sehr plausibel, dass es Wahrheiten gibt, die keinem
dieser
Kriterien
entsprechen.
(transzendente
Wahrheiten
über
die
Vergangenheit: Welches Wetter an diesem Ort vor genau 10.000 Jahren
geherrscht hat) Kriterien sind nicht notwendig!! (aus E1 und E2 ergibt sich: wir
brauchen zumindest eine schwache Evidenztranszendenz der Wahrheit)
E3
Gegen
Kohärenz:
Kohärenz
ist
ein
Zusammenhang
(Implikation,
explanatorisch) zwischen den Meinungen. Impliziert aber mindestens
Konsistenz. Zwei Meinungen sind konsistent, wenn sie zusammen wahr sein
können. (Zirkel Kirkham)
R
Konsistenz muss eben durch formale Axiome (Satz vom Widerspruch)
festgelegt werden. Dann entfällt der Zirkel.
E4
(gegen (4))
Wann genau ist eine Überzeugung „ideal verifizierbar“?
Verdacht: das ist genau dann der Fall, wenn sie durch eine Methode gestützt
wird, die alle Irrtumsmöglichkeiten ausschließt. Doch dann muss Wahrheit
bereits vorausgesetzt werden für die Definition von „idealer Verifizierbarkeit“:
Definitionszirkel!
Habermas: im idealen Diskurs herrscht der zwanglose Zwang des besseren
Arguments (ja, aber wenn das eine prozedurale Bedingung ist, dann ist die
Prozedur nur ideal, wenn sich allein die besseren (verlässlicheren) Argumente
durchsetzen; Zuverlässigkeit wird aber mit Bezug auf Wahrheit definiert).
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E5
Der epistemische Wahrheitsbegriff soll die Kluft zwischen Kriterium und
Natur der Wahrheit überbrücken. Aber das geht nur in Hinblick auf ideale
Kriterien. Die sind jedoch unseren alltäglichen Kriterien gegenüber
transzendent. (Wir können gar nicht beurteilen, ob unsere Meinungen den
idealen Kriterien entsprechen! Skeptizismus droht erneut.) Williams 1996, S.
151.
Peirce 2001, S. 207.
E6
semantischer Einwand
(1)
‚p‘ ist wahr gdw. p
(2)
‚p‘ ist wahr gdw. K (epistemisches Kriterium) erfüllt ist
(Wahrheit ist disquotational)
----------------------------------------------------------------------------------(K)
p gdw. epistemisches Kriterium K erfüllt ist
Wenn (K) notwendig wahr sein soll, dann widerspricht das unserer
semantischen Intuition, dass Sätze über die Welt nicht auf Sätze über unsere
Kriterien reduzierbar sind.
E7
Der
epistemische
Wahrheitsbegriff
scheint
parasitär
gegenüber
dem
realistischen! Bsp. Kohärenz: Was eine Meinung wahr macht ist, dass sie mit
einem Meinungssystem kohäriert. Doch wodurch wird die Aussage, dass diese
Meinung mit einem Meinungssystem kohäriert, wahr gemacht? Entweder
durch das Faktum der Kohärenz. Dann gilt die Kohärenztheorie nicht für die
Wahrheit aller Aussagen. Sie gilt nicht für die Aussagen über Kohärenz
(unreine Kohärenz). Oder Wahrmacher ist wieder nur die Kohärenz dieser
Meinung mit dem Meinungssystem. Vitiöser Regress! (Fumerton 1995)
Tatsachen über das Meinungssystem spielen als Wahrheitskriterium gar keine
Rolle, weil sonst ein realistischer Wahrmacher angenommen wird, dann aber
bleibt Wahrheit vollkommen arbiträr und unbestimmt. (Walker 2001)
Wenn die Wahrheit des Satzes über die epistemischen Kriterien ebenfalls epistemisch
analysiert wird, dann ergibt sich ein Regress.
E8
Primat der Wahrheit gegenüber der Rechtfertigung
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(1)
Erkenntnistheoretische
Rechtfertigung
muss
von
pragmatischer
Rechtfertigung unterschieden werden, weil jemand pragmatisch
gerechtfertigt sein kann, ohne erkenntnistheoretisch gerechtfertigt zu
sein.
Fall:
Jemand ist aufgrund seiner bisherigen (miserablen) Leistungsbilanz
nicht erkenntnistheoretisch gerechtfertigt zu glauben, dass er die
Klausur
besteht.
Er
weiss
aber,
dass
Selbstvertrauen
seine
Erfolgsaussichten verbessert. Er ist also pragmatisch gerechtfertigt zu
glauben, dass er die Klausur besteht.
(2)
Der Unterschied läßt sich so erklären: Rechtfertigung ist instrumentelle
Rationalität. Typen der Rechtfertigung lassen sich nach den Zielen
unterscheiden.
Erkenntnist.
Rechtfertigung:
Wahrheit;
pragmat.
Rechtfertigung: Erfolg.
(3)
Wenn erkenntnistheoretische Rechtfertigung in Hinblick auf die
Wahrheit definiert werden muss, dann kann man mit ihrer Hilfe nicht
Wahrheit definieren (Definitionszirkel!)
Antwort auf die Argumente für den epistemischen Wahrheitsbegriff
R1
Das Problem des Skeptizismus kann nicht einfach definitorisch gelöst werden.
Daraus, dass wir keine hinreichenden Kriterien für die Wahrheit haben, folgt
nicht, dass wir keine guten Kriterien haben!
R2/3
Verstehen von Begriffen und Sätzen muss nicht im Erfassen der
Verifikationsbedingungen
bestehen,
sondern
kann
im
Erfassen
der
Wahrheitsbedingungen bestehen.
§5
Wahrheitskonzeptionen II: Realistische Wahrheitsbegriffe
negative Definition: Wahrheit ist ihrer Natur nach radikal nicht-epistemisch!
(Williams 1996, S. 154)
A)
Deflationismus (Frege, Ramsey, Ayer, Quine, Horwich)
Frege 2003, S. 39f.: „Beachtenswert ist es auch, dass der Satz ‚Ich rieche
Veilchenduft’ doch wohl denselben Inhalt hat wie der Satz ‚Es ist wahr, dass ich
Veilchenduft rieche’. So scheint denn dem Gedanken dadurch nichts hinzugefügt zu
werden, dass ich ihm die Eigenschaft der Wahrheit beilege.“
(i)
Wahrheit ist keine echte Eigenschaft
(ii)
das Wahrheitsprädikat ist dennoch in manchen Fällen nützlich
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(iii)
das Wahrheitsprädikat wird extensional für einzelne Sprachen „wahr-in-S“ in
einer davon unabhängigen Metasprache definiert (Tarski)
(iv)
Im Grunde sagt das Zitattilgungsschema alles über Wahrheit aus, was man
darüber aussagen kann.
M1
ein Minimalismus, der die Vorteile eines realistischen Wahrheitsbegriffes mit
den Vorteilen eines Verzichts auf eine korrespondenztheoretische Definition
der Wahrheit („Korrespondenz zu den Tatsachen“ bleibt mysteriös) verbindet.
M2
Sprachrelativität des Wahrheitsprädikats verhindert semantische Paradoxien
Wenn man das Wahrheitsprädikat für eine Sprache nicht in einer von ihr
unabhängigen Metasprache definiert, entstehen Paradoxien nach dem
folgenden Muster:
(1)
Der Satz (1) ist nicht wahr.
(2)
„Der Satz (1) ist nicht wahr“ ist wahr gdw. der Satz (1) nicht wahr ist.
(Zitattilgung)
(3)
Der Satz (1) = „Der Satz (1) ist nicht wahr“.
(4)
Der Satz (1) ist wahr gdw. der Satz (1) nicht wahr ist. (aus (2) & (3))
=>
Widerspruch!
Die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache beseitigt den
Widerspruch!
(2‘)
„Der Satz (1) ist nicht wahro“ ist wahrm gdw. der Satz (1) nicht wahro
ist.
A
(3‘)
Der Satz (1) = „Der Satz (1) ist nicht wahro“.
(4‘)
Der Satz (1) ist wahrm gdw. der Satz (1) nicht wahro ist.
‚Schnee ist weiss‘ ist wahr gdw. Schnee weiss ist.
Ramsey: Dieser Satz ist nicht nur eine materiale oder notwendige Äquivalenz,
sondern analytisch wahr. (Wir wissen allein aufgrund unseres Verstehens, dass
er wahr ist.) Dann aber sind „‘Schnee ist weiss‘ ist wahr“ und „Schnee ist
weiss“ synonym.
Ramsey 2001, S. 437: „Nehmen wir an, ein Mann glaubt, dass die Erde rund
ist; dann ist seine Überzeugung wahr, weil die Erde rund ist; oder –
verallgemeinernd – wenn er glaubt, dass A B ist, dann ist seine Überzeugung
wahr, wenn A B ist, ansonsten falsch. Ich denke, es ist klar, dass wir in diesem
letzten Satz die Bedeutung von Wahrheit erklärt haben.“
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Einwände gegen den Deflationismus
E1
Wenn – wie die Redundanztheorie sagt – das Wahrheitsprädikat überflüssig ist,
warum haben wir es dann überhaupt?
R
Deflationismus: Auch wenn das Prädikat keine echte Eigenschaft bezeichnet,
ist es dennoch ein nützliches Instrument,
(i) um über die Welt zu reden, wenn uns der Inhalt der Aussage nicht bekannt
ist (Was Caesar als letztes sagte, war wahr)
(ii) um umständliche Auzählungen abzukürzen (Alles, was Caesar sagte, ist
wahr). (Ramsey)
E2
A ist ungültig!
Daraus, dass eine Äquivalenz analytisch ist, folgt nicht, dass beide Seiten
synonym sind.
G-Bsp.: Ein allwissendes Wesen würde wissen, dass Zucker süß ist gdw. Zucker süß
ist.
(i)
eine wahre Äquivalenz
(ii)
der Satz ist analytisch, weil wir seine Wahrheit allein aufgrund unseres
Verstehens erfassen
(iii)
die beiden Seiten der Äquivalenz sind nicht synonym, weil links etwas
über viel mehr Dinge ausgesagt wird als rechts.
(Alston 1996)
E3
Man kann den Deflationismus als These über Sätze oder Propositionen
auffassen:
(1)
Der Satz ‚p’ ist wahr gdw. p
(2)
Die Proposition, dass p, ist wahr gdw. p.
Nun ist es sehr plausibel anzunehmen, dass die Äquivalenz zumindest
notwendig wahr ist.
Aber wenn der Deflationismus als These über Sätze verstanden wird, dann ist
die Äquivalenz nicht notwendig wahr, wenn er als These über Propositionen
verstanden wird, dann ist er trivialerweise wahr. (Dilemma)
(1) ist nicht notwendig wahr, weil der Satz ‚p’ andere Wahrheitsbedingungen
gehabt hätte, wenn er etwas anderes bedeutet hätte. (2) ist trivialerweise
notwendig, weil die Proposition über ihre Wahrheitsbedingungen definiert
wird. (Jackson/Oppy/Smith 1994)
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B)
Korrespondenztheorie (Aristoteles, Thomas v. Aquin, Kant, Russell, Wittgenstein I)
Intuitiv: Eine Überzeugung (ein Satz) ist wahr gdw. sie (er) mit einem Wahrmacher
(Objekt/Tatsache in der Welt) korrespondiert. (Wahrheit wird also als echte Relation
zwischen Wahrheitsträger und Wahrmacher verstanden.) Von Tatsachen ist erst seit
Russell 1912 die Rede (vorher immer von Gegenständen).
A
für Tatsachen
Objekte sind Wahrmacher für viele Aussagen (zu unspezifisch), dann könnte
man auch gleich sagen, dass die Realität die Aussage wahr macht.
Objekte und Eigenschaften reichen nicht aus. Es muss sichergestellt werden,
dass auch das Objekt (von dem die Rede ist) die Eigenschaft hat (instantiiert).
Tatsachen bestehen also darin, dass eine Instantierungsrelation zwischen einem
Objekt und einer bestimmten Eigenschaft vorliegt.
Klassische Einwände
E1
Frege 2003, S. 37: „Eine Übereinstimmung ist eine Beziehung. Dem
widerspricht aber die Gebrauchsweise des Wortes ‚wahr’, das kein
Beziehungswort ist, keinen Hinweis auf etwas anderes enthält, mit dem etwas
übereinstimmen solle.“
‚wahr’ kann sich nicht auf eine relationale Eigenschaft beziehen, weil es
syntaktisch kein zweistelliges Prädikat ist.
R
Auch einstellige Prädikate können zweistellige Eigenschaften bezeichnen: „X
ist verheiratet.“
E2
Heidegger: Wahrheit ist subjektabhängig. „Bevor die Gesetze Newtons
entdeckt wurden, waren sie nicht ‚wahr‘ (...).“ (SuZ, S. 226)
R
Genau genommen hat Heidegger Recht. Wahrheit ist eine Relation und deshalb
setzt sie auch die Existenz von Wahrheitsträgern (Überzeugungen) voraus.
Doch das kann eben auch die Korrespondenztheorie erklären. Und sie kann
daran festhalten, dass die Wahrmacher subjektunabhängig existieren.
Ambiguität zwischen: Wahrheit und Wahrmacher.
E3
Es gibt keine Korrespondenz zwischen mentalen Zuständen und Tatsachen in
der Welt, wenn unter Korrespondenz exakte Ähnlichkeit (qualitative Identität)
verstanden wird. (Frege, Der Gedanke, in: Logische Untersuchungen, S. 32)
Eine Vorstellung mit einem Dinge zur Deckung zu bringen, wäre nur möglich, wenn
auch das Ding eine Vorstellung wäre. Und wenn dann die erste mit der zweiten
vollkommen übereinstimmt, fallen sie zusammen. Aber das will man gerade nicht,
wenn man die Wahrheit als Übereinstimmung einer Vorstellung mit etwas
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Wirklichem bestimmt. Dabei ist es gerade wesentlich, daß das Wirkliche von der
Vorstellung verschieden sei. Dann aber gibt es keine vollkommene Übereinstimmung,
keine vollkommene Wahrheit. Dann wäre überhaupt nichts wahr; denn was nur halb
wahr ist, ist unwahr.
R
Frege hat Recht. Wahrheit ist eine alles oder nichts Eigenschaft, keine
graduelle Eigenschaft. Die Übereinstimmung muss also vollkommen sein oder
es gibt keine Wahrheit. Zwischen der Vorstellung/Überzeugung/Satz und den
Tatsachen in der Außenwelt gibt es natürlich keine qualitative Identität, denn
es handelt sich um verschiedene Typen von Gegenständen. Aber wir sprechen
von Vorstellungen und Überzeugungen doppeldeutig: einmal wird die Identität
über das psychologische Ereignis festgelegt, manchmal über ihren Inhalt (zwei
Leute sind einer Meinung, wenn sie Meinungen mit demselben Inhalt haben).
Eine Übereinstimmung zwischen dem intentionalen Inhalt und der Tatsache ist
möglich. Die Welt ist so, wie die Überzeugung sagt oder nicht.
E4
Zirkularitätseinwand gegen die Korrespondenztheorie (und jede andere
Wahrheitsdefinition)
Frege 2003, S. 38: „So scheitert aber auch jeder (…) Versuch, das Wahrsein zu
definieren. Denn in einer Definition gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei
der Anwendung auf einen besonderen Fall käme es immer darauf an, ob es
wahr wäre, dass diese Merkmale zuträfen.“
‚p’ ist wahr gdw. es wahr ist, dass ‚p’ sich auf eine Tatsache bezieht
Im Definiens werden Sätze verwendet, aber über die Welt geredet. Der
Weltbezug muss also nicht erst dadurch hergestellt werden, dass dem Satz
rechts Wahrheit zugeschrieben wird. Die Relation rechts in der Formel
definiert, was links steht, und sie macht auch den Satz „Dass ‚p’ sich auf eine
Tatsache bezieht ist wahr“ wahr. Aber sie ist selbst keine Wahrheit (wie Frege
annimmt), sondern nur ein Wahrmacher. Metasemantischer Aufstieg (der den
Zirkel erzeugt) ist unnötig!
E5
Tatsachen lassen sich sich nicht unabhängig von wahren Überzeugungen
individuieren. Deshalb wird eine Definition der Wahrheit mit Hilfe von
Tatsachen zirkulär! (Strawson 1950)
(ad E3) Strawsons These (ST): Tatsachen sind ontologisch und konzeptuell abhängig
von wahren Aussagen. Deshalb können sie nicht verwendet werden, um
Wahrheit zu definieren.
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A1
Ich kann die Tatsache, die eine bestimmte Aussage wahr macht, nicht
beschreiben, ohne diese Aussage selbst zu verwenden. Eine Tatsache trifft
diese Aussage aber nur, wenn sie auch wahr ist. Also: Definitionszirkel!
E
Definitionen verlangen weder explizit noch implizit, dass die Wahrheit des
Definiens sicher gestellt ist. Es genügt, wenn das Definiendum wahr ist genau
dann, wenn das Definiens wahr ist. Wenn das Definiens aber wahr ist, dann
beschreibt es eine Tatsache.
A2
Wahrheit ist eine interne Relation zwischen Tatsachen und Aussagen. D.h. die
Relation ist allein durch die Relata bestimmt (wie bei „ist schwerer als“).
Dinge, die durch interne Relationen verbunden sind, sind nicht unabhängig
voneinander.
E
Gegenbeispiel: Zwei Gegenstände unterschiedlichen Gewichts sind ontologisch
unabhängig, obwohl zwischen ihnen die interne Relation „schwerer als“
besteht.
E gegen ST: Wenn die Wahrheitsträger als Überzeugungen (Sätze) aufgefaßt werden,
dann kann man nicht sagen, dass die Tatsachen ontologisch von der Wahrheit
der Wahrheitsträger abhängen. Die Wahrheitsträger sind mental oder
sprachlich, die wahrmachenden Tatsachen sind es in den allermeisten Fällen
nicht. Außerdem haben die wahrmachenden Tatsachen existiert, lange bevor es
Lebewesen mit mentalen Zuständen und Sprache gab.
Vorschlag für eine Korrespondenztheorie für atomare Sätze
‚S‘ ist wahr gdw. der Gegenstand, auf den das logische Subjekt (der singuläre
Terminus) von s referiert, die Eigenschaft instantiiert, auf die das Prädikat von
s referiert. (Die Instantiierung einer Eigenschaft durch einen Gegenstand ist
eine Tatsache.)
Offene Probleme
P1
allgemeine Definition der korrespondenztheoretischen Wahrheit (auch für
allgemeine und negative Sätze)
Wir wollen keine obskuren Tatsachen annehmen:
(i)
Konjunktive oder disjunktive Tatsachen (molekulare Wahrheiten
werden rekursiv erklärt: atomare Tatsachen + logische Struktur: p&q ist wahr
gdw. p wahr ist und q wahr ist)
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(ii)
negative Tatsachen als Wahrmacher für negative Wahrheiten (negative
Tatsachen: Russell; keine Wahrmacher; Armstrong: Tatsachen zweiter
Ordnung: die Tatsachen erster Ordnung sind alle)
(iii)
universelle Tatsachen (entweder werden die akzeptiert – weil sie sich
nicht als Konjunktion atomarer Tatsachen darstellen lassen oder Tarkis
Verfahren: die Wahrheit universeller Sätze dadurch zu definieren, dass
Satzfunktionen durch alle Gegenstände (des Bereichs) erfüllt werden.
P2
semantische Paradoxien sind ein Einwand gegen ein sprachübergreifendes,
absolutes Wahrheitsverständnis
§6
Positionen des Realismus
(1)
WAHRHEITSREALISMUS: Wahrheit kann nicht erkenntnistheoretisch analysiert
werden (Gegenbegriff: epistemischer Wahrheitsbegriff).
1.1. Wahrheitsobjektivismus: Maßstab der Wahrheit ist die geistunabhängige
Welt
1.2. Wahrheitssubjektivismus: Maßstab der Wahrheit ist geistabhängig
(Feigenblattrealismus, sekundäre Qualitäten etc.)
(2)
ONTOLOGISCHER
REALISMUS:
Es
gibt
geistunabhängige
Dinge
mit
geistunabhängigen Eigenschaften (Gegenbegriff: Idealismus – es gibt nur
geistabhängige Dinge und Eigenschaften; Radikalisierung: Solipsismus – es
gibt nur einen Geist, nämlich meinen).
(3)
ERKENNTNISTHEORETISCHER REALISMUS: Es gibt Wissen (Gegenbegriff:
Skeptizismus)
Implikationsverhältnisse
WR > OR
A1
Maßstab der Wahrheit muss nicht objektiv sein
A2
selbst wenn der Maßstab der Wahrheit objektiv ist, braucht ja nichts zu
existieren (alle Sätze wären falsch oder sinnlos)
OR > WR
A
Kant: die geistesunabhängigen Dinge müssen nicht Maßstab der Wahrheit sein
ER > WR / ER > OR
A
Maßstab für Wahrheit (und Wissen) kann ja rein epistemisch sein
WR > ER
A
WR ist auch mit dem Skeptizismus vereinbar
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OR > ER
A
Ontologische Annahmen sind neutral gegenüber dem Maßstab der Wahrheit
und seiner Erfüllung!
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